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Simpson O'Key hatte Glück gehabt. Er hatte in Champel eine Wohnung gefunden, zwei Zimmer, Bad, Küche, das Ganze möbliert. Ein Landsmann von ihm, Englischlehrer, der in die Ferien gefahren war, hatte sie ihm überlassen. Charles, der Kammerdiener und Colonel, hatte ihm die Gelegenheit verschafft.
O'Key stieg gedankenvoll die Treppen herab, trat auf die Straße und schlenkerte der inneren Stadt zu. Es war verschiedenes zu tun. Er mußte nach Bel-Air, überlegte er, und er freute sich darauf. Er mußte Madge fragen, was es mit dem Mann in weißen Tennishosen für eine Bewandtnis hatte. Vielleicht hatte Baranoff recht, und man konnte allerlei aus diesem Patienten herausholen. Aber wichtiger schien ihm, Madge wieder zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Es konnte doch manchmal merkwürdig gehen im Leben. Da kam man nach Genf, ungern, denn die Ferien waren schön gewesen, und plötzlich traf man eine Frau, die man auf den ersten Blick gern hatte. »Fall in love«, nannte man das, »in die Liebe hineinfallen«. Es war ein Hineinfallen, aber ein schönes Hineinfallen. Und die Frau war noch dazu verlobt, aber das kümmerte sie nicht, sie zeigte deutlich, daß man ihr gefiel, und der andere, der offizielle Verlobte, sollte sehen, wie er zurecht kam. Grausam eigentlich gegen den armen Thévenoz. Aber schließlich, dem Mann war nicht zu helfen. O'Key fand, daß seine Liebe viel wichtiger war als die Verzweiflung des guten Thévenoz, und Thévenoz… ja, Thévenoz war auch in anderer Beziehung ein Konkurrent. Was waren das für mysteriöse Krankenbesuche, die er zu machen hatte? Hatte er etwas entdeckt? Nun, wenn er gedachte, geheimnisvoll zu tun – bitte sehr, wenn er sich jede Einmischung in seine Privatangelegenheiten verbat, – warum nicht?
»Warum nicht?« sagte O'Key laut und zog die Achseln hoch. Da sah er ganz nahe vor sich eine weiße Wölbung, er wollte schnell ausweichen, aber er hatte zu viel Schwung, prallte dagegen und entschuldigte sich wortreich. Die weiße Wölbung war der unwahrscheinlich dicke Bauch eines älteren Herrn gewesen, mit dem er zusammengestoßen war.
»Ähpfuuhh«, sagte der dicke Herr. »Sie sollten nicht an Ihre Liebste denken, dear Master O'Key, wenn Sie morgendliche Spaziergänge machen. Zur Strafe müssen Sie mich jetzt begleiten, dort unten an der Ecke ist eine stille Brasserie, die gutes frisches Bier hat, bei dieser Hitze nicht zu verachten. Kommen Sie, junger Mann, das Bier wird Ihre tiefsinnigen Gedanken klären, und ich habe übrigens mit Ihnen zu sprechen.«
»Herr Staatsrat, guten Morgen«, antwortete O'Key, »auch ich bin begeistert, daß ich Sie getroffen habe. Ich hätte Sie sonst in Ihrem Bureau aufsuchen müssen. Aber im Freien ist es unbedingt gemütlicher.«
Und verzweifelt zermarterte sich O'Key das Gehirn, um den Namen des dicken Herrn zu finden. Der Name war ähnlich wie der eines berühmten Cocktails, und er ging sie im Geiste durch: es war weder Bronx noch Side-car, auch unter den Flips und Fizz war der Name nicht zu finden, endlich, wie das immer zu gehen pflegt, der berühmteste kam ihm erst am Schluß in den Sinn. »Und sonst geht es Ihnen gut, Herr Martini, will sagen Herr Martinet?«
»Gut, mein junger Freund«, sagte Herr Staatsrat Martinet, »so gut als möglich, wenn man so dick ist wie ich. Das Fett ist eine rechte Plage, man schwitzt, man zerläuft, man zergeht, man hofft bei dieser Hitze abzumagern, aber das ist ein Irrtum. Ahpfuuhh«, seufzte Herr Martinet, und es klang wie das Ausströmen der Luft aus einem zerplatzten Veloschlauch.
Herr Martinet hatte ein Quadrupelkinn, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, und in den Falten dieses Kinns schimmerte es feucht, Tröpfchen bildeten sich, flossen zusammen, sickerten bergab, und Herr Martinet tupfte und tupfte mit einem weißen, seidenen Taschentuch – vergebens. Er sank erschöpft auf einen der kleinen Stühle, die auf dem Trottoir vor der Brasserie aufgestellt waren.
»Auguste!« rief er, »Auguste, bring mir meinen Stuhl!«
»Jawohl, Herr Staatsrat!« Und Auguste erschien mit einem breiten Rohrstuhl, der bedenklich krachte, als Herr Martinet sich in ihn versenkte.
»So, Auguste, danke, und nun ein großes Helles für mich, und für den Herrn einen Whisky, Soda mit Eis, nicht wahr, das ist doch Ihr Wunsch, lieber Freund?« O'Key nickte. Auguste verschwand, und die beiden hörten ihn drinnen mit singender Stimme die Bestellung wiederholen.
»Gesundheit!« sagte Herr Martinet und labte sich mit einem langen Schluck, dann trocknete er seine riesige Glatze, vergaß auch das Kinn nicht, fächelte sich Kühlung zu und schwieg eine Weile. O'Key wartete geduldig.
»Und wie kommen Sie mit meinem Kommissar aus, lieber Freund?« fragte Herr Martinet.
»Danke, Herr Staatsrat, Kommissar Pillevuit ist die Freundlichkeit selbst und seine Tüchtigkeit ist so groß, daß ich mir wirklich überflüssig vorkomme. Ich begreife gar nicht, warum man mich hierher beordert hat, ich komme mir vor, wie das fünfte Rad am Wagen. Die Fähigkeiten der Genfer Polizei…«
»Ähpfuhh«, sagte Herr Martinet, »genug, mein Freund, genug der Schmeicheleien, seien Sie sparsam, sonst muß ich erröten, wie ein junges Mädchen, und das würde mir nicht gut stehen, bei meiner Korpulenz. Es freut mich, daß Sie mit Pillevuit gut auskommen. Er ist tüchtig, sehr tüchtig, aber ihm fehlt die Phantasie, ja, die Phantasie.«
Herr Martinet schwieg, er ließ seine faltigen Lider über die kleinen Augen fallen und schien einzuschlafen. O'Key nahm einen Schluck Whisky und wartete. ›Solche Leute darf man nicht drängen‹, dachte er, ›die müssen zuerst lange Redensarten machen, bevor sie zu den wichtigen Dingen kommen, und die wichtigen Dinge teilen sie dann nur so nebenbei mit, damit sie sich dann immer noch ausreden können und einen Rückzug haben. Diese schlauen Provinzpolitiker!‹ O'Key lächelte. Für ihn waren alle Staatsmänner, außer den britischen, Provinzpolitiker.
