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»Ich möchte«, sagte Valerio, »dich lieber bei deinen Eltern lassen.« Lucies Augen füllten sich mit dicken Tränen. Sie sah den Sprecher mit dem Ausdruck schmerzlichsten Kummers an, »Aber wir sind doch seit acht Tagen verheiratet!« murmelte sie. »Ja, und seit drei Tagen weiß ich von unserem Ruin«, antwortete Valerio mit düsterer Miene. »Du mußt leben, und ich finde hier nichts zu tun. Eine Art Mauer schließt sich um mein jähes Elend, und wenn ich nicht den einzigen Ausweg ins Auge fasse, durch den ich entschlüpfen kann, dann packt mich die Verzweiflung. Also, meine Lucie, ich habe ein Anerbieten angenommen. Ich werde abreisen, ich werde für dich arbeiten; aber dich in meine neue Existenz hineinzuzwingen, dazu fehlt mir offen gestanden die Entschlußkraft.« »Wenn ich dich geliebt habe«, antwortete Lucie und faßte seine beiden Hände, »so ist das nicht meine Schuld. Ich kann mir nicht denken, was aus mir werden sollte. Ich muß dir folgen, ich muß mit dir zusammenleben. Alles andere kommt nicht in Frage.« So sprechend, lehnte sich Lucie an die Brust ihres Mannes; sie nahm den Kopf des geliebten Gatten zwischen ihre Hände, sie bedeckte seine Stirn und seine Haare mit leidenschaftlichen Küssen, und Valerio, bezwungen und Kuß für Kuß erwidernd, sagte: »Gut, abgemacht, du sollst mit mir reisen.«
Es kann den Leser wenig interessieren, zu hören, wie und weshalb Valerio Conti fünf Tage nach seiner Hochzeit erfahren hatte, daß ein ungetreuer Verwalter ihn um sein Vermögen gebracht habe. Er war ein tätiger Mensch von Geist, Kenntnissen und Verdienst. Er war mehrere Jahre im Orient gereist, und einer seiner Freunde, der von seinem Unglück gehört hatte, verwandte sich sofort für ihn und forderte ihn auf, nach Konstantinopel zurückzukehren in der Sicherheit, daß er dort oder in den türkischen Provinzen eine Stellung finden würde.
Er verkaufte, was er besaß. Der Schwiegervater, außer sich darüber, daß er einen ruinierten Schwiegersohn besäße, und dann, daß dieser Schwiegersohn auch noch seine Tochter weit weg entführen wolle, gab ihm nur ganz wenig mit und erklärte ihm unter heftigen Vorwürfen, niemals mehr zu bewilligen; und die beiden armen jungen Liebenden, der eine sechsundzwanzig Jahre, die andere achtzehn Jahre alt, schifften sich in Neapel auf einem Kursdampfer ein, und der trug sie durch die hellenischen Fluten nach dem alten Byzanz.
Die Kunst zu reisen ist ebensowenig die Sache jedermanns wie die Kunst zu lieben, Verständnis für jemanden zu haben und mitzufühlen. Nicht jedermann versteht die tiefe Bedeutung davon zu erfassen, wie der Ortswechsel immer neue Erscheinungen heraufziehen läßt, ebensowenig wie nicht jeder fähig ist, das Wesen einer Sonate von Beethoven, eines Gemäldes von Leonardo da Vinci oder Veronese, der Venus von Arles oder der Passion der Bianca Capello zu verstehen.
An Bord des Schiffes, das nun Valerio und Lucie entführte und die blaue Wasserfläche zwischen den schimmernden Inselchen und dem Archipel durchschnitt, befand sich auch eine Gruppe von jenen Herdenvieh-Reisenden, die die Mode jedes Jahr aus ihren Gehegen aufscheucht, weil sie, wie sie angeben, eine Orientreise machen wollen. So reisen sie denn in den Orient und kommen dann wieder von dort zurück. Aber sie sind nach ihrer Rückkehr nicht klüger als vorher. Sie kennen weder die alte noch die neue Geschichte der Gegenden und Stätten, sie wissen weder das Wie noch das Warum der Dinge. Die Landschaften, die nicht der Normandie oder der Grafschaft Somerset ähnlich sind, erscheinen ihnen einfach lächerlich. Die Straßen der Städte haben ja keine Bürgersteige, in der Wüste ist es sehr heiß; die viel zu zahlreichen Ruinen sind von kleinen Tieren bewohnt, die man Skorpione nennt; die in aufdringlicher Masse vorhandenen Flöhe erlauben sich infame Ausflüge auf die Körper der Vorübergehenden; die Eingeborenen fordern zu viel Backschisch, und ihr Kauderwelsch versteht man nicht. Aber auf all diese kindischen Bemerkungen kommt es schließlich nur wenig an, und man glaubt gewöhnlich, daß der Reisende sich auf diese kostbaren Beobachtungen beschränkt, die letzten Endes ohne große Mühe zur Erweiterung von Erfahrungen ausgenützt werden und ihn etwas tiefer in den Kern der Sache eindringen lassen könnten. Was ihn im Grunde so engstirnig macht, ist, daß er nicht zu sehen versteht. Er wird niemals, und wenn er so lange reiste wie Isaak Laquedem, der ewige Jude der späteren Sage, die Schönheiten, die Einzelheiten, die bezeichnenden Züge alles dessen sehen, was sich seinem Auge darbietet. Darin liegt ein unendlicher Ruhm der alles vermögenden und guten Weisheit, daß sie zwar zweifelsohne den Dummen und Bösen die Herrschaft über die Welt geschenkt hat, aber andererseits es nicht gewollt hat, daß diese Bösen und Dummen imstande sind, ihre Vollkommenheiten zu erfassen, ihre Süßigkeiten zu kosten und ihre Werte wirklich zu besitzen.
An Bord des Postschiffes befanden sich zwei oder drei Engländer, drei oder vier Franzosen, fünf oder sechs Deutsche, die stark durch das Mittagessen und Frühstück in Anspruch genommen waren, täglich eine Partie Whist spielten und die übrige Zeit mit zwei Schauspielerinnen plauderten, die für das Theater in Pera verpflichtet waren. Ferner war da ein Möbelhändler, der sich in Smyrna niederlassen wollte. Solche Leute reisen in den Orient und kommen ebenso geistig bereichert zurück, als wenn sie sich einmal in einer leeren Stube umgedreht hätten. Nochmals Lob und Preis der gütigen und wohlwollenden Vorsehung, die für ihre Erwählten manches ausschließlich vorbehalten hat!
Valerio wußte viel, Lucie dagegend war unwissend. Aber sie fühlte instinktmäßig den Wert wirklich wertvoller Dinge. Sie erriet deren verborgenen Sinn mindestens ebensogut wie Valerio, vielleicht sogar mit noch etwas mehr Feingefühl und lechzte nach Aufklärung. Nichts entging ihr. Die neuen Erscheinungen wirkten stark auf sie ein und führten sie auf Märchen, in die ihre Einbildungskraft sich widerstandslos vertiefte. Ein griechischer Milizsoldat, ein Palikare stieg an Bord; er wiegte sich mit der den Albanesen eigenen anmaßenden Art Siegermiene in den Hüften. Das genügte, um Lucies Geist in die akrokeraunischen Berge zu versetzen, von deren schauriger Schönheit ihr Gatte ihr bei dieser Gelegenheit erzählte. Die himmelblauen Wogen, von denen die eine die andere sanft vor sich herschob, entführten ihre Gedanken nach den unsichtbaren Küsten jenes Afrika der Sandwüsten, der Löwen, der gewalttätigen Menschen in einer gewalttätigen Natur. Und dieser Naturgarten von Halbedelsteinen, von Ametysten, Topasen, Turmalinen und Rubinen, die man Archipel nennt, der wie mitten in die Saphirbläue des Meeres hineingezaubert scheint, ließ sie die Vorstellungen der antiken Völker verstehen. In einem Zeitalter von soviel Glanz und Wundern von quellendem Leben, Wechsel und verführerischer Schönheit mußte in den Seelen dieser Völker die tiefe Überzeugung geboren werden, daß die Götter anwesend und gegenwärtig seien, daß die Strahlen der Sonne nichts anderes als die Haare des göttlichen Lenkers Apollo selbst sein könnten, daß Aurora mit ihren Rosenfingern das beseligende Himmelslicht bilde, und daß die Feuerfunken, welche die heilige Nacht lächelnd in ihren Schleiern berge, ohne sie zu verbergen, geschweige denn auszulöschen, an der Stirn Andromedas, Callistos und der homerischen Zwillinge aufgeflammt seien, der hohen Herren und Schützer der Schiffe.
Als Lucie auf Valerios Arm gelehnt bei prachtvollem Wetter jene Landspitze bläulich schimmernder Felsen betrachtete, auf denen sich die weißen Säulen des Tempels von Sunium erheben, war sie wie geblendet. Die Anmut, die Majestät, die unsterbliche Jugend sprachen gleichzeitig zu ihr aus diesen verstümmelten aber noch aufrechten Resten dieses Tempels, in dessen Schatten sich Plato niedergelassen und gelehrt hat.
Eine Lehre Dantes, die der Orden des heil. Dominikus übernommen hat, besagt, daß die Verdammnis des Menschen darin bestehen wird, daß er im Überfluß das besitzen wird, was er während seines irdischen Daseins geliebt, erstrebt und gewünscht hat. So für die ganze Zeit der Ewigkeit in den Besitz seiner Wünsche gesetzt, muß er zu seiner Pein zugleich erkennen, was hoch darüber steht, aber mit der Gewißheit, es niemals erreichen zu können. Was tut's! Es ist eine der Mitgaben für diese Welt, daß man sich mit dem schlechtesten Weltlauf zufrieden geben könnte, wenn das mächtige Naturgefühl auf uns bestimmend wirkt. Wenn man mit großen Augen schaut, und wenn man das liebt, was man sieht, es vollständig dadurch sich zu eigen macht, daß man mit der erfinderischen Erkenntnis des Geistes es festhält, dann macht man sich zum Herren der Natur selbst: man wandelt auf ihren Höhen und dringt in ihre Tiefen.
Es ist wahrlich keine Kleinigkeit, an den vom Asiatischen Olymp beherrschten Ebenen der Troas entlang zu fahren und dort Tenedos schauen zu dürfen! Schritt vor Schritt erweitern sich die durch die Dardanellen eingeengten Küsten vor den Reisenden, das Marmara-Meer öffnet sich. Und im Hintergrund dieses weiten und gerundeten Beckens erscheint die majestätische Höhe, die durch die von unzähligen Türmen unterbrochene byzantinische Mauer, den Gürtel Konstantinopels, eingefaßt wird; es erscheint dann dieser Mauergürtel selbst, innerhalb dessen sich ein Wald von Minarets und Kuppeln über das dunkle Laub zahlreicher Zypressen erhebt. Man hat den Anblick von Konstantinopel mit dem von Neapel verglichen. Aber welche Ähnlichkeit besteht zwischen dem reizendsten Genrebildchen und dem weitestgespannten geschichtlichen Gemälde, das man kennt, zwischen einem Meisterwerk von Claude Lorrain und einem Wunderwerk von Veronese? Man hat diesen Blick auch mit dem auf die Bucht von Rio de Janeiro verglichen. Aber dort handelt es sich um ein prachtvolles Durcheinander von unzähligen Seen, die sich unter zerfetzten Bergzügen aneinanderreihen, Bergzüge, deren senkrechte, waldgekrönte Felssäulen mächtige Orgeln zu sein scheinen, wo nur die reine physische Natur uns entgegentritt, wo keine Erinnerung vom Menschen spricht, wo nur die Augen geblendet staunen. Was hat diese rein materielle Überfülle gemein mit dem Anblick von Konstantinopel, diesem geistig belebten, prächtigen, sprechenden Schauplatz der größten Vergangenheit, den die geschichtlichen Erinnerungen und die erhabensten Schöpfungen des Genies für immer beleben? Was ist schließlich die vollendeteste aber wortlose und nicht zu uns sprechende Landschaft gegenüber einem Schauspiel von so sprechender Gewalt? Wenn die physische Natur nicht von der moralischen befruchtet ist, versetzt sie die Seele nur schwach in Erregung. Und deshalb werden die blendendsten Naturschauspiele der Neuen Welt niemals den Eindruck der weniger glänzenden der Alten Welt erreichen.
Valerio hatte von Neapel einen Empfehlungsbrief an einen der Gesandten, den Vertreter einer Großmacht, mitgebracht. Der Graf von P. empfing ihn sehr warm und empfand bald, mit welch feiner, tief angelegter, empfänglicher und seltener Natur er zu tun hatte. Er selbst gehörte auch zu solchen Naturen. Er hatte viel gesehen, viel erfahren, viel gelernt und alles festgehalten. Sein Gedächtnis und sein Herz bewahrten noch die Schwingungen, die von früheren Gemütseindrücken herrührten, was keine allgemeine Gabe ist. Mit einem Wort, trotz der abstumpfenden Wirkungen des Weltgetriebes war er fähig geblieben, sich für irgend jemand oder irgend etwas zu begeistern. Das junge Paar entzückte ihn. Diese beiden reisenden Schwalben, die kein Nest mehr hatten und aufgescheucht durch die Welt flatterten, flößten ihm Sympathie ein. Er beschäftigte sich mit ihren Interessen, und eines Morgens faßte er bei einem Besuch bei ihnen sie beide an den Händen und hielt ihnen folgende kleine Rede: »Ihr Schicksal scheint mir für den Augenblick gesichert zu sein. Hören Sie von mir, daß die letzten in Europa so vielfach ausgestorbenen Reste von Großmut und Ritterlichkeit hier noch in der Seele von einigen Türken vom alten Schlage leben. Ich spreche nämlich von jenen Ottomanen, die noch die Janitscharenzeiten gekannt haben. Dank der Verwendung von meinen Freunden dieses Schlages vertraut man Ihnen, Valerio, eine Mission sehr unbestimmten Charakters an den östlichen Grenzen des Reiches an. Ihre Auftraggeber wissen selbst nicht, was Sie zu tun haben werden und kümmern sich auch kaum darum, es zu erfahren. Worauf es ihnen ankommt, ist, daß Sie in den Dienst der Hohen Pforte eintreten. Sie sollen die Wälder, die Minen und die Strecken prüfen, wo man Straßen anlegen könnte, die man notabene übrigens niemals bauen wird. Und Sie werden sich darüber zu äußern haben, wenn Ihnen das paßt. Sie sind an alle Gouverneure des Reiches empfohlen. Wenn Sie zurückkommen werden, wird man Ihnen eine Stellung geben, die Ihnen vielleicht die Kenntnis dessen geben wird, was die moderne Sprache so stolz »das praktische Leben« nennt, das heißt, Sie werden alle die Nichtigkeiten, all das dumme Zeug und die Niedertracht der heutigen Zustände kennenlernen. Also nochmals, mein liebes junges Paar, reisen Sie! Sie werden während einiger Monate nichts anderes zu tun haben, als vorwärts zu reisen, wohin Sie wollen, wie Sie wollen, schnell oder langsam. Niemand wird Sie drängen. Ich habe solch Leben kennengelernt und weine ihm ewig nach: es ist das einzige und alleinige eines denkenden Wesens würdige Leben. Gehen Sie, seien Sie zufrieden, erfüllen Sie die Welt mit Ihrer Liebe und Ihre Liebe mit dem ganzen unendlichen Reiz der weiten Welt!«
So sehen wir Valerio und Lucie an den fernen Küsten von Trapezunt landen. Hinter ihnen liegt das Schwarze Meer, jener Pontus Euxinus, der soviel gesehen hat, der aber vor allen Dingen die Erinnerung an den antiken Argonautenzug festhält, von ihm so beredt erzählt. Auf dem Quai drängte sich eine Menge von Europäern, die man dort Franken nennt: Seeleute, Händler, Abenteurer aller Art, Ionier, Griechen, Malteser, Dalmatiner, Franzosen, Engländer, eine trübe Masse, die in die Tiefen der Menschheit hinabreicht. Ihre Anschauung ist indes hie und da durch einen Zug gekennzeichnet, der ihnen einen Teil des Abstoßenden nimmt: sie haben den Instinkt für das Unvorhergesehene, Neigung zu Regsamkeit und Kühnheit, manchmal auch eine Art des Sichgehenlassens, würdig eines Kapitano der italienischen Komödie, das der Originalität nicht entbehrt.
