Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Zehntes Kapitel

1

Die drei Brüder Rosenstock saßen beim Frühstück. Alle drei waren übermüdet. Die letzte Nacht war anstrengend gewesen. Jakob, der Gymnasiast, starrte trübsinnig in seine geleerte Tasse, goß den verbliebenen Kaffeesatz in die Untertasse und begann ihn dort zu seltsamen Figuren auseinanderzuziehen.

»Laß das!« knurrte Wladimir, der Assistenzarzt. Jakob blickte erstaunt auf. Wladimir hatte sonst einen ausgeglichenen Charakter, Launen waren ihm fremd, darum war es erstaunlich, daß er wegen einer harmlosen Spielerei ungeduldig wurde.

»Na, na, was ist denn los?« fragte Isaak, der Advokat, beschwichtigend.

»Nichts!« sagte Wladimir gereizt. »Ich hab die letzte Nacht schweren Dienst gehabt.«

»Im Spital?« fragte Isaak unschuldig.

»Wo denn sonst…«

»Merkwürdig«, sagte der Advokat, mehr für sich. »Ich habe dir um Mitternacht angeläutet, aber man hat mir mitgeteilt, daß du überhaupt nicht im Spital erschienen seiest.«

»Seit wann spionierst du mir nach?« Wladimirs Gesichtsfarbe war gelblich, nur über den Backenknochen war die Haut rötlich gesprenkelt.

»Spionieren! Ich habe doch gar nicht spioniert. Ich wollte dich nur etwas fragen.«

»Was denn? War es so wichtig?«

»Einesteils schon. Ich wollte den Professor bei uns unterbringen, bis die ganze Geschichte mit den Morden endgültig geklärt ist. Und ich hätte gern deine Zustimmung gehabt.«

»Seit wann brauchst du meine Zustimmung? Du handelst doch immer, wie es dir paßt. Wenn du mit den Gesetzen in Konflikt kommen willst, ist das deine Sache.«

Jakob, der Gymnasiast, hörte dem Zank mit offenem Munde zu. Es war ungewohnt. Früher waren seine Brüder stets friedlich zueinander gewesen, aber seit einigen Monaten herrschte hin und wieder in der ›Villa des Mimosas‹ ein unangenehmer Ton. Das hatte begonnen… ja, wann hatte das begonnen?

»Und dann noch eins«, unterbrach Wladimir den Gedankengang des jüngeren Bruders. »Du brauchst nicht allen Klatschbasen auf die Nase zu binden, daß ich mit Pflanzen experimentiere. Das geht niemanden etwas an, verstehst du? Ich arbeite für eine Fabrik pharmazeutischer Artikel, ich bin daran, eine umwälzende Entdeckung zu machen, aber die kleinste Indiskretion kann mir schaden, kann überhaupt die ganze Erfindung in Frage stellen. Verstehst du das nicht? Ich bin kein kleiner Junge mehr, du brauchst mich vor Journalisten und ähnlichem Gesindel nicht aufzuziehen, verstehst du? Weißt du, was du damit erreicht hast? Daß dieser englische Journalist letzte Nacht um mein Laboratorium herumgeschlichen ist. Ich bin sicher, er wittert eine saftige Reportage.«

»Ach«, sagte Isaak, »reg dich nicht auf. Der Reporter hat es gar nicht auf dich abgesehen gehabt, er hat nur sein Motorrad geholt. André hat es ihm repariert. Und was deine Hexenküche betrifft…«

Wladimir sprang auf. Seine wulstigen Lippen waren verzerrt, er zeigte die Zähne:

»Gebrauch nicht so blöde Worte!« zeterte er, und er hatte eine heisere Stimme, wie eine alte Frau. »Hexenküche! Du weißt gar nicht, was du sagst. Es ist ein Laboratorium, und wenn ich nicht will, daß jeder Kretin seine Nase in meine Angelegenheiten steckt, so ist das mein gutes Recht, verstehst du?«

»Bitte, bitte, beherrsch dich doch ein wenig, Bruder. Hat dich der Tod deines Arztes so erschüttert, daß du wegen derartigen Kleinigkeiten die Nerven verlierst?«

»Mein Arzt! Thévenoz war gar nicht mein Arzt. Du hast so dumme Ausdrücke! Aber das kann ich dir sagen, wenn Thévenoz nicht so neugierig gewesen wäre, so wär er vielleicht noch am Leben. Das kannst du deinem Journalisten mitteilen, Neugier kann manchmal verdammt ungesund sein. Verstehst du?«

»Ja, ja, ich versteh' schon, du brauchst gar nicht so zu brüllen. Du scheinst ja allerhand über die geheimnisvollen Todesfälle zu wissen? Warum hast du mir nie etwas davon erzählt? Schließlich, ich bespreche doch auch alles mit dir. Du warst doch ganz zufrieden, daß ich dich damals, in dieser Erpressungsaffäre, auf dem laufenden gehalten hab'. Und auch später hab' ich dir doch die ganze Geschichte mit dem Bankkassier und den 30 000 Franken ganz genau erzählt. Übrigens, an wem probierst du eigentlich dein neues Mittel aus?«

Die Frage war ganz harmlos gestellt, und doch blickte der Gymnasiast erstaunt auf seinen Bruder. Es hatte eine merkwürdige Betonung in diesen einfachen Worten mitgeschwungen. – Wladimir schwieg. Er strich Butter auf sein Brot, schnitt ein Stück Käse ab und erkundigte sich dann mit neutraler Stimme, so, als habe er die gestellte Frage gar nicht gehört:

»Was macht der Professor?«

»Der wird schlafen«, mischte sich der Gymnasiast ins Gespräch. »Ich bin bis vier Uhr morgens an seinem Bett gesessen. Der alte Mann hat mir leid getan. Er war so erschreckt. Herzklopfen hatte er auch, und Atembeschwerden, ich hab' mir ein paarmal überlegt, ob ich dich nicht rufen sollte, Wladimir. Aber du warst in deinem Labor, und da hab' ich dich nicht stören wollen.«

»Woher hast du gewußt, daß ich in meinem Labor war?« fragte Wladimir gereizt.

