Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Don Juan Moreno y Rodil war Leutnant bei den Segovia-Jägern, als sein Regiment sich in eine Militärverschwörung verwickelt sah, deren Ausführung fehlschlug. Zwei Majore, drei Hauptleute und eine Handvoll Sergeanten wurden gefaßt und füsiliert. Unser Held jedoch entkam, und nachdem er sich ein paar Monate lang in höchst kümmerlicher Verfassung in Frankreich herumgetrieben hatte, glückte es ihm dank der Anknüpfung einiger Verbindungen, sich ein Offizierspatent für den russischen Dienst zu verschaffen. Er erhielt alsbald Befehl, zu seiner Truppe im Kaukasus zu stoßen, wo in jenen Tagen frischer und fröhlicher Krieg zum täglichen Brot gehörte.
Der Leutnant Moreno schiffte sich also in Marseille ein. Er war schon von Natur auffallend ernst veranlagt, und seine Verbannung, seine elende Lage und mehr als alles das der tiefe Schmerz, eine Dame, die er innig verehrte, zum mindesten auf Jahre verlassen zu müssen, verstärkten seine natürliche Veranlagung derartig, daß wohl niemand weniger als er Lust verspüren konnte, den Freuden des Daseins nachzujagen.
Nach angestrengter Fahrt landete das Schiff, das ihn trug, und ging bei dem Städtchen Poti am Schwarzen Meer, damals dem Haupthafen auf der Europa zugekehrten Seite des Kaukasus, vor Anker.
Von einem teils sandigen, teils schlammigen, mit Sumpfpflanzen bewachsenen Gestade aus erstreckte sich ein zur Hälfte im Wasser stehender Wald endlos ins Innere des Landes hinein, längs den Ufern eines breiten Flusses, dessen vielfach gewundener Lauf reich an Felsen, Schmutzmassen und weggespülten Baumstämmen war. Es war der Phasis, der »goldene Strom« des Altertums, heutzutage Rion genannt. Inmitten einer üppigen Vegetation gedeiht hier nicht minder üppig das Fieber, unter dessen Herrschaft alles, was bewegliches Lebewesen heißt, zu leiden hat, während die Pflanzenwelt um so besser fortkommt. Das Fieber hat das Zepter des Aietes und der Sonnenkinder an sich gerissen und gebietet als unumschränkte Herrin. Die Häuser, die mitten im stehenden Wasser und zwischen den großen Stämmen beschnittener Bäume erbaut sind, erheben sich zum Schutz gegen Überschwemmungen auf Pfählen und sind durch riesige Balkenstege miteinander verbunden; die schweren, schindelgedeckten Dächer strecken ihre schildkrötenförmige dichte Fläche weit vor und schützen so, soweit möglich, die engen Fenster der fast wie Schneckenhäuser aussehenden Behausungen vor den häufigen Regengüssen.
Moreno war von dem ungewohnten Anblick dieser Dinge einigermaßen betroffen. Seine Eigenschaft als russischer Offizier war auf seinem Schiffe bekannt, und als solcher war er auch nach seiner Landung angemeldet worden. So kam es, daß er in einer ziemlich breiten Straße, in der er ratlos umherirrte, einen hochgewachsenen strohblonden jungen Mann mit ausgesprochener Plattnase auf sich zukommen sah, dessen nahaneinander stehende Augen in die Luft starrten und dessen Oberlippe mit einem spärlichen und stachligen katerartigen Schnurrbart geziert war. Der junge Mensch war nicht schön, aber gewandt und kräftig und von offenem, freundlichem Aussehen. Er trug den Waffenrock eines Genieoffiziers und darauf die silberne Achselschnur, die denjenigen Angehörigen der Truppe verliehen wird, die sich während ihres Studienganges ausgezeichnet haben. Ohne sich viel von der förmlich-zurückhaltenden Begrüßung Don Juans aufhalten zu lassen, redete der Bursch ihn frisch und geradezu folgendermaßen auf französisch an: »Eben erfahre ich, Herr, daß ein Offizier von den Imerethi-Dragonern in Poti eingetroffen ist und zu seiner Truppe in Baku stoßen will. Der Offizier sind Sie. Ich stehe als Kamerad gern zu Ihrer Verfügung, ich mache denselben Weg wie Sie. Wenn es Ihnen recht ist, reisen wir zusammen, und, um aufs nächstliegende zu kommen, bitte ich mir die Ehre aus, Ihnen im Grand Hotel de Colchide da hinten ein Glas Champagner anbieten zu dürfen. Wenn ich übrigens nicht irre, so ist die Dinerzeit nicht mehr fern; ich habe einige Freunde von mir eingeladen, und Sie werden mir gewiß das Vergnügen verstatten, sie Ihnen vorstellen zu dürfen.«
Alles das sagte er mit ausgesuchtem Anstand und in der temperamentvollen Art, von der die Russen ein Teil geerbt zu haben scheinen, seitdem die Franzosen, die für ihre Erfinder gelten, sie verloren haben.
Der spanische Verbannte nahm den Handschlag des Ankömmlings entgegen und erwiderte: »Mein Name ist Juan Moreno.« – »Und ich heiße Assanoff; das heißt, eigentlich heiße ich Murad, Sohn Hassan Beys, ich bin Russe, das heißt eigentlich Tatar aus der Provinz Scherwan und, Ihnen zu dienen, Muselman dazu, das heißt so ungefähr in der Art, wie es Herr von Voltaire hätte sein können, der große Mann, dessen Werke ich, wenn ich nicht gerade Paul de Kock vorhabe, mit Vergnügen lese.«
Hierauf schob Assanoff seinen Arm unter denjenigen Morenos und zog ihn mit sich nach einem Platz, der dem Fluß gegenüber lag, und auf dem man schon von weitem ein großes niedriges Haus oder eine lange Baracke bemerkte, an deren Vordergiebel in weißen Buchstaben auf einem himmelblauen Brett die Inschrift prangte: »Grand Hotel de Colchide, gehalten von Jules Marron (Aîné),« alles auf französisch.
Beim Eintritt in den Saal des Hotels, wo der Tisch gedeckt war, fanden die beiden Offiziere ihre Genossen schon versammelt, wo sie in kleinen Schlückchen Kornbranntwein tranken und dazu Kaviar und getrockneten Fisch aßen, um ihren Appetit zu reizen. Von diesen Genossen verdienen wenigstens einige eine nähere Erwähnung; zwei französische Handlungsbeflissene, von denen der eine in den Kaukasus gekommen war, um Seidenwürmerfutter, der andere, um Baumrinde einzukaufen; ferner ein Ungar, ein recht schweigsamer Reisender, und ein sächsischer Posamentier, der in Persien sein Glück machen wollte.
Alles das sind aber nur Statisten, die mit unserer Geschichte nichts zu tun haben. Wir werden uns mehr an die nun folgenden halten müssen. Zunächst stellte sich Madame Marron (Aîné) dar, die bei der Festlichkeit den Vorsitz führen sollte.
Es war dies eine gute dicke Person, die sicher schon die Vierzig überschritten, bei Überschreitung dieser Grenze keineswegs auf ihre Verführungskünste verzichtet hatte, wenigstens ließen ihre höchst herausfordernden Blicke, die beständig auf Kriegsfuß zu stehen schienen, darauf schließen. Madame Marron (Aîné) besaß recht reichliche Farben und verfügte in dem Gesamtumfang ihrer Persönlichkeit über Reize, die bestenfalls nur über das Mittelmaß hinausgingen, die sie aber dafür mit weitherzigster Freigebigkeit zur Geltung brachte; sie trug schwarze Locken, die in langen Ringeln an ihren Wangen herunterfielen und höchst reizvoll bis zum Gürtel reichten. Die Dame besaß eine lebhafte Unterhaltungsgabe und wußte ihre Rede mit schmuckvollen Ausdrücken zu zieren und durch ihren Marseiller Dialekt zu beleben. Die Firma ging, wie wir bereits erfahren, unter dem Namen von Herrn Marron (Aîné), aber selbst die nächsten Vertrauten der Madame Marron (Aîné) wußten von diesem Gatten nicht mehr zu sagen, als daß sie ihn nie gekannt und nie jemand anders über ihn reden gehört hätten als seine Frau, die von Zeit zu Zeit und dann und wann die Hoffnung durchschimmern ließ, er werde nun endlich bald ankommen. Sehr viel besser verbürgt war die Tatsache, daß die schöne Wirtin des Grand Hotel de Colchide in Poti unter dem Namen Leokadia lange Zeit hindurch in Tiflis von sich reden gemacht hatte; sie war dort Modistin gewesen, und die ganze Kaukasusarmee, Infanterie, Kavallerie Artillerie, Genie und Pontoniere (und von all denen gab's genug!) hatten sich widerstandslos vor der Macht ihrer Reize gebeugt. »Ich weiß ganz gut,« sagte Assanoff zu Moreno, indem er ihm diese Dinge in Kürze berichtete, »ich weiß ganz gut, Leokadia ist weder jung noch besonders hübsch. Aber was will man in Poti machen? Der Teufel ist hier noch boshafter als anderwärts, und dann bedenken Sie – eine Französin! eine Französin in Poti! Wie sollte man da widerstehen?«
Er stellte darauf seinen Kameraden einen Mann von ganz außerordentlich hohem Wuchs vor, einen kräftigen, blonden Menschen mit blaßgrauen Augen, dicken Lippen und einem Gesichtsausdruck von ausgesprochener Jovialität. Es war ein Russe. Der Hüne lächelte; er trug ein nicht gerade elegantes, aber bequemes Reisekostüm, das sogleich seines Trägers deutliche Absicht verriet, aller Unbehaglichkeit aus dem Wege zu gehen. Gregor Iwanitsch Wialg war ein reicher Grundbesitzer, eine Art von Landjunker, und zu gleicher Zeit Sektierer. Er gehörte zu einer der vielgeschmähten, aber in der Christenheit immer wieder auftretenden Gemeinschaften, die von Zelt zu Zelt von den größeren Verbänden mit Feuer und Schwert ausgerottet werden, nichtsdestoweniger aber, wie gewisse Grasarten, einige Samenkörner unbemerkt verstreuen und so wieder emporschießen. Er war mit einem Wort ein Duchoborze oder »Feind des Geistes«. Die russische Regierung und die russische Geistlichkeit stehen dieser Religionsgemeinschaft, der Wialg angehörte, feindselig gegenüber, und wenn sie deren Mitgliedern in den inneren Provinzen des Reichs auf die Spur kommen, so verurteilen sie sie zwar nicht wie im Mittelalter zum Tode, greifen sie aber auf und deportieren sie nach dem Kaukasus.
Die »Feinde des Geistes« glauben, daß der gesunde, gute, unschuldige, friedliche Teil des Menschen das Fleisch sei. Das Fleisch kennt an und für sich keinen schlechten Instinkt, keinen widernatürlichen Drang. Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Ruhe sind seine Aufgaben. Gott hat sie ihm verliehen und ruft sie ihm vermittelst der Triebe immer wieder in Erinnerung. So lange es nicht verderbt ist, sucht es ganz rein und einfach Gelegenheit zu seiner Befriedigung, was mit dem Wandel auf den Bahnen der himmlischen Gerechtigkeit gleichbedeutend ist, und je befriedigter es ist, desto näher kommt es der Heiligkeit. Was den Menschen verdirbt, ist der Geist. Der Geist kommt vom Teufel. Er ist für die Entwicklung und Erhaltung der Menschheit vollkommen unnütz. Er allein erweckt die Leidenschaften, erfindet angebliche Bedürfnisse und angebliche Pflichten, die wider Recht und Ordnung die Bestimmung des Fleisches hemmen und endlose Übel nach sich ziehen. Der Geist hat die Neigung zum Widerspruch und Streit, zu Ehrgeiz und Haß in die Welt gesetzt, vom Geist stammt auch der Mord, denn das Fleisch lebt nur, um sich zu erhalten und keineswegs, um zu zerstören. Der Geist ist der Vater der Torheit, der Heuchelei, der Unregelmäßigkeiten jeder Art und folglich auch der Mißbräuche und Ausschweifungen, die man gewöhnlich dem Fleisch vorwirft, dem braven Gesellen, der eben wegen seiner Unschuld so leicht zu verführen ist; und deshalb haben wahrhaft religiöse und wahrhaft erleuchtete Menschen die Pflicht, den armen Burschen zu verteidigen und die Verführungen des Geistes nach Kräften von ihm fern zu halten. Aus alledem folgt, daß es keine positive Religion mehr geben darf, damit niemand unduldsam und verfolgungssüchtig werde, keine Ehe, damit es keinen Ehebruch mehr gebe, keinen Zwang gegen irgendwelche Neigung, damit jede Auflehnung des Fleisches auf diese Weise völlig unterdrückt werde, und endlich, daß alle Verstandesbildung als ein hassenswürdiges Bestreben, das nur zum Triumph der Sündhaftigkeit führt und nie anders als zugunsten des Teufels gewirkt hat, grundsätzlich zu verwerfen sei.
Die »Feinde des Geistes«, die somit alle Ergebnisse intellektueller Arbeit verschmähen, schätzen nicht einmal industrielle Tätigkeit und sind dafür, diese auf die Anfertigung des Notwendigsten und die einfachsten Produktionsarten zu beschränken. Im Gegensatz dazu schlagen sie den Wert des Pfluges außerordentlich hoch an und bewähren sich als erfahrene Ackerbauer und musterhafte Viehzüchter. Die Bauernhöfe, die sie im Kaukasus begründet haben, sind schön, gut gehalten und ertragreich, und wenn es auch allzu klassisch und poetisch wäre, die dort herrschenden Sitten mit denen zu vergleichen, die einst in den Tempeln der Göttin Syriens in Schwang gingen, so kann man doch getrost behaupten, daß der Duchoborze in seinen Gewohnheiten und seinem Tun und Treiben dem amerikanischen Mormonen weit über ist.
»Sie können gar keinen liebenswürdigeren Menschen als den da finden,« sagte Assanoff zu seinem Freunde, indem er auf den Widersacher des gesunden Menschenverstandes wies, »einen besseren, vergnügteren, gefälligeren Mann gibt's überhaupt nicht! Ich habe in seiner Nachbarschaft im Quartier gelegen, nicht weit vom Gebirg; und wie ich mich da unterhalten habe, wie nützlich er mir gewesen ist, das ist gar nicht zu sagen, das können Sie gar nicht glauben. He, Gregor Iwanitsch! alter Narr! verfluchter Lump! laß dich umarmen! Reist du morgen mit uns?« – »Jawohl, Herr Leutnant, ich will's hoffen; ich wüßte wenigstens nicht, weshalb ich morgen nicht mit Ihnen reisen sollte. Aber bis nach Baku fahren? nein! davon kann nicht die Rede sein! Ich bleibe in Schemacha!« – »Das ist doch ein ganz elendes Nest,« erwiderte Assanoff, indem er sich, wie die übrigen Gaste, an den Tisch setzte und seine Serviette entfaltete. – »Sie wissen nicht, was Sie reden,« antwortete der Sektierer, indem er einen riesigen Löffel voll Suppe in seinem Munde verschwinden ließ, denn Madame Marron (Aîné) bediente die Gäste nach ihrem Rang, und eine kleine abchasische Magd hatte soeben Gregor Iwanitsch einen vollen Teller hingestellt.
Leokadia, die den Kaukasus bis ins kleinste kannte, glaubte in die Unterhaltung eingreifen zu müssen. »Seien Sie still,« rief sie, indem sie einen Blick auf Gregor Iwanitsch warf, aus dem tiefe Entrüstung sprach, »ich weiß wohl, wes Geistes Kind Sie sind und worauf Sie anspielen wollen. Aber ich dulde ein für allemal nicht, daß an meinem Tisch und in dem ehrbaren Haus des Herrn Marron (Aîné) Dinge gesagt werden, bei denen selbst ein Pionier erröten müßte.«
Leokadia wurde selbst hochrot, zum Beweis dafür, daß ihre Schamhaftigkeit keineswegs hinter derjenigen der Truppe zurückstehe, deren Grad von Tugend sie soeben gekennzeichnet hatte. »Na, na, nur keine Eifersucht,« erwiderte Assanoff mit einer beschwichtigenden Handbewegung. »Sie mit Ihrer Erfahrung scheinen Schlingen zu sehen, wo meine Unschuld gar keine ahnt. Seien Sie nur ganz unbesorgt! ich halte mit unerschütterlicher Treue an meinen Schwüren! Erkläre mir doch einmal, Gregor Iwanitsch, was du mir eigentlich hast andeuten wollen; ich bin eine neugierige Seele.« – »Es ist sattsam bekannt,« nahm der Duchoborze wieder das Wort und schenkte sich dabei ein riesiges Glas Kachetiwein ein, »daß die Stadt Schemacha wegen der Feinheit in der Wahl ihrer Genüsse berühmt ist. Sie war ehemals Residenz eines unabhängigen Tatarenfürsten, und es wurde dort eine Schule für Tänzerinnen unterhalten, die allerwärts bewundert wurden und bis in die Provinzen Persiens hinein berühmt waren. Natürlich strömte alles Volk in Masse diesem erfreulichen Ort zu, um den Anblick und die Unterhaltung so vieler schöner Mädchen zu genießen. Aber die Vorsehung wollte nicht, daß die Mohammedaner in alle Ewigkeit einen solchen Schatz für sich allein haben sollten. Unsere kaiserlichen Truppen griffen, wie so viele andere Residenzen einheimischer Fürsten, auch Schemacha an. Die Ungläubigen wehrten sich nach Leibeskräften, und als sie zu unterliegen drohten, packte sie die Wut. Damit nicht die Russen ihrerseits ihr Glück kosten sollten, entschlossen sie sich, die Tänzerinnen samt und sonders zu massakrieren.« – »Das ist so eine von den Gemeinheiten, die mich, wenn sie öfter vorkämen, wahrhaftig noch deiner Religion in die Arme treiben könnten,« warf Assanoff dazwischen. – »Aber zur vollen Durchführung des Blutbads kam es nicht.« – »Na, um so besser!« – »In dem Augenblick, als die Schlächterei begann, nahmen die russischen Regimenter den Ort mit stürmender Hand. Das Schauspiel war furchtbar: die klaffende Bresche ließ ganze Ströme von Soldaten durch, und diese hatten nichts Eiligeres zu tun, als die rasenden Verteidiger, die nicht um eines Fingers Breite zurückwichen, niederzumachen. Zu ihrem größten Erstaunen fanden unsere Leute hier und dort junge Mädchenleichen, mit roten und blauen, gold- und silbergestickten Schleiergewändern geschmückt und mit Juwelen bedeckt, in ihrem Blut auf dem Pflaster liegen. Beim weiteren Vordringen in die Straßen gewährten sie zahlreiche Gruppen solcher Opfer, die noch lebten, aber von den Muselmanen mit Säbelhieben niedergestreckt wurden. Nun stürzten sie sich mit verdoppelter Kühnheit ins Getümmel, und so kam es, daß sich nach Überwindung alles Widerstandes herausstellte, daß man von den anbetungswürdigen Geschöpfen, die den Ruhm Schemachas bis zum Himmel erhoben hatten, etwa ein Viertel gerettet hatte.« – »Hätte deine Geschichte nicht einen halbwegs glücklichen Ausgang,« rief Assanoff, »so hätt' ich nicht weiteressen können. Aber bei der Wendung, die du ihr gegeben hast, werde ich wohl noch bis zum Dessert durchhalten. Madame, würden Sie wohl so liebenswürdig sein, mir Champagner geben zu lassen?«
Die Bewegung, welche diese Bitte zur Folge hatte, unterbrach die Unterhaltung auf einen Augenblick. Aber nachdem man die Gesundheit des neu im Kaukasus angekommenen Offiziers ausgebracht hatte – ein Vorschlag, den Madame Marron (Aîné) mit so viel Liebenswürdigkeit machte, daß es den lustigen Genieoffizier, wenn es in seiner Natur gelegen hätte, sich um dergleichen Lappalien zu kümmern, von Rechts wegen hätte beunruhigen müssen – nahm einer der Gäste den Faden der Unterhaltung wieder auf.