Herr Martinet stöhnte, als werde er von einem bösen Traum heimgesucht. Er öffnete seine Schweinsäuglein und sagte trübe:
»Sie haben doch die Bekanntschaft meines dichtenden Staatsanwaltes gemacht? Ja? Ein schwer zu behandelnder Herr. Reizbar und störrisch, wie ein alter Maulesel. Ja, die mageren Leute in der Politik, die sind eine arge Plage. Kein Verständnis, kein Fingerspitzengefühl, keine Gemütlichkeit. Mit dem Kopf durch die Wand, wenn sie überzeugt sind von einer Idee, und sie leiden alle an chronischer Überzeugtheit. Furchtbare Krankheit. Uns dicke Männer schätzen sogar die großen Dichter, wenigstens habe ich einmal bei Shakespeare etwas Ähnliches gelesen. Wissen Sie, was der dürre de Morsier mit der Baskenmütze im Sinne hat? Unsern Professor Dominicé zu verhaften. Einfach einsperren will er den alten Mann, unsere internationale Berühmtheit…«
»Aber er hat doch vorher immer…«
»Natürlich hat er vorher immer. Diese Art Leute hat ›vorher immer‹ irgendeine Ansicht gehabt aber wehe, wehe, wenn sie diese Ansicht geändert haben, ›Mein lieber Procureur‹, habe ich ihm gestern gesagt, ›passen Sie auf, Sie werden sich blamieren, überschlafen Sie die Sache.‹ Vergeblicher Rat! Solche Leute leiden immer an Schlaflosigkeit. Wie sagt schon der große Dichter? Dicke Männer und die nachts gut schlafen. Ich schlafe gut, lieber Freund, Gott sei Dank. Aber wissen Sie, was mir dieser Staatsanwalt geantwortet hat? ›Ich werde kein Auge zutun‹, hat er gesagt, ›bis ich nicht der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen habe.‹ Immer poetisch diese Leute, immer überspannt. ›Mein Gewissen!‹ hat er ausgerufen, ›mein Gewissen gebietet mir!‹ – und so weiter, und so weiter. Sie kennen ja den Refrain. Auguste!« rief Herr Martinet, »das Gleiche noch einmal. Trinken Sie aus, lieber Freund. Wir müssen unsern Flüssigkeitsverlust kompensieren. Gott helf mir, ist das eine Hitze! Äpfuuhh!«
»Ist das Bier frisch, Herr Staatsrat?« erlaubte sich Auguste zu fragen.
»Jaja, Auguste, ausgezeichnet. Grüßen Sie den Patron. Ich komme heute abend zu meinem gewohnten Piquet, sagen Sie ihm das. Und er soll eine Flasche Neuenburger aufs Eis legen. Bei dieser Hitze! Am Abend trinke ich lieber Wein. Es ist gut, Auguste, ich danke Ihnen, mein Freund. Ich glaube, Sie werden gerufen. Ja, Herr Journalist, das sind so Sachen. Ich habe einen Aufschub herausgeschunden bei unserm Staatsanwalt. Bis morgen. Morgen soll der Professor verhaftet werden. Natürlich nur unter uns. Ich erzähle Ihnen das, um zu demonstrieren, wie schwer es ein gerechter Mann in unserer Stadt hat. Sie sind Zuschauer. Gewissermaßen handelnder Zuschauer. Und ich habe Vertrauen zu Ihnen. Die Empfehlung, die Sie mir überbrachten, stammte von einem guten Freunde, einem Bruder, möchte ich sagen. Mein Gott, mein Gott, diese Hitze! Und nun soll ich mich in mein Bureau begeben. Übrigens, was ich noch sagen wollte… ja, wir haben ein paar ganz gute Advokaten in dieser Stadt. Diplomatische Leute, die nicht immer gerade Fensterscheiben zertrümmern müssen. Da haben wir zum Beispiel einen gewissen Isaak Rosène, den ich Ihnen sehr empfehlen kann. Ein tüchtiger Junge, in der Politik daheim, jaja. Falls Sie einen Rat brauchen sollten…«
»Danke, Herr Staatsrat«, sagte O'Key, seine Stimme kam ihm seltsam fern vor, der Whisky begann zu wirken. Der dicke Herr vor ihm, mit seiner öligen Beredsamkeit, war ungemein sympathisch. O'Key spürte Anwandlungen, ihm auf den Bauch zu klopfen, aber das ging nicht an. Er war ein großer Mann in der Genfer Politik, Freimaurer, darum hatte er von einem »Bruder« gesprochen, hatte sicher in dieser Versorgungsgenossenschaft auf Gegenseltigkeit einen hohen Grad inne, und plötzlich platzte O'Key los. Es war ein stummes Lachen, das seinen Körper schüttelte. Er hatte sich Herrn Martinet in Ordenstracht vorgestellt, mit dem kleinen Lederschurz über dem dicken Bauch.
»Lachen Sie, mein junger Freund«, sagte Herr Martinet und blinzelte mit seinen klugen Schweinsäuglein. »Lachen ist gesund, und wenn Sie auch über mich lachen, so schadet es nichts. Sehen Sie, ich habe diverse Abmagerungskuren probiert, aber mir nur den Magen verdorben und den Schlaf verloren. Jetzt habe ich mich damit abgefunden. Wissen Sie übrigens, daß wir seit drei Wochen hohen Besuch in unsern Mauern haben? Wir haben ja ständig hohen Besuch, ich weiß, aber das sind alles bürgerliche Hoheiten, die nicht viel zu bedeuten haben. Die haben sich alle mit dem Munde in die Höhe geschafft, aber jetzt – jetzt, mein Freund, haben wir einem waschechten Prinzen von uraltem Adel unsere Gastfreundschaft gewährt. Dem Maharaja Jam Nagar. Lauter ›a‹ in seinem Namen. Es klingt wie ein gelber Trompetenruf, finden Sie nicht auch? Ja, auch ich war einmal Dichter, aber das ist fern. Schöne Namen, wie aus einem parnassischen Sonett, vermag ich aber auch jetzt noch zu schätzen. Der Maharaja Jam Nagar! Welch schöner Name!«
»Der ist in Genf?«fragte O'Key, und der Mund blieb ihm offen. Der Whisky hatte seine Kaltblütigkeit untergraben. Und in seinem Kopfe war ein großes Chaos. Wußte der Colonel diese Tatsache? Daß der vertriebene Prinz in Genf war? Er sah den listigen Blick des Staatsrates Martinet auf sich gerichtet und beherrschte sich.
»Da staunen Sie, Master O'Key. Aber ich teile Ihnen dies nur zur privaten Orientierung mit. Der Maharaja ist natürlich inkognito hier. Nennt sich George Whistler und hat eine Villa gemietet, die Villa des alten de la Rive, die seit Ewigkeiten leer steht. Auch ganz einsam liegt sie, draußen an der Straße, die nach Jussy führt. Er hat nur zwei Diener. Ich habe es durch Zufall erfahren, durch einen Zufall. Wissen Sie, uns Brüdern, auch wenn wir den andern noch so lächerlich erscheinen, uns Brüdern bleibt nichts verborgen. Wir verstehen uns, lieber Freund, nicht wahr? Aber interessant ist die Sache doch, oder? Denn zu gleicher Zeit beherbergen wir ja den Verweser jenes Randstaates, den berühmten Sir Avindranath Bose. Merkwürdig demokratischer Mann, der verehrte Sir Bose, finden Sie nicht auch? Schließt Freundschaften mit alten Köchinnen. Jaja, man hat's nicht leicht, wenn man das Departement für Justiz und Polizei unter sich hat. Graue Haare könnte man bekommen. Gut, daß der eigene Haarboden unfruchtbar geworden ist. Sonst…« Und Herr Martinet fuhr sich mit dem Seidentüchlein über die blankpolierte Glatze.