»Das war doch nicht schwer«, sagte Isaak versöhnlich. »Dein Labor hat ja ein Glasdach, und da habe ich das Licht gesehen.«

»Na, lange werdet ihr mich nicht mehr ausspionieren können«, Wladimir kaute, leerte seine Tasse. »Ich werde mir in der Nähe von Presinge ein Haus kaufen. Ich bekomme es billig. Heute oder morgen werde ich noch einmal zu dem Notar gehen.«

»Ich dachte, du hättest kein Geld?« erkundigte sich der Advokat.

»Ich habe das Rezept zu einem neuen Schlafmittel gut verkaufen können«, sagte Wladimir. Im Nebenzimmer schrillte das Telephon. Isaak wollte aufstehen, aber der Arzt kam ihm zuvor. »Es ist für mich«, sagte er.

»Wohl der schwere Fall im Spital?« spottete der Advokat.

Wladimir hob nur die Schultern. Dann war sein Gemurmel im Nebenzimmer zu hören, dann das Klicken beim Auflegen des Hörers und dann eine lange Pause.

»Schläfst du?« rief Isaak. Da erschien Wladimir in der Tür. In seinem Mundwinkel steckte eine dicke Zigarre. Der Rauch schien ihn zu stören, denn er hatte die Augen zugekniffen.

»Seit wann rauchst du am Morgen?« fragte der Advokat erstaunt. Aber er erhielt keine Antwort. Wladimir ging mit seinen gleitenden Schritten zur Tür. »Lebt wohl!« sagte er über die Achsel und war verschwunden.

»Ich gehe heute nicht ins Collège, Isaak«, sagte der Gymnasiast.

»Das interessiert mich nicht. Ich habe dir ein für allemal die Blankochecks zum Schulschwänzen eingehändigt. Plag mich nicht mehr mit diesen Sachen. Was hat nur Wladimir?« fragte der Advokat leise.

»Das möchte ich auch gerne wissen.«

»Ich muß fort, mein Gott, schon halb neun. Laß dir's gut gehen, schau nach dem Professor. Wenn etwas passieren sollte, kannst du mich ja anrufen.«

»Passieren!« rief Jakob verächtlich. Aber der Advokat hatte schon das Zimmer verlassen.

Jakob legte sich auf die Couch, die in einer Ecke des Zimmers stand. Auf dem niederen Tischchen daneben lagen ein paar Bücher. Zerstreut griff er nach dem, das ihm am nächsten lag, blätterte, blieb an einer Seite hängen und las:

»Triste, triste était mon âme
A cause, à cause d'une femme…«

Er konnte nicht weiter lesen, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, er mußte sich schneuzen – aber zuvor warf er das Buch wütend in eine Ecke. Und doch war der selige Verlaine ganz unschuldig an seinem Schmerz.

Jakob wurde die Erinnerung an Nataschas Blick nicht los. So wie den Fürsten hatte sie ihn nie angesehen. Natürlich, dieser Maharaja, dieser Hochstapler! Natürlich, er war elegant, er war romantisch. Aber, daß Natascha, die ihm immer von der Erlösung der leidenden Menschheit vorgepredigt hatte, daß Natascha auf solch einen Menschen…

Maman Angèle trat ins Zimmer. Sie hatte eine graue Ärmelschürze umgebunden und trug einen Besen und eine Kehrichtschaufel. Beides ließ sie an der Tür fallen, kam mit schnellen Schritten auf Jakob zu, erkundigte sich besorgt, ob er krank sei, setzte sich neben ihn, streichelte ihn. Jakob fühlte sich geborgen. Dann breitete sie eine Decke über den Liegenden und begann das Zimmer zu kehren. Als sie mit dem Besen unter dem Heizkörper am Fenster durchfuhr, zog sie ein kleines Blättchen mit hervor, das in der Mitte des Zimmers liegen blieb. Jakob sah von weitem, daß es beschrieben war, und die Schrift war ihm unbekannt. Aus Neugierde und um sich zu zerstreuen stand er auf, hob das Papier auf, legte sich wieder hin und begann es zu entziffern. Die Schrift war schwer zu lesen. Endlich hatte er den Sinn erfaßt, er fühlte, wie seine Hände kalt wurden. Dann steckte er das Papier in die Brusttasche und dachte nach.

Dort, am Fenster, gerade neben dem Heizkörper, war Dr. Thévenoz gestern hingefallen. Das Blatt mußte von ihm stammen. Er zog es hervor und las es noch einmal:

»24. Juni: Tod Crawl. Anwesend: Bose, Schwester Annette, Wla.

26. Juni: Tod Elt. Anwesend: Schwester Ann., Wla.

Keine akute Tropeinvergiftung. Tod andere Ursache.«

Dann, nach einem Zwischenraum, standen folgende Worte, eilig gekritzelt:

»Wer hat eine Sammlung hölzerner Masken? Wla.?«

Jakob lag ganz still. »Wla.«, flüsterte er. Und dann klang in seinen Ohren deutlich die Stimme des Sterbenden. Was hatte der Sterbende Thévenoz gemurmelt? »Vala…« Bedeutete »Vala…« etwas anderes als »Voilà«, gewiß die nächstliegende Erklärung? Was hatte sein Bruder Wladimir mit der ganzen Sache zu tun? Jakob schloß die Augen. Er fühlte sich verlassen, er sehnte sich nach Natascha, dachte: ›Mag sie doch mit ihrem Maharaja gehen, aber sie soll mir helfen. Sie hat Erfahrung. Ich bin noch klein und dumm. Ich habe nie eine Mutter gehabt!‹ Und dann begann Jakob so heftig zu schluchzen, daß Maman Angèle den Besen fallen ließ und erschreckt zu dem Weinenden eilte.

»Eine Sammlung hölzerner Masken…«, schluchzte Jakob, und Maman Angèle verstand nicht, was daran so traurig war.

»Du bist gut, Maman Angèle«, schluchzte Jakob nach einer Weile weiter. »Aber warum sind die Frauen so falsch?«

»Ach, Gott, mein Kleiner«, sagte Maman Angèle, »fängst du auch schon an? Liebeskummer? Das vergeht wieder. Mein seliger Mann war gerade so dumm wie du. Nimm's nicht ernst, nimm's nicht ernst!«

2

Kommissar Pillevuit stieg aus dem Auto. Er atmete tief. Die Luft flimmerte schon über den gemähten Feldern, der Salève lag dort, breit, rund, ruhig wie immer. Pillevuit warf seinen Hut in den Wagen, zog den Rock aus, warf ihn dazu. Untersuchungsrichter Despine war ebenfalls aus dem Auto gekrochen, er schüttelte mißbilligend den Kopf, denn er schätzte Korrektheit im Dienst. Pillevuit machte es sich seiner Ansicht nach zu gemütlich.