Unter dieser buntscheckigen hin und her wogenden Menge bewegten sich mit der Perlenschnur in der Hand auch einige Osmanen. Beinahe alle waren durch moderne europäische Kleidung verunstaltet, die sie nach ihrer Art, nämlich nach ihrer geschmacklosen Weise, auffaßten und trugen: ein kastanienbrauner oder blauer Überrock zeigte aufgeschlitzte oder zerrissene Ärmel, mit denen man leichter die vorgeschriebenen Waschungen vornehmen konnte, die ganz gewöhnlichen Hosen waren beschmutzt, ein schlecht gewaschenes Hemd zeigte einen schlecht sitzenden Kragen, um den sich ein eng und unordentlich geknüpfter Schlips wand. Der Fez war auf den Hinterkopf zurückgeschoben, die schmutzigen Finger hielten zugleich mit der Perlenschnur eine dicke Zigarette. Als auf den haßerfüllten Ratschlag der Zauberin von Colchis die armen Töchter des Jason es unternommen hatten, ihren Vater zu verjüngen, als sie ihn nackt ausgezogen, in Stücke geschnitten, in eine kochende Brühe gelegt hatten, als sie ihn endlich aus dieser Brühe Stück für Stück wieder herausgenommen, geknetet und zugerichtet hatten, da, denke ich mir, hatte der arme Jason etwa die Figur, die Haltung und das ganze beklagenswerte äußere Ansehen eines »modernen« Türken. Von diesen Rittern von der traurigen Gestalt hoben sich tscherkessische Auswanderer in ihrer unheimlichen und angriffslustigen Haltung ab. Diese wild aussehenden Menschen hatten auf gastliche Aufnahme durch die Türken, die ja Muselmänner wie sie selbst sind, gerechnet, um bei ihnen Ersatz für ihre Heimat zu finden, die sie in den Händen der Russen hatten lassen müssen. Sie hatten nichts als Hungersnot, Achselzucken und Ablehnung gefunden. Verzweiflung sprach aus ihren Augen, das Unglück beugte ihren Rücken, der Tod stand in seiner ganzen Schrecklichkeit vor ihnen. Untätig und halb resigniert sahen sie die Schiffe auf der Reede und die landenden Passagiere an. Und daneben musterte ein Abaze, braun gekleidet, mit seinen kurzen, enganliegenden Hosen, seinem Turban von derselben Farbe wie sein Gewand, das Gewehr auf der Schulter, den Dolch im Gürtel, seine Frau achtungsvoll zehn Schritte hinter sich, ein ausgesprochener Brigantentyp, die Neuangekommenen wie ein Raubtier, das eine Herde Büffel beäugt und darauf aus ist, eines der Tiere zu fassen, das sich von Herde und Hirt abgesondert hat.
Trapezunt hat an sich nichts besonders Bemerkenswertes. Der Name bedeutet hier mehr als die Tatsache. Die Häuser sind weder türkisch noch europäisch, sie schielen nach beiden Bauarten. Von der Vergangenheit erzählen wenige Reste, und die sind unbedeutend. Die Straßen sind breit und zu weit für die niedrigen Krambuden, die sie einfassen. Die rot und himmelblau angestrichenen Bauten zeigen keinen vernünftigen Architekturstil. Alles in allem, Trapezunt erweckt nur deshalb Anteilnahme, weil es ein letztes Wort und das erste eines Rätsels darstellt: es ist die Pforte von Asien. Jenseits der Stadt tut sich das Unbekannte auf. An seinen Toren kauert das Abenteuer, das hinter dem Reisenden sich auf das Kreuz des Pferdes hockt und mit ihm reitet.
Als Valerio und Lucie, begleitet von türkischen Zapthies, die der Gouverneur ihnen gestellt hatte, einige Meilen auf der großen Landstraße vorwärts gekommen waren, die mit großen Steinblöcken gepflastert eher einem antiken Trümmerrest als einer neuzeitlichen Anlage glich, fanden sie sich inmitten einer ganz idyllischen Natur von Wiesen, Bäumen, die den Lauf der Bäche säumten, von Bergen, die sie zur Rechten begleiteten. Bald aber steigerte sich die Szenerie zur Größe, die Idylle wurde zum Heldengedicht. Und die Melodie, die die beiden Liebenden in ihrem Herzen tönen hörten, wuchs zur Symphonie, deren Akkorde und Akzente ihre ganze Seele ausfüllten. Es war ein süßer Taumel, der mit immer gleichbleibender Stärke sie über sich selbst hinaushob. Sie ritten auf ihren Pferden, die fröhlich die feingebauten Köpfe schüttelten, ihrer Begleitung voraus und fühlten sich allein, ganz allein, fühlten nur einer den anderen. Welch Lebensgefühl empfanden sie! Wie liebten sie sich! Und nichts hinderte sie, sich zu lieben. Keine Sorge streifte mit ihren schwarzen Schwingen ihre aufknospende Zärtlichkeit, und am Busen der weiten Natur konnten sie sich ungehemmt ihren einfachen und großen Gefühlen hingeben, wie jenes glückliche Menschenpaar des Paradieses es einst in der Morgenröte der Weltenschöpfung hatte tun können vor der Zeit des Sündenfalles und knechtender Arbeit. Valerio und Lucie hatten ja auch tatsächlich eine Art von Eden betreten, sie ritten ja inmitten der Täler des Taurus!
Während mehrerer Tage stiegen vor ihren Blicken die Uferhöhen eines breiten, ruhigen, klaren Flusses, der majestätisch zum Meere hinabfloß, gegen das Innere des Landes hinan. Dichte Wälder bedeckten die Rücken der harmonisch sich aufbauenden Berge. Holzhütten schmiegten sich an die Hänge und kletterten bis fast an die Spitzen hinan. Herden weideten auf den Grasflächen umher, und der Wind trug die Klänge ihrer Herdenglocken weiter. Am Fuß der Berge breiteten ungeheure Bäume gefällig ihre Kronen aus. Bäume mit runzliger Rinde, mit in Grün schwelgendem und kühn verschlungenem Geäst, Bäume, deren Wurzeln sich aus dem Erdreich aufbäumten und auf deren Wurzelgeflecht alle möglichen Sorten von Moosen und Gräsern prangten, unzählige Blumen, namentlich Immergrün freudig ihre Blüten entfalteten. Überall Kraft und Lebensfülle, Anmut und Reiz! Adler und Falken zogen ihren Jagdflug hoch am Himmelszelt, Singvögel trieben ihr fröhliches Wesen im Grün. Steile, sich unvermittelt aus dem Schoß des Waldes erhebende Felsen bildeten über den Wolken eine Art weiter Esplanade, auf der sich irgendeine riesige Befestigung erhob, ein zerstörtes Werk der Byzantinischen Kaiser. Es gibt nichts in Europa, was sich mit dergleichen in bezug auf Ausdehnung und Höhe und unglaubliche baukünstlerische bizarre Launen vergleichen ließe. Da kann man sich an der Wirklichkeit ein Bild von der Anlage der Zauberschlösser machen, die der Zauberer Atlant und seinesgleichen mit einem Zauberwort erstehen ließen, um ritterlichen Ruhmesgedanken sinnlichen Ausdruck zu verleihen. Bevor die Kreuzfahrer solche überwältigende Bauten kennengelernt hatten, war es unmöglich, auch für die kühnste dichterische Erfindung, die Phantasie der Zuhörer mit so etwas erregen zu wollen: sie hätten nicht daran geglaubt. Kurtinen riesigster Ausdehnung; an ihren Eckpunkten aus Stein gehauene Mouscharabys, einen auf den anderen getürmt; Türme, die wieder Bündel von Türmchen tragen, und diese wieder mit Glockentürmchen besetzt; ein Innen- und Kernwerk, wie in Spitzenarbeit aufgebaut; Tore, die für die Unermeßlichkeit geschaffen scheinen, Fenster, durch die man bis in alle Tiefen des Himmels schauen zu können glaubt. Und das alles in riesigen Ausmaßen, aber zugleich unglaublich zierlich und geschmackvoll, so stellt sich alles dem Blick dar. Und, ich wiederhole, darunter ziehen die Wolken, während die Sonne sich verliebt auf den Plattformen spiegelt, die mit zahllosen Zinnen gekrönt sind.
Als das Paar in Erzerum ankam, wurde es dort vom Gouverneur mit offenen Armen empfangen. Er war von Geburt ein Kurde, hatte in Paris die Schule besucht und einige Zeit in Konstantinopel im Amtsbereich der Hohen Pforte zugebracht. Zum Sekretär der Botschaft in Berlin ernannt, war er dort drei Jahre geblieben, um dann als Minister an einen Hof zweiten Ranges versetzt zu werden. Er stieg zum Kaimakan, also Stellvertreter des Großveziers, in Beirut auf und nach einem Jahre zum Pascha von Erzerum. Er war ein liebenswürdiger Gesellschafter, nicht überzeugter Muselmann, aber andererseits auch keineswegs Christ. Sein Glaube an die Zukunft seiner Regierung und seines Landes ging nicht sehr weit. Er glaubte wenig an Verdienste, noch weniger aber an Verwirklichung von Reformen. Aber er glaubte sehr stark an die Notwendigkeit, seine eigene Stellung möglichst günstig gestalten zu müssen. Seine europäischen Gewohnheiten hatten keineswegs seine asiatischen Instinkte erstickt. Diese ihrerseits versuchten nicht zu sehr, sich gegen seine Erfahrung und seine Erziehung aufzulehnen. Er liebte die intime Pflege seiner Toilette, obwohl er nicht mehr jung war, er fand an Pariser Lehnstühlen und Möbeln Geschmack, er umgab sich gern mit Albums und hielt besonders darauf, daß es an seiner Tafel so zuginge, als wenn er im Faubourg St. Honoré gelebt hätte. Zu diesem Zweck hielt er sich einen französischen Koch und einen Haushofmeister. Auch war er auf das »Siècle« und das »Journal illustré« abonniert. Kurz, Osman Pascha gab sich als Mann von Geschmack, dem nur einige kleine Mängel anhafteten: Die Vergoldung war nicht bis in das Innere des kurdischen Metalls gedrungen.
Seit einigen Jahren war diese hervorragende Persönlichkeit verheiratet, und, weil er klugerweise klar darüber war, daß eine Tochter aus gutem osmanischen Hause in sein Heim nur Gewohnheiten der alten Mode hineintragen würde, denen er sich keineswegs anpassen wollte, hatte er es vorgezogen, seine Wahl auf eine zirkassische Sklavin fallen zu lassen, die ihm ein kaukasischer Kaufmann und russischer Untertan zu recht hohem Preise verkauft hatte. Das junge Wesen war hübsch, sprach französisch, kannte etwas von Geographie und spielte auf dem Klavier geschickt Walzer und Tänze. Das war mehr als nötig, um das häusliche Glück Osman Paschas zu sichern. Und dieses Glück war vollständig. Hanum kleidete sich als seine Gemahlin europäisch und trug nur Pariser Moden, die sie auch ihre beiden Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, tragen ließ. Sie langweilte sich in Erzerum. Sie wäre gern ins Theater gegangen, zum Ball ins Bois de Boulogne, zu den Rennen in Chantilly, zum Abendessen im Café Anglais. Das »Journal des Modes« hatte ihr das Vorhandensein solcher reizenden Welt entschleiert, und sie träumte von ihr. Für die zivilisierten Asiaten ist bei den Herren das Klubleben, bei den Damen das der Halbwelt das Ideal eines vernünftigen Lebens.
Osman Pascha und Fatmeh-Hanum waren über die Ankunft von Valerio und Lucie entzückt: Das war doch eine Abwechslung. Sie dauerte aber nur wenige Tage. Erzerum ist keine anziehende Stadt. Sie liegt auf einer kahlen Hochfläche, die dem Winde ausgesetzten Straßen sind kalt. Die Umgebung, eine unfruchtbare Hochebene, ist unfreundlich. Es regnet dort beständig, der Himmel ist grau. Valerio blieb dort nur grade so lange, um sich mit dem Haupt der Karawane, die nach Persien abging, und der er sein ferneres Schicksal anvertrauen wollte, ins Einvernehmen zu setzen. Er entließ seine Zapthies, die ihn nicht weiter begleiten durften, und mit dem Führer der Maultiere einig geworden, zeigte er Osman Pascha seine Abreise an und nahm Abschied von ihm. Lucie machte es bei Fatmeh-Hanum im Harem ebenso. Es gab Ausdrücke des größten Bedauerns, Tränen und Umarmungen ohne Ende. Dann, gegen zwei Uhr nachts, verabschiedeten sich Valerio und Lucie mit zwei muselmanischen Bediensteten von ihren liebenswürdigen Wirten und machten sich auf den Weg, um sich mit ihren zukünftigen Reisegenossen zu vereinigen.