»Ich wundere mich«, sagte O'Key, der ganz nüchtern geworden war, »ich wundere mich, Herr Staatsrat, über Ihre hervorragende Kombinationsgabe. Warum sind Sie nicht… Diplomat geworden?«
»Sie wollten etwas anderes sagen, Master O'Key. Warum sind Sie nicht bei uns, wollten Sie sagen und meinten das ›I.S.‹, habe ich nicht recht? Junger Freund wozu? Ich handle nicht gern. Ich bin Zuschauer. Ich ärgere gern die Leute, alles Eigenschaften, die gut zu einem Politiker passen. Ich habe Vermögen, was will ich mehr? Wie sagte Cäsar? Lieber der Erste in Genf als der Zweite in London. Oder so ähnlich. Ich bin der Erste hier. Meine Kollegen von den andern Departements? Sie hassen mich. Der Große Rat haßt mich, einstimmig haßt er mich, aber er braucht mich. Mein Lieber, merken Sie sich das. Ohne Schieber kommt man in der Politik nicht aus. Wenn ich Schieber sage, ist das ein grobes Wort. Ich meine einen Menschen, der allerhand weiß und das allerhand Wissen auch zu verwerten vermag. Wenn die Leute etwas brauchen, zu wem kommen sie? Zum dicken Martinet! Jaja. Weiß der Kollege vom Erziehungsdepartement nicht, wie er einen unliebsamen Lehrer, der in der Schule Sozialpolitik treibt, am besten los wird, dann können Sie zehn zu eins wetten, daß er den Papa Martinet antelephoniert. Ich gebe Ihnen das nur als Beispiel. Wenn Sie einmal nicht ein- und aus wissen, ich will Ihnen lieber auch meine Telephonnummer geben. Hier ist sie.« Herr Martinet zog aus der hinteren Hosentasche unter vielen Seufzern eine Lederbrieftasche, kramte in alten Rechnungen, Postchecktalons und fand schließlich ein schmutziges Stückchen Papier. »Leicht zu merken, drei mal drei ist neun, und auch von hinten gelesen, gibt die Nummer das Gleiche. 33 9 33. Und dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Leben Sie wohl, junger Freund, begeben Sie sich halt nicht in Gefahr, damit die schönen Augen einer kleinen Ärztin nicht zu tränen brauchen. Leben Sie wohl.«
Die Hand Herrn Martinets war klein und trocken, zierlich fast, im Vergleich zu dem massigen Körper. O'Key fühlte etwas wie Respekt für den dicken Mann, der so lächerlich aussah. Aber dumm war er nicht, der Herr Staatsrat Martinet. Und noch war O'Key keine zehn Schritte gegangen, so hörte er:
»Master O'Key, ich habe noch etwas vergessen.«
Herr Martinet winkte ihn ganz nahe heran, er machte Zeichen, bis O'Key sein Ohr fast vor den Mund des Staatsrates gebracht hatte. Dann flüsterte Herr Martinet intensiv: »Passen Sie auf, O'Key, alte Damen sind gefährlich. Alte Damen sind das Gefährlichste, besonders wenn sie Tee trinken. Denken Sie an meine Worte. Alte Damen, die Tee trinken. Und wenn die alten Damen noch mit Staatsanwälten und fremden Politikern verkehren, dann sind sie doppelt gefährlich. Ich hab eine alte Tante gehabt, die hat fünf Katzen zu Tode gefüttert. Ja. Bis sie geplatzt sind, regelrecht geplatzt. Vielleicht werd ich auch einmal platzen. Leben Sie wohl, O'Key. Der große Baumeister sei mit Ihnen.«
Cyrill Simpson O'Key ließ seine Nase wackeln, ließ seine Ohren wackeln, als er durch den hellen, schon heißen Vormittag wieder zu seiner Wohnung zurückging. Er stellte Wasser auf den Gasofen, »denn«, sagte er laut, »ich brauche Kaffee, starken schwarzen Kaffee.« Es sah wirr aus in seinem Kopf. Was für alte Damen hatte der Staatsrat gemeint? Das war kein Witz gewesen. Was wußte der dicke Mann? Warum sprach er nicht deutlicher? O'Key gab sich selbst die Antwort. Der dicke Herr wollte seinen Spaß haben. Ein merkwürdiger Spaß, bei dem es schon zwei Tote gegeben hatte. Wer würde der dritte sein? Und der Maharaja?
O'Key ging ans Telephon, stellte eine Nummer ein, aber trotzdem es noch früh am Tage war, meldete sich Sir Eric Bose auf den Anruf, und es ging nicht gut an, den Kammerdiener seiner Exzellenz ans Telephon bitten zu lassen. So entschuldigte sich O'Key wortreich – Sir Boses Stimme klang merkwürdig müde, mußte er denken – und stellte eine andere Nummer ein, die er im Telephonbuch nachgeschlagen hatte.
»Hier Kanzlei von Maitre Rosène«, meldete sich eine Frauenstimme.
O'Key fragte, ob der Advokat zu sprechen sei. Jawohl, einen Augenblick. Knistern im Hörer. Dann eine ruhige Stimme. »Rosène!«, O'Key meldete sich und fragte, wann er den Herrn sprechen könne.
»In welcher Angelegenheit?«
O'Key gab Auskunft, sprach andeutungsweise von Professor Dominicé… Da wurde er unterbrochen.
»Merkwürdig«, sagte Herr Rosène, »mein Bruder hat mich gerade heute morgen gefragt, ob ich mich nicht des Professors annehmen wolle, es drohe Gefahr. Und Sie, wie wissen Sie von der Sache? Nein, lieber nicht am Telephon, können Sie in einer Stunde in mein Bureau kommen?… Sie haben etwas anderes vor«, fuhr Isaak fort und deutete das Zögern O'Keys ganz richtig. »Noch besser, kommen Sie heut abend gegen halb neun Uhr zu mir, wir wollen Kriegsrat halten. Bringen Sie den Professor mit, wird das gehen?… Gut. Also, um halb neun, Villa Mimosa, gleich nach dem Port-Noir die zweite Villa, können gar nicht fehl gehen. Hat mich gefreut…«
O'Key trank kopfschüttelnd eine große Tasse schwarzen Kaffees. Die Sache wurde immer merkwürdiger. Alle Leute schienen etwas zu wissen, nur er nicht. Woher wußte der Bruder des Rechtsanwalts etwas von der Sache? Wer war dieser Bruder? Plötzlich packte ihn die Angst, es könne Madge etwas zugestoßen sein. Er erinnerte sich, daß er hatte nach Bel-Air fahren wollen, um über den Mann mit den weißen Tennishosen etwas zu erfahren. Fahren? dachte er. Womit fahren? Tram? Zu kompliziert. Wenn die Sache in Fluß kommt, und das scheint sie, so werd' ich genug herumfahren müssen. Madge braucht ihr Auto selbst. Ein Motorrad ist praktischer.
Eine Viertelstunde später – es war inzwischen elf Uhr geworden – knatterte eine Harley-Davidson die lange Route de Chêne hinauf, bog dann links in ein Sträßchen ein und hielt schließlich vor einer Ansammlung kleiner Pavillons.
»Ist Fräulein Lemoyne zu sprechen?« fragte O'Key den Portier.
Der murmelte etwas von »Konferenz« und »bald fertig« und »solange warten«.
O'Key wollte wissen, wo die Assistentin wohne, erinnerte sich dann aber, daß er ja schon einmal bei Madge gewesen war, wurde ärgerlich, weil sein Kopf diesen Morgen nicht klar zu funktionieren schien – da sah er Madge über den Hof kommen. Sie winkte ihm.
»Schön, daß Sie kommen, Cyrill, und wie geht es Ihnen?«
»Schlecht«, sagte O'Key, »es ist heiß und ich habe heute morgen zuviel Whisky getrunken.«
Madge lachte, nahm seinen Arm, und diese familiäre Bewegung erregte beim dürren Portier ein sehr mißbilligendes Kopfschütteln.
»Kommen Sie, ich werde Ihnen eine Tasse Tee machen. Haben Sie Hunger? Ich habe Orangenkonfitüre.«
»Orangenkonfitüre!« O'Key strahlte. »Und vielleicht auch Toasts?«
»Ja, ich werde Ihnen auch Toasts präparieren«, sagte Madge. Wären die beiden Deutsche gewesen, so hätten sie sich schon längst geduzt. Aber das Englische ist eine besondere Sprache. In ihr duzt man nur den lieben Gott. Und dieser läßt sich die Familiarität gerne gefallen.
Madges Zimmer ging auf einen Garten. Kugelförmige Robinien standen darin, die noch nicht erwachsen waren. Aber die Vögel hatten dennoch von ihnen Besitz ergriffen und übten darin sehr fleißig und sehr ausdauernd schwierige A-capella-Chöre. In einer Ecke des Raumes lag Ronny, der Airdale, der die Eintretenden mit einem Trommelwirbel empfing, den er mit seinem Schwanzstummel auf dem Boden erzeugte. Er verschmähte es aufzustehen. Es war viel zu heiß.