Kommt de Morsier nicht?« fragte Pillevuit.

»Staatsrat Martinet hat gefunden, daß die Anwesenheit des Staatsanwaltes unnötig sei«, erwiderte Despine und rieb seine weißen Hände, deren Finger immer wie Grottentiere wirkten.

»So, mischt sich jetzt der Herr Staatsrat in unsere Untersuchungen?« fragte Pillevuit giftig.

»Ja, das ist einmal so, Kommissar«, seufzte Herr Despine. »Übrigens scheint er gut Bescheid zu wissen. Wo ist die Leiche?«

»Dort«, Pillevuit deutete mit dem Finger auf ein schwärzliches Bündel, das am Straßenrand lag. Die beiden Herren setzten sich in Bewegung.

»Aufnahme!« sagte Kommissar Pillevuit. Der Photograf kam näher, tanzte um den Toten, der Veschluß seines Apparates klickte deutlich in der großen Mittagsstille.

»Wer hat eigentlich die Leiche entdeckt?« fragte der Kommissar.

»Man sollte glauben, der Herr Staatsrat habe sie entdeckt«, antwortete der Untersuchungsrichter. »Er hat mir vor einer halben Stunde angeläutet, es sei ihm soeben gemeldet worden, in der Nähe von Presinge sei am Straßenrand die Leiche Dr. Thévenoz' aufgefunden worden. Ich wollte natürlich wissen, von wem die Meldung stamme, aber der Herr Staatsrat hüllte sich in Schweigen. Er sagte nur: ›Keine Komplikationen, mein lieber Despine! Es ist ein ähnlicher Fall wie seinerzeit der des Apothekers Eltester, aber es wird der letzte sein. Das verspreche ich Ihnen. Heute abend, spätestens heute nacht, wird die Sache geregelt sein. Und dann können wir wieder ruhig schlafen. Fahren Sie mit Pillevuit hinaus, vor Presinge werden Sie ein einzelnes Haus finden, und ganz nahe bei diesem Haus werden Sie die Leiche entdecken. Nehmen Sie einen Photografen mit, lassen Sie den Toten aufnehmen, die Photos werden wir nicht brauchen, aber das ist gleich. Die Taschen des Toten sind leer, lassen Sie die Leiche ins Spital schaffen und kommen Sie mit Pillevuit schleunigst zurück. Ich habe mit dem Kommissar noch allerlei vor.‹ Ja, das war etwa der Sinn von Herrn Martinets telephonischen Anweisungen.«

»Allerlei vor!« protestierte Pillevuit. »Keinen Augenblick Ruhe hat man mehr! Diese Nacht werde ich von einem Unbekannten aufgeweckt, der mich beschwört, sofort in ein Hotel an der Route de Chêne zu gehen, dort würde ich die Mappe finden, die seinerzeit dem ermordeten Sekretär Crawley gestohlen worden ist, ich stürze mich in meine Kleider – und wen finde ich in dem Hotelzimmer? Einen ehemaligen Bekannten. Den habe ich mitgenommen. Sind Sie fertig?« die Frage galt dem Photographen. Der nickte.

Ächzend kniete Pillevuit nieder, durchsuchte die Taschen des Toten. Fliegen summten. »Armer Kerl!« sagte der Untersuchungsrichter, der sonst nicht sentimental war. Pillevuit nickte.

Hinter dem Auto, das die beiden Herren und den Photographen hergebracht hatte, stand der Sanitätswagen. Dr. Thévenoz' starrer Körper wurde aufgehoben. Das Gras, auf dem der Körper gelegen hatte, war verdrückt. Pillevuit bückte sich und hob ein gelbes Bändchen auf. Als er es schief in die Sonne hielt, entstanden Bilder darauf, eingewebte Bilder von Wespen, Bienen und andern Insekten. Schweigend hielt es der Kommissar dem Untersuchungsrichter hin. Dieser nickte.

»Werden wir denn die Fliegen überall finden?« fragte der Kommissar gereizt. Aber der Untersuchungsrichter wurde an der Antwort durch das Näherkommen eines Autos verhindert, das vor dem nahen Hause hielt. Zwei Herren entstiegen dem Wagen und gingen auf das Haus zu, das mit seinen geschlossenen Fensterläden verlassen aussah.

»Das ist ja…«, sagte Pillevuit, »hallo, Doktor!«

Der eine der Herren drehte sich um. Als er Pillevuit erkannte, schien er verärgert. Trotzdem winkte er mit der Hand. Pillevuit ging auf ihn zu.

»Was machen Sie hier, Dr. Rosenstock?« fragte er.

»Und Sie?« lautete Wladimirs gereizte Gegenfrage.

»Oh«, sagte Pillevuit, »ich sammle Leichen.«

»Leichen?«

»Ja; die Leiche, die ich hier gefunden habe, dürfte Sie auch interessieren. Sie haben doch Dr. Thévenoz gekannt?«

»Dr. Thévenoz haben Sie hier gefunden?« Wladimir Rosenstock kam näher, er ließ seinen Begleiter einfach stehen. »Wie kommt Thévenoz hierher?«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Pillevuit. »Wollen Sie den Toten sehen?«

»Nein, nein…« Wladimirs Stimme war heiser. Er wechselte schnell das Thema. »Ich bin mit einem Notar herausgefahren, um mir das Haus hier anzusehen. Ich möchte es kaufen.«

»So, so«, sagte Pillevuit. Sein Geist arbeitete ein wenig langsam. Warum war Wladimir Rosenstocks Stimme so heiser? Und blaß der Mann…! »Darf ich Sie ins Haus begleiten, es interessiert mich auch. Nicht wahr, die Leiche ist hier ganz in der Nähe gefunden worden. Vielleicht ist sie in dem Haus verborgen gehalten worden. Es handelt sich nämlich wieder um eine Vergiftung, wissen Sie? Der Tod hängt mit den andern Todesfällen zusammen, Sie wissen ja, welche ich meine. In der Ellbogenbeuge ist wieder das Zeichen der ›Teufelskralle‹, wie mein Freund O'Key sagt. Also, ich folge Ihnen ins Haus.«

Das Sanitätsauto entfernte sich. Pillevuit winkte Herrn Despine. Sie wurden beide dem Notar vorgestellt.