Die Karawane hatte, wie es der Brauch will, die Stadt schon vor zwei Tagen verlassen und eine halbe Stunde vor der Stadt Lager aufgeschlagen. Sie war ansehnlich. Bei klarem Mondschein sah man die Umrisse der Maultiere und Pferde, die mit den Beinen an Pflöcken festgemacht waren und ihr Morgenfutter fraßen; man rüstete zum Aufbruch. Hie und da waren Feuer angezündet. Warenballen erhoben sich wie Mauern und bildeten an verschiedenen Stellen Zellen, die die Eigentümer benutzten, um ihr derzeitiges Mobiliar, bestehend aus Teppichen und Decken, auf und unter denen sie geschlafen hatten, wegzuschaffen. Diese beweglichen Bauten bildeten gewissermaßen Straßen, in denen die Menge schon sehr geschäftig umherlief. Da und dort erhoben sich leichte Zelte, deren Leinwand die Lichtstrahlen der Innenlampen durchdringen ließ, und darunter glitten die Schatten hin und her. Viele Kleinkrämer hielten auf der Erde hockend neben einem Kohlenbecken Kuchen und kleine Brötchen aus Blätterteig, den Apparat für Kaffee und Tee, Tassen, Milch, etwas Hammelfleisch oder Geflügel bereit. Man frühstückte, man kam und ging, die Maultiertreiber trugen die Ballen herbei, banden sie mit Stricken zusammen und begannen die Tiere zu beladen. Fromme Leute verrichteten mit lauter Stimme ihre Gebete.
Valerio ließ sich zum Karawanenführer weisen, nachdem er Lucie für einige Augenblicke bei einer türkischen Familie gelassen hatte, die nach Bajazid ging, und an welche der Pascha die junge italienische Dame empfohlen hatte. Ein Führer der Maultiere und der Karawane hat keinen staatlichen Rang, keine Würde wie die Beamten der muselmanischen Länder. Nichtsdestoweniger ist er in gewissem Sinne eine bedeutende Persönlichkeit. Er genießt zwei in der Welt sehr seltene Vorrechte: erstens er hat über alles zu befehlen, was mit ihm in Berührung kommt, und seine Autorität wird niemals in Zweifel gezogen. Und ferner ist seine Rechtschaffenheit stets unbestritten, und tatsächlich ist sie selten angreifbar. Was nun den Karawanenführer Kerbelay-Husein betraf, mit dem Valerlo in Verhandlungen stand, war dieser zweite Punkt völlig geklärt. Sobald man ihn nur mit einiger Aufmerksamkeit musterte, erkannte man in seinem Gesicht sofort den Zug gediegener Redlichkeit. Kerbelay-Husein war ein Mann von mittlerer Statur, untersetzt und bemerkenswert stark. Die Hälfte seines Gesichts bis zu den Backen herauf war von einem schwarzen, kurzen gekräuselten Bart bedeckt. Die Augen blickten frei und kühn, mit gradem und festem Blick, die Gesichtsfarbe war sonnengebräunt. Der ernste und kluge Ausdruck ließ einen Mann ahnen, der gewohnt ist, an seine Verantwortlichkeit zu denken. Kerbelay-Husein war aus der Provinz Chusistan, dem alten Susiana, wohin auch die Mehrzahl seiner Gefährten gehörte. Er hatte dreihundert Lastmaultiere zu eigen, was einen ganz beträchtlichen Besitz ausmacht. Aber wie es einem Manne seines Berufes zukommt, gab er sich keinen pomphaften Titel, nannte sich nicht einmal Beg, ging in sehr saubere, aber sehr gewöhnliche Wolle gekleidet und begnügte sich damit, einer der herrischsten und unbeugsamsten Gesetzesvertreter zu sein. Übrigens ereiferte er sich niemals und war damit zufrieden, an Hartnäckigkeit dem hartnäckigsten seiner Maultiere gleichzukommen.
»Herr« sagte nun also Valerio zu dieser Persönlichkeit, »Ihr geht nach Täbris?« »Inschallah, wenn es Gott gefällt« antwortete Kerbelay-Husein mit devoter Zurückhaltung. »Wieviel Tage rechnet Ihr für diese Reise?« »Gott allein weiß es«, entgegnete der Führer immer noch im selben Ton. »Das wird vom guten oder schlechten Wetter abhängen, vom Zustand der Weideplätze für meine Maultiere, vom Preis des Futters an den verschiedenen Haltestellen und endlich vom Aufenthalt, den wir in Bajazid und anderswo machen werden.« »So könnt Ihr mir also nicht irgendwie vorher sagen, wann ungefähr wir ankommen werden?« Der Maultierführer lächelte: »Ich habe viel mit Europäern verkehrt«, sagte er, »und ich habe immer festgestellt, daß sie Eile haben. Glaubt mir, die Stunde des Todes kommt immer. Ihr habt ja Zeit. Nicht eine Minute früher, nicht eine später, als das Schicksal es will, werden wir in Täbris ankommen. Seid ohne Sorge, vertraut mir, und beunruhigt Euch nicht unnötig.« »Ihr macht den Eindruck eines ehrlichen Mannes«, erwiderte Valerio, »und ich glaube, daß Ihr es seid. Ich möchte mit Euch ein offenes Wort reden. Ich habe eine junge Frau, und ich fürchte, langdauernde Reiseanstrengungen würden für sie eine bedenkliche Probe darstellen. Deshalb möchte ich mich mit Euch beraten, was man tun könnte, damit meine Frau möglichst wenig leidet. Und dann möchte ich Euch noch etwas fragen. Ich trage für die Reise einiges Geld bei mir, und unter soviel Menschen wie hier in der Karawane fühle ich mich in seinem Besitz etwas unbehaglich. Ich fürchte bestohlen zu werden.« »Das wird sich allerdings sicher ereignen, bevor zwei Tage abgelaufen sind«, antwortete der Karawanenführer, »wenn Ihr Eure Börse selbst aufhebt. Gebt sie mir. Ich werde Eure Auslagen auf der Reise begleichen und Euch vom Rest Rechnung ablegen, wenn wir an unserem Bestimmungsort angekommen sein werden.«
Valerio hatte nichts anderes bezweckt, als dies Angebot herauszufordern und beeilte sich, das, was er besaß, in die Hände Kerbelay-Huseins zu legen. Dieser zählte das Geld und dann noch einmal, legte es in einen Koffer, ohne in irgendeiner Form den Empfang zu bescheinigen, wie es doch der Brauch ist. Er machte selbst darüber zu Valerio folgende Bemerkung: »Ich bin einmal bis nach Trapezunt gegangen und zweimal bis nach Smyrna. Es scheint, daß Ihr Europäer große Diebe seid, denn Eure Geschäftsleute verlangen voneinander beständig Sicherheiten. Aber Ihr werdet verstehen, daß der ganze Karawanenhandel einfach unmöglich wäre, wenn die Maultierführer nicht ehrenhafte Leute wären, die es durchaus nicht nötig haben, fortwährend ihre Rechtschaffenheit zu bekräftigen. Gerade jetzt ein Beispiel! Ein Großkaufmann in Teheran zählt auf mich. Er hatte mir vor einem Jahre 80 000 Toman anvertraut, um ihm Wollen- und Baumwollenstoffe, Porzellan, Kristalle, Seiden- und Samtwaren zu besorgen, die ich in Konstantinopel kaufen sollte. Ich habe 60 000 Toman ausgegeben und bringe ihm den Rest zurück. Ich habe einen Bruder, der eine Karawane von Bagdad nach Schiras, von Schiras nach Jesd und von Jesd nach Kirman führt. Er hat letzthin einen Auftrag von 10 000 Toman für einen Posten Schals gehabt, die für einen Geschäftsmann in Kairo bestimmt waren. Er hat 15 000 Toman ausgegeben, die man ihm auf sein Wort hin vollständig ausgezahlt hat. Wenn wir Maultierführer auch nur den geringsten Grund zum Verdacht gegen uns gäben, ich wiederhole es, was würde da aus dem Handel werden? Wahrhaftig, Effendi, man muß dem allerhöchsten und barmherzigen Gott großen Dank wissen, daß er, während er alle Menschen als Diebe erschaffen hat, es nicht hat zulassen wollen, daß die Maultierführer es auch seien!«
So schloß Kerbelay-Husein lachend, und da man ihm gerade seinen Tee brachte, bot er Valerio eine Tasse an, der sie annahm. »Nunmehr«, fuhr der Biedermann fort, »habt Ihr eine andere Frage an mich gerichtet, und weil ich diese stets für die gewichtigste gehalten habe, beantworte ich sie zuletzt. Ihr müßt die Freiheit entschuldigen, mit der ich über Eure Familie sprechen werde. Ich weiß, daß die Europäer in diesem Punkte nicht so empfindlich sind wie wir, und lobe das. Denn in der von uns so betonten Zurückhaltung liegt viel von Verstellung, das weiß grade ich als Familienvater; ich habe vier verheiratete Töchter, die alle Kinder haben, und so spreche ich zu Euch von Eurer Frau wie von einer meiner Töchter, nachdem ihr mir nun einmal das Vertrauen geschenkt habt, mich betreffs ihrer zu befragen.« »Kerbelay-Husein, Ihr seid ein würdiger Mensch«, erwiderte Valerio, »ich werde Euch mit ganzer Aufmerksamkeit und vollem Vertrauen anhören.« »Zunächst, Ihr habt Unrecht getan, Eure Frau auf die Reise, die Ihr vorhabt, mit Euch zu nehmen. Ich verstehe vollkommen, was das heißt, Eure Frauen. Das ist ganz etwas anderes wie die unsrigen. Das sieht man ja auf den ersten raschen Blick in den von den Franken bewohnten Städten. Dagegen unsere Frauen? Man setzt zwei davon auf ein Maultier, die eine zur Rechten, die andere zur Linken, ein blaues Zeltdach darüber und drei oder vier Kinder auf ihre Knie. Sie schwatzen und schlafen, und man bekümmert sich nicht mehr um sie. Sind es große Damen von Rang, so gibt man ihnen an Stelle dieser Kedjavehs einen Takht-è-révan, ein großes Gehäuse, das von zwei Tieren getragen wird, eines vorn, eines hinten. Das rollt und schlingert wie ein Schiff, aber sie sind sehr gern darin. Eure Frauen aber sind zu verfeinert. Ihr lehrt sie soviel Dinge, Ihr verwöhnt sie dermaßen, daß es unmöglich ist, sie in dieser Art zu behandeln. Meine Meinung ist daher, sie sollten nicht in unser Land kommen, wo es keine Wagen gibt, keine schönen Möbel, und wo es obendrein zuviel Sonne, zuviel Hitze oder Kälte, zuviel Anstrengungen gibt, denen sie nicht gewachsen sind.« »Was soll das bedeuten, daß Ihr mich so ängstlich machen wollt, Kerbelay-Husein?« antwortete Valerio. »Gott sei Dank ist meine Frau stark und auch gesund, und bisher hat sie sich an alles gewöhnt und nicht gelitten.« »Gewiß, gewiß! Gott sei Dank, daß es so gewesen ist. Aber die Schwierigkeiten beginnen jetzt erst. Immerhin, schließlich wird alles gut gehen, Inschallah, Inschallah! Ich will Euch nicht grundlos ängstlich machen, Effendi, nur Euch vorsichtig machen, denn Ihr wißt, daß Ihr Europäer kaum einen Begriff davon habt, was gesunder Menschenverstand heißt. Ich hoffe ja, daß das bei Euch nicht zutrifft. Ich habe ein hübsches kleines Pferd, das Paßgang geht, ich werde es Euch sofort zustellen, damit es Eure Frau tragen kann. Es verdient eine bessere Belastung als bisher.«
Als Valerio dem würdigen Karawanenführer seinen Dank aussprach, hörte man durchdringendes Geschrei, Wutausbrüche und einen schrecklichen Lärm. Ein Maultiertreiber teilte die erregte Menge und kam gestikulierend herbeigelaufen.
»Was gibt's?« fragte Kerbelay-Husein mit Ruhe. »Da ist solch ein Hund von einem Schemsije«, antwortete der Maultiertreiber, »der darauf besteht, sich der Karawane anzuschließen. Hat man jemals von einer solchen Unverschämtheit gehört! Wir wollen ihn zum Teufel jagen, aber er widersetzt sich!« »Ich werde mit ihm sprechen«, antwortete Kerbelay-Husein in gewichtigem Ton und machte sich in der Richtung, die das Geschrei und die Unruhe der Menge ihm bezeichneten, auf den Weg. Valerio folgte ihm, und sie kamen außerhalb des Lagers am Ufer eines kleinen Baches an, das von einem Felsen überragt war; am Fuß dieses Felsens stand ein Mann, den die Leute der Karawane beschimpften und bedrohten. Die Türken waren besonders wütend, die Perser höhnten und schimpften, die katholischen Armenier streckten mit Ausdrücken von Schmerz und Entrüstung die Arme zum Himmel, einige Juden schüttelten bedächtig den Kopf und stöhnten über die grauenhafte Scheußlichkeit dieser Gottverlassenheit, aber sie machten nicht viel Lärm. Einzelne Steine wurden auf den Träger dieser allgemeinen Verachtung gezielt und prallten an dem Felsen ab; kurdische Kinder hatten sie geworfen.