O'Key trank Tee und aß Toasts mit Orangenkonfitüre. Und plötzlich ergriff ihn das Bedürfnis, den ganzen Fall mit Madge zu besprechen. Es war dies ein neues Gefühl und durchaus nicht unangenehm. Bis jetzt hatte er immer allein gearbeitet, manchmal mit Kameraden, aber jeder hatte seine bestimmte Arbeit, man kam zusammen, um neue Schritte zu besprechen. Aber mit einer Frau eine neue Affäre zu besprechen, das war ihm bis jetzt noch nie vorgekommen. Schließlich, dachte er bei sich, im Grunde ist sie fast eine Kollegin, sie kann mir vielleicht Ratschläge geben.
Die ganze Geschichte komme ihm vor, klagte O'Key, wie eine photographische Platte, die zwei- oder dreimal mit immer wieder verschiedenen Ansichten belichtet worden sei. Er saß in einem bequemen Rohrstuhl, hielt in der Rechten die Teetasse, in der linken einen Toast, von dem die zähe Konfitüre auf seine Hosen tröpfelte, trank und aß abwechselnd und sprach mit vollem Mund. Er redete zum Fenster hinaus, ohne Madge anzublicken.
Er wolle versuchen, zusammenfassend zu berichten, das würde ihm helfen, nachher seinen Artikel zu schreiben. Wichtig scheine ihm vor allem, genau festzustellen, wo überall Crawley, der ermordete Sekretär, sich am fraglichen Abend herumgetrieben habe. Beim Professor sei er um acht Uhr gewesen, wie lange sei er beim Professor geblieben, ob Madge das vielleicht wisse? Als keine Antwort erfolgte, zuckte O'Key müde mit den Achseln und fuhr fort zu klönen. Offenbar sei er nicht länger als bis zehn oder höchstens elf Uhr in der Wohnung des Professors gewesen. Und dann sei er herumgestrolcht. Aber wo? Er habe sicher den Mann mit den weißen Tennishosen getroffen, übrigens habe er, O'Key, gestern von einem ziemlich anrüchigen Individuum erfahren, der Mann mit den weißen Tennishosen sei jetzt in Madges Behandlung. Was Madge zu dieser Tatsache zu bemerken habe, ob ihr nicht auch scheine, sie hätte ihm von dieser Tatsache Kenntnis geben sollen? He? Madges Schweigen war anhaltend. Er habe da seine eigene Meinung in bezug auf die merkwürdigen roten Höfe in der Ellbogenbeuge, die man bei Crawley sowohl, als auch bei Eltester festgestellt habe. Er glaube nicht, daß es sich da um Einstichstellen handle, um eine intravenöse Injektion, um genauer zu sein. Ob Madge nicht vielleicht auch bei ihrem Patienten solch ein merkwürdiges Zeichen festgestellt habe? Wieder keine Antwort. O'Key fluchte, weil er die Konfitürenflecken auf seiner grauen Hose endlich bemerkte; er rieb sie mit dem Taschentuch, aber machte die Sache dadurch noch ärger. Hilflos wandte er sich nach Madge um, die hochaufgerichtet, in ihren weißen Mantel gehüllt, neben der Türe stand.
»Hören Sie, O'Key, wenn Sie sich benehmen wollen, wie mein früherer Freund, wie der Dr. Thévenoz, so werf ich Sie hinaus. Ich habe zur Trösterin augenblicklich kein Talent und mit unartigen Buben mache ich kurzen Prozeß. Sie waren faul, geben Sie es zu, Sie waren bequem, Sie haben die Sache leicht genommen, mit Ihrem Wissen geprunkt, aber Beweise, haben Sie Beweise? Sehen Sie«, und Madge trat mit zwei Schritten an den Tisch, »haben Sie das Buch schon einmal gelesen?«
O'Key, vollständig ernüchtert, starrte auf das Titelblatt, das ihm in Augenhöhe präsentiert wurde. »Die Abenteuer des Arsène Lupin« stand in großen Buchstaben in einer Ecke und darunter blickte ein monokelbehafteter Herr sehr arrogant auf den Beschauer.
»Gott«, sagte O'Key, »Kriminalromane! Stellen Sie einen Schriftsteller vor einen komplizierten Fall in der Wirklichkeit und er wird nicht wissen, wo er beginnen soll.«
»Spotten Sie nicht über Kriminalromane!« sagte Madge streng, »sie sind heutzutage das einzige Mittel, vernünftige Ideen zu popularisieren. Und wissen Sie, wer Arsène Lupin zitiert? Niemand geringerer als Professor Locard, die Leuchte der Kriminalistik, er zitiert das Wort des Gentleman-Einbrechers: Nur Dummköpfe erraten. Sie wollen nur erraten, Master O'Key, die Leute verblüffen. Aber Arbeit? Vielleicht langt Ihr Geist zur Aufklärung eines Automobilunfalls. Aber mir scheint, hier haben wir es mit wichtigeren Dingen zu tun.«
Dies alles wurde in einem merkwürdigen Gemisch von Ernst und Scherz vorgebracht, der O'Key aller Fassung beraubte. Als Madge schließlich noch ein Handtuch befeuchtete und die Konfitürenflecken entfernte, brauchte O'Key einige Minuten, um seine Fassung wieder zu erlangen.
»Sie müssen verzeihen, Madge«, sagte er, »aber heut morgen sind mir alle Fähigkeiten abhanden gekommen. Ich habe mit einem entsetzlich dicken Staatsrat auf fast nüchternen Magen Whisky trinken und geheimnisvollen Anspielungen lauschen müssen. Er hat mich vor Damen gewarnt, die Tee trinken, er hat mir von einem Maharaja erzählt, der inkognito in der Nähe von Genf wohnt…«
»Warten Sie, O'Key, der Staatsrat hat Sie vor Damen gewarnt, die Tee trinken? Sehr interessant. Ich trinke zwar auch gerne Tee, aber Schwarztee. Haben Sie nicht an Jane Pochon gedacht? Ich glaube, bei ihr werden wir den Schlüssel finden. Nydecker hat bei ihr gewohnt, Corbaz hat bei ihr gewohnt. Und jetzt, da Sie mich fragen. Beide hatten jenen roten Fleck in der Ellbogenbeuge. Ich habe ihn nicht weiter beachtet, mein Gott, es konnte eine Pigmentierung der Haut sein, aber jetzt erinnere ich mich, er war verblaßt, aber doch deutlich zu sehen. Und was glauben Sie, daß dieser Fleck zu bedeuten hat?«
»Bei den Hexenprozessen des Mittelalters«, sagte O'Key und geriet wieder in seinen dozierenden Ton, »suchten die Richter zuerst nach dem Abdruck der Teufelskralle. Ich habe bei den Flecken an eine moderne Nachahmung gedacht. Warum? Weil alles nach schwarzer Magie riecht in diesem Fall. Das Hexensalbenrezept, das wir bei Eltester gefunden haben, das Ornat, die Münze mit dem Abraxas… Und alte Damen befassen sich doch gerne… befassen sich doch gerne…« O'Key geriet ins Stottern und Madge vollendete den Satz:
»Mit dem Teufel, wollten Sie sagen. Das ist auch so ein allgemeiner Ausspruch, der nicht viel zu besagen hat. Aber wir wollen das beiseite lassen. Sie sind ja nur gekommen, um mich über Nydecker auszufragen. Da«, Madge nahm vom Tisch eine rote Mappe und reichte sie O'Key, »Sie können meine Notizen lesen. Ich bitte Sie vor allem den Herrn der ›gelben Himmel‹ zu beachten, von dem Nydecker spricht. Und während Sie die Akten lesen, will ich telephonieren, damit man uns den kleinen Nydecker hierher bringt. Wir wollen sehen, ob ich nicht einen Schlüssel finden kann, um sein Schweigen zu brechen. Es geht ihm jetzt ganz ordentlich, aber er spricht nichts. Hockt herum, ißt nicht mehr als ein Vogel… Was wollen Sie, eine Art katatonen Stupors, aber vielleicht… vielleicht…?«
O'Key sollte die nachfolgende Szene nie vergessen. Nicht etwa, weil sie ziemlich abrupt endete und ein neues Rätsel aufgab, sondern weil ihr Gehalt an Spannung sehr groß war. Es fehlte die letzte Aufklärung, und gerade jene Erlebnisse, die sich nie ganz restlos klären, haften am stärksten in unserer Erinnerung.
