Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXXIV. Die Speerhölle

Ich stand heute – hub er an – ein paar Stunden nach Sonnenaufgang am Waldesrande und spähte nach den Türmen Kosambis hinüber, meine Rache an Satagira im Sinne, und die Frage erwägend, ob du mir wohl die erwünschten Aufklärungen bringen würdest: als ich auf der Straße, die vom östlichen Stadttor zum Walde führt, einen einsamen, in einen gelben Mantel gehüllten Wanderer gewahr wurde, der rüstig einherschritt. Zu beiden Seiten des Weges aber waren Hirten und Landleute mit ihren Arbeiten beschäftigt. Und ich sah nun, wie diejenigen, die dem Wege am nächsten waren, jenem einsamen Wanderer etwas zuriefen, während auch die weiter entfernten mit ihrer Arbeit innehielten, ihm nachsahen und mit Fingern auf ihn zeigten. Und die Nächststehenden schienen ihn, je weiter er vorwärts schritt, um so eifriger zu warnen, ja aufhalten zu wollen, indem einige ihm nachliefen und seinen Mantel ergriffen, und dann mit eifrigen und entsetzten Gebärden nach dem Walde zeigten. Fast glaubte ich hören zu können, wie sie ihm zuriefen: »Nicht weiter! Gehe nicht in den Wald! Dort haust ja der schreckliche Räuber Angulimala.«

Aber jener Wanderer schritt unbekümmert weiter, dem Walde zu. Und jetzt sah ich an seinem Mantel und an seinem kahlgeschorenen Kopfe, daß es ein Asket war, einer von denen, die dem Orden des Sakyersohnes angehören, ein alter Mann von stattlicher Gestalt.

Und ich gedachte bei mir: »Wunderbar, wahrlich, außerordentlich ist es! Auf diesem Wege sind schon zehn Mann, ja dreißig und fünfzig Mann vereint und bewaffnet ausgezogen und sind alle in meine Gewalt geraten: und dieser Asket da kommt allein, wie ein Eroberer heran!«

Und es verdroß mich, daß er so offen meiner Macht Hohn sprach. So entschloß ich mich denn, ihn zu töten, um so mehr, als ich mir dachte, möglicherweise sei er als Späher von Satagira in den Wald geschickt. Denn diese Asketen – so meinte ich – sind ja alle heuchlerisch und feil und lassen sich zu Allem gebrauchen, indem sie auf die Sicherheit bauen, die sie durch den Aberglauben des Volkes genießen – denn so hatte ich von meinem gelehrten Freunde Vajacravas gelernt, die Sache zu betrachten.

Schnell entschlossen ergriff ich meinen Speer, hängte Bogen und Köcher um und ging dem Asketen, der jetzt in den Wald eingetreten war, Schritt für Schritt nach.

Als ich aber eine günstige Stelle erreicht hatte, wo keine Bäume uns trennten, blieb ich stehen, nahm den Bogen von der Schulter und schoß einen Pfeil so ab, daß er dem Wanderer in die linke Seite des Rückens eindringen und sein Herz durchbohren mußte; aber er flog über den Kopf des Asketen dahin.

»Da muß sich unter meine Pfeile ein ganz schlechter verirrt haben,« sagte ich mir, nahm meinen Köcher zur Hand und wählte einen schön gefiederten, tadellosen Pfeil, mit dem ich so zielte, daß er dem Asketen das Genick durchbohren mußte. Der Pfeil schlug aber links von ihm in einen Baumstamm ein. Der nächste flog rechts von ihm vorbei, und so ging es mit allen Pfeilen, bis mein Köcher geleert war.

»Unbegreiflich, außerordentlich ist das!« dachte ich bei mir. »Habe ich mich doch oft damit belustigt, einen Gefangenen mit dem Rücken an einen Zaun zu stellen und die Pfeile so nach ihm zu schießen, daß, nachdem er zur Seite getreten, der ganze Umriß seines Körpers durch die im Zaune steckenden Pfeile abgezeichnet war – und das auf eine noch größere Entfernung. Bin ich doch gewohnt, mit meinem Pfeil den Adler im vollen Flug aus der Luft zu holen. Was fehlt denn heute meiner Hand?«

Unterdessen hatte jener Asket einen ziemlichen Vorsprung gewonnen, und ich begann hinter ihm her zu laufen, um ihn mit dem Speere zu töten. Nachdem ich ihm aber auf etwa fünfzig Schritte nahe gekommen war, gewann ich ihm keinen Schritt mehr ab, obschon ich mit aller Macht rannte, jener Asket aber ganz gemach vorwärts zu schreiten schien.