Der Schemsije stand aufrecht, wand sich aber in allen seinen Gliedern, um den nach ihm gezielten Geschossen zu entgehen, bis Kerbelay-Husein mit einer Handbewegung Einhalt gebot. Er schien an die vierzig Jahre alt zu sein. Sein Gesicht schien sanft oder richtiger süßlich und scheu. Sein Mund verzog sich zum Lächeln, seine Blicke suchten den Boden und liefen schnell hin und her. Er war nach kurdischer Art gekleidet, trug aber eine sehr kleine, weiße Mütze. In der Hand hatte er einen kleinen runden Schild, mit Schnüren und Quasten verziert, den er krampfhaft hoch hielt, um sich damit gegen die Steinwürfe zu decken. Er trug Dolch und Säbel, schien aber keineswegs Lust zu haben, sie zu gebrauchen. »Was willst Du, Hund?« sagte Kerbelay-Husein streng zu ihm. »Gnädiger Herr«, erwiderte der Schemsije mit einem unnachahmbaren Lächeln und äußerster Unterwürfigkeit, »ich bitte um die Erlaubnis Eurer Exzellenz, mich der Karawane anschließen zu dürfen, um bis Avadjyk mitzugehen. Ich will nicht irgend jemand zur Last fallen, ich erbitte kein Almosen. Habt nur die Güte, mir zu gestatten, mich Euch anzuschließen, mehr brauche ich nicht.« Ein allgemeiner Schrei der Entrüstung erhob sich von allen Seiten. »Was soll das bedeuten?« fragte Valerio. »Ist denn dieser Mann ein Verbrecher oder ein Aussätziger?« Kerbelay-Husein zuckte leicht die Achseln. »Es ist eben ein Ungläubiger, ein Schemsije«, antwortete er ganz leise dem Fragenden, »er betet die alten heidnischen Götzen an und auch, wie man sagt, die Sonne. Die Türken möchten ihn am liebsten auffressen, weil er weder Osman noch Omar noch Abubekr verehrt, die Perser würden ihn lieber auffressen sehen, weil sie Lärm und Spektakelstücke lieben, die Christen und Juden ergreifen mit Freuden diese Gelegenheit, um sich als eifrige Parteigänger des einigen Gottes zu zeigen. Nur Gott weiß mit Sicherheit, was an alledem daran ist. Ich für mein Teil würde meine ganze Karawane in Unordnung bringen, wenn ich die Gefühle der Leute verletzen würde. Der Schemsije darf sich uns nicht anschließen.« »Marsch, fort!« schrie er mit rauher Stimme, »marsch, Du Ungläubiger, Du verruchter Bösewicht, mach Dich aus dem Staube! Wie kommst Du zu der Frechheit, Dich einer solchen ehrenwerten Gesellschaft anschließen zu wollen?« »Ich bin Untertan des Sultans wie Ihr«, antwortete der Schemsije mit ziemlich fester Stimme. »Wenn ich allein nach Avadjyk gehe, würde ich unterwegs bestohlen und meuchlings ermordet werden. Ihr habt nicht das Recht, mich zurückzuweisen. Ich tue niemandem Böses, und die neuen Gesetze sind für mich ebenso gültig wie für die Muselmanen und die Leute des Korans.« Darauf erhob sich ein tolles Wutgeschrei unter den Angehörigen der Karawane, die Steine begannen wieder von allen Seiten zu fliegen und selbst Säbel wurden gezogen, bis Kerbelay-Husein um sich herum drei oder vier gutsitzende Stockhiebe austeilte, die den Opfern Schmerzensrufe entlockten, aber den allgemeinen Sturm beruhigten. Und dann überschrie er die Menge: »Ich kümmere mich nicht um die neuen Gesetze. Scher Dich weg! Beunruhige ehrenhafte Leute, die ihren Geschäften nachgehen, nicht länger! Und wenn Gott in seiner unerforschlichen Weisheit Dir gestattet, die Welt mit Deiner Gegenwart zu beschmutzen, so sei das zum mindesten nicht unter uns!« Ein allgemeiner Beifall setzte dieser erbaulichen Ansprache ein Ende. Valerio, der den Schemsije betrachtete und Tränen über seine Wangen rinnen sah, wurde erregt und sagte barsch zu Kerbelay-Husein und so laut, daß er von der Menge gut verstanden wurde: »Ich nehme diesen Mann als meinen Bediensteten an! Ich weiß nicht, was ein Schemsije oder dergleichen ist, und ich kümmere mich nicht darum. Wenn irgend jemand mich oder die Meinigen angreift, wird er es mit dem Wesir von Erzerum zu tun bekommen. Versteht Ihr das, Kerbelay-Husein?« »Vollkommen«, erwiderte dieser mit einem zustimmenden Augenblinzeln. »Aber ich will andererseits auch niemand in Verlegenheit bringen, wer es auch sei. Muselmanen, Christen und Juden! Ihr habt gehört, was soeben der europäische Herr gesagt hat. Ich bin ein armer Karawanenführer, und ich muß mich den Befehlen der Regierung unterwerfen. Wenn irgend jemand unter Euch nicht damit zufrieden ist, fordere ich ihn auf, in Erzerum zu bleiben. Aber Ihr seht, die Tiere sind schon beladen, gehen wir!«
Auf dieses Zauberwort hin zerstreute sich die Menge plötzlich, von Sinn und Leidenschaft für ihre Geschäfte und unmittelbaren Interessen erfaßt. Während die beladenen Kamele und der Rest vorbeizogen, ergriff der Schemsije Valerios Hand und küßte sie. »Meine Frau«, sagte er ganz leise, »liegt in Avadjyk im Sterben. Ich war nach Erzerum gekommen, um ein wenig Arbeit zu finden. Ich bringe Geld zurück. Gott segne und erhalte Euch!« »Warum befiehlst Du mich nicht allen Deinen Göttern an?« fragte Valerio lächelnd zurück. »Ich will Eurem Glauben nicht zu nahe treten«, erwiderte der Mann des alten Glaubens, »Euch aber doch meine ganze Dankbarkeit ausdrücken.«
Valerio beeilte sich mit seinem neuen Diener Lucie aufzusuchen und setzte ihr auseinander, wie alles gekommen sei. Das kleine im Paßgang gehende Pferd von Kerbelay-Husein kam an, Lucie bestieg es und fand es ganz nach ihrem Geschmack. Valerio setzte sich wie gewöhnlich zu ihrer Linken. Der Schemsije ging zu Fuß auf der anderen Seite, einige Diener folgten. Als die Sonne ganz aufgegangen war, beleuchtete sie die Karawane in vollem Marsch: es war ein prächtiges und eindrucksvolles Schauspiel. Der unermeßliche, aus zweitausend Reisenden bestehende Zug dehnte sich über eine weite Strecke des Geländes aus. Reihen von Kamelen und Maultieren folgten sich ohne Unterbrechung. Sie wurden überwacht von Wärtern, die den Kopf mit runden oder zylinderförmigen Filzmützen bedeckt hatten. Formen, ganz wie sie die antiken Vasen und Skulpturen zeigen; sie flickten Wollzeug oder strickten im Gehen. Kerbelay-Husein ritt ein sehr ruhiges Pferd und ließ ernsthaften Gesichts seine Kette zwischen den Fingern durchgleiten. Er war von einigen ebenso ernsten Reitern wie er selbst begleitet, teils Mullas, teils angesehenen Kaufleuten. Diese achtunggebietende Gruppe war offenbar Gegenstand allgemeiner Hochschätzung. Hier eilten Geschäftsleute, die ihre Reittiere vorwärts trieben, dort sah man ziemlich reichgekleidete Leute, die anderen Berufen als denen des Handels angehörten, entweder Abgesandte des Gouverneurs oder Militärs oder Grundbesitzer. Dann kam die Menge, meist zu Fuß, plaudernd, gestikulierend, lachend, hin- und herlaufend. Ab und zu rief einer dieser Leute einem Maultiertreiber zu: »Bruder, da ist ein Tier, das nichts trägt, darf ich aufsitzen?« »Ja«, antwortete der Maultiertreiber, »aber was gibst Du mir dafür?« Der Preis wurde im Weitergehen ausgemacht, der Mann zahlte und brüstete sich dann auf dem Tier. Dann kamen die Frauen, die eine Gruppe für sich bildeten. Sie machten viel mehr Lärm als die Männer: das war ein Gezwitschere, Lachen, Schreien, Fluchen mit Angstrufen, Beschwörungen vermischt ohne Ende, und die Kinder unterbrachen sie von Zeit zu Zeit mit durchdringendem Kreischen. Das alles und dazu die Kamele, Pferde, Maultiere, Esel, Hunde, weiter Griesgrämige und Elegants, Priester, Muselmanen, Christen, Juden und was weiß ich noch, denke man sich als eine große Masse! Und dieser Lärm, den sie macht! Diese Masse drängt vorwärts, kommt langsam weiter, aber zugleich scheint sie um sich selbst herum zu wirbeln und zu strudeln; denn besonders die Fußgänger sind in beständiger Bewegung, laufen von der Spitze bis zum Ende des Zuges und vom Ende wieder bis zur Spitze, um jemand zu sprechen, jemanden zu treffen, irgendwen zu irgendjemand hinzuführen. Alles bleibt in dauernder Erregung und Bewegung. Lucie war angesichts dessen gleichzeitig in höchstem Maße betäubt, erstaunt, erheitert. Sie erbat von ihrem Gatten tausend Erklärungen auf einmal über die verschiedenen Teile dieses neuen Schauspiels. Bis jetzt war sie niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, daß eine solche Umwelt möglich sei. Übrigens gewinnt gerade hier, in einem solchen geordneten Durcheinander, Charakter und Geist der Asiaten am ungezwungensten Gestalt.
Gegen acht Uhr hielt die Karawane an, um den ganzen Tag zu ruhen, und brach erst in der Nacht gegen zwei Uhr wieder auf. Kerbelay-Husein kam in seiner treuen Fürsorge für sein junges Ehepaar selbst, um den ausgesuchten Platz zu zeigen, wo er ihr Zelt aufrichten ließ. Man schlug es mitten in dem schönen Quartier auf, das man in Europa das aristokratische nennen würde. Dort wohnten nur ernste, hochansehnliche Leute. Es war der ehrenvollere, aber auch weniger unterhaltende Teil des Lagers als die anderen. Deshalb nahm Valerio seine wohlverschleierte Lucie mit, um sich überall ein wenig umzusehen. Auch das, was man als das bürgerliche Quartier bezeichnen konnte, zählte eine ganze Anzahl Zelte, aber meistens kleine und niedrige. Der größte Teil der Bevölkerung baute nur Ballen aufeinander, bedeckte sie mit Stoffplanen, die ausgespannt als Schutz gegen Sonnenstrahlen für den Eigentümer dienten, einen Eigentümer übrigens, der in keiner Weise Immobilien besaß. Einzelne dieser Aufmachungen waren sehr hübsch und bequem mit Teppichen und Polstern wohl versehen. Im Volksquartier traf man nur auf Biwaks, angezündete Feuer und einige aus den Packsätteln der Kamele und Maultiere hergestellte Unterschlupfe. Dort schliefen die Leute höchst anspruchslos im grellen Sonnenlicht, ihre groben Überwürfe über dem Kopf. Und überall, in allen drei Quartieren, richteten sich Garküchen, Spezereibuden, Verkäufer von Tee und Kaffee ein, und in mehr als einem Winkel, dessen Herr unabänderlich ein Armenier war, hörte man den Ton einer Gitarre und eines Tamburins. Es war ratsam, sich nicht in diese Winkel vorzuwagen.
»Madame«, sagte eine schwache Stimme auf italienisch, »Madame, ich begrüße Sie und stelle mich Ihnen als eine sehr unglückliche Frau vor.« »Aus welchem Lande sind Sie?« fragte Valerio. »Aus Triest, mein Herr, ich heiße Madame Euphemia Cabarra. So wie ich vor Ihnen stehe, mache ich zum siebenundzwanzigsten Male diese Reise von meiner Geburtsstadt nach Teheran.« »Also haben Sie wohl ein schwerwiegendes Interesse, das Ihnen ein solch hartes Leben auferlegt?« fragte Valerio. Die Frau war nicht sehr groß. Ihre außerordentliche Magerkeit fiel auf, ihre hakenförmige Nase, ihr dünngeschnittener Mund, ihre kleinen glänzenden Augen gaben ihrem ganzen Gesicht einen wenig sympathischen Ausdruck von Härte und Raubgier. Sie antwortete: »Zuerst folgte ich meinem Mann, einem Militärmusiker, der von der persischen Regierung angeworben worden war. Vermittelst eines kleinen Handels gelang es mir, einige gute Geschäfte zu machen. Herr Cabarra starb. Ich kehrte nach Triest zurück, um andere Handelswaren zu kaufen und kehrte wieder nach Hause zurück. So habe ich weiter gekauft, gewonnen, verloren und habe mir das Kommen und Gehen angewöhnt. Ich liebe jetzt diese Lebensart mehr als jede andere. Manchmal nehme ich auch Dienst als Köchin entweder in einem Harem, in dem man gern einmal europäische Gerichte kennenlernen will, oder in irgendeiner Gesandtschaft. Gegenwärtig trage ich einen kleinen Packen Kinderspielzeug mit mir. Ich spare mein Geld, ich wohne mit den Maultiertreibern, esse Brot und Käse und diene Gott so gut als möglich.« »Das ist ein sehr hartes Leben«, rief Lucie aus. »Meine schöne Dame«, fuhr die Frau mit ernster und grämlicher Stimme fort, »jedes menschliche Geschöpf hat sein Schicksal zu tragen. Das Leben, das ich führe, sehe ich nicht für ein Unglück an. Ich habe in seinem Verlauf viele merkwürdige Dinge gesehen.« »Daran zweifle ich nicht«, versetzte Valerio. »Sie müßten sie irgend jemand erzählen, der sie niederschreiben könnte, das würde sicher ein anziehendes Buch werden.« »Das Buch ist geschrieben«, sagte Madame Euphemia Cabarra und zog ein kleines Duodezbändchen aus Ihrer Tasche, das auf dickem gewöhnlichen Papier und in mäßigem Druck hergestellt war. Sie bot es Valerio, der die erste Seite las. Da stand: »Die eigentümlichen und wahrhaftigen Abenteuer einer Triestiner Dame auf den zahlreichen Reisen, die sie ganz allein in der Türkei, in Persien, im Lande der Turkmenen und in Indien ausgeführt hat zum größten Ruhme Gottes und zum Triumphe der Religion.« Valerio blätterte hin und her, aber er las durchaus nichts, was auf die von der Verfasserin besuchten Länder Bezug gehabt hätte. Das Ganze bestand in einer Reihe von Anekdoten und unzähligen Fällen, in denen die Tugend der Madame Cabarra in die größten Gefahren geraten und aus denen sie rein wie ein Kristall und völlig triumphierend hervorgegangen war. Und von diesem Zeitpunkt an heftete sich diese hochehrenwerte Dame an Lucie und Valerio, übernahm übrigens auch für einen kleinen Lohn die Besorgung ihrer Küche.
