Glauser, Friedrich
Der Tee der drei alten Damen
Glauser, Friedrich

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Fünftes Kapitel

1

Baranoff, wie sich Agent 72 in Genf nannte, jener Mann mit der großporigen Gesichtshaut, der den alten Professor in der Latham-Bar so sehr erschreckt hatte, bewohnte in einem kleinen unscheinbaren Hotel an der Route de Chêne ein einfaches Zimmer. Er empfing wenig Besuch. Des Morgens kam seine Privatsekretärin, jene Natalja Kuligina (Agentin 83), die bei Fräulein Sorel wohnte und brachte ihm Briefe, die sie zuvor aus einem Postfach an der Rue d'Italie geholt hatte. Dann sah Herr Baranoff viele Zeitungen durch, ausländische und einheimische, und dann diktierte er gewöhnlich einige Antworten.

Am heutigen Morgen war er guter Laune, hatte sich in einen Plüschsessel vergraben und lutschte an dem Kartonmundstück einer ausgegangenen Zigarette. Dazu summte er Melodiefetzen. Er begann mit den »Wolgaschleppern«, wechselte hinüber zu »Valentine« und endete mit der »Internationale«. Er summte die Melodien falsch, aber immerhin erkennbar. Da trat Natascha ein.

»Guten Morgen«, sagte Baranoff gnädig, »gut geschlafen, Natascha?«

Ja, er nannte seine Sekretärin Natascha, und seine Sekretärin hatte nichts dagegen. Denn Herr Baranoffs Erotik hatte sich schon lange zu einer allgemeinen Liebe für die Verdammten dieser Erde sublimiert, der etwa übriggebliebene Rest beschäftigte sich mit gutem Essen und Trinken. Herr Baranoff hatte einen Spitzbauch.

Natascha nickte, ohne eine Gegenfrage zu tun. Herr Baranoff empfand dies nicht als Beleidigung. Er wußte, Natascha war schweigsam. Er streckte die Hand aus, empfing zwei Briefe, einen Stadtbrief und einen Brief mit einer indischen Marke.

»Sie sollten den Professor in Ruhe lassen, Kostja.« (Herr Baranoff hieß Konstantin, es war die Schuld seines Vaters, der in einer kleinen russisch-polnischen Stadt koscheres Fleisch verkauft hatte, und auch eine Pension hatte er gehabt, die aber hatte die Mutter geführt. Konstantin klingt nicht jüdisch, hatte der Vater gedacht, denn es war damals die Zeit der Pogrome, und in einem Pogrom war der alte Vater erschossen worden.)

»Mmmhmm«, brummte Herr Baranoff, in den tiefen Lagen anfangend, dann steigend. »Und warum das?«

»Weil es schmutzig ist, der Mann weiß doch nichts, warum wollen Sie ihn zugrunde richten?«

»Darum«, sagte Herr Baranoff. »Weil er ein Intellektueller ist, weil er mir in meine Angelegenheiten hineinpfuschen will, weil ich der Dritte bin, der den Vorteil hat, wenn zwei sich prügeln. Der indische Fürst und England auf der einen Seite – das amerikanische Kapital auf der andern, wer trägt den Sieg davon? He? Wetten, daß es Kostja ist? Und dann setzt sich Kostja zur Ruhe, aber nicht im Sowjetparadies, in Paris vielleicht, ja, oder in Burgund, dort ist die Küche noch wunderbar, nicht zu sprechen vom Wein.«

»Und Sie verraten die Partei?« fragte Natascha böse. »Haben Sie nicht Angst, daß ich Sie anzeige?«

»Verrate? Die Partei? Du schnappst über, mein Kind. Ich will nur Provision, und die teilen wir. Das Geschäft kann die Partei dann allein aufziehen. Ich nehme Provision rechts, nehme Provision links und betrüge auf beiden Seiten. Aber ehrlich bleibe ich, denn schließlich bekommt Rußland doch die Sache in die Hand. Und Geld stinkt nicht. Non olet«, fügte er hinzu, um zu zeigen, daß er das Gymnasium besucht hatte.

Dann hatte er plötzlich den Brief mit der indischen Marke in der Hand, öffnete ihn mit seinem aufgeklappten Taschenmesser, studierte ihn lange, nahm auch ein kleines Notizbuch zuhilfe sowie einen Bogen weißen Papiers, auf welchem er Berechnungen anzustellen schien, räusperte sich, schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber wieder. Natascha hatte eine Reiseschreibmaschine unter dem Bett hervorgezogen, das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch beiseite gerückt, sich niedergesetzt und gewartet. Dann wurde sie ungeduldig, ging ans Fenster und öffnete es. Herein drang der Geruch von feuchtem Asphalt, ein Sprengautomobil zog die weißen Fächer seiner Wasserstrahlen an den Bordschwellen entlang. Ein kleiner Milchwagen, blau wie ein himmlisches Schaf, rasselte aufgeregt mit einer Glocke.

Da hörte Natascha Herrn Baranoff sagen: »Hör zu.« Sie drehte sich um, kam langsam auf den Tisch zu, setzte sich und stützte das runde Gesicht in die Hand. Die Schreibmaschine schien ihr wie der Mund eines Fabeltieres, aber alle Zähne dieses Mundes waren plombiert. Sie mußte selber lachen über die dummen Vergleiche, die ihr einfielen.

»Es geht vorwärts«, sagte Baranoff. »Der Missionar, der Amerikaner, weißt du, der Sir Bose mit der Standard-Oil in Verbindung gebracht hat, arbeitet eigentlich für uns. Weißt du, was er macht? Er hat dort unten amerikanische Wahlmethoden eingeführt, und durch diese sind ein paar Leute ans Ruder gekommen, die nun Kirchen bauen wollen und Tempel zerstören. Es hat schon Ausschreitungen gegeben. Die Partei des vertriebenen Fürsten konspiriert gegen den Missionar, und der hat sich eine Leibgarde angeschafft, von bekehrten Bergbauern. Es gärt. Und das ist die Hauptsache. Wir sind immer dankbar, wenn andere Unzufriedenheit stiften. Unsere Leute organisieren die Kleinbauern, besonders die, die am Fluß wohnen und die andern, die in der Nähe der Ölfelder angesiedelt sind. Hoffentlich schlagen sie den Missionar nicht tot, das wäre unangenehm, Amerika müßte dann einschreiten. Die dialektische Methode ist mir lieber, und sicherer ist sie auch.«

»Die dialektische Methode!« sagte Natascha und betrachtete aufmerksam die Tastatur der Schreibmaschine. »Und Sie sind ganz sicher, Kostja, daß die dialektische Methode Erfolg haben wird?«

»Nun, ich glaube, daß dies durch die Untersuchungen Marxens, Plechanoffs und Lenins endgültig festgestellt worden ist.«

»Also, Sie prophezeien, Kostja, Sie prophezeien aus Büchern.«

Herr Baranoff zündete eine Zigarette an und zog den Rauch tief in seine Hühnerbrust. »Deine Skepsis gegenüber den Richtlinien der Partei wird manchen sicher interessieren. Schreib jetzt.« Herrn Baranoffs farblose Augen starrten böse, er sah aus, wie ein gereizter, an Fettsucht leidender Kater.