Madge hatte telephoniert. Nach einer Weile klopfte es an der Tür, sie ging auf, im Rahmen stand ein langer, hagerer Mann mit hängendem Chinesenschnurrbart, und die Farbe seines Gesichtes war gelb. Er ließ seine Blicke suchend über das Zimmer gleiten, aber er sah weder Madge noch O'Key in die Augen. An der Hand hielt der Mann in der weißen Bluse ein kleines Wesen, das verschüchtert hinter ihm zurückblieb, und das der große Mann fast gewaltsam ins Zimmer drängen mußte.
»Danke, Chef«, sagte Madge, »ich lasse Sie rufen, wenn ich den Patienten nicht mehr brauche. Kommen Sie, Herr Nydecker!«
Der Oberwärter warf einen langen Blick auf O'Key, der, als wäre er daheim, bequem im Lehnstuhl am Fenster saß, dann machte er eine eckige Verbeugung und verschwand.
Madge hatte Nydeckers Hand ergriffen, zog den Widerstrebenden in die Mitte des Zimmers, scheuchte O'Key mit einer kurzen Bewegung aus seinem Lehnstuhl auf und ließ das Männchen darin Platz nehmen. Nydecker verhielt sich ganz passiv, nur seine Augen rollten und die Lider bebten, was sicher spaßhaft geschienen hätte, wenn dies alles nicht von einer bedenklichen Leere und Ausdruckslosigkeit gewesen wäre.
Nydecker balancierte zuerst vorsichtig auf der Kante des Fauteuils. Dann gehorchte er dem sanften Drucke von Madges Hand, rückte nach hinten, streckte seine kurzen Beine, aber ohne den Boden erreichen zu können. Madge schob ihm eine Fußbank hin, Nydecker stellte die Absätze darauf, faltete die Hände über seinem eingesunkenen Bauch und blinzelte schläfrig in die gefiederten Blätter der Kugelrobinien, die einem leichten Wind zum Spielzeug dienten. Manchmal sprang der Wind mit einem kurzen Satz ins Zimmer und wieder ins Freie: dann ließ er stets einen leichten Duft von gemähten Wiesen und besonntem Wasser als Erinnerung an seinen Besuch zurück.
»Lieber Wind«, sagte Nydecker leise, streckte die Hand aus, so, als wolle er ein unsichtbares Tier streicheln und zog sie dann wieder zurück. Dies gab Madge einen guten Gedanken ein.
»Wir wollen spielen, Herr Nydecker, ein lustiges Spiel, und der Herr hier wird auch mitspielen.«
»Spielen«, nickte Nydecker. »Monsieur Pierre will gern spielen.«
Und während er dies sagte, blickte er zum ersten Male auf O'Key; in seinen Augen glitzerte ein Verständnis auf, und er lächelte den Journalisten an.
»Ich werde Ihnen nun Worte vorsagen«, fuhr Madge fort, »und Sie werden das erste Wort, das Ihnen darauf einfällt, laut sagen. Verstehen Sie? Der Herr da, übrigens entschuldigen Sie, ich habe ihn noch nicht vorgestellt. . ., das ist also Herr Cyrill O'Key und das ist Herr Nydecker…«
Der Kranke rutschte auf seinem Fauteuil nach vorne, stand dann aufrecht auf der Fußbank und streckte O'Key seine kurzfingrige Hand hin. Die beiden verneigten sich zeremoniös.
»Monsieur Pierre ist entzückt«, sagte Nydecker und versank dann wieder mit zufriedenem Aufseufzen in seinem Lehnstuhl.
Madge holte in ihrer Schublade eine Stoppuhr, sie legte sie vor sich auf den Tisch, nahm sie dann wieder in die Hand, drückte auf den oberen Knopf und hielt sie Nydecker ans Ohr.
Nydeckers Gesicht verklärte sich. Er suchte in der Westentasche, aber die war leer, und nun verzogen sich seine Mienen zu einem weinerlichen Ausdruck.
»Ich habe eine Uhr gehabt«, sagte Nydecker und er sprach ganz natürlich, nicht mehr kindlich wie vorher. »Eine schöne Uhr. Mein Freund hat sie mir geschenkt und hat gesagt: ›Die mußt du immer tragen, siehst du, jetzt geht sie ganz genau, und du mußt sorgfältig mit ihr umgehen, damit du mich nicht verfehlst, wenn ich dir ein Rendezvous gebe.‹«
»Welcher Freund war denn das?«
»Der Freund? Er hat mich immer Pit genannt. Er hat immer viele Papiere gehabt in seiner Tasche. Dann hat er gesprochen, sehr schnell, und die Maschine hat von selbst geschrieben, die Maschine hat die Finger von Monsieur Pierre angezogen. Auch in der Maschine war der große Gott. Und Fliegen, viel Fliegen und Wespen. Gar sehr viel.«
Nydecker schwieg und seufzte tief auf. Seine Augen blickten starr zum Fenster hinaus und der Ausdruck, der in ihnen lag, war schwer zu deuten. Die Pupillen waren merkwürdig groß, die Iris ein schmaler grüner Streifen. O'Key blickte in diese Augen und sagte plötzlich auf Englisch zu Madge:
»Die Augen passen gar nicht zu dem Menschengesicht. Es sind fremde Augen. Bald blicken sie wie die Augen eines Tieres in Todesangst und dann ist wieder etwas abgründig Böses in ihnen. Als ob ein unsauberer Geist sich ihrer bediene, um uns zu foppen.«
»Träumereien!« sagte Madge verächtlich. »Wir wollen das Experiment beginnen.«
»Was ist das denn für ein Experiment?« wollte O'Key wissen.
»Es ist«, sagte Madge, ihr Tonfall wurde ganz wissenschaftlich, sie war vollkommen die erste Assistentin einer psychiatrischen Klinik, »es ist das Jungsche Assoziationsexperiment. Wir haben für die gewöhnlichen Fälle ein vorgedrucktes Exemplar, hier«, und Fräulein Dr. Lemoyne zeigte einen Bogen, der mit vier Wörterkolonnen bedruckt war. »Wir lesen dem Patienten die Worte einzeln vor und verlangen von ihm, er möge das erste ihm einfallende Wort auf das Reizwort sagen. Die Zeit, die zwischen der Nennung des Reizwortes und seiner Antwort liegt, kontrollieren wir mit der Stoppuhr und finden dann gewisse Wörter heraus, die eine längere Reaktionszeit bedingen als andere. Die Wörter mit der längeren Reaktionszeit können uns dann wichtige Aufschlüsse geben über das verborgene Innenleben des Patienten.«
»Merveillös«, sagte O'Key, »ich habe schon einmal von dieser Sache gehört. Und bei diesem kleinen Mann wollen Sie wahrscheinlich Wörter nehmen, die mit unserem Fall Beziehung haben.«
O'Key betonte das »unsere« und haschte nach Madges Hand.
»Ja«, sagte Madge, machte ihre Hand sanft los und fuhr über O'Keys drahtige Haare. »Und in der Auswahl müssen Sie mir helfen.«
»Also schreiben Sie!« O'Keys Stimme wurde ein Flüstern, aber vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen, zu flüstern, denn Nydecker starrte noch immer mit jenem seltsamen Ausdruck zum Fenster hinaus und schien die Vorgänge im Zimmer keiner Aufmersamkeit zu würdigen.
»Toilette«, schlug O'Key vor, »schreiben Sie: weiße Toilette. Nämlich jene auf der Place du Molard, in der unser Nydecker vom Polizisten Malan überrascht worden ist. Dann würde ich Professor nehmen. Dann stechen. Und zum Schluß probieren wir es mit alten Damen.«
»Alten Damen«, wiederholte Madge. »Wir können den Versuch auch ein wenig ändern. Nydecker soll nicht nur ein Wort sagen, sondern hintereinander eine ganze Reihe, dann brauchen wir die lästige Zeitkontrolle nicht. Aber Sie müssen es ihm zuerst vormachen. Sie verstehen mich doch? Ich sage zum Beispiel Sonne. Auf Sonne fällt Ihnen doch allerlei ein: Regen, auf Regen Gras, auf Gras Heu, auf Heu Kühe, dann Milch. So daß Sie die Reihe Regen – Gras – Heu – Kuh – Milch bekommen.«
»Ich verstehe«, sagte O'Key.