Nach einer Reihe von Tagen entdeckte Valerio im Lager noch einen anderen Europäer. Das war ein ganz junger Mann aus Neuchâtel in der Schweiz. Er hatte sich durch das Lesen von Reisehandbüchern in den Orient verliebt und machte Verse. Er wollte, wie er sagte, nur aus den wirklichen Quellen der Begeisterung und des Erhabenen schöpfen, und sein Ideal war Lalla Rookh von Thomas Moore. Das Schlußurteil von Valerio über ihn war, daß er ein halber Narr wäre. Die Verse, die der junge Enthusiast ihm gleich beim ersten Zusammentreffen zeigte, erschienen ihm abgeschmackt. Der arme Junge wußte nicht viel von Bedeutung. Er trug lange Haare, einen Gürtel von roter Seide, ein Schwert mit Kreuzgriff wie die alten Ritter, hohe Stiefel mit goldenen Sporen und eine Feder auf dem Hut. Dagegen war sein Reisegeld nur gering, und um es zu sparen, folgte er dem Beispiel von Madame Cabarra: er aß mit den Maultiertreibern und schlief auf deren Decken. Er war mager, blaß, schwächlich, seine Lunge angegriffen. Ehe man die persische Grenze erreichte, starb er, und ein Arzt der Quarantäne, ein früherer sächsischer Student, ließ ihn begraben und setzte auf sein Grab einen Stein, in den er selbst den Namen des Dahingegangenen und darüber eine Lyra einritzte. Das war ohne Zweifel ein Trost für die irrende Seele dessen, der dieses Instrument nie hatte spielen können. Offenbar genügt ein voll einer Einbildung steckender Kopf und ein blindes Drauflosgehen noch nicht, um mit den Dingen dieser Welt fertig zu werden. Der Anblick dieser unglücklichen Persönlichkeit, die abgesehen von ihrer fixen Idee, in Chaux de Fonds oder Moûtiers vielleicht einen ganz guten Kanzlisten hätte abgeben können, erfüllte Lucies Herz mit Traurigkeit. Aber es blieb nichts anderes übrig, als das Schicksal nach Gefallen mit seiner Beute spielen zu lassen. Jeder Tag bescherte den beiden Liebenden irgendein neues persönliches Erlebnis, das eine tragisch wie das des Dichters, seltsam und grotesk wie das der Triestinerin, rührend wie das nun folgende oder würdig der Beachtung wie das, was dann folgen soll.
Lucie bemerkte nahe bei ihrem Zelt jeden Morgen eine kleine aus dem Gatten, der Frau und einem Kinde bestehende Familie. Der Mann mochte an die zwanzig Jahre alt sein, die Frau vierzehn oder fünfzehn. Sie unterließ es nie, Lucie zu grüßen, und obgleich sie nicht mit ihr sprechen konnte, machte sie sich mit Zeichen verständlich, und diese Zeichen waren die liebenswürdigsten und anmutigsten von der Welt. Der Mann bemühte sich um kleine Dienste, die er für seine beiden Lagernachbarn besorgen konnte. Er hatte das Zelt abzubrechen, es zusammenzulegen, die Maultiere zu beladen, und alles dies tat er ohne Unterwürfigkeit und mit der schönen Anmut und der natürlichen Fröhlichkeit, die den Orientalen eigen ist, die zu leben wissen. Er erzählte selbst Valerio seine Geschichte.
»Ich heiße«, begann er, »Redjeb-Aly und bin aus einem Dorf der Umgebung von Jesd. Diese meine Frau ist auch meine Base. Wir sind zusammen erzogen worden, und unsere Eltern hatten seit unserer Geburt bestimmt, uns beide zu verheiraten. Jetzt vor zwei Jahren sollte der Plan ausgeführt werden. Aber da wurde das junge Mädchen krank, und jeder mußte glauben, daß sie sterben würbe. Der jüdische Arzt machte kein Hehl daraus. Sie hatte nur noch wenige Stunden zu leben, und als ich sie auf ihrem Lager bleich und sterbend sah, ihr Vater und der meinige, ihre Mutter und die meinige weinten, schluchzten und herzzerreißende Klagen ausstießen, konnte ich diesen Anblick nicht mehr ertragen. Ich drückte einen Kuß auf ihre Lippen, um ihr und meinen Hoffnungen Lebewohl zu sagen und stürzte auf die Straße. Als ich die Schwelle meines Hauses überschritt und, die Augen voller Tränen, nicht sah, was ich tat, stieß ich gegen irgend jemand, der mich ungestüm in seine Arme schloß. ›Was hast du?‹ sagte er zu mir mit rauher Stimme. ›Laß mich‹, antwortete ich zornig, ›ich bin nicht in der Laune, mit irgend jemand zu sprechen.‹ ›Ich aber, ich bin auf der Welt,‹ rief er aus, ›um mit den Betrübten zu sprechen und sie zu trösten. Erzähle mir dein Unglück, vielleicht kann ich helfen.‹ Daraufhin betrachtete ich den, der mich anhielt und sah, daß es ein alter Derwisch mit weißem Bart und mit einem zugleich wohlwollenden und strengen Gesichtsausdruck war. ›Nun denn, Vater,‹ antwortete ich, ›der Tod ist in diesem Hause! Laß mich nun gehen, du weißt jetzt alles!‹ Ich riß mich gewaltsam von ihm los, stieß ihn von mir weg und floh. Er aber machte, wie ich später erfahren habe, keinerlei Anstrengungen, mich zurückzuhalten und trat schnell bei meinen Eltern ein. Er drang in das Zimmer vor, wo meine Braut mit dem Tode rang, entfernte die Herumstehenden mit einer Handbewegung, bemächtigte sich des Armes der Kranken, zog, ohne ein Wort zu sagen, eine Lanzette aus der Tasche und führte einen starken Aderlaß aus. Dann, während das Blut in Strömen floß, nahm er aus seinem Gürtel eine kleine Flasche, die eine rote Flüssigkeit enthielt, goß einige Tropfen in ein Glas Wasser und ließ meine Base einige Schlucke nehmen. Darauf machte er die Türe ganz weit auf, befahl jedermann, hinauszugehen, sich im Hof aufzuhalten und nicht wieder einzutreten; denn, sagte er, das Kind braucht Luft. Er selbst setzte sich am Fuß des Bettes nieder und heftete seine Augen auf die Sterbende. Was sage ich, die Sterbende? Als ich eine Stunde später zurückkam, sicher, nur noch eine Leiche vorzufinden, sah ich sie in ihrem Bette, die Augen ganz groß geöffnet, wieder bei Besinnung, der Mund versuchte zu lächeln. Sie sah mich an!! Möge der höchste und heiligste Gott dem Derwisch für den Blick, den ich ihm verdanke, das Glück der Auserwählten schenken! Während drei Tagen verließ der Greis die eben von ihm Gerettete nicht. Wir boten ihm alles an, was wir besaßen, um ihm unsere Dankbarkeit zu bezeugen. ›Ich wüßte nicht, was ich damit anfangen sollte,‹ antwortete er uns lächelnd. ›Indem ich nichts besitze, besitze ich alles. Doch es steht in Eurer Macht, mir einen großen Dienst zu erweisen.‹ ›Sprecht,‹ antworteten wir, ›Ihr habt alles Recht und alle Macht über Eure Sklaven.‹ ›Nun gut also,‹ antwortete er, ›wie ich es schon sagte, ich bin alt, und meine Kräfte sind nicht mehr groß. In meiner Jugend habe ich das Gelübde getan, zehn Wallfahrten nach Kerbela auszuführen. Neun habe ich geleistet, aber ich fühle mich nicht mehr imstande, die Verpflichtung einer zehnten zu erfüllen. Darob habe ich unendliche Gewissensbisse, mein Leben ist getrübt, und ich werde nur dann sicher sein, nach meinem Tode nicht gestraft zu werden, wie es einem Meineidigen geschehen muß, wenn irgend jemand von Euch einwilligt, mich zu vertreten, sich nach dem Grabe der Heiligen zu begeben und ihnen, indem er sich vor ihrem Grabe niederwirft, folgendes zu verkünden: ›O heilige Imame, geheiligte Märtyrer von Kerbela, der Derwisch Daud kommt in meiner Person zu Euch, um den Staub Eurer Grabstätte zu küssen.‹ ›Ich, ich werde dies tun,‹ rief ich aus, ›ich schwöre es Euch bei Eurem Haupte und dem Haupte derer, die Ihr gerettet habt, und nicht eines der Teilchen der Verdienste, die eine solch heilige Handlung mit sich bringt, wird Eurem Anteil durch mich entzogen werden. Alles wird Euch zufallen, alles wird Euch gehören, und später, wenn ich hierher zurückgekehrt sein werde, dann werde ich nochmals und dann für meine eigene Rechnung herausziehen, um den Imams dafür zu danken, daß sie durch Euer Dazwischentreten das Leben derjenigen gerettet haben, die meine Frau werden soll.‹ Der Derwisch umarmte mich, und ich reiste ab. Ich erfüllte sein Gelübde und brachte darüber von dem Wächter der heiligen Moschee eine Bescheinigung mit. Als ich dann zurückkehrte, übergab ich ihm die Urkunde, worüber er sich sehr befriedigt zeigte, und verheiratete mich dann.«
Nach diesen Worten schwieg der junge Mann und schien einen Augenblick zu zögern. Aber Valerio bemerkte, daß er dies nur tat, well er mit Rührung kämpfte. In der Tat fuhr er dann auch nach kurzer Zeit mit leiser und etwas zitternder Stimme fort: »Ich möchte Euch nun weiter sagen, daß meine Frau so gut und lieb ist, und daß ich sie so sehr liebe, daß es mir nun noch mehr als meine Pflicht erschien, den Heiligen meinen Dank dafür darzubringen, daß sie sie mir geschenkt haben. Ich schuldete ihnen sicherlich auch von meinem Teil aus eine Wallfahrt. Ich führte sie aus und kehrte heim. Als ich zum dritten Male wallfahrten wollte, diesmal aus Dankbarkeit, sagte sie mir, daß auch sie Dankbarkelt empfände, und so seht Ihr uns diesmal zusammen mit unserem Kinde reisen. Aber ich bemerke, daß ich Ew. Exzellenz ermüde. Ew. Exzellenz hatten die unendliche Güte, mich bis ans Ende anzuhören. Ich habe als ganz niedriger Mann mit Eurer Großmut gröblichen Mißbrauch getrieben.«
Es gibt dort in Asien manche solcher Seelen, die nur in ihrer Einbildungskraft und ihrem Herzen leben, deren ganzes Dasein sich in einer Art von tätiger Träumerei abspielt. Sie enthalten sich um so leichter jeder Berührung mit dem, was man das wirkliche und praktische Leben nennt, weil diese Art von Lasten und Verpflichtungen für menschliche Schultern dort nur für die Reichen und Vermögenden besteht. Die Armen dürfen, wenn sie wollen, nichts tun. Nahrung und Unterschlupf werden ihnen weder auf der Karawanenreise noch in den Städten jemals fehlen. Das Gleichnis von den Vögeln unter dem Himmel, denen der himmlische Vater gibt, was sie nötig haben, ist wahr nur im Reiche der Sonne.