»Gut, gehen wir«, sagte Wladimir.

Er schritt auf das Haus zu, drückte auf die Klinke.

»Wollen Sie mir den Schlüssel geben?« wandte er sich an den Notar. Der Notar öffnete, die vier Herren traten ein.

Ein großer Raum nahm das ganze Erdgeschoß ein. Es roch sonderbar. In einer Ecke stand ein Harmonium, in einer andern ein großes Schrankgrammophon. Viele Stühle standen an den Wänden. Zwischen zwei Fenstern stand ein Stehpult, weiße Foliobogen lagen darauf. Es roch merkwürdig im Raum. Pillevuit schnupperte.

»Wer hat hier gewohnt?« fragte er.

»Der frühere Besitzer«, erklärte Wladimir, »hat sich mit christlicher Wissenschaft beschäftigt. Er hielt hier Versammlungen ab. Jetzt ist er ins Ausland verreist, und ich kann das Haus billig haben.«

»Christliche Wissenschaft?« fragte der Kommissar. »Merkwürdig.« Er trat an eins der hinteren Fenster, betrachtete das Haus, das in einigen hundert Metern Entfernung, von Bäumen umgeben, stand und fragte: »Wer wird Ihr Nachbar sein? Mir scheint, ich kenne das Haus…«

Rosenstock trat zu ihm. »Das Haus dort? Ich weiß nicht. Wissen Sie, ich kümmere mich nicht um meine Nachbarn.«

»Das sollten Sie aber entschieden!« mischte sich der Untersuchungsrichter ein. »Das Haus gehört nämlich einem sehr merkwürdigen…«, Herr Despine verstummte. Des Kommissars Ellbogen hatte sich schmerzhaft in seine Seite gebohrt.

Und Pillevuit fuhr fort: »Es gehört einem Genfer Aristokraten, Herrn Micheli, so viel ich weiß…«

»So, Herrn Micheli«, sagte Rosenstock uninteressiert.

Durch die offene Tür war deutlich das Näherkommen eines Motorrades zu hören. Es stoppte. In der Tür erschien, verschwitzt, staubig, mit Wülsten an den Hosenknien, ein Mann, und Kommissar Pillevuit ging ihm entgegen.

»Was ist los, Dériaz?« fragte er. Dériaz zog ein Kuvert aus der Tasche und überreichte es Pillevuit. Der Kommissar las, streichelte seinen blonden Fahnenbart, reichte Herrn Despine das Blatt. Der zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.

»Auf Wiedersehen, Doktor«, sagte der Kommissar und blickte Wladimir an. Dem schien der Blick Unbehagen zu bereiten.

»Was ist denn los?« fragte er.

»Dienst«, sagte Pillevuit nachlässig. »Wir Polizisten sind geplagte Menschen. Immer müssen wir Leute verhaften.«

»Also eine Verhaftung?« fragte Wladimir gespannt.

»Ja«, sagte Pillevuit, und er wußte selbst nicht, warum er den Arzt so angestrengt beobachtete. Später behauptete er natürlich, es sei dies auf Intuition zurückzuführen gewesen. »Ja, und Sie werden nie erraten, wen die Hand der Gerechtigkeit ergreifen wird.«

»Wen denn?« erkundigte sich Rosenstock. Das Beben in der Stimme fiel selbst dem Untersuchungsrichter auf.

»Ach, nur den Oberwärter in Bel-Air, einen gewissen Jaunet. Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Jaunet?… Ich ?… Kennen?…« stotterte Wladimir Rosenstock. Dann sehr energisch: »Nein!«

»Also, auf Wiedersehen, Doktor.«

Wladimirs Hände waren vorerst mit dem Anzünden einer Zigarre beschäftigt. Es dauerte lange. Die Flamme erreichte die Finger, die das Hölzchen hielten.

»Auf Wiedersehen, Kommissar«, sagte endlich Dr. Rosenstock und warf das Hölzchen fort. »Leben Sie wohl, Herr Untersuchungsrichter.«

»Dériaz, Sie können hinter uns fahren«, sagte draußen Kommissar Pillevuit, und dann, zum Untersuchungsrichter gewandt: »Merkwürdiges Haus, finden Sie nicht auch? Es roch nach Weihrauch, haben Sie gemerkt? Schade, daß mein Freund, der Irokese, nicht bei uns war. Der hätte Ihnen eine ausgezeichnete Vorlesung über Hexen und schwarze Messen halten können.« Dann nach einer längeren Pause. »Sind die Brüder Rosenstock denn so reich, daß sie sich Häuser kaufen können?«

»Der Advokat verdient gut«, sagte Herr Despine. »Der Vater der Brüder hat auch ein wenig Vermögen hinterlassen. Und Wladimir soll Geld verdienen mit der Zusammenstellung von Rezepten für die chemische Industrie.«

»Rezepte? Was für Rezepte? Etwa Schlafmittel?«

»Wie kommen Sie auf Schlafmittel, Kommissar? Es stimmt nämlich zufällig.«

»So, so«, sagte Pillevuit und stieg ins Auto.

3

»Die Herren kennen sich doch?« fragte Herr Staatsrat Martinet mit öliger Stimme. Er saß hinter seinem riesigen Schreibtisch, die dicken Unterarme lagen vor ihm auf der Platte, und er sah mit beweglichen Schweinsäuglein von dem einen seiner Besucher zum andern.

Aber die Besucher schienen schlechter Laune zu sein. Sie sahen einander nicht an, sie glotzten beide gereizt auf den feisten Herrn hinter dem Schreibtisch.

»Oder kennen sich die Herren nur telephonisch?« fragte der Herr Staatsrat weiter. Das Zimmer war sehr groß, ein grauer Teppich, sehr dick, bedeckte den ganzen Boden. Das hohe Fenster stand offen und die beiden Besucher warfen von Zeit zu Zeit sehnsüchtige Blicke nach diesem Fenster. Aber es schien unerreichbar. Denn hinter jedem Besucher stand ein Mann in Uniform (den einen dieser Männer kennen wir, es ist Polizist Malan, mit dem kupferroten Schnurrbart).