Nydecker hatte dem Ende des geflüsterten Gespräches aufinerksam gelauscht. Er schien aus dem fremden Reich, in das er sich geflüchtet hatte (aus der Tagwelt vertrieben von einer dunklen Gewalt) eilig zurückgekehrt zu sein. Seine Augen hatten den Ausdruck gewechselt, ruhig und aufmerksam blickten sie bald auf die Frau, bald auf den Mann. Das Reich des Chaos verschwand in der Ferne, das Reich, in welchem sonderbare Gespenster umgingen, die sprachen, ohne daß man sie sah, die man sah, ohne daß sie redeten. Spielen sollte er jetzt, wie schön, dachte er, es war schön zu spielen, weil dann stets die gläserne Wand zersplitterte, die ihn sonst, er empfand es dunkel, von den Menschen trennte.
»Wir wollen einen Wettkampf veranstalten zwischen Ihnen und meinem Freunde O'Key«, sagte Madge. »Ich werde ein Wort sagen und jeder von Ihnen wird, so schnell es ihm möglich ist, viele Worte dazu sagen, die ihm gerade einfallen. Wer am meisten Worte gesagt, hat gewonnen, verstehen Sie, Herr Nydecker?«
»Oh«, sagte Nydecker, »ich habe viel Rekorde geschlagen, Weltrekord über tausend Meter Geistspritzen und Trionieren mit Waschpinsel in blauer Luft – ich kann viel.«
»Ganz richtig«, sagte O'Key und übernahm ohne weiteres die Führung des Gespräches. »Jetzt werden Sie eben statt des Geistes Worte spritzen, eine ganze Reihe, immer eins hinter dem andern. Das zählt dann für den Rekord des Wörtertreibens, verstehen Sie?«
»Gewiß, in der treibenden Wesperei der Fliegensumme.«
»Gerade das wollte ich sagen.« O'Key streichelte die Hand des Männchens, die auf der Armlehne des Stuhles lag.
»Also«, sagte Madge, »wir beginnen mit dem Herrn O'Key.«
Sie nannte erst ein Wort, ließ O'Key sprechen, dann ein zweites.
»Sehen Sie, Herr Nydecker, Herr O'Key hat zehn Worte gewußt, wieviel werden Sie wissen? Passen Sie auf. Weiße Toilette.«
»Ooh – jaa – Bogenlampe – Straße – Haus – Park – Mappe – Mappe– Mappe…«
Immer leiser wurden die Wiederholungen des Wortes Mappe.
»Was ist mit der Mappe?« fragte O'Key sehr sanft und legte wieder seine Hand auf die Hand des kleinen Männchens.
Nydecker war ganz Eifer.
»Ja, die Mappe«, sprudelte er los, »nimm sie, sagt der Freund. Nimm die Mappe, mir ist schlecht Pit, bring sie Pit, sagt er, bring sie, du weißt schon, wem. Und dann geht der schlanke Freund, geht fort über die Stiege, Monsieur Pierre hat soo Angst. Und versteckt sich. Aber die Mappe – wohin die Mappe bringen? Verstecken die Mappe. Fliegen um die Bogenlampe. Mücken. Und der Park ist dunkel. Der Herr der Fliegen ist schlafen gegangen. Auch die Fliegen schlafen. Und der Park ist kühl. Das Wasser, das Wasser. Kleines Haus, darin sind die Berge. Und der Busch, Monsieur Pierre kennt gut den Busch. Mappe darunter, Erde darüber. Dort finden die Fliegen die Mappe nicht. Monsieur Pierre hat den Auftrag ausgeführt.«
»Das ist ja durchaus verständlich«, sagte Madge. Und als sie O'Keys erstauntes Gesicht sah, lachte sie. »Wie sagt Arsène Lupin? Nur die Dummköpfe erraten. Ich errate nichts, ich kombiniere. Das Haus, das kleine Haus, darin die Berge sind, ist das nicht…, es kann gar nichts anderes sein als das Panorama im Jardin Anglais. Ein geduldiger Herr, der vor Jahren gelebt hat, hat sich die Mühe gemacht, ein Relief der Alpen zu formen und es gegen Eintrittsgeld zu zeigen. Dort in der Nähe unter einem Busch hat also der kleine Nydecker die Mappe versteckt, die ihm Crawley anvertraut hatte. Sie hatten sich getroffen, Crawley wurde es schlecht, Nydecker begleitete ihn in die Toilette, dann lief Crawley fort und begann unter der Wirkung des Giftes sich auf der Place du Molard zu entkleiden. Soweit ganz klar. Und dann versteckte sich der verschüchterte Nydecker in einer Kabine, und als Malan ihn dort entdeckte, rannte ihm Nydecker den Kopf in die Magengrube und ging die Mappe beim Panorama verstecken. Dort müssen Sie suchen gehen, Cyrill.«
»Panorama«, sagte Nydecker deutlich und ernst und nickte mit dem Kopf, wie eine Pagode.
»Ich werde nachsehen gehen«, sagte O'Key. »Doch zuerst wollen wir den Versuch fortsetzen. Vielleicht erfahren wir noch etliches.«
Aber es nützte nichts, vor Nydeckers Ohren das Wort »Professor« einige Male zu wiederholen. Der kleine Mann war wieder ins andere Reich entwischt. Wohl, sein Körper ruhte noch friedlich in dem bequemen Stuhl, aber Nydeckers Seele, falls dieses Wort erlaubt ist, machte Tauchversuche in Tiefen, die dem Assoziationsexperiment unerreichbar waren.
Es war Ronny, der Hund, der die scheinbar hoffnungslose Situation rettete, der Nydeckers Seele aus den submarinen Gefilden wieder ans Tageslicht holte. Ronny hatte bis jetzt in einer Zimmerecke geschlafen, denn er wußte, daß die Meisterin ihn nicht brauchen konnte, wenn sie mit andern Zweibeinern sprach. Jetzt aber weckte ihn das andauernde Schweigen. Er hatte Zeit, darum hielt er das bei einem Hundeerwachen vorgeschriebene Ritual genau ein; und es setzt sich zusammen, dieses Ritual, wie folgt: Strecken des Körpers mit flach auf den Boden gelegten Vorderpfoten und erhobenem Hinterteil. Dazu ein zweimaliges Gähnen und die Zunge ringelte sich im weit aufgesperrten Maule wie bei einem Wappenleu. Ist diese Adagiobewegung vollendet, so kehren die vier Pfoten in die senkrechte Lage zurück, und furioso folgt ein Schütteln des ganzen Körpers, das je nach Länge und Tiefe des Schlafes mehr oder minder lang dauert. Erst nach diesen Zeremonien ist der Weg in die Außenwelt frei: die Augen erspähen bekannte Gestalten, und falls diese sympathisch sind, gerät das Hinterteil in begeistert-schlängelnde Bewegung, die mit einem langsamen Vorrücken zusammenfällt. Der Schwanzstummel wimpelt hin und her, die Vorderbeine beginnen die Luft zu Schaum zu schlagen, dann tritt Ruhe ein, die sitzenden Gestalten werden sanft mit der Schnauze angestoßen (man muß die Stummen aufmerksam machen, daß Ronny aufgewacht ist), und dann wird man wohl mit Tätscheln und mit der bekannten Lautfolge begrüßt: »Ja, ja, guter Hund.« Dazwischen kann man ein sanftes Knurren einschalten, es mit einem Niesen unterbrechen (dann lachen die Sitzenden gewöhnlich), und alles auf dieser Hundewelt ist in bester Ordnung.
Heute aber hatte die Zeremonie der Begrüßung nicht die erhoffte Wirkung. Der Mann, der die Ronnysprache verstand, blickte abwesend ins Leere, die Meisterin hatte eine gerunzelte Stirn, das kam alles, dachte Ronny, von der fremden Gestalt, die im Lehnstuhl saß. Die interessierte scheinbar die beiden bekannten Verehrten mehr als Ronny. Eine unhaltbare Situation. Man mußte sich also mit dem Schweigenden im Lehnstuhl beschäftigen.