Seitdem Redjeb-Aly die Bekanntschaft von Valerio gemacht hatte, war er zusammen mit dem Schweizer Dichter einer der Tischgenossen des italienischen Zeltes geworden. Aber sie hatten bald noch einen neuen Genossen, der nannte sich Seyd-Abdurrahman und war ein Gelehrter. Er erzählte eines Morgens in folgender Weise seine Geschichte:
»Ich bin in Ardebyt geboren, einer berühmten Stadt, wenig vom Meer von Chozer entfernt, das Ihr Europäer das Kaspische nennt. Da meine Familie nur Mullas zu den ihren zählt, meinen Vater, drei Onkel, acht Vettern, alle Mullas, konnte es nicht daran fehlen, daß ich auch eine sehr gelehrte Persönlichkeit wurde, und das geschah denn auch. Ich wurde so oft und so weidlich geprügelt, daß ich die Theologie und Metaphysik, die Geschichte und Dichtkunst von Grund aus lernte, und noch zählte ich keine fünfzehn Jahre, als man mich schon in allen Kollegien der Provinz einen der spitzfindigsten Wortklauber nannte, den man je von der Höhe eines Katheders hatte donnern hören. Das verhinderte mich aber durchaus nicht, eine gewisse Neigung für den Wein zu fassen, die mich dann zum Branntwein führte, und diese im übrigen verfluchte Flüssigkeit vollführte in mir eine geistige Umwandlung von ungeheurem Wert. Ich verstand eines schönen Tages die Nichtigkeit aller Dinge. Der Prophet erschien mir nicht mehr so erhaben, wie Ihr ihn Euch denken mögt. Die Vorträge, welche ich vor Haufen von Studenten im Kolleg gehalten hatte, kamen mir ebenso abgeschmackt vor wie die, mit denen man mich selbst gefüttert hatte. Und angesichts des allgemeinen Zusammenbruchs aller meiner Überzeugungen entschloß ich mich, mich auf Reisen zu begeben, um meine Urteilskraft zu erneuern, mir, wenn irgend möglich, festere Kenntnisse zu erobern als die alten und mich außerdem durch das Erleben von unterhaltenden und merkwürdigen Ereignissen zu zerstreuen. Seit zehn Jahren nun führe ich dies Leben und habe niemals Ursache gehabt, es zu bereuen. Ihr habt vielleicht einige Male einen großen Jungen von gutem Aussehen bemerkt, dem ich mich im allgemeinen auf unseren Tagereisen angeschlossen habe. Es ist ein Bäcker aus Kabul, der ebenso wie ich der Leidenschaft des Reisens fröhnt. Zum achten Male reist er diese Straße hier und kehrt mit dem festen Entschluß nach Afghanistan zurück, unverzüglich nach Nord-Indien aufzubrechen und dort Kaschmir, Samarkand und Kaschgar zu besuchen. Ich selbst bin zweimal in diesen Landstrichen gewesen, und wenn ich noch einmal dorthin komme, werde ich bis an das Chinesische Meer vorstoßen. Jetzt komme ich von Ägypten und denke, mich nach Belutschistan zu begeben.« »Sehr schön, aber sagt uns nun einmal, Seyd,« antwortete Valerie zusammenfassend, »kurz, was für Vorteile habt Ihr nun von so vielen Anstrengungen eingeheimst?« »Sehr bedeutende,« versetzte der Reisende, »zunächst bin ich den viel größeren Mühseligkeiten des seßhaften Lebens aus dem Weg gegangen, einem Handwerk, dem ewigen Zusammenleben mit Dummköpfen, der Feindschaft der Großen, den Sorgen des Besitzes, der Führung eines Hausstandes, dem Abkanzeln der Dienstboten, dem Unterhalt einer Frau, der Aufzucht der Kinder. Alles das bin ich los. Ist das etwa nichts?« »Aber damit habt Ihr auch die entsprechenden Vorteile verloren.« »Ach, darum kümmere ich mich nicht,« rief Seyd-Abdurrhaman mit einer Gebärde der Verachtung aus. »Mich entschädigt dafür, daß es keine von Muselmanen bewohnte Landschaft gibt, die ich nicht kenne. Ich habe die berühmtesten Städte und Stätten gesehen, von denen die Geschichte erzählt. Ich habe mit den Gelehrten aller Länder verkehrt. Ich habe die Schlußrechnung all der Meinungen, die an einem Ort vertreten, am anderen bestritten werden, aufgestellt. Und das Ergebnis von allem: ich bin zu der Erkenntnis durchgedrungen, daß der größte Teil der Menschen noch weniger wert ist als ein Sandkorn, daß die sogenannten Wahrheiten Trug, die Regierungen Arsenale der Verruchtheit sind, daß die wenigen über das Universum hin verstreuten Weisen die einzigen sind, die wahrhaft leben, und daß der höchste Gott, welcher diesen Haufen von Schmutz und Schande geschaffen hat, in dem nur wenige Goldkörner glänzen, zu dieser Handlung Beweggründe gehabt haben muß, die wir nicht kennen, und deren scheinbare Abgeschmacktheit sicherlich Gründe von einer anbetungswürdigen Tiefe verbirgt.« »Amen«, murmelte Redjeb-Aly, der nicht ein Wort von diesem ganzen Erguß verstanden hatte, außer, daß dem Schöpfer der Welten die schuldige Verehrung ausgedrückt worden war. Der Dichter suchte einen Reim auf das Wort »verlieren«. Der Schemsije lächelte mit einer gewissen Ironie. Seyd-Abdurrhaman bemerkte es, wandte sich lebhaft gegen ihn und nahm ihn mit folgenden Worten aufs Korn: »Du spottest,« rief er triumphierend, »du spottest über das, was ich eben gesprochen habe, weil du glaubst, du Elender, dessen Name ein Schrecken und dessen Person ein Ekel ist für die Völker, in deren Mitte du lebst, weil du glaubst, allein die Wahrheit zu besitzen, und daß es dieser armen Welt so ergehe wie einer zertretenen, glanzlosen, gelb gewordenen, ihrer Fassung beraubten und beinahe unkenntlich gewordenen Perle! Nun gut. So wie, du da stehst, Schemsije, will ich dich den anderen als Beispiel hinstellen, und sie werden sehen, daß du ihr Muster bist. Deine Vorväter sind mächtig gewesen. Ihre Irrtümer haben sich über so viele Länder ausgebreitet, die sich nunmehr zu anderen Glaubenssätzen bekennen, so daß jetzt unter dem Himmel kaum Platz ist für so viel verschiedene Religionen. Deine Narrheiten wurden als so weise wie die strengsten Folgerungen der gesunden Vernunft betrachtet. Deine Vorfahren erläuterten sie mit Überzeugung in Tempeln von Marmor und Porphyr. Das alles hat sich geändert. Der Geist der Menschen hat sich anderem Glauben zugewandt. Aber tröste dich, diese Ansichten werden eines Tages ebenso behandelt werden wie die deinige. Und die Massen werden einen Muselmann, einen Juden, einen Christen mit demselben Auge ansehen wie heute dich.« Der Schemsije neigte sich, ohne zu antworten.
Valerio aber fragte den Seyd: »Ihr habt so viel Gegenden durchstreift, habt Ihr niemals europäischen Boden betreten?« »Niemals«, antwortete der Seyd verlegen. »Und woher kommt das?« fuhr Valerio fort. »Was sollte ich dort suchen? Was könnte ich dort finden? Ihr werdet meine Worte nicht falsch auffassen und nicht glauben, daß sie mir von irgendeiner, eines Philosophen unwürdigen Voreingenommenheit eingegeben sind?« »Auf keinen Fall«, antwortete Valerio, »ich kenne die Weite und Freiheit Eurer Gedanken, Seyd, und ich würde Euch niemals ähnlicher Schwächen verdächtigen; also sprecht frei heraus und belehrt mich durch Eure Erfahrung!« »In den europäischen Ländern zu reisen bietet für einen Weisen keinen Vorteil«, antwortete der Seyd überzeugt. »Erstens ist man dort nie in Sicherheit. Auf Schritt und Tritt begegnet man dort Soldaten, die mit verächtlichen Mienen einherstolzieren. Polizisten stehen überall in den Straßen und fragen jeden Augenblick, wohin man geht, was man ist und was man treibt. Wenn man es unterläßt, ihnen zu antworten, wird man in ein Gefängnis gesetzt, aus dem wieder herauszukommen man viele Mühe hat. Man muß die Taschen voller Boujourouldys, Pässe und zahlloser papierner Dokumente haben; fehlen sie, so setzt man sogar sein Leben aufs Spiel. Ich versichere Euch, daß dem so ist. Ich habe es von glaubwürdigen Leuten erzählen hören, welche den muselmanischen Gesandten in diese Teufelsländer gefolgt waren.« Redjeb-Aly hörte diese Enthüllungen mit erschrockener Miene. Valerio fing an zu lachen: »Fahrt nur fort, Seyd, ich bitte Euch. Es ist manches Wahre in dem, was Ihr sagt, und ich bitte Euch dringlichst, fortzufahren.« »Nun gut denn, da ich Euch nicht ärgere, füge ich noch hinzu, daß, wenn man das Glück hat, diesen Gefahren zu entkommen und nicht ins Gefängnis gesteckt zu werden, weil man das oder jenes getan hat, was man nicht tun darf, daß man dann immer in der großen Gefahr schwebt, Hungers zu sterben. Wenn man arm ist, darf man es nicht sagen. Niemand denkt daran, Euch zu fragen, ob Ihr schon zu Mittag gegessen habt, und das, was in den muselmanischen Ländern noch nicht ein Huhn kostet, verschlingt in Euren geizigen Ländern närrische Summen. Also, was soll daraus werden? Hier und übrigens auch anderswo wird mir, wenn ich mich auf der Straße zum Schlafen lege, keiner etwas sagen, bei Euch kommt das Gefängnis in Frage. Und so ist's mit allem: Herzenshärte bei den gewöhnlichen Leuten, Grausamkeit und Strenge bei den Herrschenden und Freiheit nirgends! Und obendrein ein Klima ebenso ungastlich wie alles andere. Ich bin niemals darüber erstaunt gewesen, Effendi, das zu bemerken, was Ihr ja so gut wie ich beobachtet haben müßt, nämlich, daß diejenigen Europäer, welche zu uns kommen, um in unserer Mitte zu leben, sich nicht wieder von uns trennen können und schnell unsere Gewohnheiten annehmen. Dagegen kann man niemanden von uns anführen, der die geringste Lust hätte, in Euren Ländern zu bleiben und sich dort niederzulassen.« »Das alles trifft ziemlich so zu«, erwiderte Valerio, »aber ich muß Euch entgegenhalten, daß die Zahl der Asiaten, die nach Europa reisen, jedes Jahr zunimmt.« »Das stimmt«, rief der Seyd, »das sind Militärs, die man aussendet, um das Exerzieren und die militärischen Organisationen kennenzulernen; das sind Arbeiter, welche die Telegraphenstangen setzen müssen; das sind Ärzte, welche lernen, einen Leichnam zu sezieren, lauter Sklavenberufe, stumpfsinnige und herabwürdigende Gewerbe oder unreine. Aber es hat sich noch niemand durch den Kopf gehen lassen, daß die Europäer, die grobe und gewöhnliche Sachen verstehen, nicht die geringste Ahnung von höheren Wissenschaften haben. Sie wissen weder etwas von Theologie noch von Philosophie. Man spricht nie von ihren Dichtern, weil sie von all den Künsten der schönen Sprache nichts wissen, weder den Stabreim kennen, noch die Art sich bilderreich und kunstvoll auszudrücken. Weiter habe ich sagen hören, daß ihre Sprachen nur rohe und inkorrekte Dialekte sind. Aus alledem geht hervor, daß Europa auf seine Naturen keinerlei Anziehung ausüben kann, und darum wiederhole ich Euch, daß niemals ein Mensch von feinerer Lebensart dorthin seinen Fuß setzen wird, wenn er dazu nicht durch Befehle der Regierung gezwungen wird.« Seyd-Abdurrhaman hatte diese seine Ansprache in einem von fester Überzeugung durchdrungenen Ton beendet, und so fand Valerio es nicht für angebracht, Gegengründe vorzubringen; man sprach von anderen Dingen, über die man eher einer Meinung sein konnte. Inzwischen setzte die Karawane ihren Marsch fort. Die Landschaft wechselte. Man durchquerte die gebirgigen Landstriche von Hoch-Armenien. Die rauschenden, felsenumsäumten Ufer waren erreicht, die jenen wilden Wassersturz einengen, dessen weiterer Lauf später Euphrat heißt. Man kam vorwärts, aber allerdings langsam. Zuerst marschierte man täglich nur sieben bis acht Stunden; denn die Beweglichkeit eines so großen Marschkörpers ist gering. Dieser Körper bewegte sich in einer Art würdevoller Vorsicht und Kaltblütigkeit, die durch nichts sich in Erregung bringen läßt. So hielt man oft halbwegs vor der als Tagesziel bezeichneten Station und das aus guten Gründen. Kerbelay-Husein war nämlich täglich darauf angewiesen, die Meldungen seiner Boten zu empfangen, welche er einige Tagereisen voraus in die verschiedenen Dörfer geschickt hatte, damit sie mit den Bauern über die Menge Futter und Häcksel verhandelten, die er für seine Tiere benötigte, über die Anzahl Hammel und Hühner, über die Posten Reis und Gemüse, die er für die ihm anvertraute Bevölkerung brauchte. Oft stellten die Bauern unannehmbare Forderungen in betreff des Preises. Man stritt mit ihnen herum, und die Bevollmächtigten des Maultiertreibers stellten ihnen den Wettbewerb der anderen Dörfer entgegen. Oft verständigten sich die letzteren mit ihren Nachbarn, um zusammen sehr hohe Bedingungen aufzustellen und durchzudrücken. Von seiten der Diplomaten der Karawane wurden dann Vorschläge und Gegenvorschläge, Ausflüchte, Kniffe und Bestechungen bei diesem oder jenem ihrer Widersacher unternommen oder Bitten, die durch Geschenke an die örtlichen Gewalthaber unterstützt wurden, um zu erreichen, daß diese geeignete Befehle gäben, die Habsucht der Dorfleute zu bändigen. Ununterbrochen kamen die Unterhändler zu Kerbelay-Husein zurück, um zu berichten, was sie erreicht hatten, um neue Aufträge zu erhalten, um neue Angebote fortzubringen. Der Karawanenführer war beschäftigt wie der leitende Minister eines großen Staates. Wenn alles nach Wunsch zu gehen schien, wenn das Futter, der Häcksel, die Lebensmittel zu billigstem Preise und im Überfluß beigebracht waren, marschierte die Karawane schneller, geregelter, sicherer. War das Gegenteil der Fall, dann traten Verzögerungen ein. Wenn es nicht gelungen war, sich zu verständigen und die Bewohner der an der Marschlinie gelegenen Dörfer an unvernünftigen Forderungen festhielten, dann gebrauchte Kerbelay-Husein ein letztes Mittel. Er gab bekannt, daß er die direkte Marschlinie verlassen würde, und, wenn diese Drohung ihren Zweck nicht erreichte, schritt er zur Ausführung. Das war dann ein Staatsstreich. Dann ging die ganze Karawane, ohne daß die Mehrzahl der Reisenden es überhaupt merkte, querfeldein und begann einen langen Umweg, um weniger wucherische Landstriche aufzusuchen. Und sehr oft geschah es dann, daß dle Bauern in der Angst, sichere Vorteile zu verlieren, sich unterwarfen und Abordnungen schickten, um Kerbelay-Husein zu bitten, umzukehren. In solchem Falle weigerte er sich mit Bestimmtheit, bis ihm genügende Entschädigungen für die Verspätung und die unnötigen Mühen zugestanden worden waren. Öfters ließen auch die Lieferanten sie ziehen in der Sicherheit, ihre Ware anderwärts anzubringen. Er zog dann, immer wieder seine Kundschafter voraussendend, seiner Wege und überließ sich dem guten Glück. Er hatte nicht eine Minute Ruhe. Sein Kopf arbeitete unaufhörlich. Er betrachtete sein Karawanenvolk wie Moses das seine auf dem Zug durch die Wüste. Und seine Gewöhnung an solche Verantwortlichkeit, seine tiefe Kenntnis der Charaktere der Leute, mit denen er verhandelte, und der Kundschafter, die er verwendete, gaben ihm eine respektverschaffende Sicherheit und Festigkeit.
Aber was die größten Verzögerungen verursachte, war das Antreffen einer reichlichen Viehweide. In diesen Fällen, die schon einige Tage vorher mit Begeisterung von den Kundschaftern angekündigt wurden, blieb man wohl zwei, selbst drei Wochen auf demselben Fleck. Das Lager wurde in besonders umständlicher Art und unter dem Gesichtspunkt aller der Bequemlichkeiten aufgeschlagen, die jeder sich leisten konnte. Es schien, als ob man eine Ewigkeit dort bleiben wolle. Jeder schien wie die Apostel im Evangelium zu sagen: »Hier ist gut sein, lasset uns drei Zelte aufschlagen: eins für dich, eins für Mose, eins für Elias!« Die Kamele, die Maulesel, die Esel wateten im üppigen Grase, in dem sie bis an den Bauch versanken. Die Maultiertreiber betrachteten mit Freude, wie ihre Tiere sich augenscheinlich auf diesem appetitreizenden Ruheplatz von ihren Anstrengungen erholten. Der Anblick des Grün und der Blumen entzückte aller Augen, und der ganze Bienenstock der Karawane summte lustiger; alles kam, ging, plauderte miteinander, rührte sich, der Handel, die Schliche, die Käufe und Verkäufe, die, wie erwähnt, nicht einmal der Marsch unterbrochen hatte, belebten sich. Denn eine Karawane ist eine bewegliche Stadt, und die Unternehmungen und Vergnügungen einer Stadt ruhen hier ebensowenig wie in seßhaften Gemeinwesen.