»An den Vorsteher des Departements für Justiz und Polizei

Genf.

Herr Staatsrat,

Unverantwortliche fremde Elemente treiben mit den altbewährten Institutionen einer der ältesten Demokratien Europas ihr frevelhaftes Spiel. Sie wagen es, unter dem Vorwand, der Polizei Hilfe zu leisten, notwendige Verhaftungen zu unterbinden. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, in wieviel Widersprüche sich ein Universitätsprofessor verwickelt hat, als er, inoffiziell, über den geheimnisvollen Mordfall an der Place du Molard ausgefragt wurde? Außerdem fühle ich mich verpflichtet, Sie von einer unbekannten Tatsache in Kenntnis zu setzen. In das Irrenhaus Bel-Air ist vor einiger Zeit ein Patient eingeliefert worden, der sicher interessante Aufschlüsse geben könnte. Auch sogenannte Geisteskranke, selbst wenn sie als Zeugen untauglich sind, können in ihrem Delir wichtige Fingerzeige geben, die auf eine Spur führen.«

»Führen…« wiederholte Natascha, das Knattern der Hebel, das wie das Steppen eines verrückt gewordenen Tänzers geklungen hatte, verstummte, draußen schrie eine Straßenbahn, weil es so schwer für sie war, die Kurve zu nehmen.

»Ich würde Ihnen raten, sehr geehrter Herr Staatsrat, sich um Auskunft an eine Ärztin zu wenden, die in besagtem Irrenhaus Dienst tut und die versucht, der Justiz wichtige Fakten vorzuenthalten. Als ehrlicher Schweizer Bürger, den die Ausländerwirtschaft anekelt, die immer mehr überhand nimmt (Baranoff zerdrückte ein Lächeln), möchte ich Sie, Herr Staatsrat, in Ihrer schweren Säuberungsaktion – (streich schwer und schreib schwierig) –schwierigen Säuberungsaktion unterstützen und unterbreite Ihnen daher diese Fakten. Es ist nötig, mit einem eisernen Besen (den Besen unterstreichen) diesen ganzen ausländischen Schmutz aus unserem schönen Lande zu kehren.

In der Hoffnung, daß meine bescheidene Hilfe Ihnen von Nutzen sein wird, zeichne ich mit ergebenster Hochachtung

ein Freund der Genfer Justiz.«

»Der Genfer Justiz…« sagte Natascha, drehte die Walze, um das eingespannte Papier so schnell wie möglich zu befreien, hielt plötzlich inne und blickte zur Türe. Diese öffnete sich langsam, ein roter Haarschopf leuchtete in der Spalte, dann erst war ein leises Klopfen zu hören.

2

»Herein«, sagte Baranoff, er saß mit dem Rücken zur Tür, wandte sich nicht um, denn er dachte, es sei das Zimmermädchen, das das Frühstücksgeschirr holen wolle.

O'Key trat ruhig an den Tisch, nahm den Brief auf und las ihn. Natascha hinderte ihn nicht daran, es schien ihr sogar recht zu sein, daß der Brief gelesen wurde.

»Ich würde ihn nicht abschicken, an Ihrer Stelle, Monsieur«, sagte O'Key, und Baranoff, der zum Fenster hinausgesehen hatte, fuhr herum.

»Ach, Sie sind's«, sagte er und beruhigte sich wieder. O'Key ließ sich in einen Fauteuil fallen und seine Gelenke knackten. »Ich hab zu wenig Sport getrieben, in der letzten Zeit, bin ganz eingerostet. Aber, was den Brief betrifft, ich würde ihn nicht abschicken.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich sonst meinem Freund, dem Kommissar, erzählen müßte, wer den Brief geschrieben hat. Und das könnte sehr unangenehm werden für den ›Freund der Genfer Justiz‹.«

»Wäre das fair?« fragte Baranoff.

O'Keys Augen wanderten im Zimmer umher, blieben am Waschtisch haften, er stand auf, machte über der Schüssel die Gebärde des Händewaschens.

»Was ist fair, Monsieur?« fragte er dagegen. »So möchte ich, in Anlehnung an Pilatus fragen. Wir spielen ein Spiel, und das Spiel hat nur eine Regel: Erfolg. Nicht wahr? Was hat da die Fairneß zu suchen? Es gefällt mir nicht immer, das Spiel, aber es ist ja nicht die erste Partie, die wir spielen, nicht wahr, Zweiundsiebzig? Wir wissen zuviel voneinander. Sie sind offizieller Korrespondent der ›Prawda‹, ich bin vom ›Globe‹, was wir daneben treiben, ist gleichgültig. Aber arbeiten Sie mit den Behörden, so konterminiere ich ebenfalls bei den Behörden. Ich habe im ›Palais‹ nichts von Ihnen gesagt, werde auch nichts sagen, aber«, O'Keys welche Stimme gefror ein wenig, »lassen Sie meine Leute in Ruhe. Lassen Sie die Finger vom Professor, lassen Sie die Finger von Fräulein Lemoyne.«

»Fräulein Lemoyne ist schon verlobt«, grinste Baranoff, »wenn Sie heiraten wollen, müssen Sie schon jemand anderen suchen.«

»Zweiundsiebzig«, sagte O'Key warnend, dehnte dann die Arme und gähnte verächtlich, »ich warne Sie. Sie können nicht boxen, reizen Sie mich nicht. Übrigens, woher haben Sie die Neuigkeit mit dem Verrückten in Bel-Air? Ist das wahr? Merkwürdig, daß mir Fräulein Lemoyne nichts davon erzählt hat.«

»Sie hatte wahrscheinlich Wichtigeres mitzuteilen«, höhnte Baranoff. O'Key machte zuerst Miene, seine verstreuten Glieder einzusammeln, blickte dann auf Natascha, streckte sich wieder aus.