»Die Herren sind so schweigsam«, sagte Staatsrat Martinet. »Vielleicht werden sie gesprächiger, sobald sich ihr Auditorium vermehrt hat.« Herr Staatsrat Martinet drückte auf eine Klingel. Dem Gerichtsdiener, der unter der Türe stehen blieb, befahl er, Herrn Untersuchungsrichter Despine zu rufen und den Kommissar Pillevuit zu suchen. Herr Martinet hatte eine starke Abneigung gegen das Telephon. Er selbst telephonierte nur selten. Lieber ließ er sich anrufen.

Links von Herrn Martinet saß ein Mann mit großporiger Gesichtshaut. Dieser hatte die Hände in den Taschen vergraben, ein Bein über das andere geschlagen und blickte ziemlich wütend drein. Der Mann, der, ebenfalls bewacht von einem Polizisten, rechts von Herrn Martinet saß, hatte eine gelbe Gesichtsfarbe und war damit beschäftigt, an den Enden seines langen Chinesenschnurrbarts zu kauen.

»Ich habe Geduld gehabt«, sagte Herr Martinet gedankenvoll, »ich habe mir das Theater eine Zeitlang angesehen.« Es war nicht klar erkennbar, an wen sich Herr Martinet wandte, vielleicht übte er sich nur in Monologen. »Aber einmal wird auch mir die Geschichte zu dumm. Sie haben einen Fehler gemacht, Herr Jaunet«, (Staatsrat Martinet behandelte auch überführte Verbrecher immer mit Höflichkeit), »die Art, wie Sie den Ihnen anvertrauten Patienten um die Ecke gebracht haben, war allzu auffällig. Das mußte Fräulein Lemoyne doch auffallen. Und ein weiterer Fehler war es, auf Fräulein Lemoynes Verzweiflung über diesen Tod zu spekulieren. Sie wollten ihr doch einreden, sie habe einen Kunstfehler begangen, als sie die Spritze verschrieb? Sehen Sie, solche Sachen fallen auf. Sie haben auch nicht bedacht, daß sowohl mir, als auch dem Direktor der Anstalt die Zunahme der Patienten im letzten Jahre auffallen mußte, daß ich daher den Direktor gebeten hatte, mich über alle merkwürdigen Vorkommnisse in seiner Anstalt auf dem laufenden zu halten. Und natürlich hat er mich sofort von Nydeckers Tode benachrichtigt. Sie sehen, ich spiele mit offenen Karten. Wir hatten übrigens schon das Gespräch abgehört, das jener Herr –« Herr Martinet wies mit dem dicken Zeigefinger auf Baranoff, »mit Ihnen geführt hat. Was ich Sie fragen wollte, wer ist nun der Meister?«

Herr Jaunet schwieg. Die Tür ging auf, Untersuchungsrichter Despine trat ein, ihm folgte der Kommissar Pillevuit.

»Guten Tag, meine Herren«, sagte Herr Martinet gnädig, blieb sitzen und winkte mit der Hand einen Gruß. »Setzen Sie sich, Sie haben Ihren Schreiber nicht mitgebracht, Herr Untersuchungsrichter? Schadet nichts. Die Sache bleibt ja vorläufig noch unter uns… bis heute abend. Ich gedenke heute abend Schluß zu machen. Hoffentlich kommt nichts dazwischen. – Also, Sie wollen uns nicht verraten, wer der Meister der gelben Himmel ist, Herr Jaunet?«

»Ich kenne ihn nicht«, sagte der Oberwärter Jaunet.

»Heißt das, daß Sie seinen Namen nicht wissen, oder daß Sie nie mit ihm gesprochen haben, oder daß Sie ihn nie gesehen haben?«

»Ich habe nur mit ihm gesprochen, entweder durchs Telephon oder wenn er sein Gesicht mit einer Maske bedeckt hatte…«

»Hören Sie das, Pillevuit? Klingt das nicht verzweifelt nach Kolportage? Entweder ist dieser Meister verrückt, oder er schauspielert gerne. Ich begreife ja, daß man zu solchen Tricks greift, um zu imponieren, um für die eigene Sicherheit zu sorgen. Aber Holzmasken, warum Holzmasken?«

»Es war eine Negermaske«, sagte Baranoff plötzlich.

»Sie haben ihn also auch gesehen, Herr Zweiundsiebzig oder wie Sie sonst heißen mögen. Wollen Sie mir nicht anvertrauen, warum Sie an dieser Sektengeschichte teilgenommen haben?« Die Stimme des Herrn Staatsrates war unwiderstehlich freundlich, und Baranoff, der ausgekochte Baranoff, wunderte sich, daß er ohne Protest antwortete.

»Es war praktisch, Herr Staatsrat, sehr praktisch. Ich habe viel Dinge, viel wichtige Dinge erfahren in den Versammlungen, wenn die Leute in ihrem Rauschzustand waren. Und für mich war es ja ein Glück, daß Nydecker schon vor meiner Ankunft dabei war, durch ihn habe ich ja dann alle Dokumente von Crawley bekommen. Eltester, der Apotheker, war in dieser Beziehung sehr anständig zu mir. Er hat mir geholfen, wo er konnte, vielleicht aus Dankbarkeit, weil ich damals zur rechten Zeit anwesend war – Sie wissen ja, bei jenem Raubüberfall…«

»Herr Zweiundsiebzig, Sie sind ein Schmeichler. Sie kennen meine schwache Stelle. Sie wissen, wie stolz ich auf meine Privatpolizei bin. Wenn Sie mir noch ein wenig helfen, meine liebe Nummer (›mon cher numéro!‹ sagte Martinet), so werden Sie keinen Advokaten nötig haben, so werde ich versuchen, die Übereilung meines Kommissars wieder gutzumachen. Pillevuit«, wandte sich Herr Martinet streng an den Kommissar, »was fällt Ihnen ein? Sie kriechen doch jedem anonymen Schwätzer auf den Leim. Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie sich von einem jungen Bürschchen an der Nase herum führen ließen. Diesen Herrn da zu verhaften!«

»Herr Staatsrat…«, stotterte Pillevuit, »ich glaubte das Richtige veranlaßt zu haben. Und Sie waren nicht zu erreichen. Übrigens war der Besitz der Mappe doch wirklich…«

