Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären
Johann Wolfgang von Goethe

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II. Ausbildung der Stengelblätter von Knoten zu Knoten

§ 19.

Wir können nunmehr die successive Ausbildung der Blätter genau betrachten, da die fortschreitenden Wirkungen der Natur alle vor unsern Augen vorgehen. Einige oder mehrere der nun folgenden Blätter sind oft schon in dem Samen gegenwärtig, und liegen zwischen den Cotyledonen eingeschloßen; sie sind in ihrem zusammengefalteten Zustande unter dem Nahmen des Federchens bekannt. Ihre Gestalt verhält sich gegen die Gestalt der Cotyledonen und der folgenden Blätter an verschiedenen Pflanzen verschieden, doch weichen sie meist von den Cotyledonen schon darin ab, daß sie flach, zart und überhaupt als wahre Blätter gebildet sind, sich völlig grün färben, auf einem sichtbaren Knoten ruhen, und ihre Verwandtschaft mit den folgenden Stengelblättern nicht mehr verläugnen können; welchen sie aber noch gewöhnlich darin nachstehen, daß ihre Peripherie, ihr Rand nicht vollkommen ausgebildet ist.

§ 20.

Doch breitet sich die fernere Ausbildung unaufhaltsam von Knoten zu Knoten durch das Blatt aus, indem sich die mittlere Rippe desselben verlängert und die von ihr entspringenden Nebenrippen sich mehr oder weniger nach den Seiten ausstrecken. Diese verschiedenen Verhältnisse der Rippen gegen einander sind die vornehmste Ursache der manigfaltigen Blattgestalten. Die Blätter erscheinen nunmehr eingekerbt, tief eingeschnitten, aus mehreren Blättchen zusammengesezt, in welchem letzten Falle sie uns vollkommene kleine Zweige vorbilden. Von einer solchen successiven höchsten Vermanigfaltigung der einfachsten Blattgestalt giebt uns die Dattelpalme ein auffallendes Beyspiel. In einer Folge von mehreren Blättern schiebt sich dieMittelrippe vor, das fächerartige einfache Blatt wird zerrissen, abgetheilt, und ein höchst zusammengeseztes, mit einem Zweige wetteiferndes Blatt wird entwickelt.

§ 21.

In eben dem Maße, in welchem das Blatt selbst an Ausbildung zunimmt, bildet sich auch der Blattstiel aus, es sey nun daß er unmittelbar mit seinem Blatte zusammen hange, oder ein besonderes, in der Folge leicht abzutrennendes Stielchen ausmache.

§ 22.

Daß dieser für sich bestehende Blattstiel gleichfalls eine Neigung habe sich in Blättergestalt zu verwandeln, sehen wir bey verschiedenen Gewächsen, z. B. an den Agrumen, und es wird uns seine Organisation in der Folge noch zu einigen Betrachtungen auffordern, welchen wir gegenwärtig ausweichen.

§ 23.

Auch können wir uns vorerst in die nähere Beobachtung der Afterblätter nicht einlassen; wir bemerken nur im Vorbeygehn, daß sie, besonders wenn sie einen Theil des Stiels ausmachen, bey der künftigen Umbildung desselben gleichfalls sonderbar verwandelt werden.

§ 24.

Wie nun die Blätter hauptsächlich ihre erste Nahrung den mehr oder weniger modificirten wässerigten Theilen zu verdanken haben, welche sie dem Stamme entziehen, so sind sie ihre größere Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und der Luft schuldig. Wenn wir jene in der verschlossenen Samenhülle erzeugte Cotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam ausgestopft, fast gar nicht, oder nur grob organisirt und ungebildet finden: so zeigen sich uns die Blätter der Pflanzen, welche unter dem Wasser wachsen, gröber organisirt als andere, der freyen Luft ausgesezte; ja sogar entwickelt dieselbige Pflanzenart glättere und weniger verfeinerte Blätter, wenn sie in tiefen feuchten Orten wächst; da sie hingegen, in höhere Gegenden versezt, rauhe, mit Haaren versehene, feiner ausgearbeitete Blätter hervorbringt.

§ 25.

Auf gleiche Weise wird die Anastomose der aus den Rippen entspringenden und sich mit ihren Enden einander aufsuchenden, die Blatthäutchen bildenden Gefäße, durch feinere Luftarten wo nicht allein bewirkt, doch wenigstens sehr befördert. Wenn Blätter vieler Pflanzen, die unter dem Wasser wachsen, fadenförmig sind, oder die Gestalt von Geweihen annehmen, so sind wir geneigt es dem Mangel einer vollkommenen Anastomose zu zuschreiben. Augenscheinlich belehrt uns hiervon das Wachsthum des Ranunculus aquaticus, dessen unter dem Wasser erzeugte Blätter aus fadenförmigen Rippen bestehen, die oberhalb des Wassers entwickelten aber völlig anastomosirt und zu einer zusammenhängenden Fläche ausgebildet sind. Ja es läßt sich an halb anastomosirten, halb fadenförmigen Blättern dieser Pflanze der Uebergang genau bemerken.

§ 26.

Man hat sich durch Erfahrungen unterrichtet, daß die Blätter verschiedene Luftarten einsaugen, und sie mit den in ihrem Innern enthaltenen Feuchtigkeiten verbinden; auch bleibt wohl kein Zweifel übrig, daß sie diese feineren Säfte wieder in den Stengel zurück bringen, und die Ausbildung der in ihrer Nähe liegenden Augen dadurch vorzüglich befördern. Man hat die, aus den Blättern mehrerer Pflanzen, ja aus den Hölungen der Rohre entwickelten Luftarten untersucht, und sich also vollkommen überzeugen können.

§ 27.

Wir bemerken bey mehreren Pflanzen, daß ein Knoten aus dem andern entspringt. Bey Stengeln welche von Knoten zu Knoten geschlossen sind, bey den Cerealien, den Gräsern, Rohren, ist es in die Augen fallend; nicht eben so sehr bey andern Pflanzen, welche in der Mitte durchaus hohl und mit einem Mark oder vielmehr einem zelligten Gewebe ausgefüllt erscheinen. Da man nun aber diesem ehemals sogenannten Mark seinen bisher behaupteten Rang, neben den andern inneren Theilen der Pflanze, und wie uns scheint, mit überwiegenden Gründen, streitig gemacht (a), ihm den scheinbar behaupteten Einfluß in das Wachsthum abgesprochen und der innern Seite der zweiten Rinde, dem sogenannten Fleisch, alle Trieb- und Hervorbringungskraft zu zuschreiben nicht gezweifelt hat: so wird man sich gegenwärtig eher überzeugen, daß ein oberer Knoten, indem er aus dem vorhergehenden entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner und filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen Einwirkung der Blätter genießen, sich selbst feiner ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen müsse.

§ 28.

Indem nun auf diese Weise die roheren Flüssigkeiten immer abgeleitet, reinere herbey geführt werden, und die Pflanze sich stufenweise feiner ausarbeitet, erreicht sie den von der Natur vorgeschriebenen Punct. Wir sehen endlich die Blätter in ihrer größten Ausbreitung und Ausbildung, und werden bald darauf eine neue Erscheinung gewahr, welche uns unterrichtet: die bisher beobachtete Epoche sey vorbey, es nahe sich eine zweyte, die Epoche der Blühte.


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