»Wenn Sie nicht so fett wären, Zweiundsiebzig, würde ich Sie ohrfeigen. Aber es lohnt sich nicht.«

»Nennen Sie mich nicht immer Zweiundsiebzig. Nur Zuchthäusler ruft man bei ihrer Nummer. Und ich bin kein Gefangener.«

»Was nicht ist, kann noch werden«, bemerkte O'Key friedlich. »Und wir wollen uns nicht streiten. Aber ich möchte gerne noch wissen, was mit dem Patienten los ist, auf den Sie anspielen. Von wem haben Sie etwas erfahren, und überhaupt, was hat der Mann für eine Rolle gespielt in der ganzen Affäre?«

»Er hat Crawley gesehen«, sagte Baranoff. »Ich brauchte es Ihnen ja nicht zu sagen, aber immerhin, eine Hand wäscht die andere, und vielleicht können Sie mir auch einmal nützlich sein.«

»Er hat Crawley gesehen?« wiederholte O'Key gedehnt, »er war also an jenem Abend an der Place du Molard? Dann war es, warten Sie, Baranoff…, dann war es der Mann mit den weißen Tennishosen, den die Polizei sucht? Ja? Und Madge hat die ganze Zeit davon gewußt?«

»Ich glaube nicht, daß Fräulein Lemoyne etwas von der Rolle gewußt hat, die Nydecker in der ganzen Affäre gespielt hat, es war übrigens gar keine große Rolle, nur Statist war er. Aber er weiß viel, schwieriger wird es schon sein, es aus ihm herauszugraben, sie haben bös gehaust mit ihm.«

»Sie? Wer sind die ›sie‹?«

»Das müssen Sie selber herausfinden, mein lieber O'Key, nicht etwa, daß ich ein Interesse hätte, die Leute zu schützen, aber alle Geschäftsgeheimnisse darf man nicht ausplaudern.«

»Sagen Sie, Zweiundsiebzig, pardon, Baranoff, wie stehen heute die ›Standard-Oil‹?«

»Standard-Oil? Warum? Habe noch nicht nachgesehen. Da, vor Ihnen auf dem Tisch liegt eine Zeitung. Schauen Sie selber nach.«

»Shell Transport hat aufgeholt«, sagte O'Key nach einer Weile, »und die 2 1/4, Anatol ist seit gestern um 7/8 in Frankfurt gefallen. Was wird gespielt dort unten, Baranoff? Kann man keinen Tipp bekommen? Wer managet dort unten die Sache? Denn, daß es Petrol ist, weiß ich bereits. Aber ich sag es Ihnen offen, ich weiß noch nicht, gegen wen es geht, und wer der Dritte ist. Sie etwa?«

»Kostja, Paß auf«, sagte Natascha. »Er will dich nur ausholen.«

Wirklich sah Baranoff einen Augenblick erstaunt auf, aber es war wohl mehr das ungewohnte »Du«, das ihn zum Aufschauen brachte. Dann lachte er, ein unangenehmes, heiseres Lachen.

»Hören Sie das Mädchen, O'Key. Ist das nicht zum Aus-der-Haut-fahren? Will einem alten Parteifunktionär die Leviten lesen, und dabei hat dieser besagte Parteifunktionär die ganze Geschichte erst auf die Beine gestellt. Es ist noch idealistisch gesinnt, das kleine Mädchen. Mein liebes Kind«, dies zu Natascha, »wir machen hier in Tatsachen und nicht in Parteipropaganda. Es wird dir auch gar nichts nützen, nach Moskau zu berichten, daß ich mit O'Key hier verhandelt habe. Ich habe Vollmacht, verstehst du, und du bist meine Untergebene. Überhaupt, die Sache ist so gut wie perfekt, und wenn ihr uns doch zuvorkommt, so hat das nichts zu sagen. Mit euch läßt sich immer verhandeln, ihr braucht uns, wir brauchen euch. Nur mit den Amerikanern wollen wir nichts zu tun haben. Verstanden? Also, hören Sie, O'Key. Die Lage der Felder ist günstig. Drei Kilometer von einem Fluß, der auch für große Tankschiffe genügend Tiefgang hat. Euer Bose, ja, Sir Avindranath Eric Bose, mit dem horngefaßten Monokel, hat euch verraten und jetzt«, Baranoff klopfte mit seinen kurzen Fingern auf den Chiffre-Brief, »jetzt macht sich ein amerikanischer Missionar unten bemerkbar. Stöbern Sie den vertriebenen Fürsten auf, O'Key, dann ist alles in Ordnung, wir einigen uns schon. Aber die Amerikaner müssen raus. Wissen Sie, daß die Leute schon Bohrmeister geschickt haben? Der junge Fürst ist loyal, er hat die englischen Interessen schützen wollen und hat dem Bose vertraut. Passen Sie auf den Bose auf, O'Key, der Kerl ist raffiniert. Aber vielleicht – nun, das ist Ihre Sache.«

»Zweiundsiebzig«, sagte O'Key nach einer Pause, in der er abwechselnd seine Stiefelspitzen, Natascha und Baranoffs Hände betrachtet hatte. »Zweiundsiebzig, Sie haben schon einmal versucht, mich anzuschmieren, damals in Paris, wissen Sie? Es soll Ihnen vergeben und vergessen werden, wenn Sie mich jetzt nicht anschwindeln. Aber ich trau Ihnen nicht. Sie sind zu treuherzig. Irgendetwas steckt dahinter. Wir werden sehen. Und Sie werden sich wohl die Finger verbrennen.«

O'Key sammelte nun endgültig seine verstreuten Glieder ein, stand auf. Dann trat er zum Tisch, lehnte den rechten Schenkel an die Tischkante und sprach gegen das offene Fenster hin: »Was ist das übrigens für ein Vertrag, der Crawley gestohlen worden ist? Darum ist er doch ermordet worden? Oder? Hat der alte Bose mit euch paktieren wollen, doppeltes Spiel treiben? Antworten Sie nur ungescheut, Zweiundsiebzig, wir sind auch nicht ganz dumm.«

Baranoffs großporige Gesichtshaut wurde fleckig, grau und weiß, er zündete umständlich eine Zigarette an, und es muß festgestellt werden, daß seine Hände nicht zitterten. Er war eben, wie er sich selber gerne nannte, ein altes Zirkuspferd, und bekanntlich ticken diese Tiere nur selten.

»Sie glauben gar viel zu wissen, O'Key«, sagte er ruhig. »Aber Sie wissen eben doch nichts, sonst, wenn Sie nämlich alles wüßten, würden Sie vielleicht doch Angst bekommen.«

»Wegen des Fliegengottes? Machen Sie sich nicht lächerlich. Man hat doch schon allerlei erlebt und die Furcht ist auch ein Aberglaube. Und wenn noch jemand sterben soll, so werde ich es nicht sein, glauben Sie mir.«

»Sie sind sehr sicher, O'Key, desto besser, aber ich habe zu tun, auf Wiedersehen.«

Baranoff stand auf, öffnete die Tür, O'Key verbeugte sich vor Natascha, dann verschwand er lächelnd.

Aber kaum hatte sich die Türe hinter ihm geschlossen, als Baranoffs Gesicht sich veränderte; plötzlich war es eine Maske, eine jener Masken, die Neger tragen, wenn sie kultische Tänze aufführen.

Er hob den Hörer ab, nannte eine Nummer.

»Benachrichtigen Sie den Meister, daß eine Untersuchung in Bel-Air stattfinden wird. Gegen den Professor ist vorzugehen, schicken Sie die Dokumente an den Staatsanwalt. Ich gebe den Rat, den Patienten stumm zu machen. Was, Sie können nicht vor morgen? Warum? So, weil Sie nicht Dienst haben? Nun, es wird nicht so eilen… gut.«

3

In der Mittagsstunde, bei Fräulein Sorel, der Dichterin, gelang es Natascha, ihrem jungen Freunde Jakob zuzuflüstern:

»In einer halben Stunde am Cours de Rive.« Jakob nickte und freute sich, eine Stunde Physik und eine Stunde Geschichte seiner ersten Liebe zu opfern. (Ich weiß, es gibt in der Liebe größere Opfer, aber diese kommen erst später.)