Zuerst legte Ronny den Kopf prüfend auf die Seite, zwinkerte mit dem rechten Auge, während die Beine zu behaarten Säulchen erstarrten. Nydecker schenkte dem Hunde keine Aufmerksamkeit. Aber dessen primitives Gemüt war noch nicht mit psychiatrischer Terminologie vergiftet, er kannte Worte wie »katatoner Stupor« aus dem einfachen Grunde nicht, weil sie in der Hundesprache nicht vorkamen, was vielleicht doch als ein Vorzug der Hundesprache gewertet werden mag. Ronny dachte wohl etwas wie: ›Der Mann ist traurig, man muß ihn aufheitern.‹ Darum überließ er seine Glieder dem Tanze, und versuchte sich in verschiedenen Pas, vom vierfüßigen Getrappel, bis zur Menschenimitation auf zwei Pfoten. Von dieser letzten Art erhoffte er die einschneidendste Wirkung. Aber sie verpuffte. Nach ein paar ganz kunstvollen Evolutionen setzte er daher ab, legte wieder den Kopf auf die Seite und betrachtete den Sitzenden mißbilligend. Sein rechtes Ohr stand senkrecht auf, das linke hing traurig abwärts. Plötzlich nickte Ronny, ihm schien etwas eingefallen zu sein, noch einmal stellte er sich auf die Hinterpfoten und legte die Vorderpfoten sanft, aber nachdrücklich auf des Schweigsamen Knie. Dann trat die Zunge in Aktion, und Nydeckers Hände wurden von einer Zärtlichkeitsflut überschwemmt. Dazu stieß Ronny kleine Töne aus, die wie das kunstlose Singen eines gesättigten Säuglings klangen. Das wirkte. Nydecker kehrte zurück aus seinem verwunschenen Reich, seine Augen wurden klarer, eine nicht genau festzustellende Veränderung ging mit seinen Gesichtszügen vor sich. Wohl blieben die Falten und Fältchen am gleichen Ort, aber Leben erhielten sie plötzlich, ein Leben, das wie ein feiner, ungreifbarer Stoff aus allen Poren zu sickern schien. Er blickte Madge an.
»Professor!« wiederholte Madge, scharf akzentuiert.
»Der Apostel Petrus«, sagte Nydecker singend, während ein weiches Lächeln auf seinen Lippen erschien. »Der Apostel Petrus«, wiederholte er, und schien sich gar nicht mehr an das Spiel zu erinnern, das man mit ihm gespielt hatte, sondern er träumte den Bildern nach, die, Seifenblasen gleich, vor seinen Augen aufstiegen und zerplatzten. »Er schreibt, er schreibt. Er schreibt die Namen auf mit kleiner Schrift, und die Fliegen klettern über das Papier. Nicht nur die Namen. Auch die Tatenworte. Er sagt, und der Apostel Petrus streicht seinen Bart, er sagt: ›Armer Pierre, jetzt hat sie dich in die Falle gelockt, die Hexe, trink nicht, armer Pierre, komm zu mir. Der Teufel traut sich nicht an mich heran. Bei mir bist du sicher! Aber die Hexe lockt. Sie hat kleine Münze in der Hand, und die ist heilig, um ihren Kopf summen sie, summen sie. Und sie stechen, wenn Monsieur Pierre nicht trinken will. Der Tee ist bitter, ganz bitter ist der Tee.‹ ›Bitter ist das Vergessen‹, sagt die Hexe, die dicke Hexe.«
Nydecker war erschöpft. Der Hund Ronny hatte sich vor ihm auf den Hinterteil gesetzt, blickte stolz im Zimmer herum, so, als wollte er sagen: ›Ich habe ihn zum Reden gebracht, seht ihr? Wenn ich nicht wäre!‹
Madge räusperte sich und tupfte O'Key auf die Achsel.
»Die kleine bürgerliche Seele, die seßhafte Seele, sie hat den Klimawechsel nicht vertragen. Ich weiß nicht, warum mich der kleine Nydecker mit der roten Nase so dauert. Ich finde es eigentlich grausam, an ihm herumzuexperimentieren, aber was sollen wir anderes machen? Wir müssen doch den Leuten auf die Spur kommen, die hier in Genf Seuchen, seelische Seuchen und seelischen Tod verbreiten. Finden Sie nicht auch?«
Wir bringen Madges Worte natürlich übersetzt, sie flüsterte dies alles in ihrer Muttersprache.
»Die Hexe«, sagte O'Key, »hat sich eigentlich der Professor früher mit Psychiatrie beschäftigt?« fragte er.
Madge stutzte. »Warten Sie. Der Direktor hier hat mir einmal etwas Derartiges erzählt. Vor zwanzig Jahren, glaub ich, hat Dominicé hier Assistentendienste getan. Das war noch unter dem Vorgänger des jetzigen Direktors, einem trockenen Materialisten, und die Sage raunt, es habe zwischen diesem Materialisten und unserem Professor eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Dominicé habe eigenartige Kuren versucht, die damals als verrückt galten, Dauerschlafkuren, acht bis zehntägige, mit derart massiven Schlafmitteldosen, daß sich den damaligen Medizinern die Haare sträubten. Jetzt machen wir solche Kuren sehr viel, sie sind aus Deutschland gekommen. Und dann scheint der Professor damals sehr sonderbare Theorien über die Beziehungen von Seele und Körper gehabt zu haben. Irrsinn, habe er gemeint, sei erstens eine Vergiftungserscheinung, zweitens eine Besessenheit. Die Vergiftung des Organismus bewirke eine Schwächung desselben, so daß dann fremde Mächte von der Person des Kranken Besitz ergreifen können. Die Exorzismen des Mittelalters seien durchaus kein Aberglaube…«
»Besessenheit…«, murmelte O'Key geistesabwesend. »Vergiftung…, Besessenheit. Das…, das… ist ja die Brücke.«
»Es könnte die Brücke sein, ich weiß schon, was Sie meinen, O'Key. Die Erklärung, warum der Professor nicht sprechen will. Die ›Privatangelegenheiten‹. Er ist zu anständig und will niemand verraten. Übrigens hat der kleine Nydecker das recht hübsch gesagt: Der Apostel Petrus, der in ein großes Buch schreibt, und die Fliegen klettern über das Papier. Sie kennen doch Dominicés Schrift.«
»Mhm«, sagte O'Key, »wollen wir noch das letzte Wort versuchen?«
»Sting, don't sting, hat Crawley immer gesagt, bevor er gestorben ist. Wollen wir das Wort wirklich versuchen?«
Madge schien Angst zu haben, sie stand auf und ging mit kurzen Schritten im Zimmer auf und ab. O'Key lachte, aber das Lachen klang nicht ganz natürlich. Er haschte nach Madges Hand, küßte sie zärtlich, und Madge ließ es sich gern gefallen. Sie blieb stehen und lehnte sich an O'Key. Da hörten sie vor dem Fenster eine Stimme, die leise sang. Es klang wie ein gregorianisches Kirchenlied.
Ein Gewitter mochte im Anzuge sein, denn es wurde dämmerig. Es war unerträglich schwül. Eine riesige, bleigraue Wolke stand über den Kugelakazien, die Vögel hatten ihr Konzert eingestellt. Und während die Stimme draußen leise weiter sang (O'Key und Madge hörten sie wohl, aber nur wie ein belangloses Geräusch, dem man keine Bedeutung zumißt), veränderte sich Nydeckers Haltung. Er saß da, vorgebeugt, starr, angespannt. Seine Augen glänzten. Der Mund war ein schmaler Strich. Die Stirne schimmerte feucht.
»Stechen«, sagte Madge.
»Nicht, nicht!« kreischte Nydecker. »Zimmer, dunkel, dunkel. Und das blaue Licht! Da steht der Mann, der alte Mann mit dem Holzgesicht, ganz braun ist das Holzgesicht, ganz braun und glatt. Und die Hexe neben ihm. ›Du bekommst das Zeichen‹, sagt der Mann, und die Hexe nickt. Ein, zwei, drei Hexen. Das Zeichen –«
Nydecker brach ab, aber nur einen Augenblick schwieg er. »Sie singen, sie singen, die alten Damen singen…«, sagte er leise.