»Ich bin,« sagte er, »vor einigen Wochen nach Schemacha gekommen und habe mir erzählen lassen, die geschätzteste Tänzerin sei dort eine gewisse Umm Djehan. Sie verdreht allen die Köpfe.« – »Umm Djehan,« fiel der »Feind des Geistes« grob ein, »ist ein ganz jämmerliches Mädel, ein launisches, dummes Ding. Sie tanzt schlecht, und man redet von ihr nur wegen ihrer unverträglichen Natur und ihrer ungezogenen Schrullen. Übrigens ist sie nicht einmal hübsch; nicht im allergeringsten!« – »Mir will scheinen, Freundchen,« rief Assanoff, »wir haben keinen besondern Grund, mit dem jungen Persönchen zufrieden zu sein?« – »In dem Sinn, wie Sie die Sache auffassen,« begann der frühere Redner wieder, »ist allerdings an Umm Djehan wohl nicht viel dran. Ich bin aber mit einem pensionierten Infanterieoffizier zusammengekommen, der sie von Jugend auf kannte. Die Schöne gehört einem jetzt vertilgten lesghischen Stamm an, und Sie werden wissen, daß ihre Landsleute nicht gerade im Ruf der Sanftmut stehen. Als sie drei oder vier Jahre alt war, wurde sie von Soldaten mitten in den Trümmern eines brennenden Gebirgsdorfs aufgegriffen, neben der Leiche ihrer Mutter, die über einem Offizier, den sie erdolcht, tot hingestreckt lag. Eine Generalsgattin nahm sich ihrer an und beabsichtigte, sie europäisch erziehen zu lassen. Sie wurde sehr liebevoll behandelt und gut gekleidet, genau wie die beiden eigenen Töchter des Hauses. Sie hatte dieselbe Erzieherin, die auch die jungen Mädchen zu unterrichten hatte, und lernte schnell und besser als diese Russisch, Deutsch und Französisch. Aber eins ihrer Lieblingsspiele war, junge Katzen in kochendes Wasser zu tauchen. Zehn Jahre war sie alt, als sie ihre Gouvernante, die biedere Mademoiselle Martinet, weil sie von ihr acht Tage zuvor »kleines Dümmchen« genannt worden war, auf einem Treppenabsatz beinahe erwürgt hätte und es wenigstens dahin brachte, ihr eine prächtige kastanienbraune Haartour auf ewig dienstuntauglich zu machen. Ein halbes Jahr darauf kam's noch besser. Es fiel ihr ein, oder vielmehr sie hatte nie vergessen, daß die jüngere Tochter ihrer Wohltäterin sie ein Jahr zuvor beim Spiel gestoßen hatte; dabei war sie gefallen und hatte sich eine Beule an der Stirn geschlagen. Sie hielt sich für verpflichtet, diesen Schimpf zu tilgen, und zerschnitt ihrer kleinen Gefährtin durch einen wohlgezielten und kräftig geführten Stich mit dem Taschenmesser die Backe – zum Glück nichts weiter, denn ihre Absicht war gewesen, ihr ein Auge auszustechen. Nach diesem letzten Streich hatte die Generalin genug: sie verstieß den jungen Unband aus ihrem Haus und ihrem Herzen und übergab ihn samt einer kleinen Geldsumme einer mohammedanischen Frau.
Vierzehn Jahre alt geworden, riß Umm Djehan von Derbent, dem Wohnsitz ihrer neuen Pflegemutter, aus. Zwei Jahre lang wußte man nicht, was aus ihr geworden sei. Und nun steckt sie unter der Tänzerinnentruppe und wird unterrichtet, geleitet und beaufsichtigt von Frau Furugh el Hösnet oder Schönheitglanz. Übrigens hat Gregor Iwanitsch recht. Manch einer hat schon versucht, Umm Djehan zu verführen, aber niemandem ist es geglückt.«
Assanoff fand diese Geschichte so wundervoll, daß er Moreno seine Begeisterung mitteilen wollte. Aber das war verlorene Liebesmüh. Der Spanier nahm an dem, was er die Streiche einer hergelaufenen Person nannte, keinerlei Anteil. Da er sich infolgedessen schweigend verhielt, nahm der Ingenieur ihn für einen mürrischen Gesellen und begann sich um so weniger um ihn zu kümmern, je stärker seine eigene Phantasie durch den Champagner zu heller Glut entzündet wurde.
Nach beendeter Mahlzeit begaben sich die Franzosen und der Ungar auf ihre Zimmer, desgleichen Moreno. Assanoff seinerseits begann mit zwei anderen Gästen und Madame Marron (Aîné) Karten zu spielen, während der »Feind des Geistes« ihnen mit immer unsicherer werdenden Blicken zuschaute und dazu Branntwein trank. Diese verschiedenen Vergnügungen dauerten so lange, bis die Spieler über ein dumpfes Gepolter neben ihnen in jähem Schreck auffuhren: es war Gregor Iwanitsch, der lang hingeschlagen war. Assanoff war inzwischen sein Geld losgeworden. Es hatte eben zwei Uhr früh geschlagen. Alle gingen zu Bett, und das Grand Hotel de Colchide, gehalten von Herrn Marron (Aîné), lag in tiefer Ruhe.
Es war kaum fünf Uhr, als ein Hotelbediensteter an Morenos Schlafzimmertür pochte, um ihn zu mahnen, daß die Stunde der Abfahrt nahe sei. Einige Augenblicke darauf erschien Assanoff auf dem Korridor. Den Militärmantel trug er mehr als bloß nachlässig um die Schultern geworfen, das recht zerknitterte rote Seidenhemd saß höchst unordentlich um seinen Hals, und seine weiße Mütze schien wie aufgestülpt auf sein dickes, lockiges Haar, in das keinerlei Toilettenkunst Ordnung gebracht hatte. Sein Gesicht war wüst, bleich und in die Länge gezogen, die Augen gerötet. Er empfing Don Juan mit einem fürchterlichen Gähnen, wobei er die Arme in ihrer ganzen Länge ausstreckte.
»Na, alter Freund,« rief er, »wir müssen also fort? Stehen Sie gern außer Dienst so früh auf, oder auch im Dienst? He! Georg! Quadratschafskopf! Hol uns eine Flasche Champagner, um uns in Zug zu bringen, oder der Teufel soll mich holen, wenn ich dir nicht die Knochen zerbreche!« – »Nein, keinen Champagner,« sagte Moreno, »wir wollen gehen. Sie denken nicht daran, wie nachdrücklich wir gestern gemahnt worden sind, bei dem weiten Weg, den wir vor uns haben, nur ja rechtzeitig aufzubrechen.«
»Gewiß, gewiß, ich denke schon daran. Aber in erster Linie bin ich Edelmann, und ein Kerl wie ich kann sein Tagewerk doch nicht wie ein Lump beschließen.« – »Fangen wir es zunächst einmal als vernünftige Menschen an und gehen wir.«
Der Ingenieur ließ sich überreden, und indem er das »Erdbeerlied« trällerte, das damals im Kaukasus sehr in der Mode war, wanderte er mit seinem Gefährten nach dem Ufer des Flusses zu, den sie hinauffahren mußten. Ihr Fahrzeug war so einfach wie möglich und stimmte zu den Ansprüchen eines so verwöhnten und kultivierten Mannes, wie der tatarische Offizier es war, nicht im entferntesten. Man hatte ihnen ganz einfach einen langen schmalen Kahn und vier Bootsknechte zur Verfügung gestellt, die in ihrem eigenen Interesse sehr viel weniger von ihren Rudern Gebrauch machten, als von einem langen Seil, an das sich zwei von ihnen anspannten, um, am Ufer entlang gehend, nach Art von Schiffzugpferden den Kahn am Strick zu schleppen. Hätte die Mannschaft der Argo, als sie unter dem Befehl Jasons in die Gegend kam, ein solches Gespann gesehen, so würde schon sie es primitiv gefunden haben. Es existierte zwar ein Dampferdienst, von dem die europäischen und amerikanischen Zeitungen einiges Aufhebens gemacht hatten, nur daß leider dieser Dienst bald aus diesem, bald aus jenem Grund nicht in Betrieb war. Kurz, wenn Moreno und Assanoff nach Kutaïs und von da nach Tiflis und Baku wollten, blieb ihnen keine andere Wahl, als sich in ihren dürftigen Nachen zu setzen; und so taten sie denn auch.
Es war ein erbaulicher Anblick, sie in dem engen Fahrzeug zu sehen, das durch ein weißes Zeltdach vor den Strahlen der Sonne geschützt war, wie sie, mitten zwischen ihren Koffern sitzend oder liegend, rauchten und schwatzten, schliefen oder schwiegen und mit geradezu majestätischer Langsamkeit vom Fleck kamen, indem zwei der Schiffer das Boot mit Stangen fortbewegten und die beiden anderen, den Strick um die Schulter, nach Kräften zogen und in gebückter Haltung, Schritt für Schritt, die Böschung entlang gingen.
Man kann eigentlich nicht sagen, daß der Wald erst beim Ausgang von Poti anfängt. Vielmehr steckt Poti gewissermaßen mitten im Walde drin. Läßt man aber die viereckige Steinumwallung mit ihren Türmen hinter sich, in denen vorzeiten die Muselmanen ihre Sklaven zusammenpferchten, für die Poti der Hauptstapelplatz im Kaukasus war, so sieht man kein Wohngebäude mehr und könnte glauben, in Gegenden zu sein, die noch keines Menschen Fuß betreten. Es scheint, als könne es nichts Verlasseneres, nichts Ungastlicheres, Wilderes und Rauheres geben. Der reißende Fluß rollt seine schlammigen und Sand mit sich spülenden Wellen durch ein steiniges Bett, gegen dessen Felsen seine Wasser unaufhörlich anbrausen; die Ufer sind dank den plötzlichen und schonungslosen winterlichen Hochfluten zernagt und abschüssig und erscheinen bald als verwüstete Flächen, bald als schroffe Böschungen; fortgeschwemmte Baumstämme strecken ihre verstümmelten Arme in die Luft, als wollten sie um Erbarmen flehen, rollen dann zu dreien oder vieren übereinander und rennen sich bis zur Hälfte in den Boden ein, bleiben aber immer noch in Erschütterung, immer noch in vergeblicher Bewegung, denn der grollende Fluß geht mit stärkerem Brausen über sie weg oder durch ihre Äste hindurch; und zu beiden Seiten dieses Getöses das feierliche Schweigen eines scheinbar grenzenlosen Waldes. Der Leser vergegenwärtige sich das Bild: der Fluß brüllt, heult, springt, wirbelt und rennt; das Boot mit den Offizieren geht in dem langsamen, abgemessenen Tempo der beiden Männer, die es ziehen, stromaufwärts; die Blätter des Waldes erschauern im Morgenwind, die einen sind groß, die andern klein, die einen beschattet, die andern im Licht; durch ferne Lichtungen hindurch schillern die Sonnenstrahlen auf dem Grün und lassen helle Lichtstreifen einfallen, die ihr koboldartiges Spiel treiben; von dem blauen und klaren Himmel heben sich die feinumrissenen Gipfel einiger größerer Eschen, Buchen und Eichen ab, die das Volk ihrer kleinen Genossen überragen.
Moreno betrachtete dies geradezu wunderbare Schauspiel befremdet und gefesselt zugleich, als Assanoff, der seine Lebensgeister allmählich gesammelt hatte und wieder zu sich gekommen war, den Vorschlag machte, ans Land zu gehen, um so gleichzeitig das Boot leichter zu machen und sich das Vergnügen eines Spaziergangs zu gönnen. Der spanische Offizier nahm den Vorschlag bereitwilligst auf, und die beiden Gefährten begannen durchs hohe Gras zu marschieren, wobei sie ihr Fahrzeug überholten, und, sicher, es schon wieder anzutreffen, hin und wieder in eine Lichtung hinein einen Abstecher machten. Bei dieser Gelegenheit konnte Moreno bemerken, daß die Waldgegend, die der Rio durchströmt, keineswegs so verlassen sei, wie es ihm zunächst geschienen hatte. Von Zeit zu Zeit sahen er und sein Kamerad plötzlich aus dem Dickicht aufgescheuchte Rudel kleiner schwarzer Schweine hervorbrechen, Tiere, die unsern Frischlingen sehr ähnlich sehen, mit langen, starren Borsten und zierlichen Beinen, und so lebhaft und gewandt, so munter und hübsch, daß ihre Vettern in Europa sie samt und sonders verleugnen würden. Das kleine Volk riß beim Anblick der Fremden durchs Gebüsch aus, was die Beine halten wollten, und lenkte so ihre Blicke wohl auf eine unter den Bäumen verborgene viereckige hölzerne Hütte, die den bläulichen Dampf ihres Herdes zum Himmel emporsandte und, wie man getrost versichern kann, allemal von Menschen – Männern, Weibern, Kindern – bewohnt war, denen das Schicksal die Gabe der Schönheit eben so reichlich beschert hatte wie die Lumpen der Armut. Seit es menschliche Kulturen gegeben hat, ist es wohlbekannt, daß die Bevölkerung des Phasistales schön ist. Man hat ihr diese seine Meinung zu erkennen gegeben, indem man sie raubte oder verkaufte, anbetete oder abschlachtete, da ja nun einmal die Menschen, im ganzen wie im einzelnen genommen, eine andere Art ihre Liebe zu bekunden vom Himmel nicht zu eigen erhalten haben. Trotz alledem ist es gewiß, daß diese Schönheit nicht als verhängnisvoll betrachtet zu werden braucht, denn aus den Wäldern des Phasis und dem Elend ihrer Hütten sind genug berühmte und mächtige Königinnen, genug gebietende Favoritinnen und Königsgeschlechter hervorgegangen. Um alle beide, Weiber wie Männer, auf den Thron, oder den Thron unter ihre Füße zu bringen, hat das Schicksal nichts von ihnen verlangt, nicht Geist noch Gaben noch ruhmvolle Geburt, es hat sich einzig mit ihrer schönen Erscheinung begnügt. Nicht selten pflegt das Gerücht zu übertreiben: wenn ein Reisender zufällig ein hübsches Mädchen zu sehen bekommt, das ihm einen erfreulichen Eindruck hinterläßt, so überträgt er diesen auf eine ganze Provinz, und die unangenehmen Eigenschaften einer rothaarigen Wirtin werden durch den Machtspruch eines derartigen Richters gar auf alle Wirtinnen eines ganzen Reichs ausgedehnt. Aber in unserem Fall liegt nichts Derartiges vor: die Natur hat sich hier in der Tat selbst übertroffen und die Phantasie hinter sich gelassen. Alles, was über die körperliche Vollkommenheit der Bevölkerung am Phasis je geschrieben, gesagt und gesungen worden ist, ist buchstäblich wahr, und selbst das mißwollendste Urteil wird, wenn es der Wahrheit die Ehre geben will, nichts davon abdingen können. Was ganz besonders bemerkenswert und aller Regel zuwider erscheint, ist der Umstand, daß diese Bauern und Bäuerinnen, ihrem Elend zum Trotz, von einer ganz außerordentlichen Vornehmheit und Anmut der Erscheinung sind. Ihre Hände sind reizend, ihre Füße entzückend, Form, Gelenke und alles andere an ihnen einfach vollendet, und man kann sich leicht denken, wie ebenmäßig und gerade der Gang derartiger Geschöpfe sein muß, in deren Bau kein Tadel zu finden ist.
Assanoff war an den Anblick imerethischer und ghurielischer Mädchen viel zu sehr gewöhnt, um so betroffen zu sein wie Moreno. Er fand sie wohl hübsch, aber da sein Schwarm nun einmal die Zivilisation war, so erkannte er den Reizen der Madame Marron (Aîné), wenn schon sie mit den Jahren etwas fadenscheinig geworden waren, einen bedeutend höheren Rang zu.
Es wird dem Leser vielleicht aufgefallen sein, daß der »Feind des Geistes« die Fahrt der Offiziere nicht mitmachte, obwohl man nach seinen Versicherungen am vorausgehenden Abend diese Absicht bei ihm hätte voraussetzen sollen. Assanoff, der im Augenblick der Abfahrt sehr wenig Herr seiner Sinne war, hatte sich um die Abwesenheit seines Freundes gar nicht gekümmert; er dachte erst daran, als das Boot schon ziemlich weit war. Moreno hatte an der abendlichen Unterhaltung keinen Teil genommen, so daß Gregor Iwanitsch volle Freiheit gehabt hatte, nach seinem Belieben zu handeln. Über Nacht war ihm Rat gekommen. Er hatte sich so zwischen seiner Trunkenheit hindurch überlegt – denn nie war er schlauer und gewitzigter, als wenn er bezecht war – daß es eine Dummheit sei, in Schemacha zusammen mit einem solchen Durchgänger wie Assanoff einzutreffen, der doch nur seinen Vergnügungen nachgehen würde und der ihm obenein durchaus nicht einmal angenehm war. Gregor Iwanitsch war auch keineswegs so verblendet, um anzunehmen, der Ingenieur werde zum Dank für die vielen Vergnügungen, zu denen er ihm teils in Befolgung seiner religiösen Grundsätze, teils aus angeborener Gutmütigkeit verholfen, seinerseits den Edelmütigen spielen und zum erstenmal in seinem Leben Bedenken tragen, ihm ins Gehege zu kommen oder ihm Ärger zu verursachen. Im Gegenteil, er wußte aus sicherer Erfahrung, daß nichts dem zivilisierten Tataren so lieb sein würde als ein derartiger Zusammenstoß, aus dem sich unfehlbar eine hinreichende Menge guter oder übler Späße, Eulenspiegeleien und Renommistereien würden herausziehen lassen, um ein ganzes Jahr hindurch alle Garnisonen und Quartiere im Kaukasus zu unterhalten.
Infolgedessen verzichtete er auf die Erfüllung seines Versprechens, entschloß sich, allein und schnell zu reisen, und nahm ein paar Stunden nach Abfahrt der Soldaten eine eigene Barke. Er richtete sich so ein, daß zwischen ihm und den Vorauffahrenden ein kleiner Abstand blieb, um dann, als die Dunkelheit hereingebrochen war, anstatt mit den beiden Freunden in einer der Bretterhütten zu übernachten, wie solche von Staats wegen für den Bedarf der Reisenden eingerichtet sind, vielmehr die Vorspannkräfte seiner Bootsleute zu verdoppeln. So erreichte er am Morgen Kutaïs, nahm die Post, fuhr durch Tiflis ohne Aufenthalt durch und gelangte nach Schemacha.