Sie nahmen das Tram bis Jussy. Aber sie umgingen dann das berühmte Wirtshaus, in welchem Madge mit Thévenoz zu Nacht gegessen hatte, nahmen einen Feldweg, der sie in die Wälder führte, die Laubwälder, die sich ausdehnen, weit und flach, bis zur savoyischen Grenze. Besonders in der Woche werden diese Wälder wenig von störenden Menschen heimgesucht. In einer Lichtung lagerten sie sich, durch die Stämme war der Jura zu sehen, mäßig gezackt, wie ein abgesplittertes Stück Rauchglas. Wie winzige Flugzeuge ratterten schwarze Heuschrecken über die Grashalme, hatten plötzlich rote Tragflächen und die Mücken spannen seltsame Tongewebe; Natascha zog sich hinter einem Busch aus, trat hervor, in einem Badeanzug. Ihr Körper war dunkelbraun.

Als Jakob gestand, er trage auch immer eine Badehose in der Tasche, wurde er gelobt und aufgefordert, sich auch von der Sonne bescheinen zu lassen. Die Sonne scheine nämlich auch für kleine Bürger, wie er einer sei. Aber dann schämte sich Jakob, denn er kam sich lächerlich vor, viel zu knochig, er ärgerte sich über seine dünnen Waden und bedauerte innerlich, in der letzten Zeit zu wenig geturnt zu haben.

»Wie ein Knochengerüst seh ich aus«, klagte er, »und du wirst dich sicher über mich lustig machen.«

Und er versuchte zaghaft, Nataschas runde Schulter zu streicheln. Die Haut war, trotz ihrer Bräune, sehr kühl. Natascha rückte nicht weg. Aber sie blickte ernst und ein wenig traurig in den Himmel, der aus einem sehr zarten blauen Stoff war.

»Wir müssen vernünftig sein, kleiner Junge«, sagte sie, »wir haben viel zu besprechen, und du mußt mir helfen. Dein Bruder ist doch Advokat?«

Helfen zu müssen, schien Jakob sehr schön, er stützte den langen Schädel (und die Haare darauf ringelten sich feucht) auf die geballten Fäuste und blickte aufmerksam auf zu der Frau. Natascha erzählte, zuerst in den Himmel hinein, dann drehte sie sich auf die Seite, es war, als würden ihre Blicke angezogen von den aufmerksam auf sie gerichteten Augen. Und so kam es, daß gerade derjenige, der für die geheimnisvollen Vorgänge der letzten Wochen das geringste Interesse besaß, zuerst einen Teil der Wahrheit erfuhr.

»Weißt du«, begann Natascha, »ich bin gar nicht Sekretärin bei der russischen Delegation, sondern eine Agentin, eine Spionin.«

Jakob Rosenstock verzog das Gesicht; die Tatsache, daß seine Freundin eine Spionin war, paßte nicht in sein Weltbild: das war augenblicklich begrenzt von den Versen einiger Dichter vom Ende des vorigen Jahrhunderts, und in diesen Versen war eine gläserne Wirklichkeit aufgebaut worden, in der nackte Tatsachen, politische, materialistische, keinen Platz finden konnten. Aber schließlich war Natascha kein ätherisches Wesen, keine ferne Prinzessin, und Jakob liebte an ihr vielleicht gerade das, was ihn hätte stören sollen: das Robuste, das Robbenhafte. Darum war eigentlich gar nichts zu verzeihen. Sie war eine Spionin, nun gut, es schmeckte nach Hintertreppenroman, aber eigentlich nur das Wort, denn die Frau, diese Natascha, war ein einfacher Mensch, vielleicht hatte sie ihren Beruf aus Idealismus ergriffen. Und der politische Idealismus hat mit dem ästhetischen doch vieles gemein. Vor allem wohl den Aufenthalt in einer selbsterbauten, unsicheren Welt.

Übrigens war es schön in der Sonne, das Gras war trocken, es roch nach zerriebenen Minzenblättern, Ameisen und Käfer trieben auf den Gliedern der beiden Liegenden geologische Studien. Man wußte, in der Ferne war der See, es war schön, sich nach seiner Kühle zu sehnen. Irgendwo gab es auch noch eine Stadt, mit einer Schule darin, an der man eine Prüfung bestehen sollte, aber das war nicht wichtig, und diese Tatsache vergaß man besser. Jakob nahm Nataschas Hand, legte seine Wange darauf und sagte still und ergeben:

»Also, du bist eine Spionin? Wenn schon.«

»Und ich arbeite«, fuhr Natascha fort, »mit einem Agenten zusammen, dessen Namen nichts zur Sache tut.«

»Schon lange?«

»Es werden bald vier Jahre sein.«

»Dann bist du natürlich seine Geliebte«, stellte Jakob ruhig fest, aber diese Ruhe war doch nur scheinbar. Es tat ganz abscheulich weh, in der Magengrube, und in seine Augen traten Tränen, so, als hätte er an einer Ammoniakflasche gerochen.

Zuerst wollte Natascha lachen, unterließ es dann aber. Sie hob langsam die Hand, auf der Jakobs Wange lag, und damit seinen Kopf, küßte des Jungen Augen und ließ den Kopf sanft auf ihre Brust sinken. Jakob fand, es liege sich da sehr weich, er streckte sich und seufzte befriedigt, etwa wie der Airedale Ronny, wenn er einmal ausnahmsweise auf dem sonst verbotenen Sofa liegen durfte. Jakob mußte lächeln, denn es war lustig, Natascha weiter sprechen zu hören. Es dröhnte dann so merkwürdig, tief innen in ihrer Brust, und durch das andere Ohr vernahm er ihre Stimme, sehr weit, als würde sie als Echo vom hohen Himmel zurückgeworfen.

»Dummer, kleiner Junge«, sagte Natascha, »wenn du den Mann kennen würdest, würdest du nicht so dumm fragen. Ich bin seine Sekretärin und… weißt du, er ist dick und schon ein wenig alt… Aber das ist Nebensache. Ich wollte von etwas anderem sprechen. Du kennst doch den alten Professor? Du hast mir doch einmal erzählt, daß du die Schule geschwänzt hast, um in seine Vorlesungen zu gehen.«

»Professor Dominicé?« fragte Jakob, hob den Kopf, ganz hell wach, aber er wurde schnell wieder in seine ursprüngliche Stellung zurückgedrückt. »Was ist's mit dem Professor? Wladimir, mein Bruder, hat so dunkle Andeutungen gemacht, der Professor sei in einer schwierigen Situation. Was ist's, weißt du etwas?«

»Hast du den Professor gern?« wollte Natascha wissen.

