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Lös erwachte neben dem kleinen Kanal; in seinem Kopf war es klar, nur seine Augen schmerzten ihn, und die Angst, die zeitweise, am vorigen Abend, in seinem Körper gezittert hatte, war jetzt im Unterleib geballt. Sein Mund war ausgetrocknet, darum tauchte er die Lippen in das laue Wasser der Segula und trank in langen Zügen; es störte ihn nicht, daß das Wasser nach faulendem Gras schmeckte. Die Mauern und der helle Kies des Hofes zeigten eine hellrosa Färbung, denn die Sonne verbarg sich noch hinter dem Dache des Weinschuppens. Als Lös aufblickte, sah er neben sich den alten Kainz liegen, der mit offenem Mund schnarchte. Er versuchte ihn zu wecken, aber das verlangte viel Mühe und Zeit. Das Schnarchen verstummte zwar sogleich, aber die Lider schienen in der Nacht zusammengewachsen zu sein, man sah das Spiel ihrer feinen Muskeln. Als sie endlich aufgingen, taten sie es nur widerwillig, klappten auf und zu, selbst das gedämpfte Licht mußte die Augen schmerzen. Endlich war der alte Kainz hellwach und begann sofort die Geschehnisse der verflossenen Nacht zu erörtern; die milde Weisheit und die abgeklärte Erfahrung seines Alters standen ihm hilfreich zur Seite:
»Also schön war's, Korporal, und mit der Alten hab i mi gut unterhalten. Schad, die hätt zu mir paßt; so grad das richtige Alter, und i hätt nimmer Angst haben brauchen, daß sie mir mit am anderen durchgangen wär.« Dann erkundigte er sich nach Lös' Abenteuer. Als er erfuhr, daß sein Korporal nur geschlafen habe, dort in der kahlen Zelle neben der Frau, war Kainz nicht sonderlich erstaunt. Ja, meinte er, es seien eben nicht alle gleich. Und natürlich! – die Ansteckung! Darum wäre es besser so. Der Major in Rich sei saugrob mit denen, die etwas derartiges aufgelesen hätten, lache sie aus und schicke sie, kaum geheilt, in die Kompagnie zurück. Er (Kainz) wisse einen Fall… Aber er brach gleich ab und wollte wissen, wieviel der Chef sich habe bezahlen lassen für die Hälfte der Ausgaben. (Denn Kainz hatte gelauscht.) Lös wußte es nicht mehr genau. Er zog darum seine Brieftasche heraus, eine rote Brieftasche mit geflochtenen Lederornamenten, wie man sie bei den Händlern hier zu kaufen bekam, und stellte bedrückt fest, daß ihm nur eine einzige Zwanzigernote übriggeblieben war. Dreißig mußte der Chef bekommen haben. Das erregte den alten Kainz. Er habe schon gedacht, daß Lös sich von dem fetten Scheinheiligen habe übers Ohr hauen lassen. Aber Lös tröstete den Aufgeregten. Der Jude käme heut mit der Schafherde, da seien zweihundert Franken sicher. Ob Kainz sich aufs Wiegen verstehe? Kainz lachte, zog mit dem Zeigefinger sein rechtes Unterlid tief in die Wange und wollte wissen, ob Lös ihn nie angeschaut habe und ihn vielleicht für einen heurigen Hasen halte. Er sei noch schlauer als der Jude, und er wolle die Waage so deutlich sprechen lassen, mit der Fußspitze, daß der Jehudi auch mit einer Brille zu kurz komme…
Lös hatte sich ausgezogen und nahm in der Segula ein Bad. Der alte Kainz sah ihm zu, schüttelte den Kopf: er fand, es sei ein hoffnungsloses Unternehmen, den Schmutz und den Schweiß vom Körper zu waschen; nach einer halben Stunde sei man ja wieder genau so dreckig wie vorher.
Er wolle noch ein wenig schlafen, teilte er gähnend mit (während Lös sich anzog und vorschlug, zur Küche zu gehen, um Kaffee zu trinken), legte sich dicht an die Mauer des Weinschuppens, um von der Sonne möglichst lange verschont zu bleiben, und schnarchte nach ein paar Minuten wieder.
Als Lös vors Tor des Postens trat, stand dort Pullmann und sah arg verkatert aus. Auf Lös' freundlichen Gruß erwiderte Pullmann nur mit einem zerstreuten Fluch, der dem Schnaps der Verpflegung galt; Salpetersäure sei er und verbrenne den Magen. Aber dies wurde ohne die richtige Überzeugung festgestellt, Pullmanns Gedanken schienen mit anderem beschäftigt, denn er stellte die folgende, in diesem Zusammenhang schwer verständliche Frage: wie lange Lös wohl glaube, daß ein Maultier ohne Futter laufen könne. Lös wußte es nicht. »Und da sagen die Leute immer, daß du so viel weißt. Ein verdammter Idiot bist du!« blies ihn Pullmann an. »Aber wenn ich erfahre, daß du jemandem erzählt hast, was ich dich jetzt gefragt habe, so schlag ich dich ungespitzt in den Boden hinein.«
Lös ging achselzuckend weiter. Wenn Pullmann von der Stahlkassette und einer Flucht träumen wollte, was ging's ihn an? »Schläft der Leutnant noch?« fragte er statt einer Antwort. Pullmann gab ein bejahendes Knurren von sich.
Korporal Smith hatte die Schneiderwerkstatt ausgeräumt: vor der Türe lag die Nähmaschine in einem Haufen von Uniformstücken. Dies Ausräumen war stets die Krönung eines Rausches. Auch diese Nacht, wie schon oft, hatte Lös versucht, Smith zu beruhigen. Aber es war umsonst gewesen; der Schneider hatte ein Messer gezogen und stumm gedroht, denn sprechen konnte er nicht mehr. Da hatte auch der Chef gefunden, es sei besser, den Betrunkenen gewähren zu lassen.
Wenn Smith ausräumt, tut er dies mit angespannter Gewissenhaftigkeit: jedes Stück faßt er behutsam mit den Fingerspitzen, hält es weit von sich und trägt es aus der Werkstatt, legt es sorgfältig auf den Boden und trampelt darauf herum. Dann faßt er es wieder sorgfältig mit den Fingerspitzen, betrachtet es aufmerksam, schüttelt es aus und wirft es gegen die Mauer. Mit allen Uniformstücken, die ihm zum Ausbessern übergeben worden sind, macht er es so, bis an der Mauer ein großer Haufen liegt. Als letztes Stück kommt die Nähmaschine dran, aber die ist schwer. Smith überlegt zuerst, ob er Hilfe verlangen soll und sieht die Zuschauer der Reihe nach an, ob sie würdig sind, ihm beizustehen. Denn das Ausräumen ist eine heilige Handlung, der Ernst von Smiths Gesicht bürgt dafür und die sakrale Einförmigkeit der Bewegungen. Er packt die Nähmaschine, hebt sie, bis die Platte sein Kinn berührt und trägt sie mit kurzen Schritten (weil das Pedal bei breiterem Ausschreiten seine Schienbeine verletzen würde) aus der Türe. Der Aufbau ragt vor seinem Gesichte auf, und er gleicht einer jener Königsstatuen, die das Modell einer von ihnen erbauten Kirche bis in alle Ewigkeit tragen müssen. Die Nähmaschine wird abgestellt und mit einem Fußtritt umgeworfen. Die anderen sehen stumpfsinnig zu, der Chef hat sich schon lange davongemacht. Nach der Säuberung schreitet Smith auf Lös zu, er will einen tiefsinnigen Spruch von sich geben; verzweifelt arbeiten die Muskeln, um die Lippen voneinander zu lösen – aber der Mund ist versiegelt. Da schlägt sich der Schneider mit geballter Faust auf den Brustkasten; er hat tief eingeatmet, um die Resonanz zu vergrößern, und hält den Atem an. Und während er, steinern schreitend, wie der erwachte Komtur, in seine Werkstatt geht, fährt er fort, seine Brust mit der Faust zu bearbeiten. In der Mitte des Raumes bleibt er stehen – ein letzter starker Schlag auf seine Brust – und läßt sich zu Boden fallen. Das soll wohl bedeuten: nur ein Mensch kann mich fällen – ich selbst.
Als Lös an diesem Morgen in die Hütte trat, lag Smith noch auf dem gleichen Fleck. Sein Gesicht war friedlich, und sein Atem ging fast lautlos. Lös schüttelte den Schlafenden, und mit einem Ruck richtete sich Smith auf, als habe er nur auf diese Berührung gewartet, streifte wiederholt unsichtbare Spinnweben von seiner Stirn, gab es dann auf, ließ seine Blicke durch die leere Werkstatt schweifen und sagte, fragend und feststellend zugleich: »Ausgeräumt?«
Sein Gesicht wurde ängstlich, wie das eines Kindes, das Prügel fürchtet. Tränen traten in seine großen Augen, er versuchte diese Schwäche durch Übertreibung zu verbergen, indem er laut losplärrte, den Unterarm vorm Gesicht. Dann schneuzte er die Nase mit zwei Fingern, fragte, ob der Leutnant schon auf sei, und war beruhigt, als Lös den Kopf schüttelte. Er ließ seine feisten Wangen freudig hüpfen, wackelte mit Ohren und Nase, ließ sich zurückfallen, rollte zur Türe hinaus, stand auf und begann die Uniformstücke auseinanderzuklauben, zu glätten und in der Werkstatt sauber auf den großen Tisch zu schichten, der dem Ausräumen nur deshalb widerstanden hatte, weil seine Füße in die Erde eingelassen waren. Lös half. Die Nähmaschine war unversehrt. Beide schwitzten, als sie fertig waren.
Vor der Küchentür schenkte Veitl Kaffee aus. Bitter beklagte sich soeben der Chef, daß Mehmed, seine Ordonnanz, so faul sei; er habe sich geweigert, ihm, seinem Chef, den Kaffee ans Bett zu bringen, unter dem Vorwand, er müsse die nächste Nacht auf die Wache ziehen. Und dabei zahlte er dieser Ordonnanz zwanzig Franken im Monat. Überhaupt war der Chef gereizt, seine Gesichtshaut war grau. Den beiden Ankömmlingen schickte er einen bösen Blick entgegen und erwiderte nicht das Grinsen des Einverständnisses, das sie sich erlaubten.
Baskakoff strich schnuppernd umher, und, zum Chef gewandt, stellte er wiederholt und angriffslustig fest: »Es stinkt nach Schnaps!« Als er an Smith vorbeikam und auch hier seine Feststellung anbrachte, wurde ihm entgegnet, er könne dies ja gar nicht feststellen, da sein Inneres dermaßen verfault sei, daß jede Fliege im Umkreis von drei Meter von diesem Gestank getötet würde. Und als Baskakoff diese Beleidigung mit einem Fußtritt gegen Smith' Schienbein erwidern wollte, fing Lös das vorschnellende Bein ab, riß es an sich, so daß Baskakoff den Halt verlor und auf Smith fiel, der ihn mit beiden Ellbogen zurückstieß. Der heiße Kaffee spritzte Baskakoff ins Gesicht, hart setzte sich der Küchenkorporal auf den Boden und blickte mit verzerrtem Gesicht auf Lös: »Warten Sie nur, Korporal, ich schreibe das zu dem andern. Einmal rechnen wir ab.« Erstand auf und humpelte davon. In einer versteckten Ecke kicherte Mehmed.
»Wie geht es Frank?« Mit dieser Frage trat der Chef vor Lös. Er wisse es nicht, antwortete dieser, er habe seinen Kranken noch nicht besucht. Der Chef tat baß erstaunt: Dies sei wohl ein Irrtum des Korporals? Ob er richtig verstanden habe: Noch nicht besucht? Und am Abend vorher sei der Major angeläutet worden? Was das eigentlich heißen solle? Beliebe der Korporal sich über seine Vorgesetzten lustig zu machen? ›Welche Mühe er sich gibt, um seine Familiarität von gestern auszulöschen!‹, dachte Lös und lächelte unwillkürlich. Dies Lächeln verwundete den Chef, er zog alle Register seines Hohnes, und seine Füße schienen die Pedale einer Orgel zu treten. Zum Glück hemmte der alte Kainz durch sein Erscheinen den Fortlauf der Rede. Aber auch er wußte nichts Erfreuliches zu berichten. Pumperlg'sund sei der Frank, er klage über Hunger und wolle aufstehen. Nur durch Androhung, er bekomme fürchterliche Prügel und werde dann ins Cachot gesperrt, hätte ihn Kainz überzeugen können, liegen zu bleiben und dem Major etwas vorzuwimmern. »Unser schöner Typhus«, klagte der alte Kainz, »So gfreut ham mer uns. Ja, Korporal, es schaut bös aus, und du bist der Blamierte. I hab dir's ja gestern schon g'sagt.« Der Chef ließ sich die Meldung übersetzen, und seine Haltung wurde darauf ganz dienstlich. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Korporal, Sie müssen sehen, wie Sie sich aus der Affäre ziehen. Außerdem muß ich Sie bitten, meine direkten Untergebenen, ich habe dabei besonders den Korporal Baskakoff im Auge, rücksichtsvoller zu behandeln.«
Der alte Kainz nickte verständnisvoll zu den Worten des Chefs, deren Sinn er verstand, und als dieser geendet hatte, sagte er laut und deutlich, mit einem innigen Lächeln, so als gebe er dem Chef seine ungeteilte Zustimmung: »Du dreckiger Fallott, du Hosenscheißer.« Da Veitl an der Küchentür laut auflachte, sah sich der Chef mißtrauisch um, blickte Kainz scharf in die Augen, der jetzt nur: »Oui, bon, Chef«, sagte, mit einem so naiv bewundernden Ausdruck, daß der Chef sich kurz umdrehte und davonschritt. Sein Wippen gelang nicht wie sonst, es war ein wenig unsicher geworden. Aber Baskakoff hatte die Worte, die ihn in Schutz nahmen, mit einem tiefen Atemzug eingesogen. Er wuchs sichtlich und ließ als Zeichen des Triumphes seine abstehenden Ohren rot leuchten.
Auf Smith übten die Worte des Chefs eine unerwartete Wirkung aus: er rückte von Lös ab, zweimal grub er seine Absätze in den Boden und zog sich nach, wie ein vollgesogener Blutegel an seinem Saugnapf. Aber des alten Kainz deutlich gezeigte Verachtung ließ ihn innehalten: seine Wangen wurden zu zwei reifen Pfefferfrüchten, er pfiff die Anfangstakte von Tipperary und benutzte die eingegrabenen Absätze, um sein Gesäß wieder zurückzuschieben. Aber die anderen hatten keine Rücksicht zu nehmen. Veitl verschwand in der Küche, Mehmed in einer Baracke, und Baskakoff zeigte Befriedigung. Kainz hatte seinen Kaffee getrunken. Er half Lös beim Aufstehen, faßte ihn unter und zog ihn mit sich fort. Aber die scharfe Stimme Leutnant Mauriots traf die beiden von hinten und ließ sie mit einem Ruck herumfahren. Lös machte seinen Arm frei.
Der Leutnant war stehengeblieben. Sein Ruf gellte noch einmal über den Hof. Und mit derselben gellenden Stimme, die auch beim Schreien ihr Näseln nicht verlor, fuhr er fort: »Auf was warten Sie, Korporal, wenn ich Sie rufe?« Und von Baskakoffs lautem Kichern verfolgt, setzte sich Lös in Trab, blieb drei Schritte vor der weißen Gestalt stehen und grüßte.
»Seit wann ist es gestattet, daß ein Gradierter mit seinen Untergebenen Arm in Arm geht?« Offenbar verlangte der Leutnant keine genaue Zeitangabe auf diese Frage, denn er fuhr sogleich fort. »Das hat aufzuhören. Und was hat es zu bedeuten, daß der Bäcker in Ihrer Kammer, in Ihrem Bett liegt? Hat er nicht sein eigenes Quartier? Ich muß mich immer mehr über die Freiheiten wundern, die Sie sich in letzter Zeit erlauben. Also antworten Sie. Halt«, sagte er, als Lös sprechen wollte, »ich weiß, daß mich gestern abend jemand stören wollte, um mir mitzuteilen, es sei ein Mann erkrankt. Ich bitte Sie, wenn ich schlafe, kann meinetwegen der ganze Posten verrecken, ich will schlafen, verstehen Sie – und merken Sie es sich für ein anderes Mal. Also bitte…«
Lös erzählte, daß er Frank nach den Symptomen, die er gezeigt habe, für typhusverdächtig gehalten und deshalb eigenmächtig an den Herrn Major[Ärzte und Intendanzoffiziere nennt man in der französischen Armee ›Monsieur‹ und läßt darauf die Bezeichnung Major oder Intendant folgen, mit vorgesetztem Artikel; es ist dabei gleich, welchen militärischen Rang sie bekleiden: ob Unterleutnant oder Oberst, sie werden Monsieur le Major oder Monsieur l'Intendant genannt.] in Rich telephoniert habe. Dieser sei einverstanden gewesen, heute noch zu kommen, um nach dem Kranken zu sehen. Dem Kranken aber gehe es viel besser, und er, der Korporal, fürchte nun, daß der Herr Major die Belästigung übelnehmen werde. Lös stand während seiner ganzen Rede in vorschriftsmäßiger, steifer Haltung, den kleinen Finger an der Hosennaht, die gestreckten, flachen Hände nach vorn gekehrt. Die Zeit, die verstrich, nährte seine Angst. Bisweilen schüttelte ihn ein leichter Frostschauer, und der stechende Schmerz von gestern nistete sich wieder in seinem Kopfe ein. Er fühlte sich feige und dem kommenden Unglück ausgeliefert. Was mochte wohl drohen? Kriegsgericht oder Disziplinarkompagnie? Es wurde stündlich schwerer, die Unsicherheit zu ertragen. Im Augenblick war er überzeugt, daß der Leutnant ihn verschicken werde, in den nächsten Tagen, vor der Rückkehr des Capitaines. Um so erstaunter war er, als er die Blicke auf das Gesicht des Leutnants hob. Es war freundlich anerkennend und trug ein kleines Lächeln um den Mund. Die Hände auf dem Rücken hielten wie gewohnt den Rohrstock aufrecht und ließen ihn gegen den Rand des Korkhelms einen fröhlichen Rhythmus trommeln. »Gut so«, lobte der Leutnant, beschrieb mit langsamen, kleinen Schritten einen Kreis um Lös, nickte wiederholt anerkennend und verlieh dieser Anerkennung auch Worte. – Man sei ja ein ganz strammer Soldat, wenn man nur wolle, aber der Wille fehle meistens, nicht wahr? Nun… Ruhen!
Lös ließ den rechten Fuß nach vorne gleiten. Also Lös habe Angst, weil er den Major umsonst gerufen habe? Wenn dies wirklich der einzige Grund seiner Furcht sei, so möge er sich beruhigen. Er, Leutnant Mauriot, werde die Sache schon zur Befriedigung aller regeln. Im Gegenteil, dieser Besuch des Majors sei eine ausgezeichnete Sache. Glaube Lös vielleicht, es sei immer lustig, so ganz allein, ohne Kameraden, in einem Posten zu leben, und niemand zu haben, mit dem man ein Glas Wein trinken und ein vernünftiges Wort reden könne? Wenn Lös ein wenig klug gewesen wäre, so hätte sich ihr gegenseitiges Verhältnis viel angenehmer gestalten können. Lös müsse nicht meinen, daß nur Lartigue fähig sei, ein Gespräch zu führen. Mauriots Stimme war gar nicht mehr näselnd und eintönig. Ein knabenhafter Eifer ließ sie natürlich klingen, er hob und senkte sie in der deutlichen Bestrebung, zu überzeugen, und sei es auch nur einen Untergebenen. Dennoch zitterte in ihr Eifersucht und Trotz. Lös fühlte dunkel, der Leutnant werde ihn nach dieser Rede noch mehr hassen, weil er sich vor einem Untergebenen hatte gehen lassen. Nun fuhr der Leutnant fort, Bergeret käme ja heute; er, Mauriot, wolle versuchen, die Eigenmächtigkeit des Korporals dem Arzte gegenüber zu entschuldigen. Eben wollte Lös erwidern, daß dies nicht nötig sei, aber er hielt noch rechtzeitig inne, durfte abtreten, grüßte mit flach nach vorne gekehrter Hand, machte rechtsumkehrt und ging davon; den Blick des Leutnants fühlte er wie ein unangenehmes Kitzeln zwischen den Schulterblättern.
Müde setzte sich Lös in den schmalen Schatten, den seine Hütte auf den Boden des Hofes warf, zog die Beine an, stützte das Kinn auf die Knie und starrte die blendende Mauer an. Er konnte nicht denken: die Luft war zu heiß, das Licht zu grell, die Müdigkeit der Nacht warf flimmernde Tücher über seine Augen. Sein Mund war trocken und seine Zunge ein verdorrtes Blatt. Trotzdem schien ihm das Aufstehen eine viel zu große Anstrengung; und wenn er an den Geruch eines alkoholhaltigen Getränkes dachte, wurde ihm übel. Seine Füße glitten nach vorn, er sank gegen die Mauer zurück und schloß die Lider. So saß er lange, bis etwas Warmes und Feuchtes seine Wange liebkoste: es war Türk, der mit vorsichtiger Zunge die Backe seines Herrn leckte, mit schlenkernder Vorderpfote Ergebenheit beteuerte. Das war tröstlich, und Lös versuchte, dem Hund zu erklären, was so schwer zu verstehen war.
Türk stieß ein leises Jaulen aus, weil Lös ihn ins Ohr gekniffen hatte, schüttelte den Kopf, bellte heiser, und begeistert trommelte er mit den Pfoten auf der Schulter seines Herrn. Aber plötzlich packte ihn Raserei: ein Araber war im Hof der Verpflegung erschienen, ein Araber mit nackten Waden und einem zerschlissenen Mantel, der sich ängstlich mit einem Bambusstecken Türk fernhielt. Zweimal mußte Lös pfeifen, der Zorn riß den Körper des Hundes in gewaltigen Schwüngen vorwärts, doch der Gehorsam siegte, ein blinder Gehorsam…
Zuerst verstand Lös die Worte des Jungen gar nicht, so laut war noch Türks Gekläff. Aber dann gelang es ihm, des Hundes Unterkiefer zu packen, und da beruhigte sich Türk, wedelte treuherzig und gab durch ein nachdrückliches Räuspern zu verstehen, daß er sich ruhig verhalten wolle.
»Caporal Administration!« Der Junge legte die Hand auf die Brust und ließ seine Zähne leuchten. Umständlich wiederholte er Zenos Botschaft: sie wolle heut abend Kuskus kochen und habe dazu zwei Hühner geschlachtet. Der Korporal müsse kommen. Lange sei der Korporal nicht mehr bei seiner Frau gewesen. Auch die Frau von Leutnant Lartigue komme. – Die Frau des Leutnants besucht die Frau des Korporals, eine richtiggehende Teevisite, dachte Lös lächelnd und er versprach zu kommen. Der Junge verstaute ein Kilo Zucker in seiner Kapuze, drohte Türk mit dem Stock (der Hund blinzelte in die Sonne, er hatte verstanden, um solche Leute kümmerte man sich am besten nicht) und ging pfeifend zum Tor hinaus.
Frank rief aus der Hütte und wollte wissen, ob der Korporal ihm nicht etwas zu essen geben wolle. Er habe Hunger und wolle aufstehen. Ob er denn ganz verrückt sei, fuhr ihn Lös an, der Major könne jeden Augenblick kommen, Frank solle nur ja im Bett bleiben und ordentlich wimmern und über Schmerzen klagen. Aber Frank war bockig, er wollte aufstehen, denn er hatte Angst, seinen Druckposten zu verlieren. Er schluchzte laut, und die Tränen hatten Mühe, durch das Gewimmel der Bartstoppeln ihren Weg auf das schmutzige Kissen zu finden. Lös mußte trösten, versprechen, die Stelle nicht mit einem andern zu besetzen. Er prüfte den Puls des Kranken, die Schläge waren müde und klopften einen verworrenen Takt: wie ein Erschöpfter, der das Ziel in nächster Nähe sieht und versucht, ein kurzes Stück zu laufen; aber die Kraft reicht nicht mehr aus, er zieht lange, schleppende Schritte, läuft wieder ein Stück, doch das Ziel ist verschwunden, und nun behält er den einmal begonnenen Rhythmus aus Erschöpfung bei. Franks Haut war kühl, Fieber hatte er wohl keines mehr. Die Hornhaut der Augen war gelb. Lös schlug die Decke zurück und betastete den nackten Bauch, rechts, über dem Vorsprung des Beckenknochens. Frank wimmerte leise unter der Berührung.
»Du mußt dann fest schreien, wenn der Major auf diese Stelle drückt. Mit der Leber ist sicher etwas nicht in Ordnung, also ganz blamiert hab ich mich doch nicht.« Lös ordnete die Bettdecke, lief hinaus und kam mit einem feuchten Tuch zurück; damit wischte er über Franks Gesicht. Kaum war er fertig, da hörte er zwei Stimmen, die näher kamen, eine hohe, die schnelle Worte formte, und eine tiefe, die wie mit Gongschlägen die erste begleitete. Die Tür flog auf, Lös riß seine Policemütze vom Kopf und stand stramm.
»Nun, nun, Korporal, stehen Sie bequem; Sie sehen ja ganz bleich aus, haben Sie Angst vor mir? Ich will Ihnen nichts tun. Ja, das Herz, dieses gefräßige Herz; bei der kleinsten Aufregung saugt es alles Blut aus dem Kopf. Ha, ha, hooo.« Zwei kurze, harte Schläge, der dritte sanft ausklingend, so tönte Major Bergerets Lachen.
Manchmal sind Bärte Masken, die ein nichtssagendes Gesicht mit Bedeutung behängen: die langen Bärte, die bis zur Mitte der Brust wallen und dazu bestimmt sind, ein fliehendes Hühnerkinn zu verbergen; Samotadjis spitz zulaufender und des Chefs lockig wuchernder Bart gehörten in diese Kategorie. Doch anders sind die dünngewachsenen, strähnigen Bärte, die nichts verbergen; die Rundung des Kinns schimmert zwischen ihnen durch, sie sind eine kleine humoristische Verzierung, und ihr Besitzer hat sie auch so gewollt. So war Major Bergerets Bart, den er hatte wachsen lassen, um eine Wette um zwei Flaschen Champagner zu gewinnen, die er vor fünf Monaten mit dem Capitaine an einem fröhlichen Abend eingegangen war. Chabert hatte an Bergerets Mut gezweifelt: »Nie wirst du die Geduld haben, in einer Woche wirst du wieder glatt rasiert herumlaufen.« Die Wette war schon lange gewonnen, seufzend hatte Chabert die Flaschen bezahlt. Aber Bergeret freute sich an den gewellten Fransen, die sein Kinn umsäumten: sie waren so brauchbar, wenn die Hände unbeschäftigt waren, er konnte sie um die Finger wickeln, ihr Ende dann als Pinsel benützen, um sich im Nasenloch zu kitzeln, er konnte daran saugen, kurz, sie waren ein bewährtes Mittel gegen grundlose Verlegenheit geworden, die ihn manchmal überfiel.
Heute ließ Bergeret seinen Bart in Ruhe. Der Ritt hatte ihn gestärkt.
»Allzu schlimm scheint es ja nicht zu sein«, er hielt schon das Handgelenk des Kranken zwischen zwei Fingern, »Leutnant Mauriot hat mir schon erzählt von Ihrem diagnostischen Fehlurteil, Korporal. Nun, das brauchen Sie nicht tragisch zu nehmen. Was, ein Typhus, das wäre so etwas nach Ihrem Herzen gewesen! Ich habe das gestern an Ihrer Stimme erlauscht, die so freudig geklungen hat. Also Typhus ist es nicht. Nun, laßt uns sehen, was es sonst sein könnte.«
Die Untersuchung ging schweigend weiter. Aber Frank benahm sich sehr dumm. Sobald der Arzt irgendeine Stelle des Unterleibs berührte, wimmerte er leise und nachdrücklich. Als Bergeret jedoch herzhaft auf die Stelle drückte, rechts gerade oberhalb des Beckenknochens, stieß Frank einen langgezogenen, hohen Schrei aus, der wie das erstickte Plärren eines Babys klang. Türk benützte diese Gelegenheit zu einem Angriff auf die Reitstiefel des Arztes, ein leicht abzuwehrender Angriff, denn Türk beruhigte sich sogleich, als Bergerets Hand seinen Kopf streichelte. Nur Leutnant Mauriot war wieder einmal unzufrieden: woher der Hund komme, und ob Lös die Erlaubnis habe, einen Hund zu halten, wollte er wissen. Aber Bergeret verscheuchte die Gereiztheit mit einer höflichen Frage: Mauriot habe doch auch einen Hund gehabt, einen kleinen Fox, wenn er sich recht erinnere. Was denn aus diesem geworden sei? Er habe sich überfressen vor ein paar Tagen, aber heute gehe es ihm wieder besser, und er wolle ihn gegen Abend mitnehmen auf die Jagd, erwiderte der Leutnant.
»Ja«, sagte Bergeret nach einer stummen Pause und quirlte sein Stethoskop zwischen den Handflächen, nahm dann einen alten Hornzwicker aus der oberen Tasche seines Uniformrockes und setzte ihn mit einer breiten Bewegung auf seinen Nasensattel. »Leberkrank ist dieser junge Mann entschieden. Ganz entschieden. Fragt sich nur, welche Erkrankung hier in Frage kommt.« Er blickte jedem eingehend ins Gesicht, als seien diese Gesichter medizinische Werke, aufgeschlagen auf Stehpulten liegend. »Ich weiß, was wir machen«, er schraubte umständlich die obere Scheibe des schwarzen Gerätes in seiner Hand ab und ließ es in eine Seitentasche gleiten. »Ich werde den jungen Mann da einfach mit nach Rich nehmen, und dort werde ich ihn ganz genau untersuchen, in seinem Urin nachforschen nach Zucker, Eiweiß oder nach sonst nicht dorthin gehörenden Stoffen. Sehr gut. Und dann werden wir ihn für die Reform vorschlagen. Für die Reform.« Er setzte mit der Faust einen ausdrucksvollen Punkt an den Schluß seiner Rede.
Bei dem Wort ›Reform‹ fing Franks Gesicht an, sich zu verziehen. Es war zuerst nicht klar, ob er weinen wollte. Aber dann zog sich der Mund in die Breite, die Augen öffneten sich weit und wurden leuchtend: er stotterte: »Oh, Reform, oui, oui« mit einer vor Glück zitternden Stimme wie ein Kind, dem man die Gewährung eines unerfüllbar gedachten Wunsches verspricht.
»So sind die Leute nun«, sagte der Major und wischte mit den kurzen Fingern Falten aus seiner Stirn. »Nie sind sie zufrieden. Und doch haben sie es sicher besser bei uns als in ihrer Heimat. Was erwartet sie dort? Hunger und Elend. Hier sind sie gekleidet, gefüttert, der Lohn langt, spärlich zwar, für Zigaretten und Wein. Und nun wollen sie dies glückliche Leben eintauschen gegen eine zweifelhafte Zukunft, in einem Lande, dem sie längst entfremdet sind. Sie glauben nicht«, dabei wandte er sich an keinen bestimmten Zuhörer, sondern sprach in die Luft hinaus, »ein wie kompliziertes und schwer definierbares Gefühl das sogenannte Heimweh ist. Gewiß, auch ich sehne mich manchmal nach dem schwarzen Himmel von Lyon, dessen Farbe sich entschieden nicht mit der azurnen Bläue dieses Himmels vergleichen läßt. Sehen Sie, auch in den seelischen Zuständen des Heimwehs herrscht entschieden das große ökonomische Gesetz von Angebot und Nachfrage vor. Um dem Angebot der ›Reform‹ gerecht zu werden, läßt sich der Körper bestimmen, Schmerzen zu erdulden, ich möchte sagen: zu produzieren; ich bin mir klar, daß ich mich sibyllinisch ausdrücke, aber das tut nichts.«
Und nach einer echt ärztlichen Gebärde den Kranken an der Schulter packend und ihn gelinde schüttelnd, empfahl sich Herr Major Bergeret.
Leutnant Mauriot ließ dem Arzte den Vortritt, wandte sich noch einmal um und rief unnötig laut: in einer Stunde kämen die Kartoffeln, er erwarte den Korporal zum Wiegen, und der Korporal solle nicht vergessen, was gestern abgemacht worden sei; die Zahlen deutsch anzugeben, und außerdem bei jedem Gewicht mindestens fünf Kilo abzuziehen. Für die Erde, fügte er erklärend bei, da Major Bergeret erstaunt zurücksah.
»Und ich kann mir in die Hände spucken, während du das Geld einsackst«, brummte Lös. Er ging noch schnell ins Dorf, vorbei an Smith, der die Wache hatte und dessen Gesicht wieder in unerschütterlicher Befriedigung glänzte. »Wenn du dann schreibst meine Charakteristik, darfst du nicht hineinsetzen den Abend von gestern. Ich will es schicken einem Freund«, rief er Lös nach.
Der Jehudi war einverstanden, nach langen Klagen, erst am nächsten Tag zu kommen. Aber daß der Leutnant dann wahrscheinlich abwesend sein würde, gab den Ausschlag. Lös entschuldigte sich, ohne Hochmut, eher tief betrübt ob seiner Vergeßlichkeit, daß er nichts für das Kind mitgebracht habe. Oh, diesem ginge es besser, versicherte der Jehudi. der Schächter habe geraten, die kranken Augen mit feuchtem Lehm zu bestreichen und nasse Tücher darüberzubreiten. Das habe gewirkt. Im Kinderzimmer aber roch es noch immer nach zersetztem Urin. Bleich und still lag der Knabe in seinem Korb, auf einer Strohschicht, bedeckt mit einem rauhen Leinentuch. Fliegen krochen auf seiner Stirn, aber seine Ärmchen waren zu schwach, die lästigen Tiere zu vertreiben. Nur die Stirnhaut runzelte sich wie bei unterdrücktem Weinen.
Im Tor zum Posten stand Korporal Smith, hielt das Gewehr waagrecht vor der Brust und drängte schwatzende und kreischende Gestalten zurück, die gegen ihn anrannten. Kleine Esel trugen Tragsäcke rechts und links und schrien mit, laut und klagend, wie gereizte alte Männer.
Nur mühsam konnte sich Lös durch die zäh-flutende Masse winden, ein Esel schlug aus und traf ihn schmerzhaft oberhalb des Knies.
Als er durch den Hof ging, kam gerade Mauriot aus der Tür seines Zimmers, sein kleiner Fox lief ihm zwischen die Beine, so daß er stolpernd vorwärtsstürzte. Lös fing ihn auf, der Leutnant dankte fluchend, aber in Lös blieb ein stolzes Gefühl zurück. So sehr er versuchte, sich auszulachen – es gelang ihm nicht. Etwas in ihm erlaubte sich eine erschütternde Fröhlichkeit: er hatte doch dem Menschen, den er haßte und fürchtete, einen Dienst erwiesen, er hatte ihn in den Armen gehalten…
Mürrisch und leise gab Mauriot seine Anordnungen: Smith solle die Leute hereinlassen. Halt! Lös kam zurückgelaufen. Zuerst nachsehen, ob alles in der Verpflegung bereit zum Empfang sei: die Waage, der alte Kainz zur Assistenz. Lös lief. Schweißbedeckt kam er zurück. Zitternd vor Eifer meldete er, daß alles in Ordnung sei. – Nun, so solle er am Tor das Nötige veranlassen.
Auf Lös' Anruf (er mußte schreien, um verstanden zu werden) trat Smith beiseite und wurde von der gackernden, meckernden, quietschenden Menge gegen die Mauer gedrückt. Er war knallrot im Gesicht, und seine Lippen bewegten sich bebend.
Vor dem Fleischschuppen stand die Waage. Im Schuppen selbst saß der Leutnant barhaupt im Kühlen, sein braunes Haar wellte sich auf dem langen, schmalen Schädel. Der kleine Hund kauerte auf dem Boden und rieb seine Schnauze an den Tennisschuhen; der abbröckelnde Talk brachte ihn zum Niesen.
»Anfangen!«
Der Leutnant gähnte. Anfangen! Das war leicht gesagt. Die Waage wurde von allen Seiten belagert, das Schnattern der vielen Stimmen brach sich an den Mauern, der alte Kainz teilte schwache Fußtritte aus, um wenigstens um die Waage einen leeren Raum zu schaffen. Es gelang nicht. Erst als Smith noch wütend, weil seine Uniform zerknittert worden war, die Menge von hinten angriff und mit der Spitze des Bajonetts in einige Hinterteile stach, verstummte, nach einigen besonders hohen Schreien, der Lärm; Gruppen bildeten sich. Die Leute, die ihre Säcke auf dem Rücken herbeigeschleppt hatten, legten einen Wall vorn um die Waage, der den Eseln den Zutritt versperrte. Dreimal wurden die Leute betrogen: der alte Kainz wollte sich für das Wiegen der Schafe die nötige Übung verschaffen, daher hielt er die eine Fußspitze diskret unter die Platte, auf der die Säcke standen, und stieß sie nach oben. Dann las Lös ab »Dreiundzwanzig« rief er auf deutsch. Mauriot notierte achtzehn. Der Waagebalken gab achtundzwanzig Kilo an.
Nach einer Stunde lag ein viereckiger Kartoffelhaufen mitten im Hof. Die Erde, die abgefallen war, bedeckte den Boden wie eine Schicht kleiner brauner Schuppen. Aber mit der Feuchtigkeit, welche sie an die Luft abgab, verlor sie ihre Farbe, wurde hellgelb, weißlich, bis sie der Mittagswind als Staub über den Kies des Hofes verstreute und sie in die Augen der Menschen und Tiere trieb.
Während die Menschen deswegen in verschiedenen Sprachen fluchten, sich ungeduldig und weinerlich die Augen rieben, ließen die kleinen Esel, mager, grau, mit roten Wunden am Rist, nur die Lider klappen, und blinzelten dann mit den langen schön gebogenen Brauen in die wieder klar gewordene Luft.
Der Leutnant befahl »Antreten«: keiner der vier konnte arabisch. Jedoch Smith's Bajonett, des alten Kainz heiserem Schimpfen und dem Gekläff der beiden Hunde (Türk war aufgewacht und gab sich Mühe, den Rekord des lauten Bellens zu schlagen) gelang es schließlich, eine vielfach gebrochene Linie herzustellen. Endlose Diskussionen um den ersten Platz… Zwei Juden, die der Leutnant während des Kaufes hatte ausweisen lassen, da sie sich zu gut auf Gewicht und Zahlen verstanden, hetzten keifend vom Tore aus; sie hockten auf ihren noch gefüllten Säcken, und ihre schwarzen Kegelmützen saßen auf dem Hinterkopf. Smith unternahm es, sie endgültig aus dem Posten zu vertreiben. Ihre Bemerkungen waren während der Auszahlung nicht erwünscht.
Silber klimperte in dem kleinen Säckchen, das Mauriot in der Hand hielt. Die Augen der vielen waren auf dieses Säckchen gerichtet, bekamen metallenen Glanz und traten vor in den angespannten Gesichtern mit den o-förmig geöffneten Mündern. Der erste wurde ausbezahlt und schnatterte; sobald der zweite sein Geld erhalten hatte, fiel er ein, ein dritter kam dazu, und als der Leutnant am Ende der Reihe stand, schrien sie alle, fuchtelten – Hände, mager und sehnig wie Krallen, packten Arme, klemmten sich in die geschlossene Faust des Nachbars, die Geld barg, eine Prügelei begann zwischen dreien, die sich zum Transport zusammengetan hatten. Der Leutnant trat zurück; arg bedrängt wurde er von sechs hohen Gestalten, eine Klaue streckte sich nach dem Säckchen aus, das noch zur Hälfte gefüllt war. Smith vermochte die Menschenmauer nicht zu durchbrechen, der alte Kainz sabberte vor Aufregung. Aber der Leutnant zog ruhig (Lös stand dicht hinter ihm und sah unbeteiligt den Vorgängen zu, die Hände in die Taschen vergraben) seinen kleinen Revolver aus der Tasche und feuerte zweimal in die Luft. Eine plötzliche Stille entstand. Türk rutschte furchtsam auf seinem Bauche rückwärts, während der Fox, in die Wade eines Arabers verbissen, nur leise knurrte.
Dann war nur noch das leise Getrappel nackter Füße zu hören und das Klatschen der Stöcke auf den Flanken der Esel. Eine Staubwolke rollte zum Tor hinaus, hinter der hustend, aber dennoch gravitätisch, mit dem Gewehr in den Fäusten, das im blitzenden Bajonett endigte, Korporal Smith marschierte. Sein dickes Babygesicht glänzte schweißig und stolz.
Mauriot wandte sich an Lös, die glatte Oberlippe war in Falten gezogen und zeigte die regelmäßigen Zähne, gut gepflegt und nur vom Rauchen schwach gelb getönt: »Das hätte Ihnen wohl gepaßt, Korporal«, sagte er mit seiner leisen, näselnden Stimme, »wenn mir etwas zugestoßen wäre. Sie haben nicht die Hand gerührt, wissen Sie, ich habe auch am Hinterkopf Augen. Hehe.« Ein schmächtiges Lachen, das ganz zu der kleinen Gestalt paßte. »Ein Unglücksfall wäre es gewesen und niemand hätte Sie mehr belästigt. Nicht wahr?«
Lös zuckte die Achseln. Der ganze frühere Eifer hatte sich nicht gelohnt. Aber so einfach, wie der Herr Leutnant es sich vorstellte, war es nicht gewesen. Wenn wirklich die Gefahr groß gewesen wäre, hätte er eingegriffen, das wußte er.
»Ich rette viel eher einen Menschen, den ich hasse, als einen, dem ich zugetan bin«, sagte er leise und wunderte sich, daß er so ohne jegliche Furcht sprechen konnte.
Aber der Leutnant war nicht für psychologische Feinheiten zu haben. »Haarspaltereien bringen Sie am besten bei Lartigue an«, sagte er schroff. »Ich habe gesehen, daß Sie mit den Händen in den Taschen dagestanden sind, als ich in Gefahr war. Das genügt mir. Was Sie getan hätten, interessiert mich nicht.«
Er wandte sich ab. Lös mußte ihm recht geben. Er hatte dem Leutnant den Tod gewünscht, das war sicher, er konnte es nicht leugnen. Er hatte nicht eingegriffen, das war auch eine Tatsache. Mit Tatsachen hieß es sich auseinandersetzen und nicht mit Spekulationen.
Der Leutnant schien eine Antwort zu erwarten. Wenigstens stand er barhäuptig in der Sonnenhitze, untersuchte gesenkten Blickes den Kies, in dem sein Stock wühlte, seufzte auf, sah Lös kurz an. Er wollte wohl einlenken, aber dann schien ihn dieser Vorsatz zu ärgern. Er klopfte mit dem Stock gegen seine Hosen, nickte einen kurzen Gruß und pfiff seinem Fox. Dieser Pfiff zwang auch Major Bergeret, der eben über den Hof ging, zum Stillstehen. Die beiden erreichten sich, Mauriot lief in sein Zimmer und kam mit dem Tropenhelm auf dem Kopfe wieder zurück. Dann gingen sie in der Richtung des ›Bureau arabe‹ davon, Capitaine Materne hatte sie wohl zum Mittagessen eingeladen.
Obwohl der alte Kainz ein paar gebratene Hühner gekocht hatte und diese kunstgerecht auf einer braunen irdenen Platte servierte, ließ Lös das einladende Essen stehen und ging gedankenlos zwischen den glühenden Baracken spazieren. Niemand zeigte sich, selbst die Wache am Tor hatte sich in der Hitze aufgelöst. Ein wenig später kam der Leutnant allein zurück, er wollte auf die Jagd gehen, holte seine Flinte; Mehmed begleitete ihn, trug eine gelbe Ledertasche und die Feldflasche. Der Fox sprang mit und bellte. Auch Türk wollte sich der Expedition anschließen, er fegte mit dem Bauch über den Boden, daß der Staub in einem schmalen Strich hinter ihm aufwirbelte, aber der Leutnant empfing ihn mit einem Fußtritt, der Türk wie eine Walze fortrollen ließ. Lös sprang vor, um seinem Hund zu helfen und den Quäler zu strafen: zwei Sprünge nahm er, da sah er die goldenen Schnüre auf den Ärmeln des Leutnants aufleuchten. Kriegsgericht, dachte er, sah einen hohen Saal mit strengen Männern an einem Tisch, dann eine Ebene, auf der gebückte Gestalten in zerrissenen Kleidern Steine klopften. Hitze und Durst, ein Aufseher schlug mit einem Gummiknüttel einen Rücken wund, in der Ferne standen Schwarze in Uniform, grinsten und legten Gewehre an. Lös' Füße wurden lahm, er stockte und streichelte Türk, der bekümmert antrabte, bedrückt vom höhnischen Anglotzen Mauriots. Dann zogen sich Herr und Hund in die Verpflegung zurück, in den schmalen Schatten des Weinschuppens. Schnell begoß Türk noch die Kartoffeln, mit heraushängender Zunge schnaufte er dabei, dann legte er sich neben seinen Herrn und beide schliefen ein.
Und beide träumten. Türk knurrte, schnappte nach Waden, rächte sich für den empfangenen Fußtritt, schnaufte erlöst und ließ ein tiefes befriedigtes Grunzen hören. Aber die Unruhe seines Herrn weckte ihn, er besah diesen aufmerksam, hörte ihn laut stöhnen, sah ihn um sich schlagen, zusammenfahren und dann ununterbrochen zittern, als müsse er frieren oder an einem schrecklichen Orte ausharren, gepeinigt von Angst. Da bellte Türk laut vor dem Ohr des Schlafenden, wie um seine Hilfe anzubieten in großer Not, stieß mit seiner Schnauze gegen die Wange, und als all dies nichts nützte, trommelte er mit den Vorderpfoten auf der unruhig wogenden Brust. Lös erwachte, blickte verstört um sich, aber es war nur Hitze um ihn und neben dem Dachvorsprung, dessen Balken braun und rissig waren, die blaue Glasplatte des Himmels. Dankend fuhr er dem Hund über den spitzen Kopf und versuchte die Angst loszuwerden, die als Rest des Traumes immer noch vorhanden war.
Er sprang auf und lief davon, um dem Alpdruck zu entgehen, vorbei an der Wache am Tor, die ihm etwas nachrief, das er nicht verstand. Er hatte den Mann gar nicht erkannt. »Fieber hab ich«, tröstete er sich laut, »das ist der Grund für die schweren Träume.« Er versuchte, sie zusammenzusetzen, aber sie waren schon verweht. Sie handelten von Nägeln und von Bohlen, die auf einem Flusse trieben; an diesen schwimmenden Bohlen waren die Füße eines Mannes angenagelt, der am Ufer saß…
Er hatte den Eingang des Ksars erreicht. Im Schatten des Tores saß Zeno, und es sah aus, als habe sie tagelang an dieser Stelle gewartet. »Labés, Caporal!« rief sie, zaghaft erschien ihr rauhes Händchen. – Sie habe gestern und heute den ganzen Tag hier gesessen, erklärte sie, und es war kein Vorwurf in ihrer Stimme, nur ein Bedauern über die vielen verlorenen Stunden. Es schien Lös, als sehe er sie zum erstenmal deutlich: sie war ein Mensch und nicht nur eine Gestalt seiner Vorstellung. Und dieses plötzliche, ein wenig erschreckende Sichtbarwerden steigerte die Unruhe, die der Traum hinterlassen hatte. Er zwang sich zu Lustigkeit, um ihr zu antworten: »Schuia, schuia«, was die korrekte Erwiderung ihres Grußes war. (Wie geht's? – So ziemlich.) Er folgte ihr durch die dunklen Gänge, die mit Hitze gefüllt waren, mit summenden Fliegenschwärmen und einer dicken, schier flüssigen Luft, die in die Lungen sickerte als klebriger Schaum; nachher war die Weite der Terrasse wie Höhenluft. Ein mageres Mädchen in kurzem, hemdartigen Gewand stand in der Mitte der Plattform, die Hände im Nacken verschränkt, und starrte in den Himmel.
Zeno erklärte, dies sei Leutnant Lartigues Frau. Sie langweile sich so, seit die Kompagnie fortgezogen sei. – Ein längliches Gesicht wandte sich Lös zu, eine Hand streckte sich ihm eifrig entgegen, ein hohes Lachen ließ die Lippen von den Zähnen zurückschnellen, die wie winzige Dominosteine aussahen. Das Mädchen setzte sich auf den Boden, schlug ein Bein übers andere und zeigte, ohne falsche Scham, ihre wohlgeformten Schenkel.
So ein guter Mann sei der Leutnant, ihr Freund, aber er sei fort und habe sie ganz allein gelassen. Sie sprach ein fast fehlerloses Französisch, und Zeno sah die Freundin bewundernd an. Auch Lös tat die offene Kameradschaftlichkeit wohl, mit der er empfangen wurde. Zeno lehnte sich an ihn, er hielt ihre weiche Schulter in seiner Hand – Türk aber schloß sogleich Freundschaft mit der Fremden, die keinen Abscheu vor ihm empfand, wie ihn sonst die Einwohner vor Hunden zeigten.
Lös begann zu erzählen: Von den Unannehmlichkeiten der letzten Tage, vom Leutnant, der ihn quäle, vom Chef, der ihn ausnütze. Zeno brachte Tee, sie erzählte, ihr Vater arbeite im Garten, den der Korporal gekauft habe. Lös wußte nicht, wie er die Fremde anreden sollte. Ein paarmal nannte er sie: »Mademoiselle«, was beide Mädchen zum Lachen brachte. Sie habe ihren Namen vergessen, erklärte Lartigues Freundin. Der Leutnant nenne sie Alice, und sie habe diesen Namen gern, der Korporal solle sie nur auch so nennen. Nach dieser Vorstellung schüttelten sie sich lachend die Hände, Zeno stimmte ein.
Aber, sagte Alice, sie wolle einen guten Rat geben. Lös solle acht geben, Zeno dürfe kein Kind bekommen, das sei gefährlich. Sie machte ein ernstes Gesicht. Man könne ja nicht wissen, wie lange der Korporal in Gourrama bleibe, wenn er dann fortgehe und das Mädchen da (sie streichelte Zenos Schulter und berührte dabei, wie unabsichtlich auch Lös' Hand) ein Kind erwarte, so sei das bös. Oh, auch bei ihr sei es einmal beinahe soweit gewesen, aber sie sei zu einer alten Frau hier in der Nähe gegangen.
Er wolle schon für Zeno sorgen, versicherte Lös, so gut er könne; aber vielleicht brächten schon die nächsten Tage neue Verhältnisse (er sagte es lachend, das Kriegsgericht hatte auf einmal jeden Schrecken verloren, es war eine Abwechslung, aber keine einschneidende, sicher nicht!), doch dann wolle er Zeno unter des alten Chaberts Schutz stellen. – Nein, nein! Davon wollte Alice nichts wissen. Wenn da jemand helfen müsse, so käme einzig Leutnant Lartigue in Frage. Das sei ein anständiger Mensch, während der Capitaine ein alter Satyr sei, man kenne ihn wohl. Zeno stimmte bei. Traurigkeit zerknitterte ihre Gesichtshaut. Sie umklammerte mit dem Arm Lös' Schenkel, als könne sie den Mann schützen und festhalten. Für Lös war diese Bewegung tröstlich, und die Sorge um das kleine Mädchen löste wohltuend die Angst ab, die er vor seinem eigenen Schicksal empfand.
Aber eine sonderbare Zweideutigkeit schien sich über die Geschehnisse zu breiten: so, als erlebe er sie nicht zum erstenmal, sondern als seien sie nur eine Wiederholung von früher Erlebtem. Wo hatte er nur diese magere Mädchengestalt schon gesehen, die so eifrig und lachend über Dinge sprach, die sonst verschwiegen wurden? Auch Zeno sah altbekannt aus, und die Dirne gestern hatte auch ihr Ebenbild in einer nicht allzu fernen Vergangenheit. Alicens gelles Lachen weckte ihn. Sie trug ein Paar rote Pantoffeln und Türk hatte einen von diesen geraubt. Den schleppte er triumphierend, immer wieder zurückschielend, an den Dachrand, warf ihn in die Höhe, fing ihn mit dem Maul auf, verbiß sich knurrend in das Leder, wich, wenn man ihm zu nahe kam, mit jugendlicher Behendigkeit aus und ließ sich endlos um die Terrasse jagen. Alle drei nahmen an der Jagd teil. Türk war behend, und das Lachen trübte die Geschicklichkeit der Jäger. Zeno mußte sich setzen, ihre Augen standen voll Tränen, ihr Lachen drang mit keuchenden ›Hi‹-Lauten zwischen ihren Lippen hervor. Da kam Türk gravitätisch, mit zitterndem Schwanz herbei und legte den Pantoffel in Zenos Schoß. Dann ließ er sich ermüdet hinfallen, seine Zunge hing ihm aus dem triefenden Maul, aber hoch trug er den Kopf, denn er war stolz, zur Erheiterung der Gesellschaft beigetragen zu haben.
Die Sonne stand schon tief, als Lös aufbrach. Er könne nicht versprechen, diese Nacht zu kommen, aber er wolle es versuchen, setzte er hinzu, als er Zenos Traurigkeit sah. Die Mädchen begleiteten ihn bis an den Oued, dann kehrten sie zurück. Oft wandten sie sich um, winkten… Dann verschwanden sie im dunklen Tore des Ksars.
Einsam war der Abend. Lös versuchte zweimal, den Posten zu verlassen – es gelang ihm nicht. Etwas Unsichtbares hielt ihn zurück. Das zweite Mal hatte er schon die Mauer erstiegen, hinten beim Mauleselpark. Rittlings saß er oben und hob schon das Bein, um sich abzustoßen. Dann ließ er es wieder sinken und kletterte mühsam in den Posten zurück. Es kam zu keinem dritten Versuch. Lös hatte sich hingelegt und war eingeschlafen, tief und fest, ehe er sich's versah.
Zwei Tage blieb Lös im Posten, ohne den Versuch zu machen, Zeno zu sehen; daran war die schlechte Laune des Leutnants schuld. Mauriot besuchte ein paarmal die Verpflegung und hatte viel über die herrschende Unordnung zu schimpfen. Als er jedoch an einem Abend den oberen Zapfen eines Weinfasses offen fand, war sein Zorn übermäßig. Seine Lungen waren gesund und der Atem wollte ihm auch nach fünf Minuten Fluchen nicht ausgehen. Er diktierte Lös acht Tage Zimmerarrest und versprach ihm Gefängnis, wenn es ihm einfallen sollte, den Posten zu verlassen. Glücklicherweise war er am nächsten Tag auf die Jagd gegangen, als der Jude endlich mit der Schafherde erschien. Wortreiche Entschuldigungen brachte er vor: sein kleiner Knabe sei gestorben. Er erzählte diese Neuigkeit ohne Rührung, lachte auch gleich darauf und stieß Lös mit dem Ellbogen in die Seite, denn er wollte ihn an das heutige Geschäft erinnern. Lös nickte, sein Interesse war gering, er konnte auch dem heimlichen Grinsen des alten Kainz keinen Geschmack abgewinnen. Die Freude darüber, nun mühelos wieder zu Geld zu kommen, wollte sich nicht einstellen. Warum mußte er die Verwaltung betrügen? Und noch den schwarzbärtigen Juden mit dem geometrischen Kegelschnitt auf dem Schädel? War er nicht sehr zu verachten, er, der Korporal der Verpflegung, da er zugleich zwei Parteien hinterging? Die Strafe, die Strafe ereilt dich in der Zukunft, dachte er.
Doch keine Gewissensbisse störten den alten Kainz. Er verdiente nichts bei diesem Manöver. Es war der Genuß am Handel und am Betrug, der ihn die ganze Zeit die schmalen Lippen verziehen ließ, während er die Spitze seines grobgenagelten Schuhes unter der Plattform der Waage spielen ließ. Der Jude war kurzsichtig und beugte sich tief über die metallene Skala, verlangte langsame Arbeit und rieb seine Nase auch an den Zahlen, die Lös auf ein weißes Blatt schrieb. Sehr verwundert war der Viehhändler über das geringe Gewicht seiner Schafe. Den Tieren wurden mit Riemen die Beine zusammengeschnallt, mit einem Schwung warf sie dann Kainz auf die Waage, Lös schob das Gewicht hin und her, bis der Balken waagrecht stand: zehn, höchstens elf Kilo wogen sie. Zum Schluß kamen noch fünf zwerghafte Kühe dran, von einer derart unglaublichen Magerkeit, daß sie aus Pharaos Traum zu stammen schienen.
Bei zwei Wassergläsern voll Schnaps wurde in Lös' Büro der Kauf besiegelt. Lös schrieb die Liste ins reine und schenkte jedem Schaf drei Kilo Lebendgewicht mehr (den Kühen fünf). – Dies machte bei den 180 Tieren eine beträchtliche Summe aus: 250 frs. erhielt Lös ausbezahlt; günstig war vor allem, daß der Leutnant die Liste nicht zu unterschreiben brauchte, der Stempel der Verwaltung, verbunden mit Lös' Namenszug genügte. Dann verbeugte sich der Jehudi, die flache Hand auf der Magengrube und wehte zur Türe hinaus. Die Flasche mit Dattelschnaps, die er mitgebracht hatte, ließ er auf dem Tische stehen, und Lös leerte sie mit dem alten Kainz.
Beide waren sehr selbstsicher, als sie die Hütte verließen und in den sanften Abend traten. Ihre Beine zwar waren steif, doch stützten sie den Rumpf so gut, daß er nicht schwankte. Und eine Wirkung hatte dieses Getränk noch auf Lös: Es vertrieb die Angst, obwohl er wußte, daß sie unterirdisch weiterfloß, gleich einer vergiftenden Flüssigkeit, die alle Gewebe durchtränkte. Vorläufig war die Angst erstarrt. Dieses Erstarren konnte man mit jenem Prozeß vergleichen, der aus einer gesättigten Lösung zuerst die Kristalle ausscheidet, bis die ganze Flüssigkeit schließlich zu einem Block gefriert, der nicht einheitlich ist, sondern in seinem Innern feine Nadeln zeigt. Durch jenes Erstarrtsein erhielt der Körper eine gefrorene Festigkeit, die gläsern, spröde und zerbrechlich war…
Lös stand auf dem Hügel hinter seiner Hütte, innerhalb der Umfassungsmauer, und starrte auf die Ebene, auf der, nähergerückt durch die mit Staub gesättigte Luft, kantig der Ksar sich erhob. Zwei Frauengestalten, in weißen Gewändern, warfen lange Schatten auf die Erde. Sie winkten, als sie Lös erkannten, liefen näher, winkten wieder. Zeno war es und Alice. Ganz in der Ferne aber, fast schon am Bergabhang, sah Lös zwei dunkle Punkte: ein helles Blitzen, nach langer Zeit ein dumpfer Knall. Leutnant Mauriot hatte wohl einen Hasen geschossen, denn die eine Gestalt lief, während die andere, Bergeret ohne Zweifel, reglos stehenblieb. Lös rief den Mädchen zu, sie sollten warten, er komme gleich. Er lief den Hügel hinab, betastete seine Wangen und sein Kinn: Bartstoppeln stachen ihn.
In der Hütte mußte er die Stallaterne anzünden, um sein Gesicht im Spiegel sehen zu können. Es war ihm, als erblicke er sich seit langem zum erstenmal. Ein aufgedunsenes rotes Gesicht mit matten, farblosen Augen – Fischaugen! Rot angelaufen die Nase, und ein Netz bläulicher Äderchen überzog die Wangen. Ein wenig erträglicher wurde das Bild, als die schäumende Seife einen Teil der Haut bedeckte. Lös schabte sie ab, ohne es zu wagen, in den Spiegel zu blicken. Und dann lief er los, keuchend wie ein alter Mann, durch die enge Schlucht der Baracken, hörte nicht die Stimme am Tor, die »Halt!« rief, lief den beiden Frauen entgegen, die schon die Hände ausstreckten, um ihn zu fassen, um ihn mit sich fortzuziehen. Da packte ihn jemand an der Schulter, Lös wollte die Hand abschütteln, sie ließ nicht los. Baskakoff stand hinter ihm, den Gewehrriemen über der Brust. »Schluß jetzt«, sagte er keuchend, »mitkommen.« Lös fror plötzlich, er zitterte, fast hätte er begonnen zu weinen. Ihm war zu Mute wie damals in der Kindheit, wenn der Vater in seiner Schulmappe ein Nick-Carter-Heft entdeckt hatte. Er sah sich nicht nach den kreischenden Frauen um, sondern folgte Baskakoff: willenlos, mit gesenktem Kopf…
In der Verpflegung angekommen, warf er sich auf den Boden und wartete. Aber gleich sprang er wieder auf, um ziellos durch den Posten zu laufen. Er traf niemanden: Narcisse, der Chef, war ausgegangen, Smith, der Schneider, ebenfalls; nur Pullmann schlich an den Mauern entlang, zweimal begegnete ihm Lös. Beim drittenmal sah Lös die Ordonnanz im Zimmer des Leutnants verschwinden.
Immer noch war der Leutnant nicht zurückgekommen. Da, plötzlich knatterte ein Auto durch die Stille – ein leichtes Camion. Und nun erschienen die Zurückgebliebenen plötzlich: Voraus der Chef, dann Smith und Veitl, sie scharten sich um das sommersprossige Männlein, das dem Auto entstieg – ein blasses, spitzgedrehtes Schnurrbärtchen wuchs ihm aus den Nasenlöchern. In der Mitte des Hofes stellte sich der Kleine auf und erzählte mit schriller Stimme: Die Kompagnie sei von einem Dschisch überfallen worden, ein Gum habe die Meldung nach Rich gebracht, mit dem Befehl, einer der Krankenwärter des Lazaretts müsse sofort nach Gourrama fahren. Zum Glück sei gerade ein Camion von Midelt durchgekommen, das habe ihn mitgenommen. Ja, der Kampf sei blutig gewesen, habe der Gum berichtet. Kein Toter zwar, aber fünf bis sechs Verwundete. Der Zahlmeister sei erschossen worden, sein Auto erbrochen, aber die Camions seien unversehrt, sie seien zum Teil in einem Zwischenposten abgeladen worden, um die Verwundeten aufzunehmen und sie auf dem kürzesten Wege nach Rich zu bringen.
Die Aufregung unter den Zuhörern war groß, eine freudige Aufregung, sie setzte sich zusammen aus vielen Bestandteilen: Genugtuung, nicht dabei gewesen zu sein, Befriedigung über die Abwechslung, Schadenfreude (Zahlungsoffiziere waren sehr unbeliebt). Der Chef versuchte einen kleinen Tanzschritt und pfiff dazu einen Marsch. Lös trat zu Baskakoff: »Du«, sagte er, und es war das erstemal, daß er diesen Mann duzte, seit jener Auseinandersetzung in der Verpflegung. »Wollen wir nicht Frieden schließen? Gib mich nicht an, und du kannst haben, was du willst.« Seine Stimme zitterte dabei, aber er empfand keine Scham vor der Erniedrigung, denn er war von ihrer Nutzlosigkeit überzeugt. Baskakoff sah den Sprechenden lauernd an, schwieg eine ganze Weile und leckte an seinen trockenen Lippen. »Alles, was ich will!« Er bediente sich auch des Deutschen, es war bei ihm eine verquollene Sprache, so als habe die Zunge nicht genügend Raum im Munde. »Wollen Sie niederknien vor mir, Korporal, und bitten um Verzeihung mich?« Er lächelte nicht einmal, als er diesen Vorschlag machte, sondern ließ den Unterkiefer hängen und blickte Lös von unten ins Gesicht.
›Knie nieder vor mir und ich will dir… und ich will dir… Nein, so heißt es nicht. Wie heißt es doch in der Versuchung, als der Teufel den Herrn versuchte?‹ dachte Lös, so stark, daß er die letzten Worte murmelte.
»Wie bitte?« Baskakoff war ganz Frage. Lös schüttelte den Kopf: »Nein, das geht natürlich nicht«, sagte er trocken. »Dann mach nur deinen Rapport.« Er ging mit festen Schritten in seine Hütte zurück, legte sich aufs Bett und wartete. Nach kurzer Zeit schlich der Chef herein. Lös hatte ihn nicht kommen hören. Er sah Narcisse erst, als die schwere Gestalt die Dämmerung verdunkelte, die durch die Türe drang. Der Chef betrat das Zimmer nicht, eindringlich flüsterte er: »Baskakoff hat Rapport gemacht, ich muß ihn weiterleiten, an den Leutnant. Der ist noch nicht zurück von der Jagd. Einen guten Rat: Reg dich nicht auf, laß dich einsperren. Diskutier nicht mit dem Leutnant. Sobald der Alte zurück ist, werd' ich versuchen, dich herauszubeißen. Aber vor allem: Motus, Schweigen! Sprich nicht von mir! Verstanden? Ja? Dann ist alles in Ordnung. Ich werd' sehen, daß ich mitkommen kann, wenn man dich holt.« Der Schatten verschwand aus der Tür, Lös blieb regungslos liegen.
Die Dämmerung wurde schwärzer; sie war schwül, wie der Morgen. Große Schweißtropfen liefen über Lös' Stirn. Er stand auf, packte eine Decke und legte sich draußen auf den Boden, dicht neben den Weinschuppen an einen Platz, von dem aus er den Eingang der Verpflegung im Auge behalten konnte. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, blickte er in den gläsernen Himmel. Türk kam schnaufend und ließ sich niederplumpsen. Die Stille war so feierlich, daß Lös die Augen schloß. Als er sie wieder aufschlug, lag die Nacht über der Erde.
Plötzlich richtete er sich auf. Das Kläffen des kleinen Fox kam näher, näher… Schritte knirschten auf dem Kies. »Jetzt kommen sie mich holen«, dachte Lös. Trotz der Hitze waren seine Füße kalt, und seine Fingernägel schmerzten wie bei hartem Frost. Er hörte des Leutnants Stimme, er rief seinen Namen; da stand er auf und ging mit schweren Schritten seinem hellen Häscher entgegen.