»Belastend? Meinen Sie wirklich? Und Sir Avindranath Eric Bose hat sich natürlich herzlich bedankt für die Rückerstattung? Oder? Ach, Pillevuit! Das einzige Dokument, das den Herrn Landverweser wirklich interessierte, war ja gar nicht in der Mappe. Und die Mappe hat er schon vorher in Händen gehabt. Ich habe nämlich heute meine Hände in einem großen diplomatischen Spiel gehabt – meine Kenntnis des Piketts ist mir da sehr zustatten gekommen. Doch das sind Dinge, die Sie nichts angehen. Lieber Herr Zweiundsiebzig, oder beleidigt es Sie, wenn ich Sie immer mit Ihrer Nummer anrede…?«

»Gar nicht, Herr Staatsrat«, grinste Baranoff, »es ist nämlich meine alte Nummer, aber wem verdanken Sie ihre Kenntnis?«

»Oh, ich habe Freunde, ich will lieber sagen: Wir haben gemeinsame Freunde, Sie verstehen mich doch?«

Baranoff nickte.

»Aber«, fuhr der Herr Staatsrat fort, »können Sie mir nicht verraten, wo die geheimnisvollen Sitzungen abgehalten werden? Sie wissen wohl, welche ich meine?«

»Früher versammelte sich ein kleiner Kreis bei dem Apotheker Eltester, wo aber die großen Versammlungen abgehalten wurden, weiß ich nicht…«

»Aber ich weiß es«, sagte Kommissar Pillevuit.

»Sie wissen es sicher?« fragte Martinet.

»Ich glaube es zu wissen«, korrigierte sich Pillevuit.

»Und wo?«

Aber Kommissar Pillevuit konnte nicht mehr antworten. Denn es wurde energisch an die Türe geklopft und auf das »Herein!« Herrn Martinets trat Staatsanwalt de Morsier ein.

»Ah, mein lieber Procureur!« Herr Martinet jauchzte schier. »Endlich sieht man Sie wieder. Nun, wie ist es? Nehmen Sie den Urlaub an, den ich Ihnen angeboten habe? Ja? Ausgezeichnet. Ich sehe in Ihrer Hand ein grünes Büchlein. Ihr Paß? Wie klug. Erneuert soll er werden? Aber selbstverständlich. Kommen Sie her! Wie gut begreife ich Sie, daß Sie ins Ausland wollen und noch besser begreife ich Sie, daß Sie sich nicht an das Paßbureau wenden wollen. Wir machen das ganz ›en familie‹. Ich will sogar Anweisung geben, daß man Ihnen Ihr Salär für die nächsten sechs Monate – denn solange nehmen Sie doch sicher Urlaub – auszahlt. Nichts zu danken, mein lieber Procureur. Der große Baumeister wird Sie beschützen. Reisen Sie, reisen Sie. Und Ihre liebe Frau werde ich unter meine besondere Obhut nehmen.«

Herr de Morsier verbeugte sich viele Male. Sein Blick glitt über die Anwesenden, aber er schien niemanden zu erkennen. Er steckte den Paß in seine Brieftasche, brauchte eine ganze Minute, um seine Baskenmütze korrekt aufzusetzen, und dann fiel die Türe hinter ihm zu.

»Äpfuuh«, sagte Herr Martinet, polierte seine Glatze und ließ das Tüchlein wieder verschwinden. »Ich hasse Justizskandale… Und Sie sagten, mein lieber Kommissar, daß Sie eine gläubige Ahnung hätten, wo sich das Generalquartier der Fliegenanbeter befinde?…«

4

»Sie sind müde, Natascha, legen Sie sich ein wenig nieder. Ich kann mir auch angenehmere Dinge vorstellen, als Leichentransporte… So, liegen Sie gut? Noch ein Kissen?

Man merkt es Ihnen an, daß Sie nie verwöhnt worden sind. Darf ich nicht ein wenig für Sie sorgen? Der Kaffee kommt gleich. Warten Sie, ich will nur noch den Vorhang zuziehen, die Sonne blendet Sie. So… Und nun?«

»Wollen Sie wirklich zu dieser Einladung gehen?« fragte Natascha. Sie hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und blinzelte. Aber ihre Stimme klang besorgt.

»Aber natürlich!« sagte George Whistler, dem niemand mehr den Maharaja angesehen hätte. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, braune Schuhe und lehnte sich gemütlich an die Tischkante. »Soll ich vor einer alten Dame Angst haben, die mich zum Tee einladet?«

»Es ist nicht eine alte Dame, sondern drei«, antwortete Natascha. »Und es sind sicher Giftmischerinnen. Sie müssen vorsichtig sein. Übrigens werde ich Sie begleiten.«

»Das wird mich freuen, das wird mich sehr freuen«, sagte George Whistler, und dann herrschte ein langes Schweigen.

»Übrigens«, sagte Natascha dann, »wenn Sie wieder in Ihr Land wollen, kann ich Ihnen wahrscheinlich helfen. Ich weiß allerlei…«

»Sie wollen mir helfen? Aber dann verraten Sie doch Ihr Land?«

»Mein Land? Ich habe keine Heimat. Ich habe einmal an Ideen geglaubt. Aber davon bin ich kuriert worden. Warten Sie einmal. Ich glaube, ich muß mein Ausbleiben entschuldigen.« Natascha stand auf, ging zum Telephon.

»Wollen Sie Herrn Baranoff ans Telephon rufen?« fragte sie. »Wie?… Was sagen Sie?… Heute morgen?… Danke, nein… Danke.« Sie legte den Hörer ab. »Was sagen Sie nun! Baranoff ist verhaftet worden.«

»Ach? Das war der kommunistische Agent, mit dem Sie zusammengearbeitet haben? Nicht wahr? Ja, das ist traurig. Was wollen Sie jetzt machen? Hören Sie, ich habe einen Vorschlag. Wir fahren beide nach Indien. Sie scheinen besser in den Angelegenheiten meines Landes Bescheid zu wissen, als ich. Sie können mir helfen. Und wenn dann dort unten alles in Ordnung ist, dann können wir ja weiter sehen… ich meine… ja… weiter sehen.«

»Gut, Camarade«, sagte Natascha, senkte den Kopf und kehrte sich ein wenig ab. »Ich freue mich darauf, dem alten Bose eins auszuwischen. Aber warum wollen Sie zu diesen alten Damen gehen? Ist das nötig?«