»Außer meinen beiden Brüdern ist er der einzige intelligente Mensch, der in der Stadt Genf herumläuft«, sagte Jakob überzeugt. »Ich meine unter den Männern. Du bist auch nicht dumm.«

»Danke«, sagte Natascha. »Aber wir können uns später Komplimente machen. Nun, dein Professor ist in Gefahr, und daß er in Gefahr ist, daran bin auch ich nicht ganz unschuldig. Das ist aber so gekommen. Als wir nach Genf kamen (und wir kamen zu einem ganz bestimmten Zweck) mußten wir zuerst einen englischen Diplomaten beobachten, der mit einem indischen Staat in Verbindung stand. Dieser hatte einen Privatsekretär, und an diesen Sekretär sollte ich mich heranmachen. Aber das gelang nicht, der Sekretär war anders als du, ich interessierte ihn nicht. Da bemerkte mein Mitarbeiter, daß dieser Sekretär, Crawley hieß er, und von seinem Tode hast du ja gehört, daß dieser Crawley mit deinem Professor eng befreundet war. Nun versuchten wir, Näheres über den Professor zu erfahren. Er ging oft zu einem Apotheker und von diesem Apotheker hatten wir schon in Paris gehört. Er war bekannt als Lieferant von Rauschgiften. Mein Mitarbeiter ist auch mit der sogenannten Unterwelt in Verbindung, er ließ sich an den Apotheker empfehlen, und durch Zufall traf es sich, daß ein Bekannter ihn persönlich bei diesem Apotheker einführen konnte. Und gerade an dem Abend, an dem mein Kollege bei diesem Apotheker war, wurde auf den alten Mann ein Überfall versucht, mein Mitarbeiter (übrigens heißt er Baranoff) konnte bei der Abwehr helfen und zum Dank erzählte ihm der Apotheker verschiedenes. Das war merkwürdig, denn dieser Eltester war als verschwiegen bekannt. Aber durch Eltester erfuhr Baranoff, daß dein Professor sich mit Giften abgebe, daß er Morphinist sei, daß er sich viel mit okkulten Phänomenen beschäftige. Und dann sei da noch etwas… Aber da wollte der Apotheker nicht weitersprechen, wir haben dann nur noch später aus Andeutungen erfahren, daß es hier in Genf eine Art geheimen Ordens gebe, das hat uns nicht weiter interessiert – die Nichtstuer des kapitalistischen Regimes müssen doch irgendeinen Zeitvertreib haben. Aber die Erzählungen des Apothekers, zusammen mit anderen Mitteilungen, die Baranoff erhielt, nämlich, daß der Professor Schulden habe, genügte uns, um den Professor in der Hand zu haben. Nun begann Baranoff die Vorlesungen des Professors zu besuchen, machte sich an ihn heran, lud ihn einmal zum Abendessen ein, stellte sich als ein Korrespondent der ›Prawda‹ vor, der über das Laboratorium des Professors einen Artikel zu schreiben gedenke, erzählte viel von Rußland, lud den Professor ein, am dortigen psychologischen Forschungsinstitut einen Vortrag zu halten. Dominicé ging aus seiner Reserve heraus. Baranoff wurde eingeladen, ihn einmal besuchen zu kommen. Und Baranoff ging hin, nahm mich mit.«

Natascha schwieg eine Weile. Sie hatte mit einer neutralen Stimme gesprochen. Während des Schweigens wälzte sich Jakob zur Seite, er stützte den Kopf in die Hand und betrachtete seine Freundin wie einen fremden Menschen.

»Für den alten Mann ist dies ein böser Abend gewesen. Und ich muß gestehen, daß er mir leid getan hat. Aber was soll ich mit Mitleid anfangen, wenn das Schicksal eines ganzen Landes auf dem Spiele steht? Wir hatten erfahren, daß der englische Diplomat, der hier die Interessen eines indischen Randstaates vertritt, irgend etwas gegen uns plante, und wir wußten nicht genau, was es war. Er hatte Besprechungen mit den Vertretern von Buchara und Turkestan, es ging gegen uns, das war alles, was wir wußten. Wir mußten irgendwie an Crawley herankommen. Nun gingen wir also zum Professor, ich wurde als Sekretärin vorgestellt.«

Jakob gähnte. Die Blätter über seinem Kopf waren grün-durchscheinend, wie fein ausgewalzte Goldplättchen. »Muß ich soviel Politik lernen?« fragte er faul. »Es wäre doch viel schöner, hier zu liegen und an nichts zu denken. Aber du verlangst, daß ich mir den Kopf über deine rätselhaften Geschichten zerbreche. Denn ich sehe noch gar nicht ein, wie ich dir helfen soll. Kannst du nicht einfach sagen: tu dies, tu das. Oder willst du nicht lieber mit meinem Bruder, dem Advokaten, sprechen? Der weiß in solchen Dingen viel besser Bescheid.«

»Das geht nicht. Manchmal wirst du alleine entscheiden müssen, und dann kann ich nicht immer hinter dir her sein, wie dein Kindermädchen.«

»Natascha«, seufzte Jakob, »du wirst mich hoffnungslos kompromittieren. Mein Bruder Isaak ist ein guter Mann, aber wenn er erfährt, daß ich mich mit kommunistischen Agenten herumtreibe, wird er mich aus dem Haus jagen. Nun, das ist ja gleich. Du nimmst mich dann nach Rußland mit und wir heiraten. Vielleicht hast du mich dann bekehrt.«

Aber Natascha lachte nicht. »Was willst du in Rußland machen? Alles, was du bis jetzt gelernt hast, wird dir gar nichts nützen. Auch die Sprache kennst du nicht. Vielleicht wäre es doch eine Rettung für dich. Du würdest wenigstens nicht hier in aller Bequemlichkeit verfaulen, ohne Ziel und Zweck.«

Jakob schien aufzuwachen. »Ja, ein Ziel«, seufzte er, und seine Stirnhaut war dabei komisch gewellt. »Erzähl weiter, Natascha.«

»Du bringst mich ganz durcheinander. Also, vor zwei Monaten, an einem Abend, haben wir beide den Professor besucht. Er empfing uns sehr freundlich, seine Haushälterin, diese Jane Pochon, brachte Tee und Rum und kleine Schokoladenkuchen, dann ging sie wieder hinaus und wir blieben allein. Übrigens, die Haushälterin kannten wir schon, wir hatten uns an einen ihrer Mieter herangemacht, einen gewissen Nydecker, und auf den waren wir auch durch den Apotheker gekommen.«

Natascha schwieg wieder. Es schien Jakob fast, als enthalte dieses Schweigen ein wenig Verlegenheit, und er betrachtete seine Freundin erstaunt, weil er sie nie unsicher gesehen hatte. Sie fuhr fort:

»Baranoff ging zuerst unter den erstaunten Blicken des Professors zur Tür, öffnete sie, um nachzusehen, ob niemand horche, und dann begann die Unterhaltung. Er kann sehr grausam sein, mein Mitarbeiter. Zuerst warf er dem Professor an den Kopf, daß er Morphium nehme, und daß er ihn ohne weiteres an der Universität unmöglich machen könne, wenn er diese Tatsache publik mache. Der Professor war ganz verstört und fragte, was er denn getan hätte, um so behandelt zu werden. Baranoff antwortete nicht und wartete, bis sich der Professor ein wenig beruhigt hatte. Dann kam der zweite Schlag. ›Sie haben Schulden‹, sagte Baranoff und zählte die Gläubiger auf. ›Wenn ich nun all diesen Leuten verrate, wieviel Sie im ganzen schuldig sind, so kommen Sie wegen Betrug ins Gefängnis.‹ Es nützte dem Professor nichts, zu erklären, er habe das Geld doch für wissenschaftliche Zwecke gebraucht, er selber sei doch bedürfnislos, er habe sein Geld verloren, weil er zu vertrauensvoll gewesen sei, bei einem Bankkrach. Baranoff sagte trocken: ›Gewiß, Sie werden nicht lange im Gefängnis bleiben, man wird Sie in eine Irrenanstalt verbringen und dann in ein Altersheim.‹ Der Professor erholte sich, er lächelte sogar. ›Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber mit diesem Ausweg ist es auch nichts‹, fuhr Baranoff mitleidlos fort. ›Sie denken an Selbstmord. Aber das können Sie nicht. Sie sind religiös erzogen worden, Sie haben in Ihren Abhandlungen soviel schönes ethisches Zeug verzapft, daß Sie doch daran glauben müssen. Die letzte Hemmung werden Sie nicht überwinden können.‹ Da nickte der Professor traurig: ›Sie werden wohl recht haben‹, flüsterte er.«

Jakobs Kinn hing ein wenig blöde herab, aber er lauschte mit einer qualvollen Aufmerksamkeit. Er fragte:

»Und du bist dagesessen und hast kein Wort gesagt? Du hast zusehen können, wie man diesen alten Mann so gequält hat?«

»Mein lieber Junge, ich habe soviele derartige Szenen erlebt, daß ich mit der Zeit unempfindlich geworden bin. Glaubst du, daß eine Operationsschwester Mitleid mit jedem Patienten haben kann, der unter dem Messer stöhnt? Das sind Reaktionen, denkt sie vielleicht, und ich denke das gleiche. Ich saß daneben, mit meinem Block auf den Knien und wartete, bis mir Baranoff das Zeichen zum Nachschreiben geben würde. Denn das alles war ja nur die Einleitung. Dann kam der dritte Schlag. Baranoff warf dem Professor vor, er habe an seinen Schülern, und ohne deren Wissen, mit Giften herumexperimentiert (das stimmt nämlich, und zwei davon waren einmal ziemlich krank geworden, aber ohne den Zusammenhang zu ahnen). Aber, daß jemand davon wußte, erschütterte den Professor so sehr, daß er in ein haltloses Weinen ausbrach. Baranoff ließ die Krise vorübergehen. Da tat er mir zum ersten Male leid, denn plötzlich legte der alte Mann seinen Kopf an meine Hüfte – ich stand neben ihm, der saß, – so, als ob er Schutz suchen wollte bei mir und ich hab ihm, ganz ohne es zu wollen, das Haar gestreichelt.«

»Du bist doch ein guter Kerl, Natascha«, sagte Jakob und drückte seine Lippen auf die weiche Haut der Ellbogenbeuge. Aber seine Freundin wehrte ab.

»Das sind Sentimentalitäten, aber es ist eben immer so: bei den ärgsten Greueln bleibt man kalt, aber wenn plötzlich an ein tiefes Gefühl appelliert wird, ist man hilflos und leidet mit. Aber Baranoff wurde ungeduldig. ›Also, hören Sie‹, sagte er scharf – und da fuhr der Professor zurück und packte die Armlehnen seines Stuhles, wie ein Patient, der sich beim Zahnarzt auf das Ausreißen eines Zahnes vorbereitet – ›wir haben in Erfahrung gebracht, daß der indische Delegierte, bei dem Ihr Schüler Crawley Sekretär ist, die Ausarbeitung seiner Vertragsentwürfe eben diesem Crawley überläßt. Nun scheint sich aber Crawley mehr mit Psychologie als mit Diplomatie zu beschäftigen. Wir aber brauchen die Vertragsentwürfe, verstehen Sie? Nun werden Sie Crawley erzählen, daß Sie im Begriffe seien, Ihre Notizen zu sammeln und Sie möchten diese Arbeit gleichzeitig in französischer und englischer Sprache herausgeben. Dazu aber bedürften Sie seiner Mithilfe. Er wird Ihnen einwenden, daß er von seinem Vorgesetzten zu sehr in Anspruch genommen würde. Da sagen Sie dann, Sie wüßten ihm eine gute Entlastung. Sir Bose gebe ihm doch seine Entwürfe immer in Stichworten, die könne er doch einem andern schnell diktieren. Sie, Professor, wüßten einen vertrauenswürdigen Menschen, der ihm, Crawley, einen Teil der Arbeit abnehmen würde. Und Sir Bose brauche ja von der ganzen Geschichte nichts zu erfahren. Der Vertrauensmann, den Sie ihm empfehlen werden, wird seine Instruktionen von mir erhalten. Sie brauchen sich dann um die ganze Geschichte nicht mehr zu kümmern.‹ – ›Und wer soll dieser Vertrauensmann sein?‹ fragte der Professor. ›Ein gewisser Nydecker‹, sagte Baranoff, ›ein ehemaliger Staatsangestellter, der augenblicklich arbeitslos ist.‹ – ›Nydecker?‹ fuhr der Professor auf. – ›Kennen Sie ihn denn?‹ – Der Professor schwieg, und Baranoff wollte nicht weiter fragen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er mehr Interesse gezeigt hätte. ›Wenn Sie das zustande bringen, Professor, so zahlen wir Ihnen vorläufig 5000 Franken, um aus Ihren ärgsten Schulden herauszukommen. Sobald wir den wichtigsten Vertrag in Händen haben, stehen Ihnen weitere 5000 zur Verfügung.‹«

Jakob seufzte schwer auf. Es schien ihm, als habe die Sonne ihre ganze Helligkeit eingebüßt. Die Frau neben ihm war ihm fremd und verhaßt, er starrte sie an, und sie fühlte den Haß. Aber sie war auf Tapferkeit trainiert und außerdem hatte sie noch Trümpfe in der Hand, man konnte sie vielleicht psychologische Trümpfe nennen, von denen der naive Junge nichts wußte.

»Nachdem Baranoff seine Rede gehalten hatte«, fuhr sie fort, »schwieg er. Der Professor saß steif in seinem Lehnstuhl, sein Bart zitterte. ›Mein Herr‹, sagte er, ›was wagen Sie mir vorzuschlagen? – Ich soll einen ahnungslosen Gentleman (er sagte Gentleman), der nicht nur mein Schüler ist, sondern auch noch Vertrauen zu mir hat, einfach verraten?‹ – ›Professor‹, antwortete ihm Baranoff, ›Sie verwechseln die Zeiten. Wir leben jetzt im dritten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts und nicht mehr am Ausgang des neunzehnten. Damals hat man noch Phrasen gemacht. In Ihren moralisierenden Broschüren macht sich dieser sogenannte Idealismus vielleicht noch gut, aber heutzutage regieren die Tatsachen. Die Tatsachen aber sind folgende: Sie haben Schulden, Sie sind Morphinist, Sie haben unerlaubte Experimente gemacht. Nehmen Sie an – nehmen Sie nicht an, mir kann's gleich sein. Ich finde schon andere Wege, um ans Ziel zu kommen. Aber ich mache Ihnen einen guten geschäftlichen Vorschlag, nicht, weil Sie mir besonders sympathisch sind, sondern weil dies ein leichterer Weg für mich ist. Nehmen Sie nicht an… bitte. Dann erscheint morgen in der ›Tribune‹ oder in der ›Suisse‹ ein anonymer Artikel über Sie. Tun Sie, was Sie wollen. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, sagen die Deutschen, und die müssen es ja wissen, denn sie haben seit etwa einem Jahrhundert den Himmel metaphysisch exploriert.‹ Der Professor kehrte sich ab. Er legte den großen Kopf auf die Schreibtischplatte, sein Haar schimmerte unter der Lampe – es sah ein wenig nach Pose aus, aber vielleicht war es doch echt, wenigstens zuckten seine Schultern so, als unterdrücke er ein Schluchzen. Dann hob der Professor wieder den Kopf. ›Gut‹, sagte er nur, ›einverstanden.‹ Vor der Türe knackte etwas. Baranoff sprang auf, riß die Türe auf. Es war dunkel im Gang, niemand zu sehen. ›Es ist ein altes Haus‹, sagte der Professor, ›die Dielen knacken oft.‹ Baranoff sah ihn mißtrauisch an. ›Schläft Ihre Haushälterin manchmal in der Wohnung?‹ – ›Jane? Nein. Die ist schon lange fortgegangen. Ich habe gehört, wie sie die Wohnungstür abgesperrt hat.‹ ›Dann haben Sie schärfere Ohren als ich. Schreiben Sie‹, sagte Baranoff dann zu mir. Er diktierte rasch eine Zusammenfassung der Unterredung, die einem Geständnis gleichkam. Ich hatte meine Maschine mitgebracht, und schrieb das Ganze ins Reine. Baranoff und der Professor unterzeichneten. ›Ein Exemplar erhalten Sie, eins behalte ich, das dritte deponiere ich an einem sicheren Ort, mit der Weisung, es der Staatsanwaltschaft einzusenden, falls mir plötzlich etwas zustoßen sollte. Ich habe meine Erfahrungen gemacht mit Leuten, die sich gerne mit Giften beschäftigen‹, sagte Baranoff noch. ›Sie haben jetzt auch eine Waffe gegen mich in der Hand, Sie können mich wegen Erpressung anzeigen, aber Sie werden es wohl nicht tun.‹ Jetzt war wieder deutlich das Knacken draußen vor der Türe zu hören. Aber wieder war der Gang leer, als Baranoff die Tür aufriß. ›Das gefällt mir nicht‹, sagte er. ›Wir wollen gehen.‹ Das war die erste Szene dieses Trauerspiels.«

4

Die Voirons, jener Höhenzug, der aussieht wie ein behaglich hingelagerter Riese, über und über schwarz behaart, schickten Windstöße als Botschafter zum See, um ihm zu verkünden, der Abend sei nahe. Langsam stand Jakob auf, wie ein Mann, den man mit einem schweren Sack bepackt hat und der sich nun aufrichten muß. Er machte ein paar Schritte – sehr unsicher waren sie – bis zu den ersten Stämmen der Lichtung, kehrte dann wieder zurück und ließ sich zu Boden fallen. Natascha packte die mageren Knabenschultern. »Siehst du«, sagte sie, »das war das Schwerste, was jetzt kommt, ist nur halb so schlimm. Und dann kann ich dir auch sagen, wie du mir helfen kannst. Wenn du es noch willst.«

Sie ließ ihre Hände über die Schultern zum Hals wandern, dann hielt sie den Kopf gepackt, drehte ihn, trotz seines Sträubens, zu sich und blickte lange in die Augen Jakobs. Der Blick hatte eine sonderbare Wirkung, Jakob riß sich los, begann zu weinen, das Gesicht ins Gras vergraben. »Mein Kleiner«, sagte die Frau, »tut es weh? Ja, es tut vielleicht weh, wenn man Bilder zertrümmert, aber es ist sicher notwendig. Du hast immer so vom Professor geschwärmt, vom ›Meister‹, wie du gesagt hast, und mich hast du auch anders gesehen, nicht wahr? Ist es das?« Jakob nickte eifrig, ein trockenes Schluchzen ließ die hervorstehenden Schulterblätter auf und ab hüpfen. Natascha hob wieder Jakobs Kopf, sie küßte die geschlossenen Augen, nahm ihnen die Tränen weg. Ihre Lippen waren weich, auch die Haut ihrer braunen Arme. Jakob wurde ruhig.

»Und nun willst du mich hassen?« sagte die Frau, die in Genf unter dem Namen Kuligina auftrat, die Agentin Dreiundachtzig, die sich Mühe gab, Politik und Liebe auf einen Nenner zu bringen, die vielleicht (wir wissen es nicht, aber anzunehmen wäre es ja) die Genossen Uljanoff und Braunstein persönlich gekannt hatte, – und vielleicht hätten diese asketischen Genossen sich aufgeregt, daß die Agentin der proletarischen Internationale mit einem Jungen schäkerte, denn Sentiment und Liebe sind eine Zerstreuung für indolente Bourgeois, und entbehren jeglicher aufbauenden Eigenschaften, – aber trotz aller dieser Erwägungen müssen wir feststellen, daß besagte Natascha eigentlich ganz zufrieden war. Sie war ja nicht so gar viel älter als dieser junge Rosenstock, vier – fünf Jahre vielleicht, sie benahm sich infantil, gewiß, aber schließlich ist die Liebe eben noch eine der wenigen Situationen, in denen man sich mit gutem Gewissen kindlich benehmen darf. Darum sagte Natascha auch: »Der kleine Junge haßt die böse alte Hexe, die Menschen quälen läßt und sich daran erfreut. Ist es nicht so?« Jakobs Lachen war darauf noch feucht, mit Schluchzen vermischt. »Du hast es doch für deine Überzeugung getan, und nicht für Geld«, stotterte er. »Vielleicht habt Ihr auch das Recht, so zu handeln, oder?«

»Das ist gleichgültig«, Natascha wurde wieder ernst. »Ich muß noch fertig erzählen. Der Professor hat seinen Vertrag gehalten, bis kurz vor Crawleys Tod. Da ist eine Veränderung mit ihm vorgegangen, plötzlich war nichts mehr mit ihm anzufangen, es war, als hätte er plötzlich einen neuen Rückhalt bekommen. Baranoff konnte drohen, so viel er wollte, er erhielt immer die gleiche Antwort: ›Bitte, tun Sie, was Sie nicht lassen können.‹ Und Baranoff konnte nicht einmal mit seinem unterschriebenen Dokument herausrücken, sonst hätte er sich selbst bloßgestellt; dieses ganze Geständnis des Professors war ja eigentlich nur eine Waffe, solange sich der Professor unsicher fühlte, und plötzlich benahm er sich sicher. Er ließ Baranoff von einer Bank zehntausend Franken überweisen, er hatte auf einmal Geld, und wir konnten nicht herausbringen, woher. Eltester, der Apotheker, wurde schweigsam, es war, als ob er vor irgend etwas Angst hätte, er ließ sich verleugnen, wenn Baranoff ihn besuchen wollte. Ich habe dann Crawley überwacht und zugleich den Professor, die beiden waren fast immer zusammen, aber jeden Tag sind sie mir auf eine oder zwei Stunden entwischt, und ich konnte nicht herausbringen, wo sie hinverschwunden waren. Und dann kam das Merkwürdigste. Nydecker, der für Crawley immer noch die Vertragsentwürfe abschrieb, brachte uns an einem Tag die Abschrift eines merkwürdigen Dokumentes: Vertragsentwurf zwischen dem indischen Randstaat, in dem der alte Bose Landverweser ist, und… du wirst es nie erraten – und Moskau. Baranoff lief zur Delegation, die wußte gar nichts von der Sache. Also machte sich jemand lustig über uns. Nydecker war darauf verschwunden. Wir haben ihn gesucht, er hatte sein Zimmer bei jener Jane Pochon, der Haushälterin des Professors. Nie war er daheim – wenigstens behauptete es die Frau. Und wie sollten wir ihre Aussagen kontrollieren? Dann kam Crawleys geheimnisvoller Tod. Ich bin am nächsten Tag ins Spital gegangen, um zu sehen, wie es dem Jungen geht. Aber ich habe nichts erfahren können. Dann, einige Tage später, an einem Abend, habe ich Eltester besucht, das heißt, ich wollte ihn besuchen, aber der Laden war geschlossen, ich habe geklopft, aber niemand hat mir Antwort gegeben. Durch die geschlossene Tür habe ich ein merkwürdiges Singen gehört, so, wie in unsern alten russischen Gottesdiensten klang es, das Singen; gegen Morgen bin ich dann noch einmal hingegangen, aber da war alles still. Am Abend haben wir dann erfahren, Eltester sei ermordet worden. Und das Schwierigste für mich ist folgendes: Ich habe gemerkt, daß Baranoff gegen mich arbeitet. Er weiß etwas, und das sagt er mir nicht. Heute hat uns ein Engländer besucht, und da hat Baranoff sehr merkwürdig gesprochen. Einen Teil der Wahrheit gesagt, einen Teil verschwiegen. Als der Engländer dann fort war, hat Baranoff telephoniert. Er hat etwas von einem ›Meister‹ verlauten lassen, und ich habe nicht verstanden, wen er damit gemeint hat. Nur, daß du den Professor ›Meister‹ nennst, hat mich auf den Gedanken gebracht, daß vielleicht doch der Professor hinter der ganzen Sache steckt. Er hat ja gewußt, daß Nydecker für uns arbeitet, und Nydecker ist jetzt im Irrenhaus, verrückt geworden, darum haben wir ihn nicht gefunden. Aber auch hinter dieser Verrücktheit steckt etwas. Ein sonst normaler Mensch, – und dieser Nydecker war ein harmloser Bursche, – hatte ein wenig überspannte religiöse Ideen, – nein«, sagte sie plötzlich fest, »der Professor ist es nicht, denn Baranoff will ja den Professor auffliegen lassen. Es muß da noch ein anderer ›Meister‹ sein. Also, du mußt mir helfen. Ich kann nicht zu dem englischen Journalisten gehen, du mußt deinem Bruder, dem Advokaten, sagen, er soll sich des Professors annehmen, Baranoff will ihn hochgehen lassen, ich habe heute einen anonymen Brief schreiben müssen, an die Staatsanwaltschaft, und dann hat Baranoff noch telephoniert…«

»Ich verstehe gar nichts mehr«, unterbrach da Jakob. »Das Ganze kommt mir wie ein ungeheurer italienischer Salat vor, du mußt klarer sein, Natascha, wenn ich dir helfen soll.«

»Mein Gott«, sagte Natascha, »wie spät ist es?« Sie grub aus ihrer Handtasche eine kleine Uhr. »Schon sechs! Wir müssen in die Stadt zurück. Ich will dir sagen, was du tun sollst. Du mußt den Professor überzeugen, daß er sich an deinen Bruder wendet, und ihm alles erklärt. Du mußt dem Professor sagen, daß er den englischen Journalisten um Hilfe angehen soll, und in der Irrenanstalt sollen sie auf ihren Patienten aufpassen, auf den Nydecker; wirst du dich daran erinnern? Ich weiß, morgen gibt es eine große Aktion, ich möchte sie verhindern. Der Professor, ich will nicht, daß ihm etwas geschehen soll. Also, du weißt, was du zu tun hast?«

»Sei ruhig, Natascha, ich will schon alles machen.«

»Und du weichst nicht von des Professors Seite.« Natascha schauderte leicht. »Zwei Sterbende schon habe ich sehen müssen, ich will keinen dritten mehr sehen.«

»Ruhig, Natascha, ich werde schon alles machen.«

»Manchmal glaub' ich, ›sie‹ – wie Baranoff immer sagt –sind hinter mir her.«

Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Blätter der Lichtung, die Heuschrecken hatten die Motoren ihrer Doppeldecker abgestellt. Der Abend schien daran zu denken, seinen hellen Anzug gegen einen dunkleren zu vertauschen. In der Lichtung war es still geworden.

Gräser sind geduldig. Wenn sie zu Boden gedrückt werden, richten sie sich wieder auf, und wenn der Abendtau sie nicht zu trösten vermag, so tut dies der Morgentau.

Jakob sagte leise: »Ich will dir schon helfen. Also, ich soll… , aber das kannst du mir ja noch einmal auf dem Heimweg sagen. Ich will dir helfen«, bekräftigte er, »auch wenn ich draufgehen sollte.«

»Nicht…«, sagte die Frau, »wer wird denn von Draufgehen sprechen. Ich werde ja da sein.«

Jakob schnaubte befriedigt; es befriedigte ihn offenbar, beschützen zu dürfen und doch der Beschützte zu sein.

Das Tram, das von Jussy in die Stadt zurückführt, muß um viele Kurven. Es schüttelt ihre Insassen gehörig durcheinander, denn die Schienen gehen manchmal über Felder oder über gesenkte Straßenstellen. Dieses Schütteln braucht nicht immer unangenehm zu sein. Und dann ist der Wagen, der um viertel vor sieben Uhr abfährt, meistens leer, ein flüsterndes Paar fällt nicht auf. Der Kondukteur hat genug mit der Abendausgabe seines Leibblattes zu tun, es kümmert ihn nicht, um was das Flüstern sich dreht. Um Politik oder um Liebe. Vielleicht um beides, aber das ist ihm ja gleichgültig.


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