Diese derart verlängerten Halte und einen Teil ihrer Zeit benutzten Lucie und Valerio, um Ausflüge in die Umgebung zu machen. Man befand sich schon in den reichen Bergen von Kurdistan, deren Schönheit viel herber als die des Taurus ist, wo die Schluchten viel tiefer und die Hänge viel steiler sind, wo aber die fruchtbare Natur mit ihren Geschenken nicht weniger freigebig ist. Die beiden Liebenden waren jung und sie waren beherzt. Sie folgten nicht immer buchstäblich den weisen Warnungen Kerbelay-Huseins, der sie vorsichtig machen und von allzu weiten Ausflügen abhalten wollte. »Ihr wißt nicht«, sagte er ihnen, »was Euch zustoßen kann. Die Kurden – der Himmel möge sie strafen! – sind zwar nicht lauter Räuber und Mörder, aber die Ausnahmen sind selten, und man soll niemand in Versuchung führen. Daher rate ich, Euch nicht so weit vom Lager zu entfernen, daß Ihr die Beute einiger Strolche werden könntet.« Ein kleines Abenteuer gab diesen Worten eine gewisse Bekräftigung. Valerio und Lucie, begleitet vom Dichter, vom Schemsije und von Redjeb-Aly, hatten sich eines Morgens auf den Weg gemacht, um in einiger Entfernung ein Dorf zu besichtigen, dessen malerische Lage man ihnen sehr gerühmt hatte. Alle waren sehr vergnügt. Der Dichter, etwas weniger angegriffen als gewöhnlich, schaute auf seinem Mietsgaul viel vorteilhafter als gewöhnlich aus und verglich sich mit einem Ritter alter Zeiten; er glich ihm mehr als je in bezug auf seine Feder, den Degen und die Sporen, weniger als je in allen anderen Beziehungen. Redjeb-Aly sang aus vollem Halse ein persisches Lied, der Schemsije, wie stets, in sich gekehrt, marschierte, ohne etwas zu sagen, neben Lucies Pferd. Der von dem Berg eng eingeschlossene Weg war reizend, führte an vielen Wohnstätten aus geschlagener Lehmerde und abgeplatteten Dächern vorbei, die in Obstbäume gebettet mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen und von Weinreben umkränzt waren. Plötzlich befand man sich in einem völligen Engpaß, der sich an einem Bach entlangschlängelte und von hohen Steilabfällen beherrscht wurde. Man hörte heftig schießen. Valerio griff sofort in die Zügel des Pferdes seiner Frau. Der Schemsije zog mit einer Beweglichkeit, die ihm Ehre machte, seinen Säbel und warf sich vor Lucie, um sie mit seinem Körper zu decken. Der Dichter, den Degen in der Hand, rief den heiligen Georg an, und Redjeb-Aly legte sich auf die Erde und schrie: »Ich bin tot!« Die Erregung war groß und Grund dazu war ja auch vorhanden. Aber plötzlich hörte man von allen Seiten von den Berghängen her: »Habt keine Angst! Ihr seid nicht gemeint! Geht nur weiter! Man schießt nicht auf Euch!« Und die Schießerei wurde einen Augenblick unterbrochen. Valerio, diesen Waffenstillstand benutzend, machte mit Lucies Pferd kehrt, der kleine Trupp ging im Galopp davon und hörte damit nicht auf, bis er vom Lager aufgenommen war, wo Kerbelay-Husein lächelnd die Einzelheiten des Abenteuers erfuhr. »Wenn Ihr mich heute morgen vorher davon benachrichtigt hättet«, sagte er zu Valerio, »daß Ihr die Absicht hättet, nach dieser Richtung Euch zu wenden, so hätte ich Euch abgeraten. Ich wußte, daß zwei Stämme der Nachbarschaft die Absicht hatten, sich zu schlagen. Denn das ist ihre stete Beschäftigung, und damit niemand Schaden geschieht, bleibt nichts übrig, als sie sich in Ruhe herumschießen zu lassen. Gott ist groß, und was er tut, das ist weise.« So schloß der weiseste aller Karawanenführer, und von diesem Tage an unterließ Valerio nicht mehr, seine Ratschläge über Ausdehnung und Richtung von Spazierritten, die er mit Lucie machen wollte, einzuholen.
Eines der Hauptvergnügen des Marsches war das Zusammentreffen auf dem Lagerplatz mit einer anderen, von der entgegengesetzten Seite ankommenden Karawane. Natürlich haben in derartigen Fällen die beiderseitigen Führer der zwei großen umherziehenden Haufen im voraus sichergestellt, daß sie sich nebeneinander niederlassen können, ohne ihre Daseinsbedingungen in Frage zu stellen. Dann machen zwei Städte einander gegenüber halt, zwei wahrhaftige Städte. Die eine kommt von Westen, die andere ist von Osten aufgebrochen: man stelle sich vor, daß Samarkand und Smyrna sich am Fuße der Berge begegnen, die Medien von der Gegend des Tigris und Euphrat trennen. Auf dieser Seite, unter diesen Zelten, unter diesen Lagerhütten findest du Ostperser, Osmanen, Turkmenen, Uzbeken, Leute, die von den fernen Grenzen Chinas kommen, ja selbst aus den wenig bekannten Landstrichen, die inmitten der Provinzen des himmlischen Reiches die Lehren und Gedanken des arabischen Islam aufgenommen haben. Im Gegensatz dazu siehst du auf der anderen Seite Westperser, Osmanlis, Armenier, Jesdiden, Syrier und Leute des fernen Europa, die uns schon begegnet sind und mit denen wir uns seit Anfang dieser Geschichte beschäftigt haben. In diesen zwei Städten finden sich aber gleichgeartete Elemente vor, besonders die Juden. Sie kommen sowohl von Damaskus und Aleppo, als von Buchara und von der Halbinsel Mangischlak. Mancher von ihnen reist, um Geschäfte zu machen, aber mancher ist z. B. auch ein Bevollmächtigter der Gemeinde von Jerusalem. Er reist, um die Almosen der Gläubigen für die Bewohner der heiligen Stadt einzusammeln und heimzubringen. Er kommt überall hin, um seine Ernte einzuheimsen. Geht er dieses Jahr nach Teheran, so war er das vorige Jahr in Kalkutta. Später erhielt China seinen Besuch, und überall wird er mit Hochachtung von seinen Religionsbrüdern aufgenommen. Es ist ein ernster, gefestigter und strenger Mann. Er kennt die Welt und weiß besser als irgend jemand den tatsächlichen Zustand des Erdkreises. Er ist nicht so demütig wie seine Religionsbrüder und duldet weder Widerspruch noch Schimpf. Im Notfall gibt er sich als Angehöriger der französischen Nation zu erkennen, legt einen Reisepaß dieser Nation vor, der ihn als in Algier geboren bezeichnet, ruft mit Selbstbewußtsein den Schutz der Konsuln an und droht, sich an die Zeitungen zu wenden, wenn sie ihm nicht Gerechtigkeit widerfahren ließen. Das ist also eine gefährliche Persönlichkeit, vor der man sich in acht nehmen muß. Dieser Bevollmächtigte hat sehr schnell veranlaßt, daß die Juden der beiden Karawanen sich in seinem Zelt vereinigen. Und dort erfährt man gegenseitig, was es auf der einen oder anderen Seite zu kaufen und zu tauschen gibt, weiter die Namen der großen Kaufleute, Art und Wert der Lebensmittel, die sie bei sich führen, endlich große und kleine Neuigkeiten.
Derlei Zusammentreffen veranlassen im allgemeinen einen ziemlich langen Aufenthalt für die beiden Karawanen, wenigstens immer, wenn die Jahreszeit und die Sicherheit der Plätze und der Lebensmittelversorgung es erlauben. Es tritt dann übrigens auch eine Verschiebung in den beiden Bevölkerungen ein. Die einen kehren mit den Orientalen nach dem Osten zurück, andere, die mit ihnen gekommen, schließen sich den Leuten an, die von Osten gekommen waren. Man hat vielerlei zuwege gebracht, Beziehungen angeknüpft, sich getummelt, und nun sagt man sich Lebewohl und trennt sich.
Aber es gibt auch Karawanen einer ganz anderen Art, und mit diesen in Berührung zu treten, beeilt man sich nicht. Im Gegenteil, man beschleunigt gern seinen Marsch, um nicht in ihrer Nähe lagern zu müssen. Das sind die heiligen Karawanen, deren Maultiere, Kamele und Pferde an Stelle der Waren Bahren mit Toten tragen, die man in irgendeiner heiligen Stadt, in Meschèd, Goum oder Kerbel begraben will. Diese Karawanen machen übrigens zunächst keinen traurigeren Eindruck als die anderen. Man singt, lacht und amüsiert sich dort ebensogut. Es muß betont werden, daß auch ihre Führer, ehrenwerte Tschausch mit ihren weiten Turbanen, verehrungswürdige Mullas mit ebenso ernsten Kopfbedeckungen sind. Häufig werden hier Koranverse gebetet. Aber man kann nicht den ganzen Tag beten, und in den langen und häufigen Zwischenräumen hört auch der strengste Vorbeter gern eine gute Geschichte oder erzählt selbst eine. Kommt man an den Ruheplatz, so wird der Turban beiseitegelegt, und in Unterhosen und Nachtmützen macht man es sich bequem. Man lobt Gott, daß er das »Lebenswasser« erschaffen hat. Inzwischen haben pietätvolle Söhne, andächtige Brüder den Leichnam ihrer bedauernswerten Verwandten vom Saumsattel des Maultieres herabgenommen. Man hat die Leichenkisten übereinander auf den Boden gestellt. Oder besser noch, man hat sie da gelassen, wo sie gerade hingefallen sind. Man kann sie ja am nächsten Tage zusammenraffen, und wenn man sich in seinem Kasten getäuscht hat, – entscheidend bleibt ja doch, daß jeder Verstorbene letzten Endes den gleichen Ruheplatz unter dem Schutz und in der Nachbarschaft des Heiligen haben wird. Alles wäre also in schönster Ordnung, wenn nur der Geruch, der den schlecht verpackten Leichnamen entströmt, nicht an sich unangenehm wäre und häufig genug einen Krankheitsherd bildete. Das allein ist's, was dazu führt, daß man die Totenkarawanen meidet. Im Gegensatz dazu verschmäht man nicht das Zusammentreffen mit einem großen Herrn, der mit zwei- oder dreihundert Reitern auf die Jagd geht oder dem Könige seine Huldigungen darbringen will. Es ist das eine vergnügliche Abwechslung. Manchmal ist's auch ein Zuwachs für die Sicherheit. Zwei- oder dreihundert Vornehme der Stämme, bis an die Zähne bewaffnet, sind keine kleine Hilfe in den von den kurdischen Djellalys ober anderen oft heimgesuchten und beunruhigten Landstrichen der nördlichen Gegenden oder von den Bakthyarys und den Luren geplagten des Südens. Dann tauscht man, während man Seite an Seite reist, große Höflichkeiten und kleine Geschenke aus, die denen, die sie erhalten, niemals beschwerlich fallen.
Immer weiter bewegt sich die Karawane und kommt von Zeit zu Zeit endlich in der Nachbarschaft einer wirklichen und standfesten Stadt an. Solche Städte sind selten. Wenn man sich unter den Mauern einer dieser Städte niedergelassen hat, dann verdoppeln die umherschweifenden Angehörigen der Karawanen ihre Tätigkeit und Beweglichkeit. Dem einen gelingt es, seine in Trapezunt gemachten Erwerbungen anzubringen. Er macht ein anständiges Geschäft und verschafft sich eine neue Warenladung. Ein anderer verläßt die Zahl von Freunden, die er sich seit seiner Abreise erworben hat, und bleibt in der Stadt oder will sich auch einer anderen Karawane anschließen; er wird durch neue Ankömmlinge ersetzt. Deine Bekanntschaften verlassen dich, und man nimmt unter Umarmungen zärtlich von ihnen Abschied; einige weinen, andere bedauern mit endlosem Wehklagen die Unbeständigkeit des Schicksals. Aber schon treten andere Persönlichkeiten in deinen Gesichtskreis; man kennt sie nicht, man spricht von ihnen, sucht ihnen näherzutreten. Man unternimmt es, sie anzusprechen; man will aus Unbekannten Bekannte machen, und auch sie wollen nichts anderes. Die Tage gehen vorüber, die Geschäfte vorwärts. Man sagt zueinander: »Morgen brechen wir auf! Ich weiß aus guter Quelle, daß Kerbelay-Husein diese Absicht hat. Er hat es zu Murad Bey gesagt.« »Und ich weiß es sicher von Nurreddin Effendi, der es von einem sehr vertrauten Freunde von Kerbelay-Husein erfahren hat.« »Seid Ihr dessen sicher?« »Ich bin dessen sicher. Bei meinem Haupte! Bei dem Eurigen! Bei meinen Augen! Bei allen Imams und den neunundneunzigtausend Propheten!« Am nächsten Tage bricht man nicht auf; aber acht Tage später. Man reist in gleicher Weise wie bis dahin. Man begegnet neuen Abenteuern, guten, schlechten, niemals denselben, immer voneinander verschiedenen, wie eins der Blätter, die zu Millionen das Dach eines dichten Waldes bilden, vom anderen; und man könnte mit einem Maultierführer und mit soundsoviel seiner Genossen jahrhundertelang reisen, und man würde niemals dieselben Erfahrungen machen oder derselben Verknüpfung der Umstände begegnen.