»Jetzt muß ich beichten«, sagte der Maharaja, »ich habe heute morgen mit einem guten Freunde telephoniert, einem Menschen, der mir soviel geholfen hat, daß er alles von mir verlangen kann. Ihm habe ich erzählt, was gestern abend geschehen ist, daß ich die Leiche eines Arztes aus einem Hause fortgeschafft und an einem Straßenbord niedergelegt habe. Auch von der Einladung habe ich ihm erzählt. ›Sie müssen gehen‹, hat er mir gesagt, ›ich weiß, Sie sind tapfer. Und mir würden Sie damit den größten Dienst erweisen. Wir haben einen Tiger hier in der Stadt, und Sie verstehen sich ja auf Tigerjagd. Nur werden Sie diesmal nicht der Jäger sein, sondern das feiste Kitzlein, das man als Lockung benützt. Verstehen Sie? Für dürre Beuten interessiert sich unser Tiger nicht. Dürre Beuten überläßt er seinen Hyänen, um im Bild zu bleiben. Wollen Sie das für mich tun? Ich garantiere, daß Ihnen nichts geschehen wird. Alle Vorsichtsmaßnahmen werde ich ergreifen lassen…‹ Nun, und da konnte ich doch nicht ›Nein‹ sagen, nicht wahr, Natascha?«

»Natürlich nicht«, sagte die Agentin 83. »Aber ich werde in Ihrer Nähe bleiben, Camarade. Lassen Sie mich jetzt gehen. Um fünf Uhr sollen Sie bei den alten Damen sein?… Jetzt ist es drei Uhr. Ich werde mich ins Hauptquartier begeben – vielleicht ist es auch gar nicht das Hauptquartier. Aber doch in jene Wohnung, wo Sie Tee trinken sollen. Ich wohne nämlich bei der Dame, die Sie eingeladen hat. Und dort werde ich in meinem Zimmer warten. Ich habe jetzt Zeit. Und wenn alles vorüber ist, gehen wir die Papiere holen, mit denen wir Ihr Land, Camarade, zurückerobern werden.«

»Natascha…« sagte Herr George Whistler und nahm die Hand der Frau. Aber da die Frau ein böses, abweisendes Gesicht machte, fuhr er fort, so sachlich es ihm möglich war: »Natascha ist ein hübscher Name.«

»Blödsinn«, sagte Natascha, mit nicht ganz fester Stimme. »Das ist auch so ein bürgerliches Vorurteil. Ein Name! Das sind ein paar Buchstaben, weiter nichts.«

»Ja, da haben Sie recht.« Der Maharaja nickte ernst und überzeugt.

5

»Es sind Kinder«, sagte Fräulein Dr. Madge Lemoyne, »Kinder, die mit dem Feuer spielen. Und sie wissen gar nicht, was sie tun. Einen Vorwurf mache ich mir ja, aber was nützt das? Ich hätte meinen armen Freund Thévenoz vielleicht retten können, vielleicht… Aber ich bin in die ganze Sache so ahnungslos hineingeplatzt…«

Madge lag in ihrem Zimmer auf dem Bett, O'Key hatte seine langen Glieder im Klubsessel untergebracht. Ronny schnarchte in einer Ecke. Madge sprach weiter.

»Heute abend wirst du ja die Sache auch sehen. Wenigstens haben wir es so abgemacht, dein dicker Staatsrat und ich. Es war eigentlich sehr klug von dir, daß du mir gestern noch von ihm erzählt hast. Ich war wenigstens nicht ganz hilflos, als der alte Professor, kaum warst du weggegangen, bei mir erschien. Es stimmte ganz genau, was der kleine Nydecker uns erzählt hatte. Weißt du, das mit dem Apostel Petrus, der in einer Ecke sitzt und in ein dickes Buch schreibt. Dominicé brachte wirklich solch ein dickes Buch mit. ›Mein liebes Kind‹, sagte er zu mir, ›Ich komme mit einer großen Bitte zu Ihnen, Sie müssen mich heute abend vertreten. Es wird interessant für Sie sein. Sie werden Einblicke erhalten, Einblicke, die wichtiger sind als alles, was Sie bisher hier in der Anstalt gesehen haben. Sie werden die Entstehung einer Geisteskrankheit verfolgen können und ihre Heilung. Lockt Sie das nicht? Ein Risiko ist natürlich dabei. Wenn nämlich der Meister an der Sitzung teilnimmt. Dann könnte es auch schief gehen. Aber ich glaube, er ist anderweitig beschäftigt.‹ – Wer denn dieser Meister sei, wollte ich wissen. ›Er war lange in Indien‹, sagte der Professor. ›Sein Gesicht habe ich nie gesehen. Er trägt immer eine Holzmaske, und er hat deren verschiedene. Nie trägt er die gleiche. Übrigens werden Sie Ihren Freund Thévenoz in der Versammlung treffen, ich denke es. Nehmen Sie nun das Buch, kommen Sie mit. Ich werde Sie gleich an Ort und Stelle führen. Heute fängt die Sitzung ziemlich früh an.‹ Gut, sagte ich, ich wolle mich gerade zurecht machen, er, der Professor, möge draußen auf mich warten. Er ging, und dann rief ich Herrn Martinet an. Du hast ja seine Visitenkarte hier vergessen. Herr Martinet war sehr erbaut über meine Mitteilung. Ich solle nur gehen, sagte er, und ihm dann Bericht erstatten. Nun, du wirst ja einer solchen Sitzung heute abend beiwohnen, ich habe den Leuten erklärt, ich brächte heute einen Freund mit. Die gestrige Sitzung war nur eine zahme Vorbereitung der heutigen, hat man mir mitgeteilt. Eines ist mir gestern aufgefallen. Ich fragte nach Thévenoz. Da verzogen die drei alten Damen, die als Vorsitzende die Versammlung leiteten, ängstlich die Gesichter. Sie sprachen so geheimnisvoll. Bruder Thévenoz habe gesündigt, aus Neugierde gesündigt. Er habe den Meister erkennen wollen. Nun sei er beim Meister, und der Meister werde ihn strafen. Schwer sei die Strafe. Zweie schon hätten die gleiche Sünde begangen, und beide hätten fliehen müssen aus ihrem Körper. Nun seien ihre Seelen ruhelos, manchmal erschienen sie und klagten und bereuten – aber nun sei es zu spät…«