»Ja, wer singt denn eigentlich so merkwürdige Lieder vor Ihrem Fenster?« fragte O'Key, stand auf und wollte sich über den Fenstersims beugen, da erhielt er einen schmerzhaften Stoß in die Seite und sah eine Gestalt blitzschnell hinausspringen.
»Halten Sie ihn doch!« schrie Madge.
»Nierenschlag«, sagte O'Key gepreßt. »Einen Augenblick, ist gleich vorüber«, er atmete tief, reckte die Arme zum Himmel. »Ich bin gleich wieder da.« Damit sprang auch er zum Fenster hinaus. Nydecker hatte nur zehn Schritte Vorsprung. Er mußte sich leicht den Fuß geprellt haben beim Absprung, denn er hinkte eilig einer Hecke zu, hinter der, nach einem kurzen freien Stück, ein Wald begann. Aus der Hecke drang, laut und deutlich, der Gesang, der wie ein Kirchenlied wirkte, und O'Key verstand die Worte. Es waren dieselben, die er auf der Münze entziffert hatte. »Kaulakau, Saulasau!« klang es. Da hatte er Nydecker eingeholt. Er packte den kleinen Mann, der sich strampelnd und fauchend wehrte, packte ihn fest, und der Widerstand ließ nach. Dauerbad schwächt eben die stärkste Konstitution, und Nydecker hatte die letzten Tage viel im Wasser zubringen müssen. O'Key schritt zurück, hob Nydecker zum Fenster empor, und sagte, keuchend ein wenig, denn der Schlag schmerzte noch immer: »Hier haben Sie Ihr Baby.«
Madge nahm den Kleinen ohne große Anstrengung, setzte ihn in den Lehnstuhl. Nydeckers Kopf hing erschöpft herab. Viel Angst war in den Augen.
Als O'Key wieder im Zimmer stand, wies er stumm auf Ronny. Der stand in einer Ecke, stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen den Boden und sein Fell war gesträubt. Auch in seinen Augen saß die Angst, und so ähnelten sie merkwürdigerweise denen Nydeckers.
O'Key zog das englische »what's the matter« zu einem Laut zusammen, der wie ein verhaltenes Bellen klang. Dies löste Ronnys Starrheit. Er wälzte sich zuerst winselnd am Boden, sprang dann auf, stützte die Vorderpfoten auf den Fenstersims und begann zu bellen, aber so verrückt zu bellen, daß Madge sich die Ohren zuhielt. Es war, als wolle Ronny seine Tapferkeit beweisen, ungefähr wie ein kleines Kind im dunklen Zimmer singt, um die Finsternis zu vertreiben.
»Ich glaube, wir brechen besser ab«, sagte Madge und wies auf den erschöpften Nydecker. »Haben Sie die Sängerin nicht gesehen?«
»Nein, sie hatte sich in der Hecke versteckt. Aber, Sie haben ganz recht, es war eine Frauenstimme, die Stimme einer alten Frau.«
»Die Hexe singt«, sagte Nydecker laut und nickte dazu mit dem Kopfe, einmal, zweimal, dann rasch hintereinander, immer wieder, wie jene kleinen chinesischen Götzenbilder, deren Kopf beweglich ist.
»Ich kann nicht mehr…«, sagte Madge seufzend. »Ich kann den kleinen Mann mit der heimatlosen Seele nicht mehr sehen.« Sie ging zum Tischtelephon, stellte eine Nummer ein.
»Kommen Sie Nydecker wieder holen, Chef. Ja, sofort, bitte.«
Dann setzte sich Madge auf die Kante des Sofas, stützte den Kopf in die Hände und wartete. O'Key nahm seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf. Dann rollte fern der Donner, ein Regenguß trommelte auf die Blätter und der Geruch von feuchter Erde brachte Entspannung in die geladene Luft des Zimmers.
Es klopfte. Der Mann mit dem gelben Gesicht und dem Chinesenschnurrbart trat ein. Er verbeugte sich schweigend, ein Lächeln schien unter seinem Schnurrbart zu zittern, Madge blickte ihn mißbilligend an.
»Am besten ist es, Sie geben Nydecker eine Spritze, acht Zehntel Kubik Moscop. Nicht mehr. Und dann soll er schlafen. Es wird das beste sein.«
»Gewiß, Fräulein Doktor, acht Zehntel. Jawohl. Corbaz ist übrigens sehr aufgeregt. Er hat einen Stuhl auseinandergerissen und ist auf mich losgegangen. Er ist jetzt im Bad. Vielleicht auch ihm eine kleine Spritze?«
Während er sprach, rieb sich der Oberwärter die glatten, mageren Hände, deren Haut genauso gelb war, wie die des Gesichts. Seine Rede war von jener untertänigen Höflichkeit, die zu Ohrfeigen oder noch anderen Brutalitäten aufzufordern scheint.
»Corbaz?« fragte Madge, dachte einen Augenblick nach und sagte, zu O'Key gewandt, mit einem kümmerlichen Lächeln: »Alle Mieter der Jane Pochon sind heute aufgeregt. Vielleicht fühlen sie ihre Nähe.«
»Das kann gut möglich sein«, antwortete O'Key ernst. Er war damit beschäftigt, Ronny durch Tätscheln zu beruhigen, denn es war zu befürchten, daß der Hund seine Wut an dem unschuldigen Oberwärter auslassen könnte.
»Kommen Sie, Nydecker, machen Sie keine Geschichten«, sagte der Mann mit der gelben Gesichtshaut (übrigens hieß er Jaunet und war als geizig bekannt), und seine Stimme war gar nicht mehr höflich. Nydecker kroch in sich zusammen.
»Gehn Sie mit dem Chef, Nydecker«, sagte Madge sanft. Sie sollte sich noch lange an das tiefe Aufseufzen des kleinen Mannes erinnern und an seine letzten Worte: »Monsieur Pierre geht schon.«
Denn es vergingen kaum zehn Minuten (und Schweigen herrschte während dieser Zeit, O'Key hatte den Arm um Madges Schultern gelegt und streichelte bisweilen ihr blondes kurzes Haar), da schrillte die Klingel des Tischtelephons.
Madge sprang auf. »Ja«, sagte sie. Sie lauschte eine Weile, verzog ihr Gesicht. »Ich komme, ja, ich komme!«
Sie legte den Hörer langsam ab, stand einen Augenblick wie geistesabwesend, raffte sich auf, ging zum Spiegel, fuhr mit dem Kamm durch ihr Haar, blickte lange vor sich hin.
»Was ist los?« fragte O'Key.
»Nydecker stirbt«, sagte Madge leise. »Vielleicht bin ich dran schuld.«
»Dummheiten«, sagte O'Key ärgerlich. »Wie sollen Sie dran schuld sein?«
»Der Chef sagte, Nydecker habe die Spritze nicht vertragen. Es seien Lähmungserscheinungen aufgetreten, Atemnot. Das Herz war wohl schwach.«
»Was ist denn in solch einer Spritze enthalten?« wollte O'Key wissen.
»Sie ist sonst harmlos. Nicht ganz zwei Hundertstel Gramm Morphium und die Scopolaminlösung ist glaube ich 1 pro Mille. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich habe Nydecker doch untersucht, das Herz war in Ordnung. Ich verstehe es nicht.«
»Merkwürdig«, sagte O'Key. »Merkwürdig, dieser Tod nach dem Gesang.«
Trotz der Warnung seiner Freundin, versuchte O'Key wieder zu raten, und er riet nicht daneben, diesmal wenigstens nicht. Die Bestätigung seines Verdachtes sollte er jedoch erst am Abend des gleichen Tages erhalten. Da wurde ihm der Wortlaut des Telephongespräches mitgeteilt, das Baranoff (Agent Zweiundsiebzig) am Vortage mit einem Angestellten der Anstalt Bel-Air gehabt hatte.