So kann man sich vorstellen, warum die Menschen, wenn sie einmal dies Dasein gekostet haben, ein anderes gar nicht mehr ertragen können. Sie lieben das Unvorhergesehene, sie besitzen es, oder richtiger, sie geben sich ihm vom Abend bis zum Morgen und wieder vom Morgen bis zum Abend anheim. Begierig nach Erregungen sind sie stets damit gesättigt. Neugierig sitzen sie stets an der Neuigkeitstafel. Unbeständig haben sie nicht einmal die Zeit, sich über das zu langweilen, was ihnen entschwindet. Endlich, leidenschaftlich erregt gegenwärtigen Sinneseindrücken gegenüber, sind sie dadurch gleichzeitig von den Schatten der Vergangenheit befreit, die ihnen und ihrer unaufhörlichen Entwicklung ja nicht folgen können, und noch in höherem Grade von der ängstlichen Besorgnis um die Zukunft, da sie ja von dem gebieterischen Dasein der Gegenwart verscheucht wird. So also schaut das Antlitz des Reiselebens aus, das ist seine Sprache, und das kündet sie der Einbildungskraft dessen, der sie sich zu eigen macht und sie zu nützen weiß. Unglücklicherweise hat jede Frucht einen Wurm, der sie benagt, und die prächtigsten Blumen der Schöpfung bergen ein heimliches Gift, das um so gefährlicher ist, je auffallender und schöner die Farben der Pflanze sind.
Wir hatten gesehen, wie Lucie zuerst einen tiefgehenden und freudigen Eindruck von all den so verschiedenen Bildern erhalten hatte, die sich vor ihren Augen hintereinander entrollten oder auch gleichzeitig sich aufdrängten. Die Erscheinungsformen dieser neuen Länder hatten ihre Begeisterung hervorgerufen, und mit äußerster Wißbegierde hatte sie sich der zahllosen Aufklärungen, die ihr gegeben wurden, bemächtigt. Sie hatte sich an dem Duft von so einzigartigen Offenbarungen berauscht, und die von ihr so grundverschiedenen menschlichen Wesen, die sich täglich vor ihren Augen bewegten, ließen gleichzeitig für die einen ihre Sympathie, für die anderen eine starke Abneigung entstehen. Nichts hatte für sie an Teilnahme eingebüßt.
So standen die Dinge, als eines Nachts ein Gedanke, ein Eindruck genügten, um alles in ihr zu verändern. Sie war mit dem Gefühl einer unerklärlichen Unbehaglichkeit erwacht, und das erstemal seit ihrer Hochzeit fühlte sie sich traurig, nun aber auch traurig bis zum Tode. Sie gab sich über nichts Rechenschaft, sie wußte nichts, sie fühlte nichts Bestimmtes. Trotzdem fing sie an zu weinen, ohne es zu wollen, beinahe ohne es zu wissen. Nach und nach erstickten die Tränen sie, sie begann laut zu schluchzen, und als Valerio erwachte, fand er sie, ihren Kopf in seinen Armen verbergend und nicht einmal mehr versuchend, eine Art Verzweiflung zu beherrschen. Die Überraschung des jungen Ehemanns war außerordentlich, sein Schreck nicht geringer. Er nahm seine Frau in seine Arme. »Was hast du, Lucie?« sagte er zu ihr. Sie konnte nicht antworten, sie weinte zu sehr. Sie drückte sich an das Herz, das ihr gehörte, aber der Trost, den sie dort suchte, die Sicherheit, welche sie dort fand, vermochte doch nicht, sie zu beruhigen. »Ich weiß nicht, was ich habe,« sagte sie mit gebrochener Stimme, »ich bin sehr unglücklich! Ich suche selbst, was mich niederdrückt. Denn ich fühle es, ich bin niedergedrückt. Ich habe das Gefühl, als ob ich in einem Gefängnis bin, als ob alle Türen hinter mir verschlossen sind. Nein, das ist es nicht! Es kommt mir so vor, als ob ich in einer Wüste verloren bin und als ob Sandwüsten ohne Ende sich folgen und ich ihnen niemals entrinnen kann. Nein! Auch das ist es nicht! Ich fühle mich wie eingeschlossen in einem engen Grab und über mir lastend die Grabplatte. Aber nein, nein, alle diese Bilder sind zu schrecklich, und doch, Valerio, ja, sie sind alle wahr! Ich fange an, die Idee zu begreifen, die mich beherrscht!« »Erkläre sie mir, sei rückhaltlos offen!« riet der junge Gatte, indem er ihren Kopf an seine Brust preßte. »Sage mir alles, damit ich dich tröste.« »Nun gut! Das Gefängnis, die Wüste, das Grab, alles das ist wahr. Ich fühle mich gefangen! Valerio, ich muß fort von hier! Ich habe alles gesehen, alles in mich aufgenommen, bin erfreut gewesen, entzückt, begeistert, ich leugne es nicht. Aber plötzlich kommt mir zum Bewußtsein, daß wir allein sind, vollkommen vereinsamt inmitten einer Welt, die uns fremd ist!« »Wie, du hast Angst? Wovor hast du Angst? Du bildest dir eine Gefahr ein?« »Ich bilde mir nur das ein, was ich sehe: diese absolute geistige Einöde ohne jedes Gegengewicht, die um uns gähnt. Angst? Ich habe keine Angst. Oder wenigstens keine bestimmte. Aber – im Anfang sah ich, begriff ich nur die Oberfläche der Dinge, und da ich sie so ansah, wie sie ist, bunt und in steter Bewegung, freute ich mich über sie und ahnte nicht den Untergrund. Aber jetzt, siehst du nicht selbst, daß wir vom Unbekannten umringt sind, von unermeßlicher, unbegrenzter Fremdheit? Schaut uns nicht alles, dem wir uns nähern, so an, wie wir es selbst anschauen, nämlich ohne uns zu verstehen, wie auch wir das alles nicht verstehen? Wir schweben auf einer hohlen See, deren Kräfte wir nicht kennen, ein Windstoß kann leicht ein Unwetter heraufbeschwören, wir können in einen Wirbel hineingerissen werden. Wir haben keinen Kompaß, um uns zurechtzufinden. Und ebenso wie wir nichts, aber auch rein gar nichts von dem Lande kennen, das sich hinter diesen vor uns aufsteigenden Bergen ausbreitet, so wissen wir auch nicht, welche Triebfedern in den Leuten, die wir in diesem Augenblick für die harmlosesten und besten ansehen, die Geister und die Willenskräfte bewegen, welche plötzlichen Funken ihrer Einbildungskraft entflammen. Zum Beispiel, wer sagt mir, daß der Schemsije nicht einmal mit dem Säbel in der Hand bei uns eindringen wird, um uns den Hals abzuschneiden und seinen Göttern damit ein Opfer zu bringen? Ja, ja, ja, lache nicht! Und dies Opfer wird er vielleicht um so höher bewerten, als dieser Mensch uns vielleicht liebt und damit also seine Wohltäter und seine Dankbarkeit zum Opfer bringen würde. Wie soll ich wissen, was in solchen Köpfen aufkeimt und vor sich geht, die so verschieden von den unseren sind und die schon in ihrem Gesichtsausdruck etwas ganz Neues für uns bedeuten? Und selbst dieser Kerbelay-Husein, dessen Gradheit und Rechtschaffenheit wir rühmen, seit wir ihn kennen, wissen wir denn genau, was er unter Gradheit und Rechtschaffenhelt versteht? Was gibt es Gemeinsames zwischen diesen Leuten und uns? Also gut, wenn du so willst: ich habe Angst! Ich wünsche mich in ein anderes Land zurück, in unseres, das wir unser ganzes Leben lang vor Augen gehabt haben, das keine Geheimnisse, nichts Unbekanntes für uns birgt; für das wir geschaffen sind und das für die Anlagen geschaffen ist, die wir vom Himmel empfangen haben. Ich möchte wieder die Menschen sehen, die wir verstehen können, in deren Mienen zu lesen wir gewöhnt sind, und die unter gut und böse dasselbe verstehen wie wir! Kurz und gut, Valerio, es ist wahr, ich fühle mich hier verloren. Wir sind hier vereinsamt, und ich gebe zu, ich habe Angst! Ich habe Angst! Ich will hier nicht bleiben! Laß uns fortgehen!«
Bei diesen Worten schloß sie ihren Mann noch fester in ihre Arme und schluchzte noch herzbrechender. Sie war einem Rückschlag anheimgefallen, der sich in Asien ziemlich regelmäßig bei wenig oder gar nicht gestählten Naturen einstellt. Sie werden von einer Art Panik erfaßt, die sich in plötzlichen, nur durch innere Bewußtseinsvorgänge erregten Angstanfällen äußert, Anfälle, die sich häufen und bis zur völligen Verrücktheit steigern und verschärfen. Der eine – solche Beispiele sind allbekannt – faßt sofort den Entschluß zu fliehen und schlägt durch ernsthafte Gefahren sich nach Europa durch, um durchaus eingebildeten Gefahren zu entgehen. Der andere sieht jede Minute seinen Mörder vor der Tür. Wenn er in seinem Zimmer sitzt, dessen Tür wohlverschlossen ist, hört er Schritte auf dem Gang: das ist ein fanatischer Muselman, der dort kommt, an der Wand entlang gleitet, sich heranschleicht, eintritt, den Dolch schon in der Hand, zustoßen wird!! Aber er beruhigt sich wieder: es war nur sein eigener Diener, der ihm seinen Tee brachte und auf den Tisch stellte. Aber der Kranke findet bei ihm einen eigentümlichen Ausdruck: dieser Mensch brütet eine böse Tat aus. Er hat nichts gewagt, weil er sah, daß man auf der Hut war. Jetzt wird er wiederkommen! Er wird mit seinen beiden Pistolen durch das Fenster hineinschießen. Manchmal gewinnt der Wahnkranke seine ganze Kaltblütigkeit wieder zurück, gewöhnt sich an die Umwelt, in die er nun einmal versetzt worden ist, und dann ist seine Heilung gesichert. Aber es kommt auch vor, daß das Übel standhält, seine Macht befestigt, und dann verfällt man all den schrecklichen Äußerungen jenes Leidens, das man Heimwehkrankhelt nennt.
Als Valerio Lucie derart leiden sah, überwältigte auch ihn die Furcht. Der Tag brach an, und die ein wenig eingedämmte Angst der Nacht machte einer Mattigkeit, einer Abspannung Platz, die von keiner guten Vorbedeutung war. Die junge Frau bemühte sich diesen und den folgenden Tag, sich zusammenzunehmen, um ihren Mann nicht zu betrüben. Aber es war ihr nicht möglich, sich zu ihrer verlorenen Begeisterung zurückzufinden. Sie nahm an nichts mehr Anteil, sie fühlte sich innerlich beengt und abgekühlt. Ein tiefer, unheilbarer Widerwille bemächtigte sich ihrer mehr und mehr und durchdrang alle ihre Äußerungen.
Kerbelay-Husein merkte an ihrer Blässe, daß die Dinge nicht mehr wie früher standen. Er erriet im großen und ganzen, was vorging, weil er schon derartige Fälle erlebt hatte. »Ich habe Euch gewarnt,« sagte er zu Valerio eines Morgens auf dem Marsch, »ich habe Euch gewarnt. Die Frauen Eures Landes sind nicht für das Leben, das wir führen, geschaffen. Die Eure ist besonders empfindlich. Sie kann auf die Dauer den Anblick unserer langen Bärte und Kleider nicht ertragen, sie, die an glatte Gesichter und kurze Kleider gewöhnt ist. Wenn Ihr darauf besteht, Eure Reise fortzusetzen, werdet Ihr sie verlieren, ich sage Euch das frei heraus.« »Das ist ja wahr,« sagte Valerio gesenkten Hauptes, »meine Frau ist krank. Aber glaubt Ihr nicht, daß sich ihr Zustand bessern könnte, glaubt Ihr, daß seine Folgen so gefährlich werden könnten?« »Ich wiederhole Euch, treibt den Versuch nicht weiter. Gleich beim nächsten Halt werden wir mit einer Karawane zusammentreffen, die nach Bagdad geht. Verlaßt mich, schließt Euch an jene an und kehrt über Aleppo und Beirut nach Europa zurück.«
Valerio gab nach und wurde dafür unverzüglich belohnt. Sobald Lucie von dem, was kommen sollte, Kenntnis erhalten hatte, empfand sie eine unmittelbare Erleichterung. Sie lächelte zum ersten Male nach einigen Tagen mit befreitem Ausdruck. Die Trennung von allen Freunden, die sie sich erworben hatte, wurden ihr schwer, während sie einige Stunden vorher sie verabscheut und gefürchtet hatte. Als der Schemsije sich verabschiedete, machte ihm die junge Frau einige Geschenke, die mit einem Ausbruch von Dankbarkeit angenommen wurden; der arme Teufel schwur der Europäerin ein ewiges Gedenken, und er hat Wort gehalten. Der Dichter verfaßte ein Sonett, dessen Abschrift sorgfältig aufgehoben wurde. Die Frau von Redjeb-Aly drückte ihre Wohltäterin lange an ihr Herz, und diese erwiderte die Umarmungen mit echter Rührung. In diesem Augenblick wünschte sie fast, nicht fortzugehen. Aber der Entschluß war gefaßt. Kerbelay gab ihr feierlich seinen Segen, wobei er sie seine Tochter nannte, und so siedelte sie mit Valerio in das Lager der anderen Karawane über.
Ein Jahr später waren Valerio und seine reizende Frau in einem Salon Berlins zum Tee. Dort waren Diplomaten, Militärs, Gelehrte und geistreiche und liebenswürdige Frauen versammelt. Man veranlaßte die junge Reisende, ihre Abenteuer in Asien zu erzählen, und sie tat das mit einer Begeisterung, einem Feuer, einem Entzücken, das ihr besonders reizend stand. »Ja, ich versichere Ihnen«, sagte sie, »ich trauere dieser Zeit als der schönsten meines ganzen Lebens nach. Ich bin dem Grafen von P. ganz besonders dankbar, daß er meinen Mann zum Sekretär der ottomanischen Gesandtschaft an diesem Hof hat ernennen lassen. Aber wenn das nicht geschehen wäre, würde ich noch in jenem Orient sein, den ich nur zu schnell durcheilt habe, und der in allen meinen Erinnerungen die glücklichsten, glänzendsten und unvergeßlichsten Empfindungen erweckt, die ich jemals erlebt habe.« »Ach,« sagte Valerio, »Du vergissest, meine Liebe, daß diese Empfindungen Dich töteten, und daß das Ende noch gerade zur rechten Zeit gekommen ist.« »Gnädige Frau,« fügte der Professor Kaufmann, der ein wenig Pedant war, hinzu, »der menschliche Egoismus bewahrt ebensogut die Eindrücke eines Vergnügens, das ihm schlecht bekommen ist, wie die einer schweren Krankheit, die ihn hätte vernichten können.«