»Ja«, wollte O'Key wissen, »hast du denn nicht gefragt, wohin der Meister den Dr. Thévenoz verschleppt hat?«

»Natürlich habe ich gefragt. Aber aus den alten Damen war kein Wort herauszubringen. ›Wir kennen ihn nicht, wir wollen ihn nicht kennen. Wir haben ihm Gehorsam gelobt, und wenn wir den Gehorsam brechen, dann…‹ Sie beendeten nicht einmal den Satz. Übrigens war es meistens die Dichterin, die sprach. Die alte Frau Pochon saß stumm in einer Ecke, manchmal fragte sie: ›Wo ist mein Sohn?‹ Niemand antwortete ihr, und dann hockte sie wieder da, starrte auf eine Münze, die sie in der Hand hielt, murmelte. Übrigens sahen die alten Damen merkwürdig genug aus. Alle drei waren in lange gelbe Schleier gehüllt, die von einem breiten gelbseidenen Stirnband zusammengehalten wurden. Es wurde viel Tee getrunken, aber ich habe nur eine Tasse getrunken, ganz zum Schluß. Ich wollte die Wirkung selbst ausprobieren. Nun, sie war merkwürdig genug. Plötzlich konnte ich fliegen, ich flog durch die Luft…«

»Obenauß und nirgent an…« murmelte O'Key.

»Wie?«

»Nichts, nichts«, sagte O'Key. »Erzähl nur weiter!«

»Ja, ich flog also, es war ein richtiger Flugtraum, und sicher hatte der Tee daran Schuld. Einmal wachte ich halb auf, weil ich einen schmerzhaften Stich fühlte. Die alte Pochon machte sich mit meinem Arm zu schaffen. Aber ich war zu müde, um mich zu wehren. Es roch stark nach Weihrauch. Dann hörte ich Ronny bellen, aber ich dachte, es sei nur ein Traum.«

»Nein, Ronny und ich, wir standen vor der Türe. Aber es war so still in dem Haus, alles war verschlossen. Wie hätte ich denken können, daß eine Versammlung darin tagte?«

»So, kennst du das Haus?«

»Du etwa nicht?«

»Nein. Denn der Wagen, der mich hinführte, hatte Milchglasscheiben, ich konnte nichts sehen. Und bevor ich einstieg, mußte ich einen Kapuzenmantel anlegen, der mir das Gesicht verhüllte. Er war aus leichtem Stoff, so daß ich gut atmen konnte, trotzdem die Kapuze um meinen Hals zugebunden wurde. – Ja, ich will weiter von der Sitzung erzählen. Zuerst war ich nur mit den drei alten Damen zusammen. Später, am Abend, kamen die andern Leute. Die waren auch in lange, gelbe Schleier gehüllt, aber diese waren nicht geöffnet, wie bei den alten Damen, sondern bedeckten das ganze Gesicht. Auch ihnen wurde Tee gereicht. Aber es muß eine andere Sorte Tee gewesen sein. Denn einer nach dem andern begannen sie zu halluzinieren, die alte Pochon saß in einer Ecke und murmelte über ihrer Münze, das schien ihre einzige Beschäftigung zu sein.«

»Wurde von Geld gesprochen?«

»Natürlich. Die eine der drei alten Damen…«

»Wie sah sie aus?«

»Lang, sehr lang. Und unter ihrem Schleier trug sie ein violettes Kleid…«

»Frau de Morsier…« murmelte O'Key.

»Die Frau des Staatsanwalts?«

»Ja. War die Kollekte ergiebig?«

»Sehr. Wenn einer nicht zahlen wollte, sagte die dürre Frau: ›Gedenkt Euerer Verfehlungen. Sollen wir deine Sünden verkünden? Wir haben viele Briefe. Sollen wir die Briefe verlesen?‹ – ›Nein!‹ heulten sie dann. Sie tranken wieder Tee, die Leute, ein Salbenbüchslein wurde herumgereicht, damit salbten sie sich die Arme und die Achselhöhlen. Und dann sagte plötzlich die Dichterin zu mir: ›Jetzt müssen Sie schreiben, alles schreiben, was Sie hören!‹ Mir brummte der Kopf. Der linke Arm tat mir weh, dort wo ich gestochen worden war. Aber ich schrieb. Die Gelbgekleideten saßen an den Wänden; jetzt traten sie vor, einer nach dem andern und erzählten, was sie sahen, was sie hörten, was sie fühlten. Es war schauerlich interessant. Ich notierte, notierte. Plötzlich schrillte eine Klingel. Alles verstummte. Da ertönte eine Stimme – weißt du, ich habe gleich gemerkt, was es war, einfach ein Lautsprecher, der an die Telephonleitung angeschlossen war, – und immer noch höre ich die Worte, die die Stimme sprach:

›Ich habe strafen müssen‹, sagte die Stimme, ›ich habe die Neugier bestrafen müssen. Merkt es euch. Niemand darf den Meister erkennen. Ich bin der Urgrund und das Schweigen. Denkt an das Schicksal der Sophia, die verstoßen wurde aus der Fülle, weil sie den Urgrund erkennen wollte. So verstoße auch ich in die Leere den Unverständigen, der mein heiliges Geheimnis erkunden will. Weh ihm, weh ihm!‹ Dann schwieg die Stimme…«

»Mein Gott!« O'Key lachte schallend, hielt plötzlich inne, wurde wieder ernst. »Ich sollte nicht lachen. Komisch ist ja einzig diese Wiederholung gnostischer Sagen. Nicht einmal etwas Neues hat dieser ›Meister‹ erfinden können. Natürlich ist diese ganze Mystik nur Vorwand. Dem Mann ist's um Geld zu tun. Weißt du übrigens, wo Thévenoz sterbend aufgefunden worden ist? In der Villa der Gebrüder Rosenbaum. Merkwürdig, nicht? Und er ist sicher nicht weit gelaufen. Schade, daß ich mich gestern nicht der Fortschaffung der Leiche widersetzt habe. So muß ich die Lösung alleine finden. Ich komme heut abend nicht in die Sitzung, ich habe anderes zu tun. Leb wohl.«

Madge wollte aufspringen, aber O'Key stand schon unter der Tür, winkte mit der Hand…


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