Glauser, Friedrich
Gourrama
Glauser, Friedrich

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8. Kapitel

Verwirrung

Leutnant Mauriot, der den Posten in Abwesenheit des Capitaines zu befehligen hatte, sah aus wie einer jener künstlichen Eiszapfen, die an Weihnachtsbäumen hängen. Sein unten weit ausgeschweifter Tropenhelm, dessen Rand gerade so breit war wie die schmalen Schultern, rundete den spitzzulaufenden Körper nach oben ab; die goldenen Knöpfe des Waffenrocks wirkten wie Kerzenreflexe. Die Hosen verengten sich, bis sie, knapp oberhalb der Knöchel, die schmalen Gelenke umspannten. Die winzigen Füße steckten in getalkten Tennisschuhen. Einzig der gerade Rohrstock, der an einer Schlaufe am Handgelenk hing, war hellgelb. Übrigens war Leutnant Mauriot der Sohn eines Brigadegenerals. Achtzehnjährig, zu Beginn des Krieges, hatte er im Büro eines Gefangenenlagers gearbeitet und viel mit deutschen Offizieren verkehrt. Von diesen mochte sein Kommandoton stammen, den er offenbar für vornehm hielt.

Nur wenig Leute waren im Posten zurückgeblieben: der Chef, Smith, der Schneiderkorporal, Sergeant Baguelin, der die Post und das Telephon besorgte, Korporal Baskakoff in der Küche mit einem Koch, dem Wiener Veitl, und in der Verwaltung Lös mit dem alten Kainz und Frank, dem Bäcker. Dann waren noch zwei Ordonnanzen vorhanden, der dicke Pullmann, der den Leutnant Mauriot betreute, ein blonder schweigsamer Frankfurter, mit Händen, deren Finger wie rohe Knochen aussahen; zwischen den Pusteln seiner Wangen wuchsen weißliche Härchen, und Mehmed, ein Türke, schweigsam und schielend, der für den Chef wusch.

Lös kam erst um die Mittagszeit aus dem Ksar zurück. Die Stille des Postens, nach dem lärmenden Aufbruch am Morgen, schien ungewohnt und feindlich. Stumm standen die Baracken. Am Tore wachte einsam Mehmed, die Ordonnanz des Chefs, zog mechanisch an einer Spitze seines Chinesenschnurrbarts und sah nicht auf.

Im Hofe der Verpflegung ging Leutnant Mauriot auf und ab und klopfte mit dem Rohrstock imaginären Staub aus seinen Hosen.

»Wo sind Sie gewesen?« Er fragte mit leiser Stimme und blickte nicht auf, während er die ruhelose Wanderung fortsetzte.

Er sei beim Juden gewesen, erwiderte Lös, aber die Antwort kam unsicher; ein Beben des Unterkiefers mochte wohl die Lüge verraten haben, denn der Leutnant blickte kurz auf, und der Ausdruck seiner gelben Augen wirkte ungemütlich. Lös schwieg.

Bei welchem Juden? wollte der Leutnant wissen. Der die Schafe liefere? Lös nickte. – Nun, das werde ja leicht nachzukontrollieren sein, meinte der Leutnant, und die glatte Haut oberhalb des Mundes warf senkrechte Falten. Der Korporal werde sich von nun an vor jedem Ausgang bei ihm, dem Leutnant, melden. Und in seiner Abwesenheit beim Chef. Verstanden? Die Stimme war lauter geworden, blieb aber dünn. Die Wort wurden aneinandergereiht und schienen als langer Faden aus der Nase zu quellen.

Lös nickte.

Dann seien noch die Rechnungen vom letzten Monat zu revidieren, fuhr Mauriot fort, immer mit der gleichen hohen Stimme, ohne Modulationen. Bou-Denib habe reklamiert. Sei nicht auch Geld abzuliefern? Lös schüttelte den Kopf. Die Spaniolen damals, die mit der Gerste gekommen seien, hätten also nichts gekauft? Wieder schüttelte Lös schweigend den Kopf. So? (Sehr gedehntes O.) Merkwürdig. Die Hände des Leutnants waren auf dem Rücken zusammengelegt, der Stock stak aufrecht darin und trommelte leise gegen den Tropenhelm. »Nun ja!«

Ein Aufblicken, das Lös mühsam aushielt. – Übrigens verlange Bou-Denib Kartoffeln. Man solle dem Adjutanten vom ›Bureau arabe‹ Bescheid sagen, der werde dann im Ksar das Nötige veranlassen. Der Korporal könnte dann bei der Waage stehen und das Gewicht angeben. Aber auf deutsch. Die Araber brauchten nicht alles zu verstehen.

Der Leutnant schwenkte den Stock nach vorn, berührte kaum den Rand des Helms und ging.

Den ganzen Nachmittag schwitzte Lös über den Rechnungen. Er trank viel Kaffee mit Schnaps vermischt, um nicht einzuschlafen. Aber die Rechnung wollte nicht stimmen.

Denn die Buchhaltung einer Administration ist eine verwickelte Angelegenheit: sie besteht aus vielen Bogen, die, breiter als hoch, mit einem dünnen Liniennetz überzogen sind. Am äußersten Rande links werden die Kunden angeführt: Die Kompagnie, die Unteroffiziersmesse, die Offiziersmesse, der Adjutant des ›Bureau arabe‹, die Gums, die durchziehenden Truppen. In den nachfolgenden Kolonnen werden die Mengen der gelieferten Waren eingetragen: Wein, Mehl, Brot, Kaffee, Tee, Fleisch, Schnaps, Seife, Trockengemüse, Teigwaren, Reis, Gries: in Kilos, in Litern. Dann wird waagrecht addiert: Kilo zu Liter und die Stücke dazugerechnet. Das ergibt bestimmte Summen, die am Rande rechts zusammengezählt werden. Bei den einzelnen Kolonnen verfährt man gleich, und die so gefundenen Summen werden wieder waagrecht zusammengezählt. In der untersten Ecke rechts erhält man also eine Summe, die aus den Summen der waagrechten und senkrechten Kolonnen besteht. Und diese Summe muß stimmen. Wenn die aber endlich stimmt, so ist das noch gar kein Beweis, daß in der Verpflegung alles in Ordnung ist.

Denn seit einem Jahre ist die Verwaltung der Verpflegung durch drei Hände gegangen. Zuerst durch die des französischen Sergeanten, dessen Name schon vergessen ist, und der nur im Gedächtnis der Alten im Kloster als ›mutatschu guelbi‹ weiterlebt, dann durch die Sitnikoffs, um schließlich an Lös' Fingern kleben zu bleiben. Bei der Übergabe der Magazinbestände in Anwesenheit Leutnants Mauriots hat sich jedesmal folgendes abgespielt: der Abgehende zieht den Neuen in eine Ecke und teilt mit, daß im ganzen etwa zweihundert Liter Wein, fünfzig Kilo Zucker und sonst noch einige Kleinigkeiten fehlen. Der Neue solle die Geschichte übernehmen, er werde das Fehlende schon irgendwo einholen, und übrigens, die Geschäfte seien ganz gut gegangen, hier… Ein Hundertfrankenschein wechselt den Besitzer.

Dies war eine der Ursachen des großen Schnapsverbrauches in der Administration. Die fehlenden Quantitäten hatten sich nicht etwa vermindert, im Gegenteil, die Fehlbeträge wuchsen. Der Chef hatte verschiedenes gebraucht, was man ihm nicht gut abschlagen konnte. Man hatte Freunde, die gern Wein tranken, kleine Dienste waren zu bezahlen, und das Fäßchen mit Kartoffelschnaps enthielt nur hundertsiebzig Liter. Die Angst aber ließ sich nur mit viel Alkohol einschläfern.

Lös saß allein in seiner Kammer. Der Abend war schon nahe, ein heißer, dumpfer, einsamer Abend. In der Ecke stand das Bett, ein grober Rahmen mit dickem Draht bespannt, die flache Matratze lag darauf, zerrissen, und aus den Rissen starrte das Alfagras. Nicht viele würden zu ihm halten, wenn die Katastrophe käme, dachte Lös. Der Chef vielleicht, und auch der war unberechenbar, der Capitaine, aber der konnte nicht viel tun. Leutnant Mauriot? Besser, man vergaß sein Vorhandensein.

Lös sah Zeno deutlich vor sich und verband mit ihrer Gestalt viel Tröstliches. Es war gut zu wissen, daß man außerhalb dieses Postens, der doch eigentlich ein Gefängnis war mit seiner dreifachen Reihe Stacheldraht und dem Wächter am Tor, einen Menschen besaß, dem man vertrauen konnte, der vor allem das Land kannte, dessen Beziehungen eine Flucht erleichtern würden. Lös wunderte sich, wie unnatürlich gewunden sich seine Gedanken schlängelten. »Kein rechtes Vertrauen«, murmelte er, fluchte in drei Sprachen, was immer geschah, wenn er sich beim lauten Denken ertappte. Und sprach dann doch gedämpft weiter – »Kein Vertrauen. Weder zu mir noch zu ihr. Ich und fliehen! Zwei Ausrufungszeichen«, schrie er. Etwas stieß an seine Wade. Türk wedelte mit seinem Ferkelschwänzchen, denn er meinte wohl, er sei gerufen worden. Er zeigte seine Zähne und schien aufmunternd zu lächeln. Lös packte die Rechnungen zusammen und klopfte am Zimmer des Leutnants. Niemand antwortete… Nur unterdrücktes Schnaufen drang durch die geschlossene Tür. Als er sie öffnete, sah er eine plumpe Gestalt, die mit großer Beweglichkeit von der hinteren Wand des Zimmers in zwei Sätzen zum Fenster sprang. An dieser hinteren Wand stand die Stahlkassette, in der das Geld der Verpflegung bis zu seiner Ablieferung aufbewahrt wurde.

Pullmann stand sehr verlegen am Fenster und putzte mit übertriebener Geschäftigkeit seinen Ledergürtel.

– Wo der Leutnant sei, fragte Lös. – Auf der Jagd.

Nach dieser kurzen Antwort mußte Pullmann husten (es wirkte wie ein Anfall, denn sein Gesicht wurde blaurot). Lös legte die Rechnungen auf Mauriots Tisch und ging zur Tür. Er hatte nicht Zeit, sie zu schließen. Pullmann schmetterte sie von innen ins Schloß. Türk ärgerte sich über diese Unhöflichkeit, bellte laut, fand dann Freude an seiner Stimme und setzte das Bellen fort, weniger gereizt scheinbar, nur zum eigenen Vergnügen.

Am Tor stand Korporal Baskakoff Wache. Er wollte Lös nicht durchlassen: Befehl vom Leutnant. – Aber der Leutnant sei ja auf der Jagd! Höhnisches Achselzucken Baskakoffs. Seine Unterlippe hing fast bis aufs Kinn, und speckig glänzte die Haut seiner Wangen.

Es war Feindschaft zwischen den beiden, seit Baskakoff einmal beim Chef vorstellig geworden war: er erhalte in der Verpflegung nicht die vorgeschriebenen Quantitäten. Zufällig war diese Behauptung unwahr. Lös hatte es durch Zeugen beweisen können. Doch Baskakoff brauchte viel. Er war ob seiner Dicke so oft ein altes Weib genannt worden, daß er sich allabendlich verpflichtet fühlte, das Kloster zu besuchen, um seine Männlichkeit in einwandfreier Weise zu erhärten. Er zahlte dort mit Lebensmitteln und war ein gern gesehener Gast. Daß der Chef ihm in der letzten Zeit auf die Finger sah, machte ihn gereizt, und er gab Lös die Schuld für diese so unangenehme Überwachung. Was aber der Situation am Tor etwas Peinliches gab, war die Sicherheit Baskakoffs und Lös' Schwanken. Er mußte sich besinnen, welchen Grund er für sein Ausgehen angeben sollte. Und Baskakoff genoß sichtlich das Schwanken des anderen. Er, als Wache, stand auf dem festen Boden des Befehls, der andere hatte nur eine durch Gefälligkeiten, durch Bestechungen erworbene Autorität; Lös kehrte um.

Im Büro saß der Chef bequem auf einem Rohrstuhl, hatte die dicken Beine auf einen zweiten Stuhl gelegt und las in einem Buch mit farbigem Umschlag: ›Vierge et Martyre‹. Er legte das Buch auf den Tisch neben eine halb geleerte Flasche Cointreau und blickte Lös aus glasigen Augen an.

»Ich kann nichts machen«, sagte er, als Lös sein Anliegen vorgebracht hatte. »Ich nicht. Ich will keinen Streit mit dieser weißen Laus. Nein, sicher nicht.« Und unter vielen ›nom de Dieu‹ und Beteuerungen, wie unangenehm diese Sache sei, und er begreife doch gut, daß Lös Eile habe, haha, wandte er sich von neuem seinem Buch zu.

Lös fühlte wieder die Angst. Alle wandten sich von ihm ab. Sicher, etwas lag in der Luft. Vielleicht hatte Bou-Denib schon Befehl gegeben, ihn überwachen zu lassen und eine Klage ans Kriegsgericht war schon eingereicht worden. Und doch schien es Lös wieder, als genüge diese begründete Furcht nicht, um das dunkle Angstgefühl zu erklären, das stündlich in ihm wuchs. Er stand da und knetete seine Finger. – Aber er müsse doch zum Juden, wegen der Schafe, brachte er stotternd hervor, der Leutnant sei auf der Jagd, darum komme er zum Chef. Eigentlich wußte er selbst nicht, warum er darauf beharrte, aus dem Posten gehen zu dürfen.

Wie umgewandelt war Narcisse plötzlich. So, der Leutnant sei nicht im Posten, warum Lös das nicht gleich gesagt habe. Dann, ja natürlich, dann… Er stand auf und wollte gleich selbst mitkommen. Lös solle sich das merken: Nie etwas Schriftliches aus der Hand geben, wenn es nicht unbedingt notwendig sei. Lieber zweihundert Meter laufen und eine Sache mündlich abmachen, als ein kurzes Billett schreiben; diese Papierfetzen können dann einmal, plötzlich, aus heiterem Himmel wie ein Blitz herniederfahren, als zerschmetternde Beweisesmacht. Nicht wahr, er könne Lös ja gut einen Erlaubnisschein an Baskakoff mitgeben, aber… So sei die Sache viel einfacher: Er, der Chef werde mitkommen und mit Lös durch die Pforte des Postens schreiten, vorbei an dem angewurzelten Baskakoff.

Der Chef ging voran durch die helle Nacht und sprach weiter über die Schulter. Lös bewunderte ihn. Es lag soviel Überzeugung des eigenen Wertes in seinen Worten und Gebärden, in der Art zu gehen besonders, die bei jedem andern komisch gewirkt hätte: die Füße, die in dünnen Ledersandalen steckten, berührten den Boden mit der Spitze zuerst, ließen den Fuß sanft abrollen bis zur Ferse, die einen kurzen Augenblick nur am Boden haftete und sich dann löste, mühelos und leicht, während das Knie den Fuß schon wieder nach vorne zog. Und selbst das Pendeln der Hüften wirkte beschwingt. Auch das wichtige Vorbringen von Gemeinplätzen sollte kameradschaftlich herablassend klingen, (›nicht wahr, wir beide verstehen uns doch!‹), aber auf Lös wirkte es auflockernd und niederdrückend zugleich. Doch als das Gerede des Chefs nicht enden wollte, bekam Lös Kopfweh: einen stechenden Schmerz über dem linken Auge. Und der Schmerz verstärkte sich noch, als der Chef den versteinerten Baskakoff grob anfuhr. Dieses Anschreien, das im leeren Posten wiederhallte, wirkte gemein. – Lös zog den Chef weiter. Dann blieb Lös allein…

Der Jude, welcher die Schafe zusammenkaufte (meist von den Einwohnern der umliegenden Ksars), um sie dann an den Posten zu liefern, war ein buckliges Männchen, mit schwarzen Haarlocken und graugesprenkeltem Bart. Er führte Lös auf das flache Dach des Hauses und schlug dann ein Geschäft vor. Sein Französisch war zu verstehen. Er erklärte: Der Korporal sei ein kluger Mann, das habe er (der Jude) sogleich gesehen; auch mit den früheren Sergeanten von der Administration habe er immer gute Geschäfte gemacht. Nur mit dem letzten nicht. Der sei ehrlich gewesen. Er spuckte über den Dachrand. Das Geschäft sei so einfach. Er liefere die Schafe, bon. Die Schafe würden gewogen. Nun, wenn ein Schaf, man nehme an, elf Kilo wiege, so schreibe der Korporal dreizehn auf. Hehe. Das mache bei zweihundert Schafen 400 Kilo mehr. Verstanden? Der Korporal unterschreibe den Zettel, den er, der Jehudi, in Bou-Denib einkassieren gehe. Ein Überschuß von 400 Kilo ergebe 400 Franken und diese Summe werde geteilt zwischen dem Korporal der Administration und ihm, dem Jehudi. Ob der Korporal einverstanden sei?

Ja, Lös war einverstanden. Der Jude hatte Dattelschnaps aufgestellt, ein scharfes Zeug, das er aus unerfindlichen Gründen Anisette nannte. Die Hälfte des Geldes also und eine Flasche Anisette. Der Jude nickte eifrig und wollte Lös' Hand küssen. Er tat sehr untertänig und ging, um die Flasche aufzufüllen, die Lös mitnehmen sollte. Als er wiederkam, brachte er noch Datteln mit, große Datteln aus dem Tafilalet, lang wie der kleine Finger, hellgelb und durchsichtig, süß wie Honig. Ein kleines Leinensäckchen wurde mit diesen Früchten gefüllt und Lös zum Abschied überreicht. Also, morgen werde er bestimmt kommen, die Herde sei beisammen, er brauche sie nur zu holen. Lös wurde noch gebeten, den einjährigen Knaben des Juden zu besehen. Das Kind lag in einem dunklen Zimmer, in dem außer der Wiege noch eine europäische Spiegelkommode aus den achtziger Jahren stand. Lös tat, als verstehe er sich auf Krankheiten, griff nach dem Puls, zog die vereiterten Augenlider in die Höhe. Die unförmig dicke Mutter, die daneben hockte und aussah, als käme sie geradewegs aus Galizien, wagte kaum zu atmen in Erwartung des Urteils. Es sei keine schwere Krankheit, sagte Lös, man solle das Kind baden (es war wirklich schmutzig und stank), und er werde später noch einmal kommen und etwas bringen, um die Augen zu waschen. Lös war von seinem Edelmut befriedigt. Das Kopfweh hatte nachgelassen. Es verschwand ganz, als er in der Dunkelheit in den Posten zurückkehrte, und ein Gefühl des Befreitseins blieb zurück.

Und dieses Gefühl wollte er nicht sogleich einbüßen. Er verlangte von der Wache am Tor (Veitl war es diesmal), ihn später noch einmal hinauszulassen. Ein Liter Wein oder eine halbe Flasche Schnaps stehe zur Verfügung.

Der Leutnant war noch immer nicht zurückgekommen. Vor dem Tor der Verwaltung saß der alte Kainz mit angezogenen Knien und saugte an einer Pfeife.

»Wos is, Korporal, gehst die Nacht wieder fort, oder willst hier schlafen?« Er kaute an den Worten und zugleich am Mundstück seiner Pfeife.

Lös wich aus. Er wußte es noch nicht. Zeno wartete wohl auf ihn, er aber hatte keine Lust, sie zu sehen. Vielleicht brachte er ihr nur Unglück. Das Stechen über dem linken Auge setzte wieder ein.

Aber der alte Kainz ließ ihm zum Grübeln keine Zeit.

»Komm, Korporal, geh her, setz di zu mir, wannst Zeit hast. Weißt mir kan Rat, um auf Reform zu gehen? Du bist doch so g'scheit, das weiß i.«

Lös setzte sich. Der Mond war noch nicht aufgegangen.

»Also, was glaubst, Korporal, was soll ich machen?« Unwillkürlich sprach der alte Kainz leise.

Lös wandte sich ihm zu. Er hob die Oberlippe des anderen so, wie man es bei Pferden tut, um ihr Alter an den Zähnen festzustellen, sah den leeren Oberkiefer und gab ernsthaft den Rat: »Für die Reform reicht's nicht aus, aber du kannst ja verlangen, nach Fez zu gehen, um dir ein Gebiß machen zu lassen.«

»Also, kloar«, sagte der alte Kainz und rückte nach vorn, um Lös besser ins Gesicht sehen zu können. »Ich hab's ja immer g'sagt, dumm is der Korporal net. A bisserl ung'schickt vielleicht.« Er schwieg kurz. »Wenn man so denkt, wie froh ma g'wesen is, wie sie einen g'nommen ham. Ma hat's ja kaum erwarten können, bis es g'heißen hat: I bin tauglich. Ich sag dir, g'hungert hab i! Und bei den Franzosen dann: gleich a guats Essen. Wurst und Brot. Immer noch hat ma Angst g'habt, wie sie einem schon g'nommen ham, es gibt no a Contrevisite, und ma wird wieder zruckg'schickt, weil sie g'funden ham, ma is zu alt und taugt nix mehr. Und dann bedauert ma die anderen, wo net mitkommen san. Aber i bin net amol vier Monat in Belabbés g'wesen, da hab i ›Merde‹ g'sagt, weil's das erste Wort is, das ma lernt. Weißt, a Abwechslung muß doch sein.

Klagen kann i net; in der Legion hab i ja alles g'habt, was i braucht hab, Zigaretten und Wein. Für die Weiber bin i schon z'alt. Und wenn i krank g'wesen bin, haben's mi ausruhen lassen im Spital, solang i hab woll'n. Na, all's was recht is. Da redens drüben und schreibens in allen Zeitungen: ›Die Fremdenlegion ist eine Schande, sie hungern und dürsten und werden geschlagen‹ (das plötzliche Hochdeutsch des alten Kainz wirkte pathetisch), aber es stimmt doch nicht. Hat dich einmal einer ang'rührt? Mi net. Trinkgelder ham's mir geben. Und wenn i nimmer hab laufen können: Geh, mon vieux, setz dich auf den Wagen. Wirklich anständig. Anständiger als beim K. und K. Infanterieregiment. Aber i mag doch net mehr. Schau, i möcht so gern wieder amol a garnierts Rindfleisch essen un die Kronenzeitung lesen. Die ewigen Schaf! Du, wie sagt ma ›Gebiß‹ auf französisch? – ›Un dentier‹« wiederholte er.

Während der letzten Sätze hatte jemand leise hinter dem Weinschuppen gestöhnt. Lös stand auf. Als er um die Ecke bog, sah er Frank, den Bäcker, auf dem Boden liegen, die Beine spannten sich, und die Absätze der schweren Schuhe gruben sich in den Boden ein. Lös kniete nieder und griff nach dem Handgelenk des Zuckenden.

Und auch der alte Kainz kam herangeschlurft, zog die Luft durch die Nase und schtietizte mit dem Daumen das Nasenloch. »Was is, Korporal, will er sterben?« Er schluckte laut auf und blieb dann stehen, mit pendelndem Oberkörper. »Aber na, er wird doch net sterben. Geh', hör auf, Frank, es glaubt dir's doch kaner. Geh, sei gscheit.«

»Aber Fieber hat er doch«, sagte Lös und ließ das Handgelenk los; der Arm fiel herab, als seien die Sehnen abgeschnitten.

»Was ist los, Frank?« fragte Lös. Er fühlte eine freudige Erwartung: Ein Kranker! Das war eine Abwechslung! Der Leutnant würde sich mit dem Fall befassen und nicht mehr Zeit haben, sich allzusehr um die Verpflegung zu kümmern. Das gab freie Zeit. Lös schob den Arm unter Franks Schultern, stützte den Kranken, führte ihn bis zur Hausmauer und schickte Kainz zum Leutnant, um den Fall zu melden. Dann holte Lös Schnaps, das Universalheilmittel, auch eine Stallaterne – die stellte er neben den Kranken. Im Licht der Petroleumflamme sah Frank wirklich sehr bleich aus.

Als er gefragt wurde, wo er Schmerzen habe, legte Frank die flache Hand auf den Hosengürtel. Da täte es weh, erklärte er, es seien Krämpfe, dann werde ihm schwindlig und er falle um. Aber auch im ganzen Bauche tue es weh, und dann habe er Durchfall, und erbrechen müsse er. Heut morgen habe er Nasenbluten gehabt. Seine Hände zitterten – dies Zittern schien ihn mit Befriedigung zu erfüllen.

Kainz kam zurück und meldete ärgerlich, der Leutnant wolle nicht gestört werden. Er sei müde von der Jagd und wahrscheinlich wütend, weil er nur einen Hasen geschossen habe. Pullmann stehe vor der Tür Wache.

Die beiden waren ein Stück in den Hof gegangen. Als sie Frank suchten, lag er am Ufer des kleinen Kanals und erbrach sich. Dann hoben sie ihn auf und trugen ihn in Lös' Hütte.

Sergeant Baguelin, der lange Komiker mit den Sommersprossen, war sofort bereit, mitzukommen, obwohl er eigentlich, wie er erklärte, Wichtigeres zu tun habe. Er hatte eine ganze Sendung neuer Chansons aus Frankreich erhalten und mußte sie zuerst Lös vorsummen. Da war zuerst das schöne:

»Dans sa petite mansarde
Tout là-haut, tout là-haut
Dans les cieux.«

und das ergreifende:

»Fleur de lilas…«

Aber schließlich kam er doch mit, denn er besaß das einzige Fieberthermometer des Postens, das er stets, neben der Füllfeder, in der oberen Tasche seines Khakirockes in einer glänzenden Metallhülse trug.

Baguelin steckte das Thermometer in die Achselhöhle. »Neununddreißig sieben«, sagte er nach zehn Minuten und zog die Mundwinkel gegen das magere Kinn. »Und erbrochen hat er auch. Das ist gefährlich. Sehr gefährlich.« Der alte Kainz wiederholte das letzte Wort und nickte dazu, wie mit geschwächten Halsmuskeln.

»Es könnte eigentlich Typhus sein.« Lös sagte es etwas verträumt und lächelte dazu mit milder Befriedigung. Sein Gesicht leuchtete, und die gleiche leuchtende Befriedigung verklärte auch die Gesichter der anderen.

Lös zählte die Vorteile eines derartigen Falles nachdrücklich auf: Quarantäne des Postens! Kein Verwaltungsoffizier aus Bou-Denib würde es wagen, die Warenbestände zu kontrollieren. Steigender Schnapsverbrauch! Die fehlenden Liter im Nu eingebracht! Doppelte Ration Wein! Schon füllten sich die geleerten Fässer mit Wasser, niemand würde den Unterschied merken, und die Seguia, der kleine Kanal, floß ja mitten durch die Verpflegung. Zu alledem noch: Der Leutnant würde die Verpflegung melden, hatte er nicht schreckliche Angst vor Krankheit? Typhus! Welch ein Glücksfall!

Begeistert übernahm der Sergeant die Fortsetzung der Hymne. Typhus! Erfrischende Hoffnung. Es könnte doch auch ihn packen, nicht allzu stark, aber genug, um eine Rekonvaleszenz in Frankreich nötig zu machen. Mit einem kleinen netten Typhus, das Wort tönte in seinem Munde wie ein bacchantisches Evoc, würde er sicher zwei Monate früher entlassen!

Da ließ auch der alte Kainz sein gesprungenes Lachen scheppern und platzte zitternd los: »Korporal, dann brauch i ja kan kan… den… dentier.«

»Ah, so an Typhus«, sagte Frank mit tiefer Stimme. Seine Hände lagen gefaltet auf der Decke. »Aber sterben brauch ich doch net?«

»Ja, woher!« meinte Lös. Er nahm die Schnapsflasche, sog daran, gab sie weiter, Baguelin nahm seinen Teil, der alte Kainz lutschte am Flaschenhals wie ein Säugling, alle fanden den Typhus komisch, selbst Frank grinste.

»Ich werde jetzt den Major in Rich anläuten«, beschloß Lös. Die anderen waren viel zu begeistert, um abzuraten.

Das Telephon lag links vom Tor, gerade dem Wachtlokal gegenüber. Baguelin drehte die schmierige Kurbel und wartete, drehte noch einmal… Endlich fragte eine verschlafene Stimme, was denn los sei. Baguelin gab den Hörer weiter. Lös ergriff ihn und redete in den schmierigen Trichter.

Major Bergeret solle ans Telephon kommen, verlangte er… Der Sergeant sah auf seine Uhr und bemerkte, es sei ja kaum zehn Uhr, da würde der Major schon noch auf sein. Aber der Telephonist in Rich wollte wissen, wer denn telephoniere. Nur ein Korporal? Man sei wohl in Gourrama verrückt geworden. In der Nacht sei der Major nicht zu sprechen. Lös wurde energisch. Es handle sich um einen schweren Fall, vielleicht sei es Typhus, der Major müsse unbedingt benachrichtigt werden. Brummend ergab sich der andere, und nach kaum fünf Minuten tönte des Arztes sanfte Stimme, kaum gedämpft durch die Entfernung. Hallo? Lös stotterte, meldete sich zuerst nicht korrekt, so daß der Major zweimal, mit immer gleichbleibender Geduld, nach dem Namen des Anrufenden fragen mußte. Er wunderte sich, daß nur ein Korporal am Telephon sei, versprach dann aber, gleich am nächsten Morgen um vier Uhr loszureiten. Er werde etwa um acht Uhr in Gourrama sein. Und dem Korporal ginge es gut? wollte Bergeret noch wissen, habe der Korporal nicht einen kleinen Herzfehler? Lös dankte, ja, er fühle sich ganz wohl, seit er nicht mehr marschieren müsse. Der Major wünschte gute Nacht und hängte an.

Lös war sehr zufrieden. Es war günstig, daß der Major sich seiner noch erinnerte. Denn eigentlich hatte es Lös dem Major Bergeret zu verdanken, daß er in die Verpflegung gekommen war. Bei der ersten Untersuchung hatte er sich krank gemeldet, weil er das Tempo der Kompagnie auf den Märschen nicht aushalten konnte. Und der Major hatte dem Capitaine geraten, diesen Mann in einem Büro zu beschäftigen.

»Und wenn uns der Frank etwas vorsimuliert hat, dann bin ich der Blamierte«, stellte Lös fest. Aber die beiden anderen sprachen ihm Mut zu. Frank habe doch nicht das Thermometer durch Reiben in die Höhe treiben können, sie hätten ihn ja nicht aus den Augen gelassen. Aber diese Tröstungen klangen nicht sehr überzeugt. Nun, da etwas Entscheidendes getan worden war, schienen die drei Katzenjammer zu haben…

Frank hatte alle Decken von sich geworfen und lag fast nackt auf der Matratze. Der Körper war von einer gelben Haut überzogen, unter der die Knochen der Rippen und des Beckens spitz hervorstachen. Der Kranke war unruhig:

Die Nägel mußten juckende Stellen kratzen, dann blieben rote Striemen zurück, die lange nicht vergehen wollten.

Lös ging an die Segula und tauchte ein rauhes Leintuch ins laue Wasser, auf dessen Oberfläche die Sternbilder wogten. Dann hoben Baguelin und Kainz den Kranken auf. Frank wurde in das feuchte Leintuch gewickelt und lag hernach ruhig.

Der alte Kainz erlaubte sich eine geflüsterte Bemerkung: »Eigentlich hättest du das net machen sollen, Korporal; wenn er jetzt schwitzt, is er vielleicht morgen g'sund, und dann bist du der Blamierte.«

Es herrschte ein langes Schweigen nach dieser Bemerkung.

Was der Stille soviel Bedrückendes gab, war Franks lautloses Atmen. Unter den vielen Decken war das Heben und Senken des Brustkorbes zu sehen. Die Nacht drang durch die geöffnete Tür und bedrängte das Licht der Stallaterne, deren Flackern war wie das Kämpfen eines Erstickenden um Luft.

Da schlug Baguelin vor, gemeinsam zum Spaniolen zu gehen. Man könne dort etwas trinken und hernach noch dem Kloster einen Besuch abstatten. Dieser Vorschlag wirkte belebend. Lös wollte noch Smith einladen; sicher war der Schneiderkorporal bereit, mitzukommen.

In der Schneiderwerkstatt war noch Licht. Mit gekreuzten Beinen saß Korporal Smith auf dem großen Tisch und nähte einen Kragen an einen Sergeantenrock. Die Petroleumlampe neben ihm trieb schwarze Blätter aus ihrem Glaszylinder. Smith sprang vom Tisch und hüpfte auf und ab wie ein prallgefüllter Rugbyball. Als Veitl, der Koch, der noch immer am Tor wachte, die drei nicht durchlassen wollte, wurde er einfach mitgeschleppt. Er hatte verraten, daß der Chef noch immer nicht heimgekehrt war, und durch Pullmann, den der Lärm herbeilockte, erfuhr man, daß der Leutnant tief schlafe. Er habe Chinin genommen, aus Angst, krank zu werden, denn er hatte am Nachmittag aus einem Bache Wasser getrunken. Und Pullmann schloß sich an, statt Baguelin, der verschwunden war.

Die Kneipe des Spaniolen bestand aus einem weißgekalkten Raum, in dem zerkratzte Eisentische standen. Einzig die vielen Flaschen auf einem Bord hinter dem Schanktisch brachten mit ihren Etiketten einige Buntheit in den kahlen Raum.

Als die fünf eintraten (Kainz, Lös, Pullmann, Veitl und Smith) betrachtete der Spaniol sie durch ein Weinglas, das er mit einem schmierigen Lumpen putzte. Seine schlecht rasierten Wangen wirkten wie abgekratzte Speckschwarten. Er näherte sich mit gesenktem Kopf und wies mit dem Finger in eine Ecke. Dort thronte der Chef und füllte den einzigen Stuhl, der mit Armlehnen versehen war; auf seinen Schenkeln saß die kleine Mulattin, die hier als Schankmädchen diente. Sie galt als seine offizielle Freundin.

Zuerst schien Narcisse böse; die fünf störten seine Ruhe, und er wollte sie mit lauten Flüchen wieder in den Posten zurückjagen. Als aber die von Lös bestellte Flasche Anisette (Marke Brizard) vom grinsenden Wirt auf den Tisch gestellt wurde, glättete Wohlwollen seinen zornigen Mund. Der Chef trank sein Glas leer und leckte den letzten Rest von Ärger aus den Mundwinkeln. Er öffnete den Uniformrock, auch den obersten Knopf seiner Hose, um dem beginnenden Spitzbauch die zu seinem Wohlbefinden notwendige Freiheit zu verschaffen. Dann zog er die kleine Mulattin näher zu sich heran und gab ihr aus dem frisch gefüllten Glas zu trinken.

Nach kaum einer halben Stunde war die Flasche leer; denn süß war das Getränk, brannte nicht im Munde und ließ sich trinken wie Sirup. Der Chef ließ eine zweite Flasche bringen (›auf meine Rechnung‹, sagte er) und dämmte jeden Widerspruch ab mit der flachen Hand.

Smith entwickelte ein klebriges Erzählertalent. Er sprach in dunklen Worten von einem Smoking, bezeichnete sich als englischen Untertanen und forderte die französische Regierung heraus: ob diese sich einbilde, ihn hier in der Legion halten zu können? Dann bat er Lös (Lös könne doch so gut schreiben!), eine Charakteristik (mit Betonung auf der drittletzten Silbe) zu schreiben über den ›taylor‹ Smith, ein ausgezeichnetes Thema, ein interessantes dazu! Aber es müsse eine psychologische Studie sein (Smith stolperte ein paarmal über das Wort psychologisch und sprach es endlich englisch aus). Da unterbrach ihn aber der alte Kainz. Er hatte sich von der anderen Seite an Lös herangemacht und murmelte Verdammungsflüche, die seiner Frau in Wien galten, weil diese mit einem jungen Bäckerlehrling durchgegangen war, während er, der Mann, draußen im Felde kämpfte. Kämpfen – das sei so eine Redensart, er sei auch dort immer als Fleischer beschäftigt gewesen. Er begann zu singen: »Verlassen, verlassen bin i«, wußte nicht weiter, schluckte und ließ den grauen Kopf auf die gefalteten Hände fallen. Da aber forderte Pullmann die Genossen auf, das schöne Lied zu singen von der Hamburger Dirne: »In Hamburg, da bin ich gewesen…«

Als der Chef ihm deshalb über den Tisch eine Ohrfeige gab, unterbrach er sich, ballte die Fäuste. Er wollte aufspringen, da sah er auf dem immer noch gegen ihn gereckten Arm die zwei goldenen Winkel: unbegreiflicher Respekt schüttelte ihn. Er kroch in sich zusammen und summte nur ganz leise die Fortsetzung des Liedes.

Lös gelang es, die Aufmerksamkeit des Chefs zu wecken. Er erzählte den Fall Frank. Der Chef wackelte mit dem Kopf, packte die Mulattin, schob sie weit von sich, gab ihr noch einen Klaps, um diese Vertreibung erträglicher zu gestalten, und rief ihr nach: »Ich komm dann zu dir, jetzt muß ich reden.« Dann sah er Lös böse an.

Eine verfluchte Dummheit, dem Major anzuläuten! Jetzt würde er, der Leutnant, erst recht wütend sein, der Major auch, denn Frank sei doch als Simulant bekannt! »Warum hast du mich nicht um Rat gefragt?« war der Refrain seiner Rede.

Lös entschuldigte sich. Der Chef sei nicht dagewesen.

»In solch wichtigen Fällen sucht man mich wenigstens. Mich, den Mann der großen Erfahrung. Glaubst du, ich habe umsonst zwölf Jahre Dienst? Gegen mich seid ihr doch alle nur Wickelkinder, du besonders! Und jetzt hast du Angst!« So eindringlich sprach der Chef, daß Lös wirklich vermeinte, die Anzeichen einer nahenden Kolik zu verspüren. Dann blähte sich Narcisse gewaltig, und sein Schweigen war noch bedrückender als seine Rede. Als aber Veitl, mit einem dummen Grinsen, renommierte, er sollte eigentlich Wache stehen, aber er sei schlau, das Drücken habe er in der Legion gelernt, zog sich das Gesicht des Chefs so zusammen, daß der Bart waagrecht stand. Schweigend zündete Narcisse eine Zigarette an, ohne die Schachtel herumzubieten, stand dann schweigend auf, packte Veitl am Arm und schleppte ihn zur Tür hinaus.

Lös wollte folgen. Als er sich aber ein wenig mühsam erhoben hatte, durchdrang ihn im Augenblick, da er die Kante des Stuhles an seinen Kniekehlen spürte, eine schmerzende Wachheit: so, als sei plötzlich in ihm ein Wesen erwacht, das lange Jahre geschlafen hatte. Die Umgebung, die seinem Blicke Grenzen setzte, war klar und hell, viel klarer und heller, als es mit der schlechten Beleuchtung vereinbar war. Zugleich sah Lös wie durch einen umgekehrten Feldstecher die Dinge verkleinert und in die Ferne gerückt. Puppenhaft wirkten die drei am Tisch, und der Spaniol, der Weingläser polierte, die Mulattin mit dem bunten Kopftuch, die ihre dünnen Fußgelenke umspannt hielt. Die Karbidlampe an der Wand gurgelte grelles Licht und spuckte es über die Tische. ›Die Gegenwart‹, dachte Lös, ›das ist die Gegenwart.‹ Die schöne schmerzhafte Gegenwart, in der man ewig leben möchte. Nicht ›man‹, ich möchte darin leben. »Ich«, flüsterte er vor sich hin. Als müsse er sie suchen, ging er vorwärts mit tastenden Füßen. Alles war überdeutlich, er meinte jeden Teil seines Körpers zu fühlen: den brennenden Magen, die mit schwerer Müdigkeit gefüllten Muskeln der Schenkel. Das Blut, das die Haut der Hände spannte bis zu den Fingerspitzen, das im Kopfe hämmerte! Zuviel Blut! dachte Lös, darum glaub ich, daß diese Hände von einer Schmutzschicht überzogen sind; wird sie sich noch abwaschen lassen? Eine riesige feuchte Hand legte sich auf sein Gesicht und drängte ihn zurück. Er hatte die Türe ins Freie geöffnet… »Der Nachtwind!« murmelte er erleichtert.

Still und leer lag der große Platz vor ihm. Und die Berge schimmerten, durchsichtig und schwarz, viel durchsichtiger als der Himmel aus verrußtem Glase, während die Sterne dumpfes Licht ausstrahlten… Die Baracken des Postens hockten wie unbekannte riesige Tiere hinter der Mauer…

Lös sah eine Gruppe, die vor dem Eingang zum Posten stand. Und dann kam Sergeant Baguelin zu ihm. Er flüsterte:

»Sie haben gar nicht bemerkt, daß ich Sie verlassen habe. – Ich bin schnell in mein Büro gegangen, um Geld zu holen, und als ich wiederkam, waren Sie mit Ihren Begleitern schon verschwunden. Aber ein anderer stand am Tor!« Baguelin sprach geheimnisvoll drohend. Der Leutnant! Er hatte eine Runde gemacht und den ganzen Posten leer gefunden; da gab er mir den Auftrag, sie alle zu holen. Aber unterwegs habe ich den Chef mit Veitl getroffen. Jetzt stehen die beiden beim Leutnant, und soviel ich habe hören können, schiebt der Chef alle Schuld auf Sie. Beeilen Sie sich, sonst müssen Sie vielleicht diese Nacht noch in der Zelle schlafen.

Die helle Wachheit erlosch, eine andere dumpfe Gegenwart stieg auf, keine unbedingte, keine ewig währende. In dieser neuen erlosch das Gefühl für den eigenen Körper, nur Rechnungen, Zellen, Kriegsgericht gab es in ihr, und statt der zwerghaften Umgebung nur noch eine quälende innere Angst. Rasch kehrte Lös noch einmal um, warf dem Spaniol eine Banknote auf den Schanktisch: »Für die beiden Flaschen«, sagte er kurz. Dann näherte er sich der Gruppe am Tor.

Der Leutnant schickte ihm den weißen Strahl seiner Taschenlampe ins Gesicht und begann sogleich, da dieser Einschüchterungsversuch wirkungslos blieb: »Ich warne Sie, Korporal, ich warne Sie zum letztenmal. Ich habe Ihnen verboten, den Posten ohne meine ausdrückliche Erlaubnis zu verlassen. Wie der Chef mir erzählt, hat er Ihnen einen kurzen Ausgang bewilligt, weil Sie Geschäfte zu erledigen hatten. Einen Ausgang nur. Sie sind zum zweitenmal ausgegangen und haben die Wache zum Mitkommen verführt. Mit Veitl will ich nicht rechten. Er ist krank und nicht fähig, Widerstand zu leisten. Aber Sie. – Übrigens will ich Ihre Rechnungen doch näher untersuchen, denn wie ist es möglich, daß Sie mit Ihrem kleinen Sold Anisette zahlen können, der fünfundzwanzig Franken die Flasche kostet? Selbst mir wäre das zu teuer. – Bitte keine Ausreden, der Sergeant Major hat mich informiert. Für diesmal will ich Ihre Verfehlung noch auslöschen, besonders, weil augenblicklich kein Vertreter für Sie beschafft werden kann. Aber bei der kleinsten Unregelmäßigkeit benachrichtige ich die Intendanz in Bou-Denib und werde dann selbst die Klage gegen Sie aufsetzen. Dann kann Ihnen auch Ihr Capitaine Chabert nicht mehr helfen. Ihnen, Chef, danke ich noch, daß Sie Ihre Pflicht so gewissenhaft erfüllt haben.« Die dünne, näselnde Stimme brach ab wie ein plötzlich abgestopptes Grammophon. Dann warfen die Hände des Leutnants den Vorhang der Finsternis beiseite – und er schloß sich wieder hinter ihm. Die Zurückgebliebenen hörten eine Türe ins Schloß fallen.

»Amen«, sagte der Chef und begann sogleich, mit gelenkigen Worten sich bei Lös zu entschuldigen. »Du verstehst, ich mußte die Schuld auf dich wälzen: wenn ich einmal kompromittiert bin, kann ich dir nicht mehr helfen. Es muß immer so aussehen, als ob wir überhaupt keine Beziehungen zueinander hätten, dann hält man mich für unparteiisch. Und wenn diese kleine Wanze mich beim Capitaine lobt, so macht sich das gut, der Alte glaubt mir dann auch das, was ich über dich erzähle. Und wenn der Kleine dann die Intendanz in Bou-Denib auf dich hetzt, so hat der Alte auch dort noch Freunde und wird dich heraushauen. Aber vor allem (versteh mich richtig!) muß ich, der Chef, vollkommen makellos dastehen… Verstehst du? Und du glaubst doch nicht etwa, daß ich mich vor dieser kleinen Mißgeburt fürchte? Und jetzt, weißt du, was wir jetzt tun? Wir gehen ins Kloster. Jawohl. Du hast wohl die zwei Flaschen beim Spaniol bezahlt? Das ist recht, ich habe auch nichts anderes von dir erwartet. Nein, kein Wort, sprich jetzt nichts. Du bist ja ganz bleich geworden. Aber eine Tasse im Kreise jener schönen Damen, das wird wieder einen Mann aus dir machen, glaub es mir, Narcisse hat Erfahrung.«

Sie gingen Arm in Arm über den weiten Platz. Sergeant Baguelin, in einiger Entfernung, folgte kopfschüttelnd. Er winkte dem alten Kainz: »Ça pas bon«, sagte er und zeigte auf die Voranschreitenden. »Pas bon«, wiederholte der alte Kainz und zog einen sorgenvollen Mund. »Dommage für Caporal.« Sie nickten sich zu und bogen dann in ein schmales Gäßchen ein, in welchem die Nacht zäh und beklemmend stand, wie die Luft in einem verlassenen Kohlenbergwerk.


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