Schemacha ist keine große, ja nicht einmal eine merkwürdige Stadt. Die alte Eingeborenenniederlassung ist fast völlig verschwunden, um einer Menge moderner Bauten Platz zu machen, die zwar ganz gut gemeint sein mögen, jedenfalls aber jeder Physiognomie ermangeln. Auch die reichen Mohammedaner haben sich ihren Bedürfnissen und Gewohnheiten angepaßte russische Häuser bauen lassen; man sieht staatliche Magazine, Kasernen, eine Kirche, kurz, das, was man überall zu sehen bekommt, und der Polizeichef, ein ehemaliger Kavallerieoffizier, ein wackerer Mann, der Singvögel züchtete und einen beträchtlichen Teil seines Lebens in dem riesigen Käfig zubrachte, wo er seine Zöglinge untergebracht hatte, war neben dem Gouverneur der bestlogierte Mann im Land, weil seine Wohnung der eines deutschen Mittelbürgers am nächsten kam. Gregor Iwanitsch Wialg begab sich zunächst dorthin, klopfte an die Tür und ward eingelassen.
Er betrat den Salon ganz mit der aufgeknöpften Manier, die ihm eigen war; er grüßte nicht einmal das Heiligenbild, das hoch oben in einer Ecke hing.
»Mein bester Freund,« sagte er, »ich habe eine große Reise hinter mir; ich komme von Konstantinopel und, unmittelbar, von Poti. Ich habe mir keine Stunde Ruhe gegönnt und bringe Ihnen Glück mit.« – »Das soll mir hochwillkommen sein,« erwiderte Paul Petrowitsch, »wirklich hochwillkommen. Es ist eine ganz brave Frauensperson, das Glück, wenn schon von einem gewissen Alter und nicht ohne Launen. Aber ich dächte, deshalb hätte ihm noch niemand auf der Welt je wissentlich seine Tür verschlossen.«
»Mit einem Wort, ich habe in unseren Geschäften mehr Erfolg gehabt, als ich mir je hätte träumen lassen.« – »Erzählen Sie mir nur alles haarklein«, entgegnete Paul Petrowitsch mit glückseliger Miene, indem er sein blaubaumwollenes Taschentuch mit roten Streifen über seine Knie breitete und eine große Prise Tabak zur Nase führte.
»Die Geschichte ist nämlich so. Wie wir abgemacht, bin ich nach meinem Abschied von Ihnen vor zwei Monaten zunächst nach Redut-Kale gegangen und dort mit dem Armenier zusammengetroffen, mit dem ich mich verabredet hatte. Er hat mir die Sachlage auseinandergesetzt. Er und seine Helfershelfer haben, wahrhaftig für einen billigen Preis, sechs kleine Mädchen und vier kleine Jungen gekauft. Er meint, daß von den hoffnungsvollen Kindern wenigstens vier einmal ungewöhnlich schön werden, und ein kleines Mädchen, das er geradezu für ein Stück Brot gekauft hat, verspricht unbedingt etwas ganz Außerordentliches.« – »Du erquickst mein Herz, liebe Seele,« rief Paul Petrowitsch.
»Der Armenier hat mir erklärt, wenn er schon voriges Jahr das denkbar beste Vorhandene völlig ausverkauft habe, so wolle er diesmal seine Ware noch verbessern.« – »Er ist ein gescheiter Mensch, das hab' ich immer gesagt und gedacht,« brummte Paul Petrowitsch vor sich hin.
»In dieser Absicht,« fuhr Gregor fort, »hat er ein hübsches Landhaus gekauft und wohnt nun dort mit vier Mädchen, seinen zwei Nichten, einem Neffen und einem Vetter seiner Frau, im ganzen zehn Personen. Sie können meinem Bericht doch folgen?« – »Gewiß.«
»Für all dies kleine Volk hat er sich nun Pässe verschafft, Papiere, Urkunden, so schön man sie nur haben kann, kurz alles, was er braucht. Ich habe in seinen Büchern den Preis gesehen, und, offen gesagt, die Sache ist nicht teuer gewesen.« – »Darüber könnte ich mich fast ärgern,« sagte der Polizeichef. »Das heißt die Autorität in Mißkredit bringen, wenn ihre Vertreter sich zu so leichten Zugeständnissen verstehen. Aber vielleicht habe ich zu strenge Grundsätze. Fahren Sie fort!«
»Der Armenier hat einen russischen und einen französischen Sprachlehrer angenommen, welch letzterer zu gleicher Zeit Geographie lehrt, dazu noch eine schweizerische Erzieherin. Die Kosten für diese Maßregeln werden ihn nicht gerade zugrunderichten, und das Ergebnis seiner Spekulation wird sein, daß unsere Gesellschaft von jetzt ab allen Türken, die in Europa erzogen sind und sich ein angenehmes Heim schaffen möchten, oder auch sonst Leuten jeden Bekenntnisses, die Schönheit und Begabung zu schätzen wissen, geeignete Frauen und tüchtige Verwalter wird beschaffen können.« – »Dieser Armenier ist doch wahrhaftig ein feiner Kopf,« murmelte Paul Petrowitsch, indem er seine Augen zum Himmel erhob und seine Hände über dem Bauch zusammenfaltete.
»So was Ähnliches hat unser amerikanischer Geschäftsteilhaber in Konstantinopel bei der Teilung des letztjährigen Gewinns auch gesagt. Das steht jedenfalls außer Zweifel, daß der Weg, auf dem wir uns jetzt befinden und die unbegrenzte Ausdehnung unseres Geschäfts uns zu Zielen führen werden, die weit über unsere Hoffnungen hinaus liegen.« – »Das denk' ich auch, mein lieber, vortrefflicher Freund. Aber was mehr besagen will – denn ich denke nicht nur an meinen eigenen Besitz, ich kümmere mich auch um das Glück meines Nächsten! Ich bin sogar in erster Linie Menschenfreund! – bedenke nur, wieviel Gutes wir stiften!«
»Das ist ganz klar,« erwiderte Gregor Iwanitsch mit überlegenem Grinsen, »wir kaufen für einhundert Rubel pro Stück armes kleines Affenzeugs auf, das sonst verurteilt ist, sein Leben hier unten in Hunger und Schmutz zu fristen, wir machen es artig und sanftmütig, liebenswürdig und verträglich, und nachher wird dann so was zu großen Damen und richtigen Herren, oder doch mindestens zu braven Bürgersleuten und tüchtigen Dienern. Ich möchte wissen, wer auf der Welt mehr Ruhm beanspruchen könnte als wir! Aber ich bin nicht zu dir gekommen, um zu moralisieren. Da hast du deinen Gewinnanteil.«
Bei diesen Worten zog Gregor Iwanitsch aus seiner Überziehertasche ein großes Portefeuille, aus dem Portefeuille einen Packen Bankbilletts, und eine gute halbe Stunde waren die beiden Freunde in Rechnungen vertieft, deren Ergebnis offenbar bei Paul Petrowitsch eine lebhafte Befriedigung hervorrief. Als die Geldmanscherei endlich zu Ende war, rief der würdige Polizeichef mit lauter Stimme nach Branntwein, und während die Gläser sich füllten, geleert wurden und von neuem füllten, sprach der »Feind des Geistes« zu seinem Gesellen:
»Auch die beste Münze hat ihre Kehrseite. Das vorige Jahr war gut, das nächste wird noch besser werden, aber dieses Jahr haben wir fast lauter Nieten, dank der schwachköpfigen Leokadia Marron, die uns drei Mädchen gekauft hat, mit deren Figur eine unliebsame Veränderung vor sich gegangen ist. Wenn unsere treffliche Tanzmeisterin, Furugh el Hösnet, uns helfen wollte, so könnte sie es wohl, und ihre Hilfe würde sehr gelegen kommen.«
»Väterchen, du mußt nicht versuchen, mich zu hintergehen. Du möchtest Schönheitglanz selbst verkaufen. Aber du tust nicht wohl daran, denn sie wird nicht wollen, und ich ebensowenig.«
»Auf was für eine verrückte Idee du da verfällst, Paul Petrowitsch! Schönheitglanz hätte sich vielleicht ganz gut unterbringen lassen, wenn sie und ebenso wir vor ein fünfzig Jahren gelebt hätten, wo der Geschmack noch etwas anderes war, als was wir heute darunter verstehen. Diese Frau muß ja ein Gewicht haben von . . . Na, welches Gewicht könnte sie überhaupt nicht haben? Heutzutage will man nur noch zierliche Frauen und redet dann von seiner Erscheinung. Ich bin ganz sicher, Schönheitglanz würde keine zweihundert Dukaten einbringen und davon mindestens die Hälfte für sich behalten wollen, wenn nicht mehr. Das nenne ich kein Geschäft. Schieb mir doch nicht so lächerliche Ideen unter. Keine Minute habe ich an Schönheitglanz gedacht: aber Umm Djehan, darüber ließe sich reden. Sie ist nicht hübsch, aber sie spricht französisch und russisch. Man müßte ihr einen ziemlich starken Anteil am Gewinn überlassen, aber da wir bei ihr weder Erziehungs- und Ernährungs-, noch auch Unterhaltungskosten gehabt haben, so würde das nichts bedeuten. Ich habe gerade in Poti einen französischen Baumrindenhändler gesprochen, der mir versichert hat, er kenne in Trapezunt einen alten zurückgezogenen Kaïmakam, der eine wohlerzogene Frau suche, und zwar will er eine Mohammedanerin, um sich die Mühe der Bekehrung zu sparen. Mir will scheinen, Umm Djehan passe dafür ausgezeichnet.«
»Umm Djehan wird deines Kaïmakams Fall sein, wenn dein Kaïmakam ihr Fall ist,« antwortete sententiös der Polizeichef. »Sprich darüber mit Schönheitglanz. Du wirst ihre Meinung hören.«
Mit diesen Worten trennten sich die Geschäftsfreunde; wir müssen hier aber noch eine Bemerkung einflechten. Man würde dem »Feinde des Geistes« sehr unrecht tun, wenn man in ihm einen erfolgreichen Rivalen unserer Opernbösewichte oder auch nur irgendwie einen bösartigen Menschen sehen wollte. Er war das eine so wenig wie das andere. Im Punkt der Moral huldigte er den Anschauungen seiner Glaubensgenossen, und das war nicht seine Schuld, denn er war von und mit ihnen und wie sie erzogen worden. Man könnte sogar fast sagen, daß er es ganz harmlos meinte, da er in dem, was er für Vernunft und Wahrheit hielt, nichts Unrechtes erblicken konnte. Er war ein durch Mißleitung verdrehter Kopf, aber kein eigentlicher Schelm, und was seine Geschäfte betrifft, so betrieb er sie mit einer Gewissensruhe, die vielleicht ebenso berechtigt war wie die der Herren Heiratsvermittler in Paris, die auf eine vierzigjährige erfolgreiche Tätigkeit zurückblicken. Die europäischen Gesetze verbieten den Sklavenhandel aufs strengste; das erleidet keinen Zweifel, und unter diesem Gesichtspunkt waren der russische Polizeichef, der armenische Händler, der amerikanische Spekulant und der französische Handlungsreisende – nebenbei bemerkt alles Christen – ganz einfach nicht mehr noch weniger als Lumpen. Aber in einem Lande, wo selbst unter den normalsten Bedingungen Ehen niemals anders geschlossen werden als durch wirklichen oder doch wenigstens scheinbaren Kauf der Frau, wo der männliche Sklave unmittelbar nach den Kindern und vor der Dienerschaft kommt, konnte es wenigstens dem »Feind des Geistes« und seiner asiatischen Kundschaft an der nötigen Gewissensruhe unmöglich fehlen. Es soll dies nicht gesagt sein, um Gregor Iwanitsch ein Loblied zu singen, sondern nur, um ihn ins rechte Licht zu rücken. Er war, das kann man unbedenklich versichern, Lebemann aus Überzeugung und dank seiner Glaubenslehre in der Verfolgung seines eigenen und der Beförderung fremden Genusses frei von allen und jedem Bedenken, von Natur aus gefällig und endlich niemandem in der ganzen Welt irgendwie übel gesinnt, den Geist natürlich ausgenommen, der all unser Unglück hienieden anrichtet. In diesem Punkt bestand er auf seiner Überzeugung.
Als er den Polizeichef verlassen hatte, begab er sich zu Schönheitglanz und fand die Dame in dem gleichen erfreulichen Gesundheitszustand, in dem er sie bei seinem letzten Besuch verlassen hatte. Sie befand sich in einem Zimmer, das trotz seiner fast europäischen Bauart nichtsdestoweniger tatarisch möbliert und eingerichtet war. Man sah zwar an den geweißten Kalkwänden goldene Rahmen mit kolorierten Kupferstichen, die die Geschichte von Cora und Alonzo darstellten, ferner ein Steindruckbildnis des Marschalls Paskewitsch, der einen ungeheuerlichen Schnurrbart trug und dank einer wahrhaft genialen Idee des Künstlers mit einem Auge in der Richtung nach Eriwan und mit dem andern nach Warschau sah; aber trotz dieser Anleihen bei einem fremdländischen Luxus war der Teppich, der auf dem Boden lag, persisch, und die Wände entlang standen kleine schmale Polsterbänke, die als Diwane dienten und mit einheimischen Stoffen bedeckt waren. Schönheitglanz saß mit ihrem Vollmondgesicht, Augen, die wie zwei etwas verblaßte Diamanten funkelten, einem Mund, der die Farbe eines Granatapfels trug, und einer Formenfülle in ihrer Gesamterscheinung, die einen echten Osmanli in wahre Verzückung versetzt hätte, in sich zusammengekauert mitten in einem Haufen von Kissen und rauchte kunstgerecht ihren Tschibuk, den sie mit der rechten Hand hielt, während die linke, faul auf dem Polster ruhend, die Perlen eines Tesbih oder mohammedanischen Rosenkranzes drehte. Kurz, sie ging gewissenhaft ihrer täglichen Beschäftigung nach, die im Nichtstun bestand.
Indessen wäre es verwegen zu behaupten, daß sie an nichts gedacht hätte. Einen solchen paradiesischen Zustand kennen die Männer in sehr vielen Ländern, aber ob die Frauen irgendwo und -wie dazu gelangen, steht zu bezweifeln. Die Tanzlehrerin dachte also wahrscheinlich an etwas. Als sie Gregor Iwanitsch erblickte, sagte sie mit einer gewissen Lebhaftigkeit zu ihm: »Es Selamu Aleikum! Seid willkommen!« – »Aleik es Selam, Herrin«, erwiderte der »Feind des Geistes«, »meine Augen erstrahlen über das Glück, Euch zu sehen.« – »Bismillahi! Nehmt bitte Platz!« – Sie klatschte in die Hände, und eine sehr schmutzige Magd erschien. – »Bring uns eine Flasche Raki und zwei Gläser.« Gregor hatte sich gesetzt, und als der Branntwein zwischen ihm und der Herrin des Hauses stand, hatte die Flasche einen zwei- bis dreimaligen Angriff auszuhalten. Als die beiden sich dann in genügend behaglicher Verfassung befanden, begannen sie ihre Unterhaltung.
»Herrin,« sagte der »Feind des Geistes«, »ich habe soeben dem ehrenwerten Paul Petrowitsch eine ausgezeichnete Gelegenheit dargelegt, Umm Djehans Glück zu machen.« – »Wenn Ihr Glück machen wollt,« antwortete Schönheitglanz, »so wird sie Euch das voraussichtlich sehr wenig danken. Immerhin müßte man wissen, wie Ihr Euch die Sache denkt.«
Gregor Iwanitsch machte mit der rechten Hand eine Bewegung in der Luft und schüttelte den Kopf in einer Weise, die Uneigennützigkeit und Edelmut ausdrücken sollte.
»Pah,« sagte er, »das weiß ich wohl! Wenn ich mich ihr in der Angelegenheit nützlich erweisen wollte, so würde ihr das heute ebensowenig Eindruck machen, wie das vor drei Monaten der Fall war. Sie will von ihrem Diener nichts wissen, das steht fest, und dieser ihr Diener hat auch gar keine Lust, sich Unannehmlichkeiten auf den Hals zu ziehen und dann noch obenein Mißachtung zu ernten. Derartige Dummheiten überlaß ich den Dienern des Geistes. Nein, laßt mich aus dem Spiel. Ich will ganz einfach Umm Djehan die Heirat mit einem Kaïmakam vorschlagen. Um gleich alles herauszusagen, ich habe neulich ihre Photographie mitgenommen, die vor acht Jahren die Generalin hat anfertigen lassen. Ich habe sie dem würdigen Herrn, von dem ich rede, gezeigt, und wahrhaftig, er hat Feuer gefangen. Ich wiederhole, er ist ein würdiger Herr. Er ist erst siebzig Jahre; er gilt für einen strengen Muselman; er trinkt weder Wein noch Branntwein, was Umm Djehan bei ihrem ausgesprochenen Haß gegen solche schöne Dinge sehr gefallen wird; noch stärker verabscheut er die Europäer, was ihr, die ihre Empfindungen in diesem Punkte nur schlecht verhehlt, ebenfalls recht sein wird; endlich ist er auch reich. Ich kenne Güter von ihm in drei Dörfern in der Umgebung von Batum, und er hat obenein ein hübsches Einkommen aus den Silberminen von Gümüsch Chana. Nun seht zu, was Ihr tun wollt.« – »Ich liebe Umm Djehan zärtlich,« erwiderte Schönheitglanz. »Sie ist meine Adoptivtochter. Mein Herz blutet schon beim bloßen Anhören Eurer Worte; was soll aus mir werden, wenn ich mich von dem Kind trennen muß? Tausend Tode werde ich sterben; begraben wird man mich müssen; ich bin jetzt schon begraben! Das will überlegt sein! Wieviel will man mir denn für meine Einwilligung zu einem solchen Opfer geben?«
Gregor Iwanitsch streichelte sich das Kinn. – »Das ist in der Tat eine wichtige Sache. Umm Djehan soll ein Drittel von dem bekommen, was der Kaïmakam zahlt; das zweite Drittel bekomme ich als der eigentliche Stifter der glücklichen Verbindung, und das dritte Drittel sollt Ihr mit unserm lieben und guten Freund, dem Polizeichef, teilen. Der Käufer bietet zweitausend Silberrubel.« – »Zweitausend Silberrubel?« antwortete die Tanzlehrerin mit bestürzter Miene, »wo denkt Ihr hin? Wie habt Ihr einen derartigen Vorschlag nur anhören können, ohne geradewegs herauszulachen? Ein Mädchen, das eine wahre Perle von Tugend und Unschuld ist, das nie anders getanzt hat als vor den angesehensten Leuten wie vor Generalen und Obersten, höchstens – ein- oder zweimal – vor Majoren! Ein Mädchen, das russisch und französisch spricht, als ob sie diese Sprachen erfunden hätte, das zudem lesen und schreiben kann und sich sogar auf Geographie versteht! Ein Mädchen, das . . .!«
Gregor Iwanitsch legte ihr mit sanfter Vertraulichkeit die Hand auf den Mund und setzte seinerseits die Litanei fort: »Ein Mädchen, das reizend, aber auch sehr mager ist, das ganz hübsche, aber für gewöhnlich nicht besonders zärtlich blickende Augen hat; ein Mädchen, das eine Menge schöner Dinge weiß, ganz gewiß, das aber auch das Messer sehr erbaulich zu handhaben versteht, wovon ich selbst den Beweis an meiner Schulter trage, und das leider nicht immer besonders liebenswürdig gelaunt ist; kurz, ein Mädchen, das ein eingefleischter Teufel ist. Für sie zweitausend Rubel bezahlen heißt meines Erachtens sein eigenes Unglück so teuer wie nur möglich erkaufen.« – »Aber für mich soll nur ein Sechstel der Summe sein und nicht mehr?« »Ein Drittel wollt Ihr sagen.« – »Wieso? Ich soll doch mit Paul Petrowitsch teilen!«
»Natürlich werdet Ihr ihm doch alles abnehmen, ganz abgesehen von dem, was Ihr ihm schon ohnehin geraubt habt. Wollt Ihr mir glauben, daß er sich, wenn er getrunken hat, an meinem Herzen über das Unglück ausweint, in das Ihr ihn stürzt? Gregor Iwanitsch, sagt er mir dann, dies Weib ist so schön, so liebenswürdig, so verlockend, daß sie mich ins Grab bringen wird, und zwar in derselben Bekleidung, die ich bei meiner Geburt trug! Und dann vergießt er Ströme von Tränen, ich muß ihm die Augen trocknen und ihn persönlich zu Bett bringen. Redet also keine Torheiten! Ihr werdet ein Drittel für Euch haben, und wenn Ihr nicht wollt, so laßt Ihr's bleiben!« – »Nun wohl denn! Gregor Iwanitsch, Ihr seid für mich der reinste Vater, das kann ich gar nicht oft genug sagen. Wenn ich allein bin, so ruf ich oft: Schönheitglanz, bedenke nur, daß Gregor Iwanitsch dein Vater ist! Sagt also Paul Petrowitsch nur, er solle mir eine goldene Uhr schenken, mit Blumen in Schmelz darauf, so wie die Frau des Provinzialgouverneurs eine hat; dann wollen wir wegen Umm Djehan miteinander sprechen.« – »In diese Geschichten mische ich mich nicht. Ihr könnt von Paul Petrowitsch haben, was Ihr nur wollt, und habt keinen Vermittler dazu nötig. Übrigens die Zeit drängt. Wollt Ihr noch heute mit der Erledigung unseres Geschäftes den Anfang machen oder nicht?«
Schönheitglanz wiegte mit unterwürfigem Ausdruck ihren Kopf von rechts nach links.
»Man kann Euch nichts abschlagen, Gregor Iwanitsch! Wallahi! Billahi! Tallahi! Ich will mich gleich ans Werk machen; aber schenkt mir doch bitte zur Erinnerung an Eure Güte den kleinen Türkisring, den Ihr da an der linken Hand tragt. Türkisen bringen Glück!« – Der »Feind des Geistes« zog liebenswürdig den Ring von seinem Finger und bot ihn der Dame dar, die ihn zunächst an ihre Stirn führte und dann aus ihrem Busen eine Kaschmirbörse hervorzog, in der sie ihre neue Erwerbung zu andern Stücken älteren Datums verschwinden ließ. Alsdann nahm Gregor Iwanitsch Abschied; fast im gleichen Augenblick brachte Schönheitglanz mit merklicher Anstrengung ihre schwere Masse in die Höhe, stellte sich auf die Füße und ging, mit einer wiegenden Bewegung der Hüften, die täglich unzählige Bewunderer zum Entzücken hinriß, aus dem Zimmer, den Tschibuk in der einen Hand und den Rosenkranz in der andern. An den Türen der Zellen, die von mehreren ihrer Schülerinnen bewohnt waren, schritt sie ohne weiteres vorbei, um endlich diejenige Umm Djehans zu öffnen. Sie trat ein.
Der Raum war klein und eng. Nichts stand darin als in einer Ecke ein sehr kurzes Sofa. Keine europäischen Stiche, nirgends irgendwelcher Luxus; kein Tschibuk – Umm Djehan rauchte nicht; kein Glas, keine Flasche – sie trank auch nicht; einfach nichts, nicht einmal ein Schmink- oder Bleiweißnäpfchen – sie schminkte sich nicht, was bei einer Stadtbewohnerin unerhört war, so daß sogar diejenigen, die ihr am meisten wohlwollten, diese Laune als einen der bedauerlichsten Züge ihres Charakters bezeichneten.
Als die Lehrerin eintrat, saß die junge Tänzerin da, die Wange auf die linke Hand, den Ellenbogen auf ein Kissen gestützt. Sie starrte in völliger Gedankenlosigkeit und Sinnesabwesenheit vor sich hin. Bekleidet war sie mit einem engen Gewand von karmesinroter Seide mit gelben, blaugeblümten Streifen. Ein rotes goldgesticktes Schleiertuch war in das schwarze Haar geflochten; um den Hals trug sie eine goldene emaillierte Kette und in den Ohren wie an den Armen Schmuckstücke gleicher Art.
Gregor Iwanitsch hatte recht: Umm Djehan war nicht, was man eigentlich hübsch nennt. Trotzdem hatte sie ihn gefesselt und eingenommen, und das war begreiflich. Es strömte von diesem jungen Mädchen etwas mächtig Verlockendes aus. Wollte man die Gründe dafür angeben, man würde keine finden; nichtsdestoweniger verspürte man unaufhörlich die Wirkung dieser Eigenschaft. Sie war eins von den Geschöpfen, die hinreißen, berauschen, dämonisch bestricken, ohne selbst sagen zu können wie und warum. Es ist wahr, ein kühlerer Beurteiler hätte nur ein einziges Beiwort auf sie anzuwenden gefunden; er würde gesagt haben: Sie ist fremdartig, aber kein Beurteiler wäre in ihrer Gegenwart kühl geblieben. – »Liebe Seele,« sagte Schönheitglanz, indem sie sich ihrer Schülerin zur Seite setzte, »hört mir wohl zu, es handelt sich um ein großes Geheimnis.« – Als sie hierauf Umm Djehans Augen auf die ihrigen gerichtet sah, begann sie ihr die eben stattgehabte Besprechung mit Gregor Iwanitsch von einem Ende zum andern zu erzählen.
An den zahlreichen rhetorischen Vorsichtsmaßregeln, die sie anwandte, an den verlockenden Wendungen, die sie in ihre Erzählung einschob, an dem honigsüßen und schmeichlerischen Ton aller ihrer Worte, an dem, was sie verschwieg, wie an dem, was sie mit vielen Schwüren beteuerte, merkte man deutlich, daß die Tanzlehrerin nicht erwartete, die junge Lesghierin leicht umzustimmen. So war sie denn angenehm überrascht, als jene ihr nach einem Augenblick ganz kurzer Überlegung eine ermutigende Antwort gab, auf die sie nicht gefaßt war. – »Wie soll ich mich denn,« sagte sie, »versichern, daß dieser Gregor Iwanitsch und die andern mir keine Schlinge legen?« – »Du wärst also geneigt, Blume meiner Seele, den Kaïmakam zum Mann zu nehmen?« – »Auf der Stelle, aber ich will mich nicht betrügen lassen.«
Sie stieß diese Worte heftig heraus; ihre Augen, die ohnehin mit der übrigen Gesichtsfläche nicht gleich standen, sondern mit etwas tragischem Ausdruck unter einer gewölbten Stirn lagen, schienen sich noch tiefer in ihre Höhlen zurückzuziehen, und ihre Miene wurde so sprechend, daß Schönheitglanz im Ton der Überzeugung antwortete: »Wie sollte man wohl mit derartigen Dingen sein Spiel treiben? Übrigens wäre es doch wohl nicht leicht, so etwas ins Werk zu setzen.«
Umm Djehan antwortete nicht. Sie heftete ihren Blick auf den Fußboden und versank in Träumerei. Von so seltsamer Fügsamkeit gerührt, legte ihre Herrin ihr den Arm um den Hals und wollte sie küssen, als die schmutzige kleine Magd eintrat.
»Herrin,« sagte sie, »der Herr Polizeichef läßt Euch sagen, Ihr solltet heut abend mit Djemile und Talheme zum Gouverneur kommen, um zu tanzen.« – »Gibt es denn ein Fest?« – »Es sind fremde Gäste da.« – »Offiziere?« – »Jawohl, Offiziere. Sein Diener hat's mir gesagt. Aber auch Muselmanen, Aga Chan und Schemseddin Bey.« – »Weißt du, ob Gregor Iwanitsch dort sein wird?« – »Ich weiß nicht; aber der Herr Polizeichef sagt, Ihr solltet die schönsten Kleider anziehen; es wird große Geschenke geben.«
Der kleine Schmutzfink entfernte sich.
»Große Geschenke, große Geschenke! das ist leicht gesagt,« murmelte Schönheitglanz; »versprochen bekomme ich sie mit großer Sicherheit jedesmal, aber wollte ich daran glauben, ich müßte Hungers sterben. Trotzdem – man muß hingehen, das ist klar. Wie sollte man sich der Sache entziehen? Du aber, mein Augapfel, wo du nun mit dem Kaïmakam so gut wie verheiratet bist, hast nicht nötig, solche Hunde zu unterhalten, und kannst hierbleiben, wenn es dir paßt.« – »Ganz und gar nicht paßt es mir. Im Gegenteil, ich gehe mit Euch und den andern zum Gouverneur. Seht her! eben als Ihr mit Durr es Seman spracht (d. h. Perle der Zeit; so lautete in der Tat der Name der jungen Maritorne), habe ich dreimal hintereinander das Istichara befragt und dreimal dieselbe Zahl von Perlen gehabt.«
Sie zeigte ihren Rosenkranz, den sie fest in beiden Händen hielt, murmelte zwischen den Zähnen ein Stückchen von einem Gebet und stand auf. Schönheitglanz wußte gegen einen so zwingenden Beweisgrund wie die Entscheidung des Istichara schlechterdings nichts einzuwenden, und da sie sich soeben ungewöhnlich angestrengt hatte, so kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um bis zur Ankleidestunde zu schlafen, und überließ Umm Djehan nach ihrem Belieben den Gedanken an das neue Abenteuer, in das ihr ohnehin schon so bewegtes Leben sie verstricken zu wollen schien.
Es war durchaus richtig, daß der Gouverneur von Schemacha sich in Unkosten zu stürzen beabsichtigte. Er gab zwei Offizieren, die nach Baku reisten, ein Mahl, nämlich dem Leutnant Assanoff und dem Kornett Moreno, und hatte bei dieser Gelegenheit die Offiziere des in der Stadt liegenden Infanterie-Bataillons und seinen Herzensfreund, den Polizeichef eingeladen.
Obwohl später als der »Feind des Geistes« waren Assanoff und Don Juan doch eingetroffen, von der Fahrt etwas ermüdet und gelangweilt, aber um so vergnügter darüber, nunmehr nahe am Ziel zu sein, denn Baku ist von Schemacha nicht mehr weit entfernt. In Tiflis waren sie kaum einige Stunden geblieben; die vorgesetzte Behörde hatte sie in Rücksicht auf Gerüchte von ernsthaften Bewegungen im Daghestan verpflichtet, unverzüglich jeder zu seiner Truppe zu stoßen. Für Moreno war das eine tröstliche Aussicht. Je mehr er sich von Spanien und der Dame, die er liebte, entfernte, um so mehr verwandelte sich die Entmutigung der ersten Stunden in eine krankhafte Resignation, die am Kern seines Lebens nagte. Er fühlte, daß seine frühere Existenz zu Ende sei, empfand aber keine Neigung, eine neue zu beginnen. Herodot erzählt, daß, wenn im alten Ägypten das Heer mit dem Tun und Lassen des Herrschers unzufrieden gewesen sei, die Männer der Kriegerkaste ihre Waffen zur Hand genommen, sich abteilungsweise zusammengeschlossen hätten und der Grenze zumarschiert wären. Die Diener des verlassenen Monarchen eilten ihnen auf seinen Befehl nach und sagten: »Was wollt Ihr tun? Ihr verlaßt die Euern? Ihr gebt leichten Muts Eure Häuser und Eure Besitztümer auf?« Jene antworteten mit Stolz: »Besitztümer? Mit dem, was wir in der Faust führen, gedenken wir uns wertvollere zu erringen! Häuser? Die kann man bauen. Weiber? Die gibt's aller Orten, und diejenigen, die wir finden werden, können uns neue Kinder schenken.« Nach dieser Antwort marschierten sie weiter, ohne sich durch irgend etwas aufhalten zu lassen.
Moreno war kein so derber Haudegen, wie solche denn in der Gegenwart überhaupt kaum noch begegnen. Mag es nun eine Folge der Gesittung oder größerer Zartheit und Schwäche der Phantasie und des Herzens sein, es gibt heutzutage wenig Menschen, deren Glück und Lebenskraft nicht außerhalb ihrer selbst läge, in einem fremden Wesen oder einer fremden Sache. Fast jeder gleicht heute einem Embryo: er empfängt seine Nahrung von einem Lebensherd, der nicht der seine ist, und wenn man ihn unbedacht von diesem trennt, so ist es sehr fraglich, wenn nicht gar unmöglich, daß er noch gedeihen kann. Obenein machte auf Moreno alles, was er bis jetzt in der neuen Sphäre, in die er verpflanzt war, gesehen hatte, den Eindruck eines Traums, eines Traums von der ganz besonders verwirrenden Art, in der der Verstand nicht mehr aus noch ein weiß. Assanoff hatte ihm zwar in seiner Weise erklärt, was um sie her vorging; aber abgesehen davon, daß der Ingenieur in alledem nur etwas ganz Natürliches sah und daher gerade über die erklärungsbedürftigsten Dinge leicht hinwegging, war er von fahriger Art und außerstande, eine Erklärung oder einen Gedankengang durchzuführen. Trotzdem schloß sich Moreno an ihn an. Assanoffs offenkundige Neigung zum Trunk stieß ihn ab, aber seine Fröhlichkeit zog ihn wieder zu ihm hin. Assanoff war ein Wirrkopf, aber er hatte doch überhaupt Kopf; er faselte für gewöhnlich, aber hin und wieder zeigte er wirklich Herz. Auf dem langen Weg, während des endlosen engen Beisammenseins erzählte er Moreno mancherlei, und dieser seinerseits ließ sich herbei, ihm Bekenntnisse zu machen. Assanoff war von den Leiden des Verbannten lebhaft gerührt, und das Mitgefühl, das er ihm bewies, war fast so zart wie das eines Mädchens mit seinem Liebhaber. Hin und wieder, wenn er von sich selbst sprach, bekannte er, daß er nach seiner eigenen Meinung nichts weiter sei, als ein schlecht abgehobelter und, wie er hinzufügte, von der Kultur herzlich wenig beleckter Wilder, widerrief aber dies Geständnis bald und erklärte sich für einen Edelmann. Kurz, er rechnete es sich zur Ehre an, in Moreno die Überlegenheit der Intelligenz und des Charakters anzuerkennen.
Der Leser wird sich erinnern, daß in Kreuzfahrergeschichten stets ein edler Emir, ein tapferer Beduine oder doch wenigstens ein treuer Sklave vorkommt, der sein Los mit dem des christlichen Ritters verknüpft. Wenn es darauf ankommt, läßt sich ein solcher Getreuer willig für seinen Herrn töten und opfert so sein eigenes Interesse dem des andern. Diese Vorstellung erweist sich in der abendländischen Phantasie so mächtig, daß man sie noch in den Novellen des Cervantes findet, und Walter Scott hat sie durch die beiden sarazenischen Diener des Templers Brian de Boisguilbert gewissermaßen sanktioniert. Und in Wahrheit hat diese Meinung ihren guten Grund. Herz und Phantasie, die einzigen Kräfte, die zur Hingebung treiben, sind bei den Asiaten ganz außerordentlich entwickelt, und vermöge ihrer großen Liebesfähigkeit haben sie sich häufig genug für den Gegenstand ihrer Liebe geopfert. So gab sich auch Assanoff, sobald er in Moreno eine der seinigen sympathische Natur erkannt hatte, seiner Neigung für ihn ehrlich und widerstandslos hin.
Das Mahl beim Gouverneur glich allen Festlichkeiten dieser Art. Es wurde viel getrunken. Assanoff war natürlich der letzte, eine solche Gelegenheit vorbeigehen zu lassen! Er war derartig im Zug, daß er sich selbst übertroffen hätte, wenn ihn Morenos Bemerkungen nicht etwas in Schranken gehalten hätten; so hatte es denn bei einem feuerroten Gesicht, einem leicht schwankenden Gang und noch größerer Zusammenhanglosigkeit der Rede als sonst sein Bewenden. Um Moreno nicht vor den Kopf zu stoßen, trieb er es diesmal nicht weiter. Nach Aufhebung der Tafel begab man sich in den Salon und begann zu rauchen. Eine halbe Stunde später erschienen in der Mitte der Offiziere, die sich zum größten Teil in einem noch vorgerückteren Stadium befanden als Assanoff, zwei hervorragende Persönlichkeiten aus der eingeborenen Bevölkerung. Aga Chan und Schemseddin Bey begrüßten alle Anwesenden mit so viel Würde und liebenswürdigster Verbindlichkeit, als ob sie nicht das geringste Auffallende bemerkten. Nachdem sie die angebotenen Pfeifen abgelehnt und erklärt hatten, sie rauchten nicht, nahmen sie Platz. Mäßigkeit in allen Dingen und Nüchternheit waren damals bei den Mohammedanern des Kaukasus aus Widerspruchsgeist stark im Schwang und wohl gelitten. Nach Verlauf einiger Minuten meldete man die Tänzerinnen. Der Gouverneur befahl, sie hereinzuführen und sie erschienen.
Schönheitglanz schritt voran, dann kam Umm Djehan, gefolgt von Djemile und Talheme, zwei recht anmutigen jugendlichen Mädchen, die nicht weniger geschmückt waren als ihre Herrin. Alle waren mit langen Gewändern bekleidet, die gerade und in reichen Falten zu den Füßen herabfielen. Auf der Seide und den Schleierstoffen funkelten Gold und Silber, die mit übertriebener Üppigkeit und Verschwendung ihre Kleider zierten. Die darüber liegenden Halsketten, die lang herabhängenden Ohrringe, die zahlreichen Armbänder, Gold und Geschmeide, alles funkelte und klirrte bei jeder Bewegung der schönen Gestalten. Trotzdem wendeten die Blicke sich unwillkürlich auf Umm Djehan, sei es wegen der fehlenden Schminke, sei es wegen ihres ernsteren Schmucks, oder aber – und das war zweifellos der wahre Grund – wegen des sieghaften Zaubers ihrer Persönlichkeit. Wer sie einmal angeblickt hatte, konnte die Augen nicht mehr von ihr wenden. Sie warf auf jeden der Reihe nach einen kalten und gleichgültigen, beinahe dreisten und herausfordernden Blick, und darin lag kein geringer Reiz. Zudem, wenn sie auch ganz bedeutend minder schöne Augen hatte als Djemile, wenn ihrer Erscheinung die Rundung Talhemes fehlte und sie in keiner Hinsicht mit einer solchen Fülle der Reize aufwarten konnte wie Schönheitglanz in ihrer wahrhaft königlichen Siegesgewißheit, so setzte sie dafür jeden in Verwirrung, und ohne Anstrengung vermochte sich niemand ihrem Zauber zu entziehen.
Keine berühmte Modesängerin oder Schauspielerin in Europa hätte je einen Salon mit größerer Würde betreten oder mit mehr Ehrenbezeugung empfangen können, als es bei den Tänzerinnen der Fall war. Sie ihrerseits grüßten niemanden als die beiden mohammedanischen Würdenträger, auf welche alle, außer Umm Djehan, einen höchst einschmeichelnden Blick des Einverständnisses warfen, worauf jene mit einem feinen Lächeln erwiderten, indem sie sich dabei den Bart in einer Weise strichen, daß selbst der Marschall Herzog von Richelieu es sich zur Ehre angerechnet hätte. Hierauf ließen sich die Frauen in einem Winkel des Zimmers eng aneinander geschmiegt auf dem Teppich nieder und nahmen eine so völlig teilnahmslose Haltung an, als seien sie hier zur bloßen Dekoration.
Inzwischen waren hinter ihnen vier Männer erschienen, denen niemand die geringste Beachtung schenkte. Sie kauerten sich alsbald im entgegengesetzten Winkel des Zimmers, den Tänzerinnen gegenüber, nieder; es waren die Musikanten. Der eine hielt eine leichte Gitarre, Tar genannt; der andre eine Art Geige mit langem Hals oder Kemantja; der dritte hatte ein Rehab, eine andere Art von Saiteninstrument, und der vierte ein Tamburin, ein für jede asiatische Musik unentbehrliches Zubehör, da der Rhythmus aufs allerschärfste hervorgehoben werden muß.
Einhellig bat die Gesellschaft, mit dem Tanz zu beginnen. Der Gouverneur und der Polizeichef übernahmen es ganz besonders, Schönheitglanz diesen allgemeinen Wunsch zu unterbreiten, und nachdem sie sich so lange hatte bitten lassen, wie es sich für einen seines Wertes sich bewußten Künstler schickt, und dabei obendrein durch liebenswürdige Verlegenheit ihre Bescheidenheit bekundet hatte, erhob sie sich, schritt langsam bis zur Mitte des Saales vor und machte den Musikanten ein kaum merkliches Zeichen mit dem Kopf, worauf alle Instrumente gleichzeitig einsetzten. Alle hatten ihre Stühle an die Wand zurückgeschoben, so daß der weite Mittelraum völlig frei blieb.
Zu einer äußerst langsamen und eintönigen Melodie, die der Schlag des Tamburins mit abgerissenen, dumpfen und scharfen Tönen begleitete, machte nun die Tänzerin, ohne sich vom Fleck zu bewegen, die Hände in die Hüften gestemmt, einige Bewegungen mit dem Kopf und dem Oberkörper. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse. Sie sah niemanden an, sie erschien völlig teilnahmslos und in ihre Sache vertieft. So erweckte sie die Erwartung einer Tätigkeit, die sich nicht einstellte, und eben wegen dieser Enttäuschung wuchs die Spannung mit jedem Augenblick. Man kann die Wirkung, die eine derartige Erregung hervorruft, mit nichts eher vergleichen als mit der Empfindung, die man am Meeresufer hat, wo das Auge von jeder neuen Welle erwartet, sie werde die vorige übertreffen, höher und weiter schlagen als sie, wo man, immer wieder von neuem enttäuscht, bei dem Rauschen jeder neuen Woge vergeblich auf ein verstärktes Geräusch wartet und trotzdem am Strand sitzen bleibt; ganze Stunden verfließen so, und doch wird es einem schwer, sich zu entfernen. Ganz so verhält es sich mit dem Zauber, den die Kunst asiatischer Tänzerinnen auf die Sinne ausübt. Es fehlt ihr alle Mannigfaltigkeit, alle Lebendigkeit, nur selten bringt eine unerwartete Bewegung einige Abwechselung mit sich, aber von der taktmäßigen Kreisbewegung strömt trotzdem eine Betäubung aus, der der Geist schließlich erliegt, und von der er sich einlullen läßt wie von einer Trunkenheit, die allmählich zum Halbschlaf führt.
Nun bewegte sich die starke Tänzerin langsam vom Platz, wobei sie ihre runden Arme halb ausstreckte; sie schritt nicht, sie glitt nur mit fast unmerklicher Bewegung; sie strebte auf die Zuschauer zu und erweckte, indem sie sich langsam an allen vorüberbewegte, in jedem einzelnen die fast ängstlich gespannte Erwartung, sie werde ihm ein Zeichen der Beachtung schenken. Aber nichts dergleichen geschah. Nur als sie sich den beiden Muselmanen gegenüber befand, gab sie ihnen andeutungsweise ein neues, wohlverstandenes Zeichen der Ehrerbietung und Bevorzugung, indem sie den ganz kurzen Aufenthalt, mit dem sie die andern beehrt, hier verdoppelte, was sehr wohl bemerkt ward und lebhaften Beifall fand, denn bei einem derartig abgemessenen Tanz tritt auch die feinste Nuance scharf hervor. Als die Musik innehielt, machte sich die Begeisterung der Zuschauer in lautem Händeklatschen Luft. Nur Moreno blieb kalt, denn an derartigen Dingen gewinnt man nicht auf den ersten Anblick Geschmack, vielmehr ist zum Wohlgefallen an solchen Nationalvergnügungen in allen Ländern einige Erfahrung und Vertrautheit mit den Verhältnissen erforderlich. Ganz anders verhielt sich Assanoff, dessen helle Begeisterung in ganz unerwarteter Art zum Ausdruck kam.
»Weiß Gott,« sagte er, »ich bin ein zivilisierter Mensch und in Petersburg auf der Kadettenschule gewesen; aber der Teufel soll mich holen, wenn es in ganz Europa etwas gibt, was sich dem Schauspiel, das wir eben gesehen haben, auch nur irgendwie vergleichen läßt! Und nun soll einer von euch mit mir die Lesghi tanzen. Hat denn keiner mehr einen Tropfen Blut in den Adern? Seid ihr denn alle verstumpft oder alle Russen?«
Ein tatarischer Offizier, der bei der Infanterie stand, erhob sich sofort und nahm Assanoff bei der Hand. »Nun wohl denn,« sagte der Krieger mit Stolz, »Murad, Sohn Hassan Beys, bist du deines Vaters Sohn, so zeig', was du kannst!«
Der Ingenieur antwortete ihm mit einem harten und kalten und doch zugleich flammenden Blick, wie ihn Moreno nie zuvor gesehen hatte, und alsbald begannen die beiden Tataren in ihren Militärmänteln die Lesghi zu tanzen. Die Musik hatte mit der barbarischen Melodie, die zu diesem Tanz gehört, kräftig eingesetzt. Da war nichts Schleppendes, nichts Einschläferndes. Murad, Hassans Sohn, war nicht mehr betrunken, er erschien wie ein Fürstensohn, ja, wie ein Fürst selbst. Man hätte ihn für einen Krieger des alten Mongolen Chubilaï halten können. Das Tamburin rasselte und prasselte, als wollte es in glühender Wallung zu Kriegsgreuel und Eroberung aufrufen. Die Anwesenden waren außer dem Spanier von Wein und Branntwein benommen und hatten weder Assanoffs Worte gehört, noch auch verstanden, welche Leidenschaft ihn bewegte. Alles was sie von dem doch gewiß seltsamen Auftritt begriffen, war, daß der Ingenieur ganz ausgezeichnet die Lesghi tanzte, und so spielte sich die Aufführung des Schauspiels, das Kampf, Mord und Blut und somit auch Empörung darstellt, vor den Augen der Eroberer ab, ohne daß diese sich einfallen ließen, auch nur das geringste davon zu verstehen, geschweige denn, vor der Bedeutung des Tanzes zu erschrecken. Nur Don Juan blieb über den veränderten Ausdruck von Assanoffs Zügen betroffen, und als der Tanz unter dem Freudengetrampel all der russischen Offiziere sein Ende erreicht hatte und die allgemeine Aufmerksamkeit durch das Erscheinen zahlreicher Diener mit neuen Pfeifen, Tee und Branntwein abgelenkt wurde, zog er den Freund in einen Winkel des Zimmers, zufällig denjenigen, in welchem sich die Tänzerinnen befanden, die während der Lesghi alle aufrecht gestanden hatten, und sagte ihm halblaut: »Bist du verrückt? Was soll die Komödie, die du da eben gespielt hast? Wie kannst du dich nur so zur Schau stellen? Kannst du denn deine Heimatliebe nicht anders bekunden als durch solche Verrenkungen?«
»Schweig,« erwiderte Assanoff schroff, »du weißt nicht, was du redest! Solche Sachen kannst du nicht verstehen! Gewiß, ich bin ein Feigling, ich bin ein elender Kerl, und der erbärmlichste Mensch in der ganzen Welt ist dieser ehrlose Schuft Djemiloff, mit dem ich eben getanzt habe, denn wenn er auch tanzt wie ein echter Mann, so ist er nichtsdestoweniger verkommen! Aber sieh, es gibt doch noch Augenblicke, wo man spürt, wie das Herz, so jämmerlich es bei unsereinem sein mag, sich erhebt, und der Tag ist noch nicht gekommen, wo ein Tatar die Töchter seines Landes tanzen sieht, ohne daß sich hinter seinen Augenlidern blutige Zähren bilden.«
Vielleicht bildeten sich wirklich dort, wo Assanoff meinte, blutige Zähren – aber wer kann es wissen? Soviel ist jedoch gewiß, daß ihm große Tränen die Wangen herabrollten. Er trocknete sie schleunigst mit einer Hand, ehe man sie bemerken konnte, als er fühlte, daß die andere ergriffen wurde: er wandte sich um und erblickte Umm Djehan. Sie raunte ihm eilig auf französisch zu: »Diese Nacht! zwei Stunden vor dem Desteh! an meiner Tür! Klopf nicht an!«
Sie entfernte sich sofort wieder; ihn seinerseits gab dies Wort aus dem Munde eines schönen Mädchens, eines Mädchens, das bisher für unempfindlich und gänzlich unüberwindlich gegolten, das den Ruhm aller Tänzerinnen der Stadt gleichsam in sich verkörperte, eben weil sie so wenig geneigt war, ihre Talente zu betätigen – dies süße Wort gab ihn mit einem Schlage der Zivilisation wieder, die er wenige Minuten zuvor so völlig schien vergessen zu wollen, und indem er seinen Arm in den Morenos schob, zog er den spanischen Offizier einige Schritte fort und flüsterte ihm ins Ohr: »Verflucht! bin ich ein Glückspilz! Ich hab' ein Stelldichein!« – »Mit wem?« – »Mit der Feinsten, die du dir denken kannst! Morgen will ich dir alles erzählen. Aber aufgepaßt! Ich darf mich nun nicht mehr bezechen!« – »Allerdings! Du scheinst heut abend schon ohne das genügend den Kopf verloren zu haben.« – »Kopf, Herz, Sinne und den Verstand noch obenein! Eine feine Geschichte! eine feine Geschichte! Ich will das Mädel zu meinem Burschen machen! Ich entführe sie nach Baku und dann geben wir Künstlervorstellungen! Aber still! Bis morgen früh müssen wir verschwiegen sein wie die Troubadoure.«
Erneutes massenhaftes Gesundheittrinken im Bunde mit den strahlenden Augen von Schönheitglanz, Djemile und Talheme – denn Umm Djehan hielt sich unter dem Schutz der beiden ernsten Muselmanen, der sich, ohne den äußeren Anschein davon zu haben, als sehr wirksam erwies, beiseite – ferner der furchtbare Lärm, die Tänze, die wieder begannen und noch einige Stunden fortdauerten, all diese Genüsse der abendlichen Zusammenkunft taten schließlich die Wirkung, die zu erwarten stand. Der Gouverneur wurde ins Bett getragen, der Polizeichef gelangte in das seinige auf den Schultern von vier Männern; die eine Hälfte der Offiziere blieb auf dem Schlachtfeld liegen, die andere besäte mit ihren edlen, wenn auch besiegten Leibern die Straßen. Die drei Tänzerinnen kehrten in ihr Heim zurück, oder auch nicht, denn es hat sich nie recht feststellen lassen, wie es sich damit verhielt. Umm Djehan erreichte jedenfalls die gemeinsame Behausung ohne sie, und zwar unter dem Schutz der beiden neugewonnenen Freunde, die nach dem Abschied von ihr noch aus tiefstem Herzen die elenden Schweine von Christen verfluchten, die sie aus Klugheit zu schonen gezwungen waren. Was Assanoff anbetrifft, so führte er Moreno bis zu ihrer gemeinsamen Wohnung, dem Posthause, und als er sah, daß die Stunde des Stelldicheins ungefähr gekommen war, rannte er eiligst hin und stellte sich an die Tür der Tänzerinnen, ohne im übrigen irgendein Lebenszeichen zu geben, so wie Umm Djehan es ihm anbefohlen hatte.
Die Straße war einsam und völlig still, die Nacht finster; es war etwa noch drei Stunden bis zur Morgenröte. Die Jahreszeit war Anfang September. Tagsüber hatte es geregnet und so war es nicht warm. Die Erwartung dauerte nicht lange. Assanoff, der ganz Ohr war, hörte Schritte im Hause; die Tür öffnete sich sacht, und eine Stimme fragte ganz leise: »Seid Ihr da?«
Er schob seinen Arm durch den Türspalt, ergriff eine Hand, die sich ihm entgegenstreckte und erwiderte: »Gewiß! Wie sollt' ich denn nicht da sein? Bin ich denn ein Esel?«
Umm Djehan zog den Offizier hinein und schloß die Tür ebenso geräuschlos wieder zu, wie sie sie geöffnet hatte; dann ging sie ihrem Gast vorauf, überschritt eilig den kleinen Mittelhof des Hauses und trat von da mit ihm in den Hauptsaal. Dort befanden sich Diwane, die an die Wände gestellt waren, einige Stühle und ein Tisch, auf dem eine Lampe brannte.
Umm Djehan wandte sich gegen den Offizier und sah ihn mit so dreistem Blick an, daß er unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Dann betrachtete er das Mädchen mit Überraschung. Sie hatte ihre Tänzerinnenkleidung abgelegt; sie war gekleidet wie eine Edelfrau aus dem Daghestan und trug im Gürtel ein paar Pistolen und ein Messer. Sei es Zufall, sei es Absicht, ihre Hand bewegte sich einen Augenblick nach den Waffen hin. Mit gebieterischer Gebärde wies sie Assanoff einen Sessel und nahm selbst wenige Schritte von ihm auf dem Diwan Platz. Sie hielt in der Hand den Rosenkranz, an dem sie, als sie zum erstenmal persönlich in unserer Geschichte erschien, die Zeremonie des Istichara vorgenommen hatte; während der folgenden Erzählung machte sie sich häufig mit den Korallenperlen zu schaffen und ließ sie zwischen ihren Fingern hin und her gleiten.
»Sei willkommen, Murad! Seit vier Jahren befrag' ich unaufhörlich diesen Rosenkranz, ob ich dich sehen werde; heute hat er es mir bejaht; deshalb bin ich zum Gouverneur gegangen, und nun bist du da!« – »Nach der Art, wie du mich empfängst, versteh' ich nicht recht, was ich hier soll.« – »Du wirst es gleich verstehen, Sohn meiner Tante.« – »Was soll das heißen?«
»Ich war vier Jahr alt und du zwölf, ich denke noch daran, und du hast's vergessen! Oh, Sohn meines Bluts, Bruder meiner Seele,« rief sie plötzlich mit leidenschaftlichem Ausbruch und streckte dem jungen Manne ihre zitternden Hände entgegen, »siehst du denn nicht, wenn du träumst, unsern Aul, unser Dorf, auf seiner Felsenspitze, die gradauf ins Blau des Himmels steigt, und die Wolken tief unter ihm in den baum- und steinbesäten Tälern? Siehst du es nicht, das Nest, dem wir entstammen, hoch über der Ebene, hoch über den gewöhnlichen Bergen, hoch über den knechtischen Menschen, zwischen den Horsten der Adler, mitten in Gottes freier Luft? Du siehst sie nicht mehr, unsere Schutzmauern, unsere Türme, wie sie über den Abgrund hängen, unsere Kastelle, die terrassenförmig eins über das andere emporsteigen, treue Wächter sie alle, wie sie mit ihren Luken gierig nach dem fernen Feinde ausspähen? Und ihre flachen Dächer, wo wir im Sommer schliefen, und die engen Straßen, und das Haus Kassim Beys, dem unsern gegenüber, und das Arslan Beys davor, und Selim und Murid, deine Spielkameraden, die in ihrem Blut hingesunken sind, und meine Gefährtinnen, Aïscha, Lulu und Peri, die kleine Subeide, die ihre Mutter noch auf dem Arme trug? Ha! elender Feigling! Die Soldaten haben sie alle in die Flammen geworfen, und der Aul ist über ihren Häuptern verbrannt!«
Assanoff begann sich ganz außerordentlich unbehaglich zu fühlen. Auf seiner Stirn perlten einzelne Schweißtropfen. Mechanisch legte er die Hände auf die Knie und hielt sie fest gepreßt. Aber er sprach kein Wort. Umm Djehan fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Du träumst also niemals von jener Nacht? Du legst dich nieder, schlummerst ein und bleibst dann wohl wie eine träge Fleischmasse bis zum Morgen oder wohl gar bis zum Mittag von deinen Gedanken verlassen! Und schließlich tust du wohl daran! Dein ganzes Leben ist ja nur ein Tod! Du gedenkst an nichts? an nichts von alledem? Dein Oheim, mein Vater, mein Vater – weißt du wohl? Nein! du weißt nichts! So will ich's dir sagen: mein Vater also, Elam Bey, ward an den Baum gehängt, links aufwärts am Saumpfad; dein Vater, mein Oheim, ward mit einem Bajonettstich an seine Haustüre genagelt. Das weißt du nicht mehr? Zwar du warst erst zwölf Jahr alt, aber ich war nur vier und habe nichts von alledem vergessen! Nein, nichts! nichts, sag' ich dir, nicht den kleinsten, nicht den winzigsten Umstand. Dein Oheim hing, als ein Soldat mich vorbeischleppte, an seinem Baum wie der Rock da an der Wand hinter dir an seinem Nagel!«
Assanoff rann ein eisiger Schauer durch das Gebein; er glaubte die zappelnden Füße seines Vaters und seines Oheims auf seinen Schultern zu spüren, aber er sprach kein Wort.
»Und dann,« fuhr Umm Djehan fort, »griff man dich mit ein paar andern Jungen, die zufällig dem Feuer und Schwert entronnen waren, auf. Man schickte dich auf die Kadettenschule nach Petersburg und erzog dich, wie die Franken sagen! Man entzog dir die Erinnerung, man entzog dir dein Herz, man raubte dir deinen Glauben, ohne sich auch nur zu bemühen, dir einen andern zu schenken; dafür lehrte man dich aber gründlich zechen, und nun finde ich dich wieder mit Zügen, die durch Unmäßigkeit früh verwelkt, mit Wangen, die blau geädert sind; als einen Mann? Nein! Als einen Lumpen! Doch das weißt du selbst!«
Assanoff, derartig durch das Mädchen und vor allem durch die Bilder, die nur zu getreuen, nur zu ungeschminkten, nur zu wahren Bilder, die sie ihm wieder heraufrief, geknickt und gedemütigt, Assanoff suchte sich zu verteidigen!
»Ich habe aber doch immerhin was gelernt,« murmelte er, »ich verstehe mein Soldatenhandwerk, und noch niemand hat mir Mangel an Mut vorwerfen können. Ich mache meiner Familie keine Schande, ich hab' Ehre im Leib.«
»Ehre? Du!« schrie Umm Djehan mit wildester Empörung, »solche Faseleien magst du deinesgleichen erzählen! glaube aber nicht, daß du mir mit so hochtönenden Worten Eindruck machst. Bin ich nicht auch unter Russen erzogen worden? Ehre! Das heißt, man beansprucht Glauben, wenn man lügt, man will für rechtschaffen gelten, wenn man ein Schurke ist, für ehrlich, wenn man beim Spiel betrügt. Stößt man dann mit einem andern Narren seiner Art zusammen, so schlägt man sich mit ihm als Ehrenmann und findet womöglich gerade dann dabei den Tod, wenn man zufällig einmal nicht unrecht hat. Das nennt man dann Ehre; und wenn du wirklich welche hast, Sohn meiner Tante, so kannst du dich für einen vollendeten Europäer halten, für einen Bösewicht und Verräter, Räuber und Mörder, ohne Glauben, ohne Gerechtigkeit, ohne Gott, für ein Schwein, das von jedem nur denkbaren Rausche trunken ist und sich in allen Mistpfützen des Lasters wälzt.«
Die Giftigkeit dieses Ausfalls schien Assanoff alles Maß zu überschreiten, und so kam er wieder etwas zu sich selbst.
»Wer zu viel beweisen will, beweist nichts,« sagte er frostig, »lassen wir den Streit darüber, ob er nun berechtigt oder unberechtigt sein mag; jedenfalls hat man mich, ohne mich vorher viel zu fragen, zu einem zivilisierten Menschen gemacht. Das bin ich geworden; das muß ich auch bleiben. Du kannst mir nicht beweisen, daß ich irgendwie übel daran tue, wenn ich lebe wie meine Kameraden. Um dir übrigens nichts zu verhehlen: ich langweile mich dabei; ich weiß nicht warum, denn es fehlt mir nichts, und doch fehlt mir alles. Hat es eine Kugel auf mich abgesehen – sie mag mich mitnehmen. Rafft mich der Branntwein dahin – wohl bekomm's ihm! Sonst hab' ich keinen Wunsch . . . Also, Umm Djehan, ich freue mich, dich zu sehen. Warum bist du aber nicht bei der Generalin geblieben? Das war doch etwas Besseres als dies Haus!« – »Dieses Weib,« erwiderte die Tänzerin im Ton des Hasses und der Verachtung, »dieses Weib! Sie hat die Frechheit gehabt, mehrmals und sogar in meiner Gegenwart zu erklären, sie wolle mir die Mutter ersetzen! Sie hat mehrmals und wiederum in meiner Gegenwart gesagt, daß die Lesghier nur Wilde seien, und als ich ihr eines Tages erwiderte, daß unser Blut reiner sei als das ihre, hat sie gelacht. Dieses Weib! sie hat mich einmal am Arm genommen und wie eine Magd zum Zimmer hinausgeschoben, weil ich, zu klein, um bis zu ihren Götzenbildern zu reichen, auf einen Sessel gestiegen war, um sie herunterzuwerfen. Übrigens weißt du ganz gut, ihr Mann war es gewesen, der die Truppen gegen unsern Aul führte.«
Einen Augenblick schwieg Umm Djehan, dann rief sie plötzlich: »Ich wartete nur auf den Tag, wo ich stark genug wäre! Sechs Monate später – und ich hätte ihr beide Töchter ermordet!« –
»Du machst offenbar nicht viel Flausen,« sagte Assanoff lachend. »Zum Glück hat man dich durchschaut und rechtzeitig fortgejagt.«
Er sprach diese Worte in einem leichten Ton, der zu dem von vorhin in nicht geringem Gegensatz stand. Umm Djehan betrachtete ihn einen Augenblick, ohne eine Silbe zu verlieren, dann streckte sie den Arm nach dem Diwan aus, ergriff einen Tar, eine tatarische Mandoline, die zufällig dort lag, und begann zerstreut sie zu stimmen; allmählich, als geschähe es ganz unabsichtlich, begann sie zu spielen und zu singen. Ihre Stimme war von unendlicher Süße und der alleräußersten Eindringlichkeit. Erst sang sie ganz leise, und man hörte sie kaum. Es schien zunächst, als vernähme man nur einzelne Akkorde, nur Töne, die keine weitere Absicht miteinander verbände. Aber unmerklich löste sich aus diesen verschwommenen Klängen eine bestimmte Melodie, gerade wie wenn aus dichtem Nebel eine ätherische Gestalt sich bildet, allmählich stärker hervortritt und endlich voll zur Erscheinung gelangt. Von einer unwiderstehlichen Bewegung, einer starken Erwartung, einer allmächtigen Erinnerung ergriffen hob Assanoff das Haupt und horchte. Ja! sichtlich horchte er, mit ganzem Ohr und ganzem Sinn, von ganzem Herzen und von ganzer Seele.
Bald mischten sich Worte in den Gesang. Es war ein lesghisches Gedicht: es war eben das Lied, das die Töchter des Stammes am liebsten und häufigsten sangen, als Assanoff noch ein Kind war. Die ungeheure Macht, der sieghafte Zauber, den ein derartiger Eindruck ganz allgemein auf den Menschen ausübt, die als Gebirgsbewohner im Schoß einer kleineren Gesellschaft aufgewachsen sind, ist sattsam bekannt: wo die Unterhaltungen gering an Zahl sind, übt die Erinnerung an sie eine um so mächtigere und dauerndere Herrschaft über die Phantasie. So haben die Schweizer ihren Kuhreihen und die Schotten ihren Dudelsackruf. Assanoff fühlte sich von einer ganz gleichen Macht ergriffen.
Sein Geburtsort lag gar nicht weit von Baku, und zwar mitten zwischen einer Menge von Abhängen, die den seltsamsten und großartigsten Anblick bieten, den man nur haben kann. Eine Ansammlung von steilen Bergspitzen, die durch tiefe Täler weit voneinander getrennt sind, erhebt sich auf schmalen Grundflächen bis in die Schneeregion. Die kleinen felsigen Abplattungen dieser riesigen Spitzen, Flächen, von denen man, solange man noch entfernt ist, schwören möchte, nur Adler könnten darauf nisten, sind von Dörfern bedeckt, die sich, so gut es gehen will, dort niedergelassen und festgeklammert haben: es sind die Auls jener furchtbaren Menschen, die nie etwas anderes gekannt haben als Kampf, Plünderung und Zerstörung. Dort haben die Lesghier ihren Aufenthalt, immer auf der Wacht, bald kühn nach Beute, bald mißtrauisch nach Angreifern ausspähend, mit weitreichendem Blick und alles beherrschender Achtsamkeit.
Umm Djehans Gesang zauberte vor Assanoffs erschütterter Seele die Erinnerung an den väterlichen Aul bis zur greifbarsten Lebendigkeit hervor. Alles sah er wieder, alles, was er wirklich oder vermeintlich vergessen hatte. Alles! Die befestigte Außenmauer, die Abgründe, in deren unheimliche Tiefen sein Kinderauge mit unbezähmbarer Neugier hinabgetaucht war; die Straße, die sonnverbrannten oder schneebedeckten Terrassen, die Häuser, sein Haus, seine Kameraden, seinen Vater, seine Mutter, seine Verwandten, seine Freunde, seine Feinde – nichts, was er nicht wieder erblickt hätte! Die Worte, die Umm Djehan sprach, die Reime, die sie miteinander verschlang, packten ihn wie mit Adlersklauen und entführten ihn in die Schluchten des Gebirgs, auf die steilen Pfade, wo er so oft, im Gebüsch verborgen, den Marsch der russischen Kolonnen ausgespäht hatte, um ihn dem Vater zu melden. Denn bei den Lesghiern sind die Söhne der Edlen kühne und verschlagene Krieger von Kindesbeinen an. Ein mächtiger Zauber erfüllte die Seele des nur schlecht umgebildeten Barbaren. Sein Gehaben war europäisch, seine Laster sprachen russisch und französisch; aber der tiefe Grund seiner Natur, seine Triebe, seine Eigenschaften und Talente, was er an Tugenden besaß, alles das war noch tatarisch wie der beste Teil seines Bluts.
Was ward aus Murad, Hassans Sohn, dem Ingenieuroffizier im Dienst Seiner Kaiserlichen Majestät, dem ehemaligen Zögling der Kadettenschule, dem Preisträger bei ihren Prüfungen, als seine Base, ohne ihren Gesang und ihr Spiel auf dem Tar zu unterbrechen, sich erhob und quer durch das Zimmer einen langsamen Tanz von kräftigem Rhythmus auszuführen begann? Er sprang vom Stuhl auf, warf sich in einer Ecke zur Erde, nahm den Kopf zwischen beide Hände, die er krampfhaft in sein Haar vergrub, und verfolgte, obwohl Tränen ihm den Blick trübten, mit schmerzlicher Begier die Bewegungen des Tanzes, genau so, wie er es bei Furugh el Hösnet getan hatte, nur mit unendlich mehr Angst und gewißlich mit unendlich mehr Leidenschaft. Und was ebenso gewiß ist: Umm Djehan tanzte ganz anders als ihre Meisterin! Ihre Schritte waren ausdrucksvoller, ihre Bewegungen, obwohl noch zurückhaltender, ergriffen nur um so mehr. Es war der Tanz, es war der Gesang des Aul; von der ganzen Persönlichkeit des Mädchens ging etwas wie ein elektrischer Strom aus, der auf ihren Verwandten von allen Seiten eindrang. Plötzlich hielt sie mit einem Ruck inne, unterbrach ihren Gesang, warf den Tar auf die Kissen und kauerte sich neben Assanoff nieder; sie umschlang seinen Hals mit den Armen und sprach: »Denkst du daran?«
Ein Schluchzen erschütterte ihn von oben bis unten, Angstschreie entrangen sich seinem Munde, er verbarg sein Haupt an der Brust und zwischen den Knien seiner Base. Den großen Burschen in so schmerzlicher Erschütterung zu sehen, war ein Anblick zum Erbarmen.
»Du denkst also daran?« fuhr die Lesghierin fort. »Du siehst doch, wie du mich wiederfindest? Ich war die Magd der Franken und bin entflohen: ich war die Magd der Muselmanen, und sie haben mich geschlagen; ich bin in den Wald gelaufen und bin vor Hunger und Frost fast umgekommen; nun bin ich hier, aber ich will nicht bleiben . . . du begreifst wohl warum . . . gerade du, denn warum bist du diese Nacht gekommen? Siehst du, du begreifst ganz wohl? Man will mich an einen Kaïmakam verkaufen, irgendwo in der Türkei; aus Furcht vor Schlimmerem und um nicht weiter damit gequält zu werden, habe ich zugesagt. Ich bin dein Fleisch, ich bin dein Blut, rette mich! Nimm mich zu dir, Sohn meines Oheims, du meine Liebe, mein Heil, meine teure Seele, rette mich!«
Sie nahm ihn beim Kopf und küßte ihn leidenschaftlich.
»Ich werde dich retten,« antwortete Assanoff lebhaft, »alle Teufel sollen mich erwürgen, wenn ich dich nicht rette! Du bist ja mein ganzes Geschlecht! O diese Russen! daß der Himmel sie vernichte! Sie haben mich völlig getötet, völlig verbrannt, völlig vernichtet! Aber hundertfach will ich ihnen das Leid heimzahlen, womit sie mich überhäuft haben und dich nicht weniger! Soll ich desertieren?« – »Ja, desertiere!« – »Wollen wir zusammen in die Berge gehn und uns mit den andern aufrührerischen Stämmen verbinden?« – »Ja, ich will!«
»Bei meiner Ehre, ich will nicht minder! Und gleich soll es geschehen, das heißt morgen oder vielmehr heute, denn die Morgenröte dämmert schon herauf! Wir wollen wieder werden, was wir sind, Lesghier und Freie! Und ich werde dich heimführen, Tochter meiner Tante, und du sollst gerettet sein und ich auch! Denn ein für allemal: ich bin und bleibe ein Tatar! Was gibt es gemeinsames für Murad, den Sohn Hassan Beys, und all diese fränkischen Herren! Weiß ich nicht ganz gut, was sie wert sind? Hast du Gogol gelesen? Das ist ein Schriftsteller! Der springt mit ihnen um, wie sie's verdienen! O diese Schurken!«
Und indem er plötzlich aufsprang, rannte er mit großen Schritten im Zimmer hin und her, wie in einem Anfall von Wahnsinn. Dann blieb er vor Umm Djehan stehen, sah sie fest an, ergriff ihre beiden Hände und sagte: »Du bist wirklich sehr hübsch, ich liebe dich von ganzem Herzen und werde dich heiraten, auf Ehrenwort! Bei unserm Hochzeitsfeste wollen wir Russenköpfe auf der Tafel haben, ist dir das recht?« – »Gewiß! und für jeden Kopf tausend Küsse!« – »Kannst du Französisch?« – »Jawohl.« – »Um so besser, so können wir's hin und wieder zu unserer Unterhaltung sprechen!« – »Murad, Sohn Hassan Beys, welche Schmach! vergiß diese schändlichen Dinge auf immer!« – »Du hast recht, ich bin ein Tatar und nichts andres, will auch nichts andres sein, und in tausend Stücke soll man mich zerhacken, wenn unsere Kinder nicht die trefflichsten Muselmanen werden! Aber nun genug der Worte! Was noch zu tun bleibt, ist folgendes: ich verlasse dich jetzt, weil der Tag anbricht. Zur Mittagszeit suche mich im Posthaus auf. Dort werde ich dich als meine Ordonnanz einkleiden. Um ein Uhr reisen wir in einem großen Tarantas, den ich gemietet habe, ab; wir fahren rasch drauflos; sechs Meilen von hier biegen wir vom Wege ab, und dann gute Nacht! Die Russen sollen dich hier nicht mehr wiedersehen; und ich will ihnen nicht anders mehr vor die Augen kommen als den Säbel in der Hand!«
Umm Djehan stürzte sich in seine Arme. Sie küßten sich, und Assanoff schritt hinaus.
Als er sich auf der Straße befand, war er von sich und seinen Plänen gleichmäßig entzückt und höchst verliebt in seine Base, die er anbetungswürdig fand. Aber leider hatte er, nicht gewohnt, jemals mehr als einen Gedanken zu gleicher Zeit zu verfolgen, völlig seinen Reisegefährten vergessen: als er Umm Djehan das Posthaus als Ort des Stelldicheins bezeichnet hatte, hatte er nicht im entferntesten daran gedacht, daß Moreno ihn dort erwartete.
Jetzt fiel es ihm auf einmal wieder ein. »Teufel!« sagte er, »das ist eine schöne Dummheit!«
Aber er blieb nicht lange besorgt; das war er nicht gewohnt, ebensowenig wie er nachzudenken pflegte.
»Ich will mich Moreno völlig eröffnen. Er hat selbst konspiriert, er weiß, wie das ist. Weit entfernt mich zu stören wird er mir helfen.«
Als er in den Saal trat, wo der Spanier auf einem Lederbett schlief, weckte er ihn ohne weiteres.
»Alle Achtung!« sagte er, »wer hat dir denn die großartige Lagerstätte verkauft? Ich habe sie ja noch gar nicht bei dir gesehen.« »Gewiß hast du sie gesehen. Ich habe sie in Tiflis durch die Bemühungen eines Landsmannes von mir bekommen; du mußt dich doch erinnern, daß du mir bei der Gelegenheit sehr gelehrt und zu meiner großen Überraschung auseinandergesetzt hast, alle Juden im Kaukasus seien spanischen Ursprungs. Aber ich denke, du wirst mich nach einer Mahlzeit und Abendunterhaltung wie die gestern nicht deshalb in aller Frühe wecken, um mit mir ein Examen über die Verfolgungen Philipps II. anzustellen, vor denen die Juden nach Saloniki entflohen, von wo sie nun bis hierher ihre Fühlhörner ausstrecken.« – »Nein, ganz gewiß nicht; aber verzeih mir, ich bin etwas verwirrt. Ich verlasse mich ganz auf deine Treue. Umm Djehan ist meine Base, ich bin entschlossen, sie zu heiraten. Ich will mit ihr in die Berge flüchten. Kurz, ich desertiere und erkläre den Russen den Krieg.«
Don Juan sprang in höchstem Erstaunen von seinem Lager auf. »Bist du verrückt?« sagte er zu seinem Gefährten. – »Mein ganzes Leben lang bin ich's gewesen und hoffe es bis zu meinem letzten Atemzug zu bleiben. Aber in diesem Augenblick gedenke ich die edelste, ritterlichste und vornehmste Handlung zu vollführen, die sich nur denken läßt, und ich meine, du wirst mich am wenigsten davon abbringen wollen.« – »Und warum denn das, bitte?« – »Weil du genau dasselbe getan hast, und ich eben diesem Umstand die Ehre verdanke, dein Freund zu sein.«
»Aber geh doch! ich sehe nicht die geringste Ähnlichkeit! Ich habe mich in eine Verschwörung eingelassen, weil meine Kameraden es taten, und mich nicht von ihnen getrennt; obenein handelte es sich um meinen rechtmäßigen Fürsten. Was du aber ins Werk zu setzen gedenkst, ist nichts weiter als Brigantentum. Du willst mit Banditen verschwinden, mit einer Luftspringerin – erlaube, daß ich dir das sage; und aus einem vornehmen und liebenswürdigen Manne, der du bist, aus einem glänzenden Offizier, der bestimmt erscheint, in allen Salons mit Auszeichnung behandelt zu werden, gedenkst du dich in eine Art von plumpem Wilden zu verwandeln, der gerade gut genug ist, daß man ihn im ersten besten Waldwinkel über den Haufen schießt.«
»Du vergißt, daß mein Vater auch ein solcher plumper Wilder war und gerade so über den Haufen geschossen worden ist, wie du sagst.« – »Lieber armer Freund, nichts liegt mir ferner, als dich kränken zu wollen; aber wenn dein Vater ein solches, gewiß nicht beneidenswertes Ende genommen hat, so brauchst du doch noch nicht in voller Absicht auf dasselbe auszugehen. Hör' zu, Assanoff, wir wollen einmal vernünftig reden, wenn es geht! Dein Vater war ein Wilder? Gut! aber du für dein Teil bist keiner. Was ist denn so Schlimmes daran? Die Menschen können sich doch nicht von Geschlecht zu Geschlecht alle einander gleichen. Soll ich dir sagen, wie du mir vorkommst?« – »Sprich nur frei heraus.« – »Lachen könnt' ich über dich, denn wenn du so fortfährst, wirst du einfach lächerlich.«
Der Ingenieur errötete tief. Die Furcht vor der Lächerlichkeit machte ihn bestürzt. Dennoch hielt er stand: »Lieber Freund, Umm Djehan wird gleich erscheinen. Du kannst dir denken, daß ich sie nicht wieder heimschicken werde. Gedenkst du mich andernfalls zu verraten? Lächerlich oder nicht, der Wein ist abgezapft und will getrunken sein.«
Darauf setzte er sich, begann zu pfeifen und schenkte sich aus einem Fläschchen, das zur Hand stand, ein Glas Branntwein ein.
Moreno sah ein, daß er ihn nicht vor den Kopf stoßen dürfe. Er hörte daher auf, in ihn zu dringen, und beschäftigte sich, meist schweigend, mit seiner Morgentoilette. Assanoff seinerseits war auch nicht besonders redselig und unterbrach seine Träumerei nur hin und wieder durch ein paar nichtssagende, nebenbei hingeworfene Worte. Er war recht verlegen geworden. Der Widerspruch seines Freundes machte ihn befangen, und obenein fand er selbst, nun er wieder bei kaltem Blute war, seine Pläne nicht mehr so leicht ausführbar oder vielmehr ihre Ausführung nicht mehr so wünschenswert, wie sie ihm in jenem Augenblick der Begeisterung und Erregung erschienen war; und dann: Umm Djehan hatte auf sein Gemüt den lebhaftesten Eindruck gemacht, zum Teil auf Grund ihrer Verwandtschaft mit ihm, noch mehr durch ihre Schönheit, und am meisten durch die Eigenart ihrer Persönlichkeit; aber sie heiraten! Ehrlich gestanden fand er sie doch recht rückständig, so perfekt sie auch im Französischen sein mochte. In Wahrheit stand die Sache so, daß der arme Assanoff weder Russe noch Wilder noch zivilisierter Mensch war, sondern von allem nur etwas, und die bedauernswerten Wesen, die das Leben in Übergangszeiten und -ländern derartig verbildet, sind sehr unvollkommene und elende Geschöpfe, die mehr zu Laster und Unglück als zu Tugend und Glück bestimmt erscheinen. Um seine Gedanken anzuregen und einen Ausweg ausfindig zu machen, begann er zu trinken, und nach einigen Gläsern verfiel er auf ein Mittel, um der augenblicklich größten Verlegenheit, der bevorstehenden Ankunft Umm Djehans, zu entrinnen. Das Mittel war höchst einfach; es bestand lediglich darin, daß er, während Moreno ihm gerade den Rücken kehrte, seine Mütze nahm und so die Aufgabe, mit seiner Base, die er eben erst so plötzlich zu seiner Reisegefährtin, Genossin und Braut gemacht hatte, alles nach bestem Vermögen ins reine zu bringen, seinem treuen Freunde überließ.
Als es Mittag schlug, hatte Umm Djehan bereits ohne Schwierigkeit ihre Wohnung verlassen können, da die Tänzerinnen, endlich mit Gottes Hilfe heimgekehrt, nichts Eiligeres und Notwendigeres zu tun gehabt hatten, als ihrem Ruhebedürfnis nachzukommen und sich zu Bett zu legen. Durch entlegene Straßen war Umm Djehan, nach Art tatarischer Frauen verschleiert, zum Posthaus gelangt und hatte leise an die Eingangstür geklopft. Assanoffs Ordonnanz öffnete ihr; schnell und ohne ein Wort zu sagen, schritt sie an dem Soldaten vorbei, und dieser, der annahm, daß die Offiziere die Frau erwarteten, dachte gar nicht daran, irgendwelche Frage an sie zu richten. So trat die Tänzerin in den Saal, wo Moreno gerade beschäftigt war, für die in einer Stunde bevorstehende Abfahrt seinen Koffer zuzuschnallen.
Er erhob bei dem Geräusch seine Augen, erblickte das Mädchen und sah sich unwillkürlich nach Assanoff um. Zur Verwirrung ließ ihm Umm Djehan keine Zeit. »Herr,« sagte sie zu ihm, »ich komme her, den Leutnant Assanoff aufzusuchen. Er wird Ihnen gesagt haben, daß ich seine Base bin, und da er unzweifelhaft eine vertrauensvolle Seele ist, so hat er gewiß auch hinzugefügt, daß ich seine Braut bin. Er scheint abwesend zu sein, und so erlauben Sie mir wohl, auf ihn zu warten.« – »Fräulein,« erwiderte Moreno kühl, bot aber trotzdem der Neuangekommenen einen Stuhl an, »Sie haben recht, Assanoff ist wirklich vertrauensvoll, ich weiß, daß Sie seine Base sind, oder wenigstens, daß er es glaubt. Was aber die Brautschaft anbetrifft und alle ihre Folgen, von denen Sie nicht reden, so ist es damit noch nicht so weit und ich muß Sie bitten, Ihre Pläne zu ändern.«
»Und warum?« – »Sie würden Assanoff zugrunde richten und obenein nicht einmal einen Vorteil davon haben.«
Umm Djehan nahm eine feindselige Miene an.
»Wer sagt Ihnen denn, daß ich einen Vorteil dabei suche? Hat Assanoff Sie beauftragt, in dieser Weise mit mir zu sprechen?«
Moreno fühlte, daß er sich von seinem Eifer nicht hinreißen lassen dürfe. Er brach daher, um in der Fechtersprache zu reden, den Waffengang ab und suchte eine andere Angriffsstelle. »Sehen Sie, Fräulein, Sie sind keine alltägliche Persönlichkeit, und man braucht Sie nicht lange zu sehen, um in Ihren Zügen Ihre ganze Seele zu lesen. Lieben Sie Assanoff?« – »Ganz und gar nicht.« Aus ihren Augen leuchtete Verachtung.
»Was wollen Sie denn aus ihm machen?« – »Einen Mann. Er ist ein Weib, ein Feigling, ein Trunkenbold. Er glaubt alles, was man ihm sagt, und ich kann mit ihm anfangen, was ich will. Wie soll ich ihn denn lieben können? Aber er ist meines Oheims Sohn, der einzige Verwandte, der mir noch geblieben ist, ich dulde nicht länger, daß er sich ehrlos wegwirft; er soll mich zu sich nehmen, ich werde sein Weib; wen soll ich denn heiraten, wenn nicht ihn? Ich werde ihn von seinem schändlichen Wandel abbringen, ihm dienen und ihn behüten, und fällt er, so fällt er als ein Tapfrer im Kampf mit den Feinden seines Hauses, und ich werde ihn rächen.«
Moreno war einigermaßen erstaunt. Er hatte Verwandte in der Berggegend von Barcelona, aber nie war ihm eine Catalanin noch auch ein Catalane von der Tatkraft dieses zierlichen Mädchens vorgekommen. Hätte er ein würdiges Gegenstück zu ihr finden wollen, er hätte bis in die Tage der Almogavaren zurückgreifen müssen; aber so weit zu suchen, fehlte ihm die Zeit.
»Ich bitte Sie, Fräulein, seien Sie nicht so aufgeregt. Assanoff hat es nicht verdient, daß Sie in solchem Tone von ihm sprechen. Er ist ein Ehrenmann, und Sie werden ihn nicht auf Abwege bringen.« – »Wer sollte mich daran hindern?« – »Ich!« – »Sie?« – »Allerdings!« – »Wer sind Sie denn überhaupt?« – »Juan Moreno, ehemals Leutnant bei den Segovia-Jägern, jetzt Kornett bei den Imerethi-Dragonern, groß als Verehrer der Damen, aber auch verzweifelt starrköpfig.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er plötzlich, kaum einen Zoll von seiner Brust, eine Klinge aufblitzen sah. Unwillkürlich griff er zu und hatte noch eben Zeit, Umm Djehans Handgelenk zu fassen, als ihm das scharfe Messer schon ins Fleisch fuhr. Er verdrehte seiner Gegnerin den Arm, ohne sie loszulassen. Sie ließ die Waffe trotzdem nicht fallen und sah ihn mit Tigeraugen an – er sie mit Löwenaugen, denn der Zorn war in ihm lebendig geworden, und er drängte sie heftig an die Wand.
»Na, Fräulein,« sagte er, »was soll denn die Kinderei? Wär' ich nicht, der ich bin, ich würde mit Ihnen genau das machen, worauf Sie hinaus wollen.« – »Was würdest du denn machen?« erwiderte Umm Djehan ungestüm.
Moreno begann zu lachen, ließ sie, ohne die geringste Bewegung, die auf die Absicht gedeutet hätte, sie zu entwaffnen, plötzlich los und antwortete: »Küssen würde ich Sie, Fräulein, denn das pflegt den jungen Mädchen zu begegnen, die sich herausnehmen, einen Burschen zu necken.«
Bei diesen Worten zog er sein Tuch aus der Tasche und drückte es gegen seine Brust. Das Blut floß stark und befleckte sein Hemd. Der Stich war gut geführt, aber glücklicherweise nicht durchgedrungen; andernfalls hätte Moreno der Länge lang den Boden gemessen, ohne je wieder aufzustehen.
Umm Djehan lächelte und sagte mit triumphierender Miene: »Viel hat nicht gefehlt! Ein andermal werde ich sicherer zustoßen.« – »Schönen Dank! Ein andermal werde ich besser auf meiner Hut sein. Übrigens werden Sie einsehen, daß Sie sich Ihre Sache ganz und gar verdorben haben. Komm her, Assanoff, sieh einmal, was das Fräulein Schönes angestellt hat.«
Assanoff stand auf der Schwelle; sein Gesicht war karmesinrot, die Augen traten ihm aus dem Kopf. Er kam eben vom Polizeichef, dessen Raki ihm den Rest gegeben hatte, und der Himmel fügte es, daß seine Trunkenheit ihn zu wildem Abscheu gegen Umm Djehan aufstachelte.
»Der Teufel soll sie holen, das Fräulein! Was hat sie denn noch angerichtet? Höre, Umm Djehan, sieh zu, daß du mich in Frieden läßt! Was soll ich mit deinen alten Geschichten? Glaubst du etwa, ich werde mich viel um den Kaukasus scheren oder um die Bestien, die drin hausen? Mein Vater, meine Mutter? Sieh, unter vier Augen sage ich's dir: elende Räuber waren sie, und meine Tante gar – o die verfluchte Hexe! Du wirst doch nicht leugnen wollen, daß sie eine Hexe war! Übrigens will ich für mein Teil den nächsten Winter in Paris verbringen! In den berühmtesten Kaffeehäusern will ich speisen, die kleinen Theater will ich besuchen! Du kommst mit, Moreno! nicht wahr, Moreno, du kommst mit! Ja, Brüderchen, laß mich nicht allein! Wir gehen in die Oper! Umm Djehan, hör', komm her, gib mir den Arm! Da wirst du Mädchen sehen, die vom Tanzen schon etwas mehr verstehen als du, weiß Gott! Hör' mal zu! nein, komm näher, ich will dir was sagen: wollen wir zusammen zu Mabille gehen? . . . Das muß schon in jeder Hinsicht das aller . . .«
Es wird behauptet, daß der menschliche Blick mit seiner Festigkeit auf wilde Tiere eine wunderbare Wirkung ausübe, daß er sie erschrecke, zurückweichen und gewissermaßen zu nichts zusammenschrumpfen lasse.
Mag das seine Richtigkeit haben oder nicht, Assanoff vermochte jedenfalls die ausdrucksvollen Blicke, die das Mädchen fest auf seine Augen heftete, nicht zu ertragen; er schwieg, dann drehte er sich in der offenbaren Absicht, seinem Unbehagen zu entrinnen, nach rechts und nach links um; kurz, dieser neue Anlaß zur Verwirrung trieb das Durcheinander in seinem Kopf auf den Gipfel: er fiel aufs Bett und rührte sich nicht mehr. Da wandte sich Umm Djehan zu Moreno und sagte kalt: »Sie können zufrieden sein, Herr. Sie sehen ebensowohl wie ich, Ihr Freund ist zur Ausführung der Torheit, die Sie befürchteten, unfähig. Ich gratuliere Ihnen dazu. Er ist doch ein noch zivilisierterer Mensch, als ich gedacht hatte. Er hat eben seinen Vater verleugnet, er hat das Andenken des Weibes, das ihn zur Welt gebracht hat, mit Füßen getreten. Sie haben gehört, wie er seine Familie beschimpfte, und was sein Land in seinen Augen ist, hat er Ihnen nicht verhehlt. Ich verstehe nicht, weshalb der Himmel uns beide beim Untergang unseres Stammes verschont hat, weshalb mir, dem Weibe, das Herz in der Brust schlägt, das er hätte haben sollen, und ihm die Feigheit gegeben worden ist, die mich nicht beschimpft hätte. Aber die Dinge sind nun einmal so und lassen sich nicht ändern. Gott ist mein Zeuge! Seit ich mich selbst kenne, habe ich immer nur einen Wunsch gehabt: ihn zu sehen, der dort hingestreckt liegt wie ein unreines Tier! Ja! Gott weiß es! Da ich wußte, er sei am Leben, habe ich mir im größten Leid immer und immer wiederholt: Noch ist nicht alles verloren! Er lebt, Murad! Er wird kommen und mir helfen! . . . Ich gedenke vor allem an eine der elendesten Nächte meines elenden Lebens; ich saß allein im tiefen Wald, zwischen Baumwurzeln: seit zwei Tagen hatte ich nichts gegessen als ein Stück verdorbenen Zwiebacks, das Soldaten am Rand ihres Lagers fortgeworfen hatten; es war Winter; der Schnee rieselte auf mich nieder. Ich befragte meinen Rosenkranz, und sein untrüglicher Spruch wiederholte mir: Du wirst ihn wiedersehen! du wirst ihn wiedersehen! Und in der fürchterlichen Tiefe meines namenlosen Elends hielt diese Hoffnung mich aufrecht. Alle Tage sagte ich mir seitdem: Ich soll ihn wiedersehen? Aber wo? aber wann? Das Istichara sagte mir, es werde bald, es werde hier geschehen. Da bin ich hierher gekommen. Gestern ward mir von neuem Kunde. Nun war ich sicher, daß der Augenblick kommen werde, und in der Tat, ich hab' ihn gesehen, hier ist er. Sie sehen ihn ja auch. Sie sind Europäer, Sie sind ohne Zweifel stolz darauf, was Ihre Landsleute aus ihm gemacht haben; mir, die ich nichts als eine Barbarin bin . . . mir werden Sie gestatten müssen, anderer Meinung zu sein. Behalten Sie ihn denn! Er wird nicht unter den Kriegern seines Volkes mit mir weilen, er wird nicht zum Kampf eilen, um sein Land zu rächen, ich will auch nicht mehr reden, um ihn frei zu machen, denn ich weiß nun, daß es nicht mehr möglich ist. Er wird seine Base, die einzige, die letzte Tochter seines Stammes nicht schützen, er wird sie nicht aus Elend und Verzweiflung emporziehen. Nein! Nein! Nein! Wieder hinein stößt er sie! Leben Sie wohl, Herr, und wenn der Fluch eines schwachen Weibes, das Ihnen nie etwas zuleide getan, in der Wage ihres Schicksals einiges Gewicht haben sollte, so möge er alles aufwiegen, was . . .«
»Nein, Umm Djehan, nein! Verfluchen Sie mich nicht! Verzeihen Sie die bösen Worte, die ich Ihnen zu hören gegeben – ich kannte Sie nicht. Jetzt, wo ich weiß, wer Sie sind, gäbe ich viel darum, wenn ich Ihnen helfen könnte. Kommen Sie, liebes Kind, setzen Sie sich nieder. Sprechen Sie zu mir wie zu einem Bruder. Ich glaube wie Sie, wir leben in einer übeln Welt, und, mag sie barbarisch oder kultiviert sein, auch das Bessere von beiden ist nicht viel wert. Haben Sie irgendwelchen Bedarf? Kann Ihnen Geld helfen? Ich habe selbst nicht viel; aber da, nehmen Sie den Rest. Um jeden Preis möchte ich Ihnen dienen können. Sie sehen mich an! Ich lege Ihnen keine Schlinge. Und sehen Sie – was den armen Assanoff angeht, hätte ich ihn nicht Ihnen abwendig gemacht, er würde es selbst gemacht haben. Sie kennen jetzt seine Art. Was könnten Sie von ihm erwarten?« – »Sie für Ihren Teil betrinken sich also nicht?« fragte Umm Djehan im Ton einer gewissen Überraschung. »In meinem Lande ist das nicht üblich,« erwiderte er. »Aber sprechen wir doch von Ihnen! Was soll aus Ihnen werden? Was gedenken Sie zu tun?«
Sie heftete ihre Augen für einige Sekunden auf die Morenos und sagte: »Lieben Sie in Ihrem Lande ein Weib?«
Don Juan erblaßte leicht, wie wohl ein Verwundeter tut, wenn man unversehens das offene Fleisch berührt; er erwiderte jedoch: »Ja, ich liebe ein Weib.« – »Lieben Sie es sehr?« – »Von ganzer Seele!« Umm Djehan raffte ihren Schleier zusammen, hüllte ihn um ihr Gesicht und schritt der Türe zu. Dort blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen, wandte sich zu Moreno um und sprach mit all der Feierlichkeit, welche die Asiaten in solche Worte zu legen wissen: »Der Segen Gottes sei über ihr.«
Der Offizier war bis ins tiefste Herz ergriffen. Umm Djehan war verschwunden. Assanoff schnarchte wie ein Murmeltier. Die Ordonnanz meldete, daß angespannt sei und der Tarantas warte; man brachte den Ingenieur in den Wagen, und in gestrecktem Galopp verließen die beiden Freunde Schemacha. Bald verlor sich die kleine Stadt hinter ihnen in den Staubwolken, die ihre vier Räder ungestüm aufwirbelten.
Die Landschaft vor und hinter Schemacha, nach Baku zu, ist von eigentümlicher Größe und Majestät. Sie bietet nicht mehr gerade den im Kaukasus gewöhnlichen Anblick. Dort Mengen von schroffen Felswänden, Wälder voll Dunkel und Schrecken, Täler, in denen die Sonne sich kaum zu verweilen getraut; gewaltige Gießbäche, die sich in breiten Fällen auf riesige Felsen stürzen, im Kampf mit deren Massen hoch aufschäumen und sich in reißende Ströme verteilen; Engpässe von erstickender Schmalheit; Schluchten wie die des Suram, die mit ihren schwindelerregenden Abhängen und Höhen an Märchenschilderungen erinnern; endlich, mitten zwischen allem, träge fließende Gewässer, und diese eben sind es, die den Übergang vermitteln zwischen den bedrückenden Bildern des Gebirgs und demjenigen, welches das große Tal nach Baku zu darbietet. Hier findet sich umgekehrt weiter Raum, reichliche helle Luft und klares Licht; der Boden ist tonig, im Sommer staubt es, aber der Staub ist fein, fast unmerklich und doch erstickend; der Winter bringt statt dessen tiefen Schmutz, in dem auch die leichtesten Troikas bis zu den Radnaben versinken; zur Rechten wie zur Linken laufen die fernen Bergreihen neben der Fläche her: das Ganze wirkt schon wie ein Vorläufer der großen Täler, der großen Bergketten, der endlosen Ausdehnungen in Persien.
Moreno war von seinem unerwarteten Zusammentreffen mit der Tänzerin, besonders aber von der Vorstellung, die er sich von ihr machte und der Art, wie er sie zu verstehen suchte, derartig ergriffen, daß er gegenüber der großartigen Szenerie, die der Wagen mit seinen vier Rossen durcheilte, fast unempfindlich blieb und sich in seine Gedanken verlor. Die Brustwunde fuhr fort, einigermaßen zu schmerzen; das Fleisch war stark aufgerissen. Don Juan hatte sich nach Möglichkeit verbunden, aber die schmerzliche Empfindung, die heftige Erschütterung, wodurch die junge Lesghierin dem Offizier gewissermaßen in einem einzigen Augenblick beigebracht hatte, wer sie sei, und die Erinnerung, die er an sein Zusammentreffen mit ihr forttrug, ließen in die Gedanken, die er daran knüpfte, nichts Bitteres sich hineinmischen, und so war Morenos Endurteil ebenso gesund wie gerecht. Vielleicht hätte ein Deutscher, ein Nordländer, Mühe gehabt, sich solch einen Charakter zu erklären, den ein Spanier dagegen als dem seinen verwandt empfinden konnte.
Umm Djehan, das unglückliche Mädchen, war in ihrem ganzen Leben keinen Augenblick über den Eindruck hinweggekommen, den ihr die Einnahme des Aul gemacht hatte. Beständig hatte dies Schauspiel vor ihren Augen gestanden und stand noch davor; immer noch sah sie die Flammen, die ihr Haus verzehrten, die Leichen der Ihren, wie sie übereinandergestürzt dalagen, die wilden und erbitterten Gesichter der Soldaten; immer noch gellten in ihren Ohren die Schreie der Not und Verzweiflung, das Knattern der Gewehre, der wilde Lärm der Sieger. Die Fürsorge, die ihr während ihrer Kindheit in der Familie der Generalin zuteil geworden, hatte sie durchaus nur dahin verstanden, daß sie in Mörderhände gefallen sei; sie betrachtete sich nicht nur als Sklavin, sondern sogar als gedemütigte Sklavin, und der Überschwang, mit dem ihre Beschützerin, sonst eine vortreffliche Frau, jedem neuen Besucher die wahrhafte Geschichte der kleinen Lesghierin erzählte, sicher nur in der Absicht, das Kind dadurch interessant zu machen, verfehlte niemals, auf Umm Djehan den Eindruck der ungeheuersten Beschimpfung zu machen. Sie sah darin nichts als Ruhmredigkeit und Anmaßung der Sieger. Sie zu unterrichten machte viel Mühe, obwohl sie, wie alle Asiaten und besonders die Angehörigen ihres Volkes, eine erstaunliche Auffassungsgabe besaß; als sie aber nach und nach merkte, daß Wissen für ein Verdienst galt und die Töchter der Generalin, die viel weniger gut und leicht lernten, bei jedem Erfolge, den sie erzielte, ausgezankt wurden und weinten, hatte sie ihre Bemühungen verdoppelt und bekundete große Freude daran, ihnen diese Unannehmlichkeit öfter zu verschaffen. Vorübergehend hatte sie sogar einen Gedanken von viel stärkerer Tragweite gefaßt. Da sie keinen Augenblick bezweifelte, daß die Russen, gegen die sie in ihrem kleinen Herzen ebensoviel Verachtung wie Haß trug, alle ihre Erfolge lediglich der Hexerei zu verdanken hätten, und daß die Geheimnisse solcher Hexerei gewiß nirgends anders zu finden seien als in den Büchern, aus denen man so viel Wesens machte, so hatte sie sich vorgesetzt, eine Zauberin zu werden. Aber so eifrig sie auch alles las, was ihr in die Hände fiel, leider fand sie nichts darin, was sie zum Ziel geführt hätte, und so sank ihr der Mut. Trotzdem zweifelte sie nie, daß feindliche Zauberkräfte bei allen ihren Angelegenheiten im Spiel seien; denn dem Geist und dem Herzen nach blieb sie durchaus Lesghierin, und die Richtung ihrer Gedanken änderte sich ebensowenig wie die ihrer Neigungen.
Wie sie Assanoff gesagt hatte, wußte sie in der Tat von jeher, daß er dem Blutbad entronnen sei und in der Kadettenschule erzogen werde. Von dem Augenblick an hatte sie in ihm ihren künftigen Gatten gesehen; nach ihrer Denkweise durfte sie gar keinen andern wählen. Um diesen einen Punkt hatten sich all ihre Träume gedreht; alle ihre Entschließungen waren, soweit sie nicht aus Leidenschaft und Haß hervorgingen, deren sie nie völlig Herr war, immer nur auf das eine Hauptziel gerichtet, mit ihrem Vetter wieder zusammenzutreffen. Sie war viel zu mißtrauisch, um sich irgendwo anders Rats zu erholen als beim Istichara, aber dafür war ihr Vertrauen zu den Orakelsprüchen ihrer Rosenkranzperlen auch grenzenlos. Als sie, um leben zu können, Tänzerin geworden war, hatte sie darin nicht die allergeringste Erniedrigung gesehen; die Tänzerinnen von Schemacha genießen eines Rufes, der dem Ruhm sehr nahe kommt; zudem sind überhaupt die Frauen in Asien, ob sie nun auf der sozialen Leiter hoch oder tief stehen mögen, gesellschaftlich nichts; sie können alles anfangen; sie sind eben, ob Kaiserin oder Sklavin, Frauen und bleiben Frauen, und so können sie alles sagen und alles tun, ohne für ihr Reden und Handeln vor dem Richterstuhl der Vernunft und Billigkeit weiter verantwortlich zu sein; sie haben einzig mit der Leidenschaft zu rechnen, die sie, je nachdem, verschlingt, vernichtet oder krönt. Umm Djehan war weit davon entfernt, lasterhaft zu sein; sie war vollkommen keusch und rein; aber ebensowenig war sie auch tugendhaft, weil sie auf den Antrieb irgendwelcher Neigung hin sofort auf ihre Reinheit verzichtet hätte, ohne Kampf und Widerstand, ja sogar ohne das geringste Gefühl des Unrechts. Trotzdem erschien es ausgeschlossen, daß sie zugunsten eines Franken ihre Zurückhaltung aufgeben werde; ihre Abneigung gegen diese Rasse war zu stark. Gregor Iwanitsch, der »Feind des Geistes«, hatte allerdings einen Augenblick geglaubt, an der jungen Tänzerin ein lebhaftes Wohlgefallen zu finden und natürlich auch nicht das geringste Bedenken getragen, ihr dies zu bekunden; und wenn auch für sie eine Gefahr von seiner Seite nicht vorhanden war, so hatte die Sache doch zur Folge gehabt, daß ihre Lehrerin Schönheitglanz sie mit einer Reihe von guten Ratschlägen und einschmeichelnden Reden, und zwischendurch mit Worten des Tadels und Vorwürfen bedachte, die sich freilich in Rücksicht auf die Furcht, die Umm Djehan jedem Nähertretenden einflößte, in maßvollen Grenzen hielten. Das Mädchen widerstand, weil es Assanoff erwartete und das Istichara ihm fester und fester versprach, er werde bald kommen. Nur um des lieben Friedens willen hatte sie ihre Zustimmung dazu gegeben, daß sie an den alten Kaïmakam in der Gegend von Trapezunt als Sklavin oder als Frau, was ein und dasselbe bedeutet, verkauft werden sollte. So gewann sie Zeit und machte sich gar kein Bedenken daraus, gegebenenfalls noch in letzter Stunde ihr Wort zu brechen. So war Umm Djehan; so war sie bisher gewesen, ein armes, tiefunglückliches und beklagenswertes Geschöpf, obwohl sie über ihr eigenes Schicksal nicht weinte und niemandes Mitleid beanspruchte.
Wie schon gesagt, verstand Moreno das Wesentliche dieser Lage sehr wohl. Assanoff erwachte nach ein paar Stunden endlich. Er wurde bald brummig und unangenehm, nahm Umm Djehans Namen nicht in den Mund, gedachte der Vorgänge in Schemacha nicht mit dem leisesten Wort und verfiel schließlich in eine solche geistige und körperliche Abspannung, daß Moreno Mitleid mit ihm hatte. Er merkte wohl, daß in dem Herzen des Tataren zwischen Trieben und Neigungen, Gewohnheiten und Schwächen, Zugeständnissen und Gewissensbissen ein furchtbarer Kampf tobte, in dem keine der streitenden Mächte sich kraftvoll genug erwies, um den Sieg zu erringen. So ging die Reise sehr betrübt zu Ende, und auch der spanische Verbannte begann, von dem Zustand, in dem er seinen Freund sah, angesteckt, das Leben unerträglich zu finden. Als der Wagen endlich in Baku einfuhr, machte ihn der erste Anblick der Stadt nicht froher.
Das Kaspische Meer, diese geheimnisvolle düstre Fläche, die noch ungastlicher erscheint, als die europäischen Ufer, die ein Drittel von ihr begrenzen, reichte mit seinen bleifarbenen Wogen, über denen ein grauer, drückender Himmel stand, bis an den fernen Horizont. Es hatte eben geregnet; die Straßen und Wege lagen drei Fuß tief in gelbem Schlamm, einem außerordentlich zähen Schlamm, aus dem Wagen, Menschen und Tiere nur mit Mühe herauskamen. Die Vorstädte mit ihren Holzhäusern russischer Art, ihren Regierungsmagazinen, ihren Schuppen und Fabriken, aus deren hohen Schornsteinen der Steinkohlenrauch bis zum Himmel emporstieg, waren von einer halb aus Tataren, halb aus Soldaten bestehenden Menge belebt. Hin und wieder ging eine europäisch gekleidete Dame vorüber, deren Hut an westliche Moden wenigstens erinnerte. In der alten Festungsmauer der ehemaligen tatarischen Fürstenresidenz stand noch das kleeblattförmige Tor, und als der Wagen hindurchfuhr, verfolgten ihn eingeborene Betteljungen, die das Rad schlugen und mit kläglichem Geheul auf französisch schrien: »Geben Sie Geld, Monsiou! Bandalun!«
Das sollte bedeuten, daß man sie nicht nur mit Geld bedenken, sondern ihnen obenein auch noch eine Hose (pantalon) bewilligen dürfe. Derartige Bildung verbreiten dort lustige junge Offiziere mit großer Freigebigkeit. In den engen Straßen der Stadt, wo die meisten Häuser noch nach alter Art gebaut sind, bemerkt man zwischen zahlreichen Firmenschildern russischer Kaufleute und Handwerker auch solche mit Aufschriften wie: »Bottier de Paris,« »Marchande de Modes.« Allerdings vermag solche Spekulation auf die Leichtgläubigkeit kaum wirklich zu täuschen, und was man in diesen Läden kauft, ist derartig, daß auch der ärgste Hinterwäldler über die Herkunft der Waren kaum in Zweifel sein kann.
Einmal angekommen, ward Assanoff durch die Bewegung endlich etwas abgelenkt. Er rüttelte sich empor und zeigte wieder seine frühere Laune; mit andern Worten: er lebte wieder auf. Moreno seinerseits ward seinem Obersten vorgestellt, von den Kameraden wohl aufgenommen und von den Europäern gefeiert, und da er unter dem Zwang der Notwendigkeit stand, war er darauf bedacht, weniger als bisher zurückzuschauen. Nach Verlauf von drei Monaten hatte er seine Leutnantsepauletten wieder. Er nahm an einer Expedition teil, tat dabei wacker seine Pflicht und wurde Rittmeister. Der Soldat hat seine besondere Art, das Leben anzusehen: verspräche man ihm das Paradies für den Verzicht auf seine Anziennität und die Hölle für eine höhere Charge, so würde kaum einer zaudern; und wenn doch der und jener die Gegenwart Gottes vorzöge, so würde er die ganze Ewigkeit damit zubringen, sein Opfer zu bejammern. Trotzdem ließ Don Juan seine Herzenswünsche mehrere Jahre lang noch nach Spanien schweifen. Seine Liebe verursachte ihm allerdings nicht mehr die quälende Pein wie in den ersten Monaten; sie ward zu einer zarten Gewohnheit, zu einer melancholischen Stimmung, von der seine Seele gewissermaßen durchsättigt war. Er schrieb häufig und erhielt auch Antwort; die Liebenden hofften nach bestem Können auf das Ende ihrer Trennung. Als die Politik die Streitaxt begrub, die das Herzensband zerschnitten hatte, mußten sie bald einsehen, daß es Moreno seine materiellen Lebensbedingungen nicht gestatteten, den Kaukasus zu verlassen, da er nichts besaß als seinen Sold und einen neuen Beruf nicht mehr ergreifen konnte, und die junge Frau war auch nicht reich genug, um sich mit dem Geliebten wieder vereinen zu können. So blieb alles, wie es war. Keiner von beiden verheiratete sich; nach und nach hörten sie auf, sich völlig unglücklich zu fühlen; aber glücklich wurden sie nie.
Lange vor der Zeit, von der wir hier reden, kam Moreno eines Nachts nach einer Abendgesellschaft beim Generalgouverneur ziemlich spät nach Hause und sah von fern in der einsamen Straße, die an dem ehemaligen, jetzt in ein Pulvermagazin verwandelten Palast des Tataren-Chans vorbeiführt, eine weibliche Gestalt, die mit ihm in gleicher Richtung ging. Es war Winter, kalt, der Schnee bedeckte die Erde mehrere Zoll hoch, alles war gefroren, und die Nacht war finster.
Moreno sagte sich: Wer kann dies unglückliche Wesen sein?
Der Rittmeister hatte viel Elend und Unglück in nächster Nähe gesehen; auch sein eigenes Dasein war nicht heiter gewesen. Unter solchen Umständen wird der Mensch entweder schlecht oder besonders wacker: Moreno war wacker geworden.
Soweit es die Finsternis gestattete, verfolgten seine Augen mitleidsvoll jenes Geschöpf, wie es so ganz allein daherschritt; und da er zu bemerken glaubte, daß sie innehielt und schwankte, beschleunigte er seine Schritte, um sie zu erreichen und ihr zu helfen, als er plötzlich mit äußerstem Erstaunen gewahrte, daß sie gerade vor seiner Tür stillstand und gleichzeitig hinter ihm eilige Schritte ertönten.
Er wandte sich um und erkannte sofort den Duchoborzen. Gregor Iwanitsch war barhäuptig, ohne Pelz und bewegte sich so eilig vorwärts, wie es seine stark angewachsene Leibesfülle ihm nur erlaubte. Moreno glaubte, und zwar mit Recht, daß der »Feind des Geistes« die Frau einholen wolle, und der Gedanke kam ihm, es könne dies in böser Absicht geschehen.
Er ergriff ihn daher am Arme und rief laut: »Wohin wollen Sie?« – »Herr Rittmeister, ich muß Sie bitten, halten Sie mich nicht auf. Das arme Mädchen ist ausgerissen.« – »Wer? Von welchem Mädchen reden Sie?« – »Zu Auseinandersetzungen ist jetzt keine Zeit, Herr Rittmeister; aber wo Sie gerade hier sind, helfen Sie mir doch, sie zu retten. Vielleicht ist es noch möglich, ach! und wenn irgend jemand sie beruhigen kann, so sind gewiß Sie es!«
Er zog Moreno mit sich fort. Dieser ließ ihn, erstaunt wie er war, gewähren, und als er nur noch einige Schritte von seinem Hause entfernt war, sah er mit Schrecken, wie die Frau die Hände gegen die Tür streckte, um sich aufrecht zu erhalten, und dabei schwankte; im nächsten Augenblick mußte sie über die Schwelle stürzen; er fing sie auf, umschlang sie mit den Armen und sah ihr ins Gesicht: es war Umm Djehan.
Als sie ihn erblickte, verfiel sie in eine Art von elektrischem Krampf, der ihr für einen kurzen Augenblick blitzartig neue Kraft gab; sie warf die Arme um seinen Hals, küßte ihn heftig und sagte nichts als das eine Wort: »Lebewohl!«
Dann lösten sich ihre Arme, und sie ließ sich zurückfallen; bestürzt sah er sie an, und wirklich, er sah, daß sie tot war.
In eben dem Moment kam auch Gregor Iwanitsch hinzu und half ihm, den leblosen Körper aufrecht zu halten. Moreno wollte ihn in seine Wohnung tragen.
»Nein,« sprach der »Feind des Geistes« kopfschüttelnd, »das arme Kind ist bei mir krank gewesen, ich werde sie daher auch beerdigen lassen, und auf meine Kosten soll sie begraben werden. Nun ist sie tot; sie hat mich nicht geliebt! aber ich wollte ihr wohl, und das ist genügend Grund dafür, daß ich mich als ihren einzigen Verwandten betrachten darf.« – »Was ist denn eigentlich geschehen?« fragte Moreno. – »Wenig genug. Sie hat nicht verkauft werden wollen, sie hat nicht nach Trapezunt gewollt; sie hat sich geweigert zu tanzen, und was noch nie geschehen war, was man noch nie an ihr gesehen hatte, Tage und Nächte verbrachte sie mit Weinen, sie zerschlug sich die Brust und zerriß sich das Gesicht mit den Nägeln. Schönheitglanz wußte nicht mehr, was sie mit ihr anfangen sollte und hatte große Lust, sie loszuwerden. Da sagte ich für mein Teil zu Umm Djehan: Meine Tochter, du bist auf falschem Weg, und zwar verdreht dir offenbar der Geist den Kopf. Laß doch die dummen Gedanken! Trink', lach', sing', unterhalte dich und laß deinen Launen die Zügel schießen; du bist jung, du bist hübsch, du erregst Bewunderung und tanzest wie eine Fee; der General sogar wird dir zu Füßen liegen, wenn du willst. Warum willst du eigentlich nicht?
Sie antwortete mir: Weil ich liebe, ohne wieder geliebt zu werden!
Mehr konnten wir von ihr nie erfahren. Ich aber, der ich früher in sie verliebt war, legte jetzt kein Gewicht mehr darauf, sondern nahm sie in aller Freundschaft und führte sie auf meinen Pachthof, worin sie auch willigte. Ich pflegte sie, ich suchte sie zu zerstreuen – aber was denken Sie? vor lauter Weinen fing sie schließlich an zu husten, und ich ließ einen Arzt holen. Der erklärte, daß sie sich sehr schonen und Kälte vermeiden müsse. Wissen Sie, was sie getan hat? Hingegangen ist sie und hat sich im Schnee gewälzt! Ja! der Geist! der Geist! Reden Sie mir nur von dem nicht! Aber ihr seid ja alle blind, ihr Heiden! Endlich, vor drei Tagen, hat sie mir wahrhaftig gesagt, was ich Ihnen jetzt erzählen will; es ist der barste Unsinn, aber trotzdem, es sind genau ihre eigenen Worte. Sie sagte zu mir: Führe mich nach Baku.
Was willst du denn dort? antwortete ich.
Sterben, erwiderte sie.
Der Jammer schnürte mir die Kehle zu, und ich erwiderte hart: Hier läßt sich' s gerade so gut sterben wie in Baku.
Nein! Ich will auf der Türschwelle des Rittmeisters Moreno sterben.
Ich glaubte, sie rede im Wahnsinn; nie hatte sie Ihren Namen ausgesprochen; nie, sage ich Ihnen, nicht ein einziges Mal. Aber sie ward böse und erwiderte mir zornig: Verstehst du mich nicht?
Wenn sie sich ärgerte, kam ihr Blut aus dem Munde, und sie hatte dann stundenlang zu leiden. Ich gab also nach.
Nun schön! Gehen wir also!
Wir sind hierher gekommen. Sie hat mich eben nach Hilfe geschickt mit der Versicherung, daß sie sich schlechter fühle, was leider nur zu wahr war; und während ich ihr gehorchte . . . Sie sehen ja selbst.«
Ein Schluchzen schnitt dem armen Teufel die Stimme ab.
Moreno empfand einen tiefen Kummer. Das war freilich nicht vernünftig. Das größte Glück, das Umm Djehan begegnen konnte, war ihr eben zuteil geworden. Was hätte im Leben aus ihr werden sollen? Wäre sie eine wahrhafte und treue Lesghierin geblieben, der Verlust Assanoffs und ihrer Jugendträume hätte ihre Seele nicht gebrochen; sie hatte viel gelitten, sie würde auch weiterhin zweifellos noch gelitten haben, aber ihr befriedigter Stolz und ihr gesichertes Selbstbewußtsein hätten sie bis zum Ende aufrecht erhalten, und ob sie nun weiterhin durch den Zauber ihrer Tanzkunst die Kenner von Schemacha entzückt oder dem weltfremden Harem des alten Kaïmakam den Vorzug gegeben hätte, sie hätte jedenfalls ein hohes Alter erreichen und wie die Frauen der alten Patriarchen am Lebensabend in einen friedlichen und ehrenvollen Tod hinüberdämmern können. Aber auch sie war schließlich den Göttern der Heimat untreu geworden. Sie hatte sich dagegen gesträubt, sich dagegen empört und war als Opfer dieses ihres Widerstandes tapfer gefallen: aber trotzdem bleibt es nicht minder wahr, im Grund ihres Herzens war sie schwach geworden: sie hatte einen Franken geliebt!
Als Moreno Assanoff die ganze Geschichte erzählte, ward der zivilisierte Tatar davon aufs äußerste ergriffen; acht Tage lang wurde er nicht nüchtern, und wo man ihn auch traf, sang er die Marseillaise. Später beruhigte er sich.