Da sagte ich zu mir selber: »Wahrlich, dies ist noch das Wunderbarste von Allem! Habe ich doch sonst oft den scheuen Ilfen und den flüchtigen Hirsch eingeholt, und diesen gemach dahinschreitenden Asketen kann ich jetzt, mit aller Macht laufend, nicht einholen. Was fehlt denn heute meinen Füßen?«

Und ich blieb stehen und rief ihm zu:

»Stehe, Asket! Stehe!«

Er aber schritt ruhig weiter und rief zurück:

»Ich stehe, Angulimala! Stehe auch du!«

Da wunderte ich mich denn wieder gar sehr und dachte: »Offenbar hat dieser Asket soeben durch irgend einen Wahrheitsakt mein Pfeilschießen vereitelt, durch irgend einen Wahrheitsakt mein Laufen vereitelt. Wie kann er denn also jetzt eine offenbare Unwahrheit sagen, indem er zu stehen behauptet, während er doch geht, mich aber zum Stehenbleiben auffordert, obschon er sehr wohl sieht, daß ich bereits so still stehe wie dieser Baum? So würde wohl die fliegende Gans zur Eiche sagen: ›Ich stehe, Eiche! Stehe auch du!‹ Sicher muß also hier etwas dahinter stecken. Wohl möchte es mehr wert sein, den geheimen Sinn dieser Asketenworte zu verstehen als einen Asketen zu töten.«

Und ich rief ihm zu:

»Wandelnd wähnst du dich stätig, Asket, und mich, der stätig, wähnst du wandelnd. Erkläre mir das, Asket! Wie bist du stätig, wie bin ich unstät?«

Und er antwortete mir:

»Ich, der ich keinem Wesen Leides antue, bin beständig, wandle nicht mehr; du aber, der du gegen die Wesen wütest, mußt ruhelos von Leidensort zu Leidensort wandeln.«

Ich antwortete wieder:

»Daß wir immer wandeln, habe ich wohl gehört. Das vom Beständigsein, vom Nichtwandeln verstehe ich aber nicht. Wolle, Ehrwürdiger, mir das kurz Gesagte ausführlich erläutern. Sieh, ich habe meinen Speer von mir getan und feierlich schwöre ich dir: ich schenke dir Frieden!«

»Zum zweiten Male, Angulimala,« sagte er, »hast du falsch geschworen.«

»Zum zweiten Male?«

»Das erste Mal geschah es bei jenem falschen Wahrheitsakt.«

Das schien mir nun nicht der Wunder geringstes, daß er um jene geheime Sache wußte; aber ohne mich dabei aufzuhalten, beeilte ich mich, meine schlaue Handlung zu verteidigen.

»Meine Worte, Ehrwürdiger, waren da freilich gleichsam auf Schrauben gestellt, aber mit den Worten beschwor ich nichts Falsches, nur der Sinn war täuschend. Das aber, was ich dir schwöre, ist sowohl den Worten wie dem Sinne nach wahr.«

»Nicht doch,« antwortete er, »denn du kannst mir keinen Frieden schenken. Wohl dir, wenn du dir von mir den Frieden schenken ließest.«

Dabei hatte er sich umgewandt und winkte mir freundlich, heranzutreten.

»Gern, Ehrwürdiger,« sagte ich demütig.

»So höre denn und gib wohl acht!«

Er setzte sich im Schatten eines großen Baumes nieder und hieß mich zu seinen Füßen Platz nehmen.

Und er fing an, mich über gute und böse Taten und über ihre Folgen zu belehren, indem er mir Alles ausführlich auseinandersetzte, so wie man zu einem Kinde spricht. Denn ich war ja ganz ungelehrt, während sonst Asketenschüler meistens Brahmanenjünglinge sind, die sogar den Veda kennen. Ich aber hatte so tiefgedachten Reden nie gelauscht, seitdem ich im nächtlichen Walde zu den