Glauser, Friedrich
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Glauser, Friedrich

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7. Kapitel

Der Marsch

Todd hatte die letzte Wache, die von Mitternacht bis zwei Uhr. Der Wind war frisch, kam in Stößen, beruhigte sich wieder, zerfetzte die Wolkendecke vor dem Mond. Todd zog die Uhr aus der Hosentasche. Es war eine schöne flache Uhr, die Goldschale ohne Verzierungen; als Kette trug sie einen geknüpften Schuhriemen. Korporal Pierrard hatte sie ihm geliehen. Es war ein Uhr. Um halb zwei mußten die Köche geweckt werden, um zwei war Tagwache.

Um zwölf war es noch warm gewesen. Erst später war der Wind aufgestanden. Todd zog die Kapotte an.

Durch die dünnen Zelttücher hörte er den Atem der vielen Schläfer. Manchmal klang es wie das Zischen vieler kleiner Dampfkessel. Dann verstummte das Zischen, die vielen Atemzüge hatten wohl das Zeitmaß gefunden, in das sie sich fügen konnten, weitausholend und doch irgendwo gehemmt, als müßten sie sich im Schlafe noch einer Disziplin fügen.

Nur die Maultiere blieben verschont vom umgebenden Zwang. Sie schienen gar nicht in das Lager zu passen mit seiner streng quadratischen Form. Sie standen oder lagen, bissen einander zum Spiel, schnauften dann laut. Es klang wie ein leises unterdrücktes Lachen; bisweilen stieß das eine kurze, pfeifende Laute aus und warf die Hinterbeine in die Luft. Und auch den beruhigenden Knüppelschlag der Stallwache nahm es weiter nicht übel. Das gehört zum Spiel.

Halb zwei. Noch eine halbe Stunde, dann gab es heißen Kaffee und einen Achtelliter Schnaps. Todd ging in das Zelt, wo die Köche schliefen und riß an ein paar nackten Füßen, die hervorragten.

Bald brannten die Feuer aus dürrem Gras und trockenem Thymian. Der Wind breitete den Rauch wie ein scharfduftendes Tuch über das Lager. Es wogte unruhig, bis eine Stille eintrat, dann blieb es liegen. In den Zelten wurde es lebendig. Gestalten schlichen heraus, die den Schatten Verstorbener glichen. Der Himmel wurde langsam weiß, als sei die Milchstraße über ihre Ufer getreten. Die Ordonnanzen rissen die Pflöcke der Offizierszelte aus. Korporal Pierrard kam heran und verlangte seine Uhr zurück. Todd ging zu den Feuern, um zu frühstücken. Sergeant Hassa pfiff zum Reveil.

Das Zelt über Capitaine Chabert verschwand plötzlich, er lag in seiner Fülle auf dem niedern Feldbett, lachte, hustete, fand den Witz ausgezeichnet, den Samotadji sich da erlaubt hatte, fluchte dann plötzlich, weil er seine Pfeife nicht fand. Er brauchte fünf Streichhölzer, um den Tabak in Brand zu setzen (der Sturm wehte heftig). Nun brüllte er Lartigues Namen in den Wirrwarr. Niemand hatte den Leutnant gesehen. Doch da erschien er im Schein eines Feuers, er hatte einen Spaziergang gemacht, seine braunen Ledergamaschen glänzten. Samotadji rief nach dem Koch; endlich brachte dieser den kleinen Aluminiumkrug mit dem Kaffee. Der Capitaine kostete und verbrannte sich die Lippen. Einen Teil des Kaffees goß er auf den Boden und leerte Schnaps aus der Feldflasche nach.

Er klatschte in die Hände und rief: »Vorwärts, vorwärts« in das Chaos, das um ihn kreiste. Nur ein Feuer brannte noch. Hoch schlug die Flamme auf, knatterte im Sturm, das Lager war taghell, große Schatten tanzten auf der Ebene, ballten sich zu Klumpen, lösten sich wieder. Dennoch war kein Wort und kein Ruf zu hören. Nur des Capitaines Händeklatschen drang durch das Scharren des Aufbruchs. Todd warf den Sattel auf seine Lisa.

Das Feuer war abgebrannt. Nun klärte sich das Chaos. Eine unterdrückte Fröhlichkeit, die sich nur in Gesten äußerte, zitterte durch die Kolonne. Der Schnaps war die Ursache, der starke Kaffee und die Zigarette auf nüchternen Magen.

Der Capitaine saß schon auf seinem Pferd. Er hob den Arm, und diese Bewegung sah aus wie eine sakrale Geste. Dann ließ er ihn nach vorne fallen, gab dem Pferd die Sporen und war bald nur ein Schattenriß gegen den silbernen Himmel.

Todd ritt als vierter. Unter den Hufen seines Tieres war die Straße ein grauer Teppich, dunkel zuerst, dann wurde er nach und nach heller. Eigentlich war es gar keine richtige Straße, eher ein primitiver Weg, das Gras oberflächlich abgekratzt, manchmal von tiefen Rinnen durchfurcht; in der Regenzeit hatten die schweren Camions sie gegraben. Die Ohren des Maultieres wippten. Der dichte Schwanz des vorhergehenden hing schlapp und reglos herab. Angenehm war die Spannung, die von der Schlaflosigkeit der letzten Nacht erzeugt wurde; diese Spannung, die fremd war und erwartungsvoll. Und doch war kein Grund vorhanden, irgend etwas zu erwarten. Der Tag würde dem gestrigen gleichen: marschieren, reiten, marschieren. Um acht Uhr würde die Sonne beginnen zu stechen, und dann gab es Durst. Um Mittag herum kam man zum großen Halt. Dort mußte man bis zum Abend unter den braunen Zelttüchern liegen, durch die sich die Sonne fraß; immer war sie ein brennender Hohlspiegel, kaum verdeckt, der die Augen blendete, durch die Lider stach, Wasser aus dem Körper sog, bis er ausgetrocknet war, wie das zähe Alfagras, das schon als Heu wuchs.

Der Himmel wurde rot, und der Wind legte sich. Es war noch frisch. Vielleicht hatte es sogar Tau? Todd dachte nach. Gab es hier überhaupt Tau? Er hätte es nicht sagen können. Immer blieben die Bilder stumpf, die man aufnahm, die Wirklichkeit fehlte ihnen. Viel wirklicher waren die Landschaften der Träume, in denen Wasser floß und Weiden grünten. Auch die Kameraden blieben Puppen mit automatischen Bewegungen. Nur Wut empfand man gegen diese Puppen, wenn sie beim Satteln störten.

Der Capitaine pfiff, hob den Arm, ließ ihn lange erhoben. Der Zug stand. »Absitzen, wechseln«, kam der Befehl und wurde weitergegeben. Todd stieg ab, von vorne kam sein ›Doubleur‹ gerannt, ein kleiner Russe mit einem Wieselgesicht, namens Veraguin, der kein Wort französisch sprach. Todd hielt den rechten Steigbügel, während der andere links aufstieg. Der Sattel war schwer beladen mit der Ausrüstung der beiden. Man war nie sicher, ob der Sattel hielt, der Gurt konnte noch so fest angezogen sein, manchmal rutschte das Ganze doch auf den Bauch des Tieres, dann mußte man umsatteln. Das gab Verspätung, man war gezwungen, der Kolonne nachzulaufen, wurde angeschrieen, und das vergrößerte das Gereiztsein und die Müdigkeit. Es war besser, man gab acht. Todd lief nach vorn, stellte sich an seinen Platz, es war der dritte im Einerzug, und sah nach Capitaine Chabert. Der hielt noch immer den Arm erhoben, wie ein indischer Fakir, das Pferd unter ihm stand ergeben still. Nun senkte sich der Arm, ein Ruck ging durch die lange farblose Schlange, sie kroch weiter.

Die Stunde vergeht. Mit vorgeneigtem Kopf marschiert jeder, die Knie gebeugt, die Sohlen kaum vom Boden hebend, fast schleifend wie beim One-Step, nur daß man kleinere Schritte nimmt. Todd muß wirklich an den Tanz denken, wie er auf dem grauen Straßenband weitergeht, eingehüllt in eine Staubwolke, die viele Schuhe, viele Hufe aufgewirbelt haben. Die Gespanntheit will noch nicht weichen. Es sind viele Bilder da. Erinnerungen von früher, aber nicht klar und deutlich, sondern verschwommen, so, als habe Staub und Müdigkeit sie getrübt. Nur eine Erinnerung setzt sich fest, und er muß ihr nachgehen, sie ausmalen, bis sie endlich fertig vor ihm steht: eine Bar sieht er und viele geschminkte Gesichter, er hat Geld genug, aber ist trotzdem unruhig und sieht immer wieder nach der Tür, ob dort nicht ein Polizist auftauchen wird, um ihn zu verhaften. Eigentlich ist es am Morgen viel zu glatt gegangen auf der Bank, mit dem Scheck. Niemand hat die Unterschrift geprüft, die Unterschrift des Bruders, ohne weiteres sind ihm die fünfhundert Dollar ausbezahlt worden. Seine Angst ist wirklich grundlos.

Da tritt ein Mädchen auf, Pagenfrisur, eine zierliche schwarzhaarige Person, in seidenen Culottes, weißen Strümpfen, Spitzenjabot und Pumps. Sie rezitiert mit ganz flacher Stimme, ohne eine Bewegung zu machen:

»Verträumte Polizisten watscheln bei Laternen,
Zerbrochene Bettler meckern, wenn sie Fremde ahnen.
In manchen Straßen stottern starke Straßenbahnen
Und sanfte Autos rollen zu den Sternen.«

Todd merkt plötzlich, daß er die Verse laut vor sich hin spricht. Sein Vordermann dreht sich um. Todd schweigt und schämt sich zuerst, dann sieht er, daß es Schilasky ist. Das umgewandte Gesicht sieht aus, wie aus Buchenholz geschnitzt. Die Nase ist auch im Profil scharf.

»Was sagst du?« fragt Schilasky.

»Nichts, nichts. Es ist mir nur ein Gedicht eingefallen.« Dann will er weiterschweigen. Aber Schilasky ist interessiert. Er tritt aus der Reihe, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hat. Es ist kein Vorgesetzter in der Nähe. Sergeant Sitnikoff an der Spitze schläft, und Chaberts Pferd ist weit voraus, ganz undeutlich sichtbar, Samotadji hält es. Der Capitaine hat wohl austreten müssen.

Schilasky fragt, was es denn für ein Gedicht gewesen sei, Koribouts Vorlesung scheint gewirkt zu haben. Schilasky interessiert sich für Gedichte. Da beginnt Todd zu erzählen. Von der kleinen Diseuse im Kabarett, nachher habe er sie eingeladen, gerade am Tag, wo er den falschen Scheck eingelöst habe. Sie sei ganz einsam in der Bar gesessen, niemand habe sich getraut, sie anzureden, denn ihr Ausdruck sei sehr abweisend gewesen. Übrigens, sie habe gut rezitiert. Auch ein anderes. Todd wisse nicht, warum er die Gedichte behalten habe. Er habe die Kleine dann in der Nacht noch gebeten, sie zu wiederholen. Es sei sehr komisch gewesen. Sie sei nackt auf dem Bett gelegen und habe die Verse gegen die Decke des Zimmers gesprochen. Schilasky lacht. Todd schiebt den Unterkiefer vor und schweigt.

Schilasky hat einen horchenden Ausdruck. Sein hölzernes Gesicht bekommt Leben. Während er sich mit gebeugten Knien vorwärts schiebt, legt er den Kopf schier anmutig auf die Schulter, um den Worten des Kameraden zu lauschen.

»Ja«, sagt er, wie der andere schweigt, »in Berlin bin ich auch oft ins Kabarett gegangen mit meinem kleinen Freund. Ein lieber Junge war's, sage ich dir. Und konnte so schön Gitarre spielen und Lieder dazu singen!« ›Es fiel ein Reif in einer Frühlingsnacht‹, singt er plötzlich mit hölzerner Stimme, die abgehackt klingt, wie ein Xylophonsolo. »Du kennst doch das Lied?«

Todd nickt. Es tut so gut zu sprechen, der Weg rollt viel schneller ab, vorn hebt schon wieder der Capitaine den Arm. Absitzen, wechseln. Sie laufen beide zurück, so schnell sie können, und die Gewehre hüpfen auf ihren Rücken.

Nun reiten sie nebeneinander, obwohl das eigentlich verboten ist. Noch ist der Weg breit, die Berge aber kommen schnell näher. Bis dahin können sie miteinander sprechen, sich selbst erzählen; ob der andere zuhört ist eine Frage für sich.

»Ich habe ihr einen Gin-Fizz angeboten«, erzählt Todd.

»Zuerst war sie ein wenig zugeknöpft, aber ich sagte zu ihr: Wie können Sie so zugeknöpft sein, mein gnädiges Fräulein, Sie haben ja gar keine Knöpfe an Ihrem Kleid. Weißt du, sie hatte so ein enganliegendes Kleid, nachher zog sie es einfach über den Kopf. Sie sah wie ein Schulmädchen aus in ihren Schlupfhosen. Und dann war sie so bescheiden. Die Mädels animieren einen sonst zum Trinken. Sie gar nicht. War mit ihrem Gin-Fizz ganz zufrieden. Saß still neben mir und erzählte von einer Bootsfahrt auf dem Vierwaldstättersee. Sie hatte ein Engagement in der Schweiz gehabt; das sei angenehm gewesen während des Krieges. Dort hätte sie sich wieder einmal satt essen können.«

Schilasky unterbricht ihn, und nun hört Todd, daß der andere gar nicht aufgepaßt hat, denn er fährt fort, dort, wo er stehen geblieben ist:

»Weißt du, ich hatte ihn auf dem Bahnhof kennengelernt. Am Abend war ich immer auf dem Bahnhof. Natürlich in Zivil. Als Wachtmeister von der Sipo kann man doch nicht in Uniform gehen. Plötzlich gefällt einem ein Gesicht oder die Bewegung eines Körpers, man geht nach, eine Zeitlang, bis man den Menschen ein wenig studiert hat. Man kriegt Übung. So kleine Anzeichen verraten viel. Irgendein weiches Gehen, ein Schwingen in den Hüften, ein sonderbares Lächeln, untertänige Augen. Ich habe einen guten Blick.

Meinem Jungen bin ich ein paar Tage nachgestiegen, bis ich es gewagt habe, ihn anzusprechen. Von den vielen, die ich kannte, war es der einzige, der mir ein wenig Angst gemacht hat, im Anfang. Er war noch Gymnasiast. Und dann sind die Eltern dahintergekommen. Es hat Skandal gegeben. Der Junge hat einen Selbstmordversuch begangen, so sehr hat er an mir gehangen.«

Todd betrachtete Schilasky von der Seite. Immer mehr zerbrach die hölzerne Maske. Das Ohrläppchen, das unter dem Tropenhelm sichtbar war (zierlich geformt war es, wie bei einer Frau), hatte sich gerötet, und auch auf den Backenknochen saßen zwei rote Tupfen.

Da waren die Berge. Der Weg wurde eng. Er war in die Felsen gesprengt, die hellgelb glühten. Todd hielt die Lisa zurück. Eine Zeitlang ritten sie schweigend. Links fiel der Hang steil zu einem kleinen Bach ab.

Todd sah den Rücken des vor ihm Reitenden. Ein schmaler Rücken. Die Schulterknochen verschoben sich in gleichbleibendem Rhythmus unter dem eng anliegenden Khakirock. Der Korkhelm lag über dem Kopf wie eine leichte Glocke. Wieviel mußte unter dieser gelben Glocke geschehen! Ein Heißlaufen der Gedanken, gegen das selbst die Müdigkeit nichts nützt. Immer die gleichen Gedanken, die gleichen Wünsche, die peinigen; es lohnt sich kaum, von ihnen zu sprechen. Sie sind so schwer in Worte zu fassen, und dann… niemand versteht sie. Todd ärgerte sich, daß er die Geschichte der kleinen Diseuse erzählt hatte. Unwürdige Geschwätzigkeit war es, nichts weiter, mit dem undeutlichen Wunsch, den anderen zum Reden zu bringen. Es war auch noch etwas anderes. Koribout hatte es eine Beschwörung genannt oder so ähnlich, dies Gedichtesprechen. Es beruhigte ein wenig und ließ die Spannung abflauen.

Der Weg war steil. Todd sah auf die Vorderfüße seines Tieres. Ganz vorsichtig betastete der rechte Vorderhuf einen Stein, ob er nicht rutsche, dann, mit einem Ruck, zog sich der Körper an dieser Stütze nach. Es war viel Sicherheit in diesen Bewegungen. Und ich habe keine Sicherheit, dachte Todd. Aber es bedrückte ihn wenig. Er war zufrieden, daß keine Entschlüsse mehr von ihm verlangt wurden, daß der Tag in einer vorgeschriebenen Art gelebt werden konnte, mit Sattelaufschnallen, Reiten, Wasserholen, Marschieren, Zeltaufbauen und Schlafen. Wenn die Erinnerungen quälend wurden, gab es am Abend den Wein, der kein Genußmittel war, sondern eine saure Notwendigkeit: der Müdigkeit nimmt er das Peinigende, gibt der leeren Gegenwart einen Inhalt und dem Körper, der nicht mehr weiß, was Lust ist, eine seltsame Art Wohlbehagen.

Die Sonne war schon hoch, als die Kolonne zum viertenmal hielt. Sie war auf der Höhe angelangt. Diesmal hob Capitaine Chabert beide Arme zum Himmel und machte eine Zeitlang Freiübungen. Das bedeutete einen längeren Halt. Als er endlich vom Pferde sprang, saßen schon alle am Wegrand, die Zügel der Maultiere leicht um das Handgelenk geschlungen. Korporal Pierrard ging den Sitzenden entlang und verteilte Speckscheiben. Schweigsames Schmatzen. Die Maultiere rissen Gras aus und kauten blasiert. Dann standen sie wieder still mit gesenkten Köpfen und halbgeschlossenen Augen.

Ganz hinten in der vierten Sektion saß Pausanker neben dem Sergeanten Farny. Der Junge hatte sich verändert. Die Wangen waren grau im Schatten des Tropenhelms, aber rot schimmerten die Lippen, und in den Mundwinkeln standen winzige Bläschen. Farny hielt den steifen Blick auf eine Wolke geheftet, die wie ein einsamer Fesselballon regungslos über der Ebene stand. Manchmal packte er das Handgelenk seiner Ordonnanz, preßte es, ließ es wieder los. Dieses eigentlich grundlose Zucken (oder war es doch ein krampfhaftes Sich-bewußt-Machen, daß man Macht hatte?) wirkte auf Pausanker erschreckend. Das Kinn klappte herab, und dadurch bekam das Gesicht etwas Blödsinniges.

Korporal Ackermann spazierte vorbei. Seite an Seite mit Korporal Seignac, dem Neger. Die Uniformen der beiden waren weiß vom vielen Waschen, die Wadenbinden saßen ohne Falten, auch die gelben Krawatten waren dreifach zusammengefaltet, wie es das Reglement vorschreibt, und so eng um den Hals gelegt, daß sie wie gebügelt wirkten.

Seignac hatte es nicht leicht als Schwarzer, obwohl er gar nicht negerhaft aussah. Seine Lippen waren schmal und die Backenknochen so weit zurückgelagert, daß die edel geformte Nase deutlich sichtbar blieb. Er sprach ein fehlerloses Französisch und einige Worte deutsch; wohl aus diesem Grunde und vielleicht auch, weil Seignac einmal zwei Monate auf der ›Bremen‹ als dritter Steward gedient hatte, protegierte ihn Ackermann.

Das einzige, was man Korporal Seignac vorwerfen konnte, war seine übertriebene Korrektheit. Er spielte den Gentleman, spielte ihn allzu gut, so gut, daß er damit den anderen auf die Nerven fiel und sie in einen begreiflichen Protest hineintrieb, der sich in Hohn, Rippenstößen und sonstigen Naturburschenallüren kundtat. Aber Seignacs Phlegma war nicht zu erschüttern: er gab seine Befehle, führte sie selber aus, wenn er auf Weigerungen stieß, sprach selten und lernte in seiner freien Zeit englische Wörter aus einem alten roten Diktionär. Die Aussprache, die er den Wörtern gab, war bisweilen phantastisch, und Korporal Smith, der Schneider, der ebenfalls keine Rassenvorurteile kannte, korrigierte ihn geduldig.

Als Ackermann mit seinem Gefährten am Sergeanten Farny vorbeiging, sah er zuerst nicht zur Seite. Doch Farnys kompakter Blick war ein Hindernis, das den Deutschen aufhielt – und nun mußte er nach der Störung schauen. Ekel zog Falten in sein Gesicht – denn Pausankers Haltung gab Grund genug zu ehrlichem Widerwillen.

»Schau«, sagte Ackermann und stieß Seignac mit dem Ellbogen an. Der Schwarze nickte. Und aus Freundschaft für Ackermann legte auch er sein Gesicht in angewiderte Falten. Um nicht wieder an den beiden Sitzenden vorbei zu müssen, stiegen beide in das Tälchen links von der Straße hinab und erreichten das Sträßlein weiter unten.

Schilasky steckte das letzte Stück Speck in den Mund, zog ein Taschentuch aus der Hose (es war wirklich ganz sauber, Todd stellte es erstaunt fest) und wischte sich den Mund und die Hände. Es sah aus, als putze sich ein alter, abgemagerter Kater. Dann ließ er sich auf die Böschung zurücksinken, benützte die verknüpften Finger als Kopfkissen und sah sich an einem Stück Himmel fest.

Nun wandte Schilasky plötzlich den Kopf und saugte sich an den Augen Todds fest. Der Blick wirkte wie ein Schlag, er durchzitterte des andern Körper und sammelte sich schließlich als schmerzhafte Leere in der Magengrube.

Ein Pfiff…

Der Marsch ging weiter durch Alfagras und wilden Thymian, der Weg war grau, nicht einmal die Sonne vermochte ihn weiß zu färben. Manchmal führte er durch ein Bachbett, in dem ein fauliges Wasser die Wurzeln der Oleander bespülte. Die Maultiere schlürften einen Zug, wurden zurückgewiesen, schüttelten mißbilligend die Köpfe…

Das südliche Marokko war wirklich öde. Im Norden sollte es besser sein, da gab es Wälder und Berge, sogar Wasserfälle und richtige Flüsse, wie daheim. Die Urlauber, die nach zwei Jahren Süden nach Casablanca in die Ferien gingen, erzählten davon, und vom Meer und den weißen Frauen, die dort durch die Straßen gingen. Es klang ganz wie ein Märchen.

Es war Samotadji, des Capitaines blondbärtige Ordonnanz, welcher die Rede auf die Ferien brachte. Er ritt dem Zug entlang, schlug manchmal einen leichten Galopp an und hatte den langen Bart über die Schulter gelegt. Dazu tat er gar gnädig, spielte stellvertretende Autorität (der Capitaine war nirgends zu sehen), sprach geheimnisvoll in Andeutungen, von einem bevorstehenden Kampf. Ein Dschisch, das sei eine Räuberbande, erklärte er den Neuen, sei signalisiert, der Capitaine wisse Bescheid.

»Wie sie sich aufspielen, wie sie sich aufspielen«, sagte Leutnant Lartigue zu Sitnikoff, der neben ihm ritt. »Mon bon ami, welche Wichtigtuerei, und der Alte freut sich noch, wenn wir angegriffen werden. Die Krawatte des Kommandeurs ist fällig, Offizier der Ehrenlegion ist er ja schon, in guter Gesellschaft muß ich sagen, mit Herrn Paul Bourget und Herrn René Bazin. Ich bitte Sie, welche Ehre bedeutet es, wenn irgend ein Minister mir einen silbernen Orden an die Brust heftet. Ich danke, ich mache nicht mit. Überhaupt«, er schob das Képi auf den Hinterkopf, »wächst mir die ganze Geschichte zum Hals heraus. Fieber hab' ich erwischt und hätte doch so bequem daheim in Paris leben können. Geld hab' ich genug, was tu ich in dieser ›Galera ambulante‹, wie irgendein Italiener sagt? Psychologische Studien dachte ich zu machen und habe mich deshalb in die Legion gemeldet, Schicksale riechen…!« Der Leutnant zog die Luft tief ein. »Aber fremde Schicksale sind langweilig, wenn man selbst keines aufzuweisen hat. Ich bin am Wege vergessen worden, bin stehengeblieben… Und muß nun den Zuschauer spielen. Das ist langweilig.«

Sitnikoff schwieg. Das Geplapper des Leutnants wirkte einschläfernd, wie ein monotones arabisches Lied.

Und wieder war es Samotadji, der Leben in die schläfrige Kolonne brachte. Von einen Ende des Zuges zum anderen ritt er, hielt bei einem Bekannten an, erzählte die Neuigkeit des bevorstehenden Kampfes; Lauscher kamen näher. Er, Samotadji, habe keine Angst, er habe bei den Honved gedient und alle Karpatenschlachten mitgemacht. Und dann auch noch die Revolution mit Bela Kun. Das sei ärger gewesen als der ganze Krieg. Schilasky, der Schweigsame, lächelte nur höhnisch. Er hatte keine Lust, mitzurenommieren. Aber der dicke Russe Samaroff, der ein besonders kräftiges Maultier brauchte, weil er über neunzig Kilo schwer war, nahm den Mund gar voll, erzählte in gebrochenem Französisch von Rennenkampf und Koltschak, fluchte auf die Bolschewiken und grinste dann wieder, wie zur Entschuldigung, als Samotadji, der Kommunist, vorbeiritt. Aber Samotadji hatte gar keine Lust, politische Diskussionen zu beginnen. Das war gut und recht für drüben. Hier gab es andere Interessen: Wichtiger war es, zu erfahren, ob man auf der Beförderungsliste stand, die der Capitaine nach Fez geschickt hatte. Was interessierte es jetzt noch den langen Wiener Malek, der behauptete, zur Holzhammerbande gehört zu haben und ein paar Gräfinnen aus den Fenstern ihrer Palais auf die Straße geworfen zu haben, was kümmerte es ihn, ob diese Bande arretiert worden war? Jetzt galt es, mit Schilasky zu rivalisieren, dessen Sauberkeit auszustechen und beim kleinen Korporal Allery von der zweiten Sektion für zwei Liter Wein in der Woche Französisch-Stunden zu nehmen. Denn auch Malek hatte den Ehrgeiz, die einfachen Schnüre eines »ersten Soldaten« (so wurden die Gefreiten genannt) gegen die doppelten eines Korporals einzutauschen.

An jedem Marschtag wiederholte sich das gleiche Phänomen. Todd stellte es heute fest und versuchte es Schilasky klarzumachen, der aber wenig Interesse zeigte. Am Morgen beim Aufbruch lief jeder am anderen vorbei, das Durcheinander war wirklich ein Wirbel einzelner unzusammenhängender Teilchen. All diese menschlichen Teilchen arbeiteten jedes für sich, ohne Zusammenhang mit den anderen. Jeder sah im anderen nur die Störung, also den Feind. Die Gereiztheit war überspannt. In den ersten Stunden des Marsches hielt sich diese Stimmung. Jeder ritt für sich, marschierte für sich. Erst, wenn die Müdigkeit sich einstellte, die Sonne stärker brannte und der Durst mit staubigen Fingern über die Lippen fuhr, erinnerten sie sich nach und nach, daß sie nicht allein waren. Ein Anlehnungsbedürfnis entstand. Man tauschte einzelne Worte, vorsichtig und mißtrauisch, wie Markensammler seltene Doubletten austauschen. Bei der fünften, bei der sechsten ›Pause‹, wenn der Mittag nahte, der schwere, und mit ihm die große Rast, wurden die Worte zahlreicher. Korporal Pierrard steckte dann wohl eine Zigarette unter seinen Gallierschnurrbart, und Samaroff, der stets auf dem Hund war, bat den Korporal um das Mégot. Pierrard nickte dann gnädig und schlug einen Handel vor: »Drei Zigaretten für einen Quart Wein, zahlbar mittags oder abends.« In Samaroff kämpfte das Bedürfnis nach Nikotin gegen das Bedürfnis nach Alkohol. Das Nikotin siegte. Es war noch weit bis zum Abend, und vielleicht vergaß Korporal Pierrard zu reklamieren. Aber die andern verfolgten den Handel mit Spannung. Ein Handel ist ja nie ganz einwandfrei, aber spannend ist er stets.

Da erschien der Capitaine und hüpfte im Sattel zum harten Trab seiner feisten Stute. Er rief nach Samotadji, beide ritten davon. Nun wurden alle Gesichter in der Kolonne lebendig. Der Capitaine suchte einen Platz zum Kampieren. Zuletzt war nur noch Samotadjis zurückgewandtes, triumphierendes Gesicht zu sehen, als sei er der Anlaß der bevorstehenden Rast – und sein Bart wehte, einem goldbestickten Wimpel gleich.

In der Ferne tauchte ein weißes Viereck auf. Zuerst war es nur eine verkürzte schimmernde Platte. Dann hoben sich die Mauern ab, Schatten zeichnete kubische Muster. Ein Posten – wie die anderen, die unzählbaren, welche das Land überzogen, gleich einem Netz, dessen Fäden unsichtbar sind –, die Knotenpunkte aber leuchten desto heller. Hinter dem Posten türmten sich gelbe Lehmwürfel übereinander. Ein unwahrscheinlich grünes Band zog sich durch die Ebene, es war ein Grün, wie man es sonst nur auf schlecht kolorierten Postkarten sieht: Dattelpalmen, die einen Oued einsäumten. Und giftig stach dieses Grün ab gegen den zyanenen Himmel.

In zehn Minuten stand das Lager. Nur die Maultiere wurden abgesattelt und angepflockt. Es sei nicht nötig, Zelte aufzubauen, die Bäume gäben Schatten genug, hatte Chabert verkündet. Im nahen Dorf hatte er acht Schafe gekauft, auch Kartoffeln. Lartigue fand einige Tauben und Hühner. Diese Verschwendung entlockte dem Capitaine ein mißgünstiges Grunzen; doch bald ging es über in ein ›bon, bon‹, als der Leutnant erklärte, daß dieser Einkauf doch für sie beide, für Chabert und für Lartigue, bestimmt sei…

»Wissen Sie«, sagte Chabert, als sie wieder im Lager waren, und sprach so laut, daß alle ihn verstehen konnten, »wenn man Junggeselle ist wie Sie, kann man sich eine solche Verschwendung leisten. Aber ich, der ich fast meinen ganzen Sold meiner Frau schicken muß…« Er breitete die dicken Arme aus wie ein Gekreuzigter und ließ sie dann gegen die ausgewaschene Uniform fallen.

Der wichtigste Augenblick des Tages war da: das Brot wurde verteilt und der Wein. Beides hatte der Posten geliefert, in dem eine Kompagnie Tirailleurs und eine Schwadron Spahls lagen. Das Brot war daher frisch und der Wein weniger sauer als die letzten Tage, da ihn die kleinen Fässer liefern mußten, die an den Tragsätteln den ganzen Tag in der Sonne hingen…

Unter den Dattelpalmen war es dumpf, aber erträglich, erträglicher als unter den Zelten; das Wasser des ziemlich breiten Oued war lau und weich. Schilasky, Malek und zwei Russen gingen gleich nach dem Essen waschen, während die anderen faul unter den Bäumen lagen.

Den ganzen Nachmittag war Todd allein. Zuerst lag er auf dem Rücken und starrte zwischen den Blättern in den Himmel. Er dachte an nichts und ließ die Stunden fließen. Bisweilen rollte er mit feuchten Fingern eine Zigarette (es war warm wie in einem Dampfbad unter den Bäumen), das dünne Papierblättchen zerriß oft, und der trockene Rauch brannte auf der Zunge und im Halse. Gegen vier Uhr stand er auf und ging ins Dorf.

Aus einem weißgekalkten Lehmwürfel drang ein starker Geruch, Mischung aus Minze und Kaffee. Zwei zusammengenähte Säcke bedeckten den Eingang. Der kleine Raum war kühl, der gestampfte Boden mit Wasser besprengt. Beim offenen Kohlenfeuer stand ein uralter, zahnloser Mann, stellte kupferne Kännlein ins Feuer, in denen er den Kaffee mit einem Löffel schlug, sobald er aufkochte. An der Hinterwand des Raumes lief eine niedere Holzbank, so breit, daß vier Araber mit verschränkten Beinen darauf sitzen konnten. Ein paar blecherne Gartentische waren über den Raum verteilt mit wackligen eisernen Stühlen davor. Todd bestellte Tee, der Uralte brachte ihn.

Die vier Schatten an der Wand trugen graue Mäntel, deren Kapuzen trotz der Hitze die Köpfe einhüllten. Einer dieser Männer kam an Todds Tisch, grüßte, indem er den Finger an die Lippen führte. Dann erkundigte er sich in gebrochenem Französisch, welche Kompagnie heute angekommen sei. Todd gab Antwort. Ob auch Gewehre dabei seien, die schnell schössen? – Ja. – So. Was hätten wohl die Camions geladen, die sie abholen müßten? – Wahrscheinlich Wein und Reis und Mehl und Zucker… Todd zählte an den Fingern. – Eine Kiste Seife vielleicht… Der andere zeigte breite Zähne und legte die Hände flach auf den Tisch. Schöne, hellbraune Hände mit gewölbten Nägeln an der Spitze, die sauber waren. – Ob auch das Auto des Zahlungsoffiziers bei den Camions sei, wollte der Mann noch wissen. Todd glaubte es nicht. Doch der andere schien besser informiert zu sein, denn er lächelte nur, sehr vorsichtig, zu den drei Schatten an der Wand. Diese aber übersahen den Blick, sie spielten jetzt mit schmutzigen Karten, und ihre Unterhaltung klang wie das Fauchen gereizter Katzen.

Der Mann, der Todd gegenübersaß, warf mit einem Ruck die Kapuze herunter. Todd fuhr zurück. Das Gesicht war ihm so bekannt, einzig die Hautfarbe stimmte nicht: knochig und sehr mager mit spärlichen schwarzen Härchen, die am Kinn zitterten und die Haut unter der Nase schwarz schraffierten. Er versuchte sich zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Er hatte schon lange nicht mehr in einen Spiegel geblickt.

Erst draußen auf der Straße, als er nachdenklich an seinem Bärtchen zupfte, mußte er lächeln. »Mir hat der Kerl ähnlich gesehen«, dachte er. Aber diese sonderbare Ähnlichkeit beschäftigte ihn nicht anders als ein schlechter Witz.

Es mochte sechs Uhr sein, als er ins Lager zurückkam. Das Abendessen kochte schon in den hohen schwarzen Blechkesseln, und Pierrard hatte den Wein an die Sektionen verteilt. Korporal Koribout habe nach ihm gefragt, teilte man Todd in der Gruppe mit. Doch war es nichts Wichtiges. Er solle nach dem Abendessen mit Schilasky die Maschinengewehre putzen.

»La Mitrailleuse Hotchkiss est une arme automatique, fonctionnant par l'échappement des gaz…« Dieser so oft wiederholte Satz setzte sich in Todds Kopf fest und ließ sich nicht daraus vertreiben. So peinigend wurde schließlich seine ewige Wiederholung, daß Todd mit dem abweisenden Schilasky ein Gespräch begann. Es war noch hell, die kleinen Stahlteile des Maschinengewehres glänzten rötlich auf dem braunen Zelttuch.

»Glaubst du auch, daß es morgen etwas geben wird?«

Schilasky schien mühsam aus einer Tiefe emporzutauchen, sah blöde um sich, ließ sich die Frage wiederholen, besann sich einen Augenblick, und fragte dann: »Morgen? Was soll denn morgen sein?«

»Ob du auch glaubst, daß es einen Überfall geben wird?« Todd wurde ungeduldig.

»Ach«, sagte Schilasky müde, »das hat man schon so oft erzählt.«

Dann schwieg er wieder und arbeitete mit den Putzfäden.

»Ich freue mich auf die Unordnung. Und wie viele ausreißen werden.« Todd sprach krampfhaft lustig, die Schweigsamkeit des andern wirkte aufreizend.

Schilasky zuckte mit den spitzen Schultern und sah seinen Kameraden von der Seite an. »Was ist denn los, Schilasky, was hast du?« Todd zwang einen mitfühlenden Klang in seine Stimme, obwohl er den andern lieber verprügelt hätte. Die Gereiztheit wollte losbrechen.

»Laß mich in Ruh…« Das klang ungeduldig. »Ich weiß nicht, warum ich dir heut morgen das alles erzählt habe.

Jetzt wirst du natürlich über mich Witze reißen mit den andern. Und das Ganze ist doch wirklich nicht lustig. Ich weiß schon, sie lachen darüber und wissen doch nicht, daß ich mich die ganze Zeit mit meinem schlechten Gewissen herumschlagen muß. Und immer nur schweigen und hinunterschlucken, das geht auf die Dauer auch nicht. Einmal muß ich reden. Zu dir hab ich Vertrauen gehabt. Aber das war sicher ein Fehler.« Derselbe kurze Blick strich über Todd. Es war ein lauernder Ausdruck darin.

»Du bist ein Idiot, Schilasky.« Todd sprach übertrieben treuherzig. »Ich bin doch keine Klatschbase. Natürlich, wenn man sich immer abschließt gegen alle, wie du, so wird man mißtrauisch. Das ist begreiflich. Aber ich bin doch dein Freund.«

Wieder der kurze Blick Schilaskys. Dann:

»So, bist du das?« Das Schweigen fiel über die beiden und vermischte sich mit der Dunkelheit.

Denn die Nacht hatte sich plötzlich, wie eine riesige hohle Halbkugel, über die Ebene gestülpt. Geruhsam fächelten die Palmen mit ihren gespreizten Blättern. Das Lager schien leer, und die Feuer waren heruntergebrannt. In der Mitte eines baumfreien Platzes, dicht bei den Maultieren der Mitrailleusensektion, standen zwei große Zelte, in denen noch Licht schimmerte: die Offiziere waren noch wach. Als Todd an dem einen Zelt vorbei schlenderte, sah er Lartigue lesend auf dem schmalen Feldbett liegen. Der Leutnant blickte auf und winkte mit der Hand. Todd trat näher. »Wie geht's, Todd.« Der Leutnant sprach deutsch. Er erhob sich vom Bett und klemmte den Zeigefinger ins Buch.

»Fertig mit die Maschinengewehr?« fragte er und deutete nach der Richtung, wo die Mitrailleusen standen.

»Den Maschinengewehren, mon lieutenant«, korrigierte Todd und feixte.

»Danke, danke«, sagte Lartigue und lachte stumm. »Habe viel Deutsch vergessen, seit letztem Aufenthalt in Rheinland.« Er nickte und seufzte. Dann fuhr er französisch fort. Die Maschinengewehre müßten sauber sein. Vielleicht sei morgen schon etwas los. Dann bot er eine Zigarette an, Todd verbeugte sich eckig. Im aufflammenden Streichholz sah er, daß in des Leutnants Gesicht tiefe Falten waren, um den Mund, auf der Stirn. Lartigue sprach wieder deutsch: »Der Alte«, er deutete mit dem linken Daumen über die Schulter nach dem andern Zelt, »weiß nicht, was er riskiert mit seine indifférence. Und ich kann doch nicht querulieren die ganze Zeit mit ihm. Und erst die Sergeants.«

Todd war stolz darüber, daß der Leutnant mit ihm sprach. Innerlich ärgerte er sich über diesen Stolz. Aber das half nicht viel. Das gehobene Gefühl blieb. Er gab Bescheid in gewollt lässigem Ton.

»Nun, unsere Sektion riskiert ja nichts. Wir haben mit ihr genug manövriert und wissen, was wir zu tun haben. Aber die andern… ja, ich glaube auch, daß es ein wenig Verwirrung geben wird.«

Aus dem Zelt nebenan drangen unverständliche wütende Worte. Dann hörten die beiden das Knarren eines Feldbetts. Capitaine Chabert schien sich über die Unterhaltung zu ärgern.

»Na, gute Nacht, Todd«, sagte der Leutnant. »Versuchen Sie zu schlafen. Es ist zwar verdammt heiß.« Er legte sich nieder.

Als Todd aus dem Zelt trat, stieß er einige Schritte weiter mit einer dunklen Gestalt zusammen. Es war der Sergeant Hassa, der Deutschböhme mit den falschen Augen, der Todd grob anfuhr: Er solle machen, daß er weiterkomme und nicht um die Offizierszelte lungern.

Todd betrachtete den Sergeanten von der Seite, während er neben ihm weiterschritt. Es habe noch nicht zum Appell gepfiffen, erwiderte er. Doch Hassa regte sich auf. Er sprach mit unangenehm hoher Stimme, die ein wenig heiser war. »Sie hoben zu gehen an Ihren Plotz«, sprach er deutsch, mit stark böhmischem Akzent, »sich hinlegen missen Sie und nicht herumtreiben.«

»Ich habe dem Leutnant etwas melden müssen.« Todd blieb stehen und steckte die Hände in die Hosentaschen. Dann ging er mit aufreizend langsamen Schritten weiter. Er ließ das Becken pendeln und schlenkerte die dürren Beine.

»Wollen Sie schneller gehen«, bellte der Sergeant, und in weiter Ferne gab ein Schakal Antwort. Aber Todd schwieg. ›Wenn er mich doch nur anrühren würde!‹, dachte er. ›Eine kleine Prügelei wäre ganz angenehm.‹ Seine Fäuste lagen schwer in den Taschen und spannten den Stoff wie kantige Steine.

Hassa spritzte Speichel. »Sie wollen frozzeln mich.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Worten Sie, es wird Ihnen kommen teier zu stehen.« Unter den Bäumen raschelte es, Gestalten krochen hervor. Aus dem Zelt des Capitaines kam ein weißer Lichtkegel auf die beiden zu, der von einem sanften Summen begleitet wurde. Das Surren wurde lauter: es war Chabert mit seiner Dynamo-Taschenlampe. Hassa sprach plötzlich französisch, so laut, daß Chabert ihn hören mußte. Er werde Rapport machen, Todd vor Kriegsgericht bringen. Die Stimme überschlug sich. Er packte Todd am Arm und wollte ihn fortschieben.

Was es denn gebe, fragte Chabert. Seine Stimme war sehr ärgerlich. Ob er die Leute nicht in Ruhe lassen könne, fuhr er Hassa an. Der Lichtkegel bestrahlte die beiden Gesichter, wanderte dann in die Ebene hinaus und kam nicht weit. Die Grasbüschel verschluckten ihn. Und dann erlosch er, des Capitaines Hand war müde geworden.

Hassa stand im ›Garde à vous‹, salutierte und wollte seine Meldung beginnen. »Uhh«, tönte es unter den Bäumen hervor. »Ruhe dort«, rief Chabert. Seine Lampe begann wieder zu summen, und dieses Summen wirkte beruhigend. »Ich will nichts hören«, sagte er noch, als Hassa sprechen wollte. »Ihr sollt beide schlafen gehen. Streitigkeiten kann ich nicht brauchen.«

Er kehrte sich um und ging davon.

»Hassa hat das Kommando der Wache, man soll ihn in Ruhe lassen«, brummte er noch, laut genug, um verstanden zu werden.

Aber damit war die Angelegenheit noch nicht erledigt. Um die beiden hatte sich ein Kreis gebildet. Ein leises böses »Uhh« stieg auf aus ihm. Der Sergeant war hilflos. Er fühlte deutlich den Haß , der ihn umgab, aber durch keine Bewegung zeigte er seine Aufregung. Ein schwaches Licht kam von den Sternen und überzog die Gesichter mit einer Puderschicht.

Am sonderbarsten sah Korporal Seignac aus, der in der ersten Reihe stand. Sein Gesicht war verkrampft, die Zähne leuchteten weiß.

»Geht auseinander, ihr sollt auseinandergehen, hat der Capitaine gesagt.« Es klang weinerlich und hilflos.

»Uhh« tönte es wieder, der Kreis schloß sich enger, alle hatten sich untergefaßt.

Todd stand noch immer mitten im Kreise, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und rührte sich nicht.

»Und Sie haben sich zu verziehen«, kreischte Hassa und gab Todd einen Stoß vor die Brust.

Der Stoß kam unerwartet, und so taumelte Todd zurück.

»Uhh«, klang es wieder.

Todds Hände kamen langsam aus den Taschen heraus, knöpften bedächtig den Rock auf, zogen ihn aus. Dann sagte er sehr ruhig:

»Du wirst jetzt auch den Rock ausziehen, damit ich dich verhauen kann.«

»Ich bin Vorgesetzter, Sie haben nicht zu sagen du zu mir.«

Sergeant Hassa wollte den Rückzug antreten. Aber der Kreis war fest geschlossen. Er kam nicht durch. Todd krempelte langsam seine Hemdärmel auf. Dann holte er aus und gab dem Sergeanten eine Ohrfeige. Hassa heulte auf: »Das gibt Kriegsgericht.« Noch einmal versuchte er den Kreis zu durchbrechen. Wieder war es vergeblich. Da floh er an den offenen Mündern vorbei, die ihm ihr Lachen ins Gesicht bliesen. Er knöpfte mit zitternden Fingern seinen Waffenrock auf. Die Haken am Hals wehrten sich, so mußte er sie aufreißen. Dann endlich hielt er den Rock in den Händen und warf ihn Todd über den Kopf. Todd blieb stehen und suchte sich zu befreien. Aber schon war der andere über ihm, packte ihn von hinten, preßte den Hals zwischen Ellbogen und Körper und steigerte langsam den Druck. Todd hörte, wie sein eigener Atem schwer ging, sein Kopf füllte sich mit Blut, das jedes Denken verdrängte. Er versuchte, sich mit ein paar Rucken zu befreien. Aber der Druck steigerte sich. Am meisten peinigte Todd der Geruch des Sergeanten. Es war ein gemeiner Geruch von altem, sauren Schweiß. Wie ungelüftete Betten. Eine große Übelkeit überkam ihn. Dumpf hörte er die anfeuernden Rufe des Chors. Dazwischen das heisere Flüstern des Sergeanten: »Ich werd' lehren dich, ich werd' lehren dich.«

Plötzlich hörte er eine Stimme; sie war in seinem Kopf, das wußte er, und doch klang sie wie ein beruhigendes Flüstern vor seinen Ohren. Eine gemütliche Stimme, ein wenig rauh vom vielen Rauchen und Schnapstrinken. Sie gab einen Rat: »Wenn dich einer so packen tut, daß du nimmer los kannst, dann hau ihm eins zwischen die Haxen. Dort nämlich sind die Leut' am empfindlichsten.« Und blitzschnell war auch das Bild da, das zu den Worten gehörte. Irgendwo, am Wiedener Gürtel, auf einem unbebauten Platz. Ein Plattenbruder, ein Vagant, liegt auf der Erde, die Schirmmütze über den Kopf gezogen, weil die Sonne blendet. Und dieser Apache gibt dem Vierzehnjährigen Ratschläge. Sie sind wertvoll, denn der Mann hat viel Erfahrung. »Nämlich«, sagt der Mann noch, »wenn du kein Messer hast.« Da packt Todd auch schon zu, die Kraft zu schlagen hat er nicht mehr. Er greift zu und drückt mit aller Kraft. Ein leises Wimmern, dann ein sehr hoher Schrei. Der Druck läßt plötzlich nach.

Auch Todd ließ los und sprang zurück. Er sah, daß Hassa sich den Unterleib mit beiden Händen hielt. Dann sprang er vor und rannte dem Sergeanten den Kopf in die Magengrube. Mit einem leisen »Hu« sackte der zusammen. Todd kniete auf ihm und schlug mit den Fäusten auf das emporgewandte Gesicht. Als Todd aufstand, schmerzten seine Fingerknöchel. Der andere hatte einen harten Schädel.

Und wie er um sich blickte, sah er zuerst Korporal Seignac. Er war nicht zu übersehen. Knapp vor dem festgeschlossenen Kreis stand er, die Oberarme in gleicher Höhe mit den Schultern, während die Unterarme im rechten Winkel nach oben wiesen. Seine Fäuste waren geballt und der Körper bis zu den Hüften reglos. Nur die Beine warfen sich in einem sonderbaren Tanz nach vorn, immer aber blieb Seignac an der gleichen Stelle. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Augen verdreht. Da packte ihn Ackermann am Arm. Seignac schien zu erwachen. Der Körper entspannte sich, die Beine blieben still. Ackermann durchbrach den Kreis, knapp neben Sergeant Farny, der ausdruckslos vor sich hin starrte. Der Kampf hatte ihn nicht erregt. Und durch die Öffnung des Kreises schlüpfte auch Hassa, den verknüllten Waffenrock wie ein Bündel unter dem Arm.

Todd stand allein inmitten des Kreises und ließ die langen Arme herabhängen. Er fühlte Müdigkeit und zugleich eine große Freude. Verwundert sah er Schilasky an, der plötzlich neben ihm stand und seine Hand gepackt hielt. »Komm, wir wollen schlafen gehen, es ist schon spät«, sagte er. Der Kreis löste sich auf. Eine Pfeife gellte, Appell.

Die Sättel waren unter den Bäumen verstreut und sahen aus wie große aufgeklappte Folianten.

Ein wenig von den übrigen entfernt, hatte Schilasky das Lager bereitet. Ein Sattel als Kopfschutz, der zweite Anzug als Kissen, die Kapotte als Matratze, die Satteldecke zum Zudecken. »Wir brauchen nur einen«, sagte Schilasky, »den anderen Sattel habe ich deinem Doubleur verehrt.«

Sie legten sich nieder.

»Ich danke dir«, sagte Todd, »man könnte fast meinen, du willst mich verführen.«

»Mach keine schlechten Witze.« Schilasky stieß einen Seufzer aus. »Du bist gar nicht mein Fall«, fügte er bei und versuchte ein Lachen, das aber kläglich ausfiel.

Die Stille war schwül. Todds Atem ging noch rasch. Er begann leise zu renommieren.

»Der Kerl, der verdammte, der wird an mich denken. Ob er wohl morgen reiten kann? Wird ein wenig schwierig sein. Was diese Sergeanten sich einbilden. Gut nur, daß der Alte ihnen nie Recht gibt. Soll er sich doch beschweren. Ich steck' mich hinter den Lartigue. Der hilft mir schon. War heut' abend ganz lieb zu mir. Wenn ich denk', daß ich mich sonst nie geprügelt habe. Aber weißt, es tut doch gut. Wie ein Liter Wein. Oder nein. Wie wenn man bei einer Frau geschlafen hat. Und doch möcht' man noch etwas.«

Seine Stimme wurde leiser; er schloß die Augen.

Aber er schlief nicht. Die Atemzüge Schilaskys waren heftig. Todd war nicht verwundert, plötzlich magere, harte Finger zu spüren, die seine Hand umschlossen. »Ja, sagte er schläfrig und vielleicht ein wenig unmotiviert.

Dann tönte Schilaskys Stimme voll und dumpf vor seinen Ohren. »Du solltest dich doch rasieren, Bürschlein.« Das Wort ›Bürschlein‹ ärgerte ihn. Er wollte die Hand fortwerfen, die an seinem Körper entlangstrich. Dann war ein großes Glücksgefühl da, Todd zog die Luft tief ein. Und dann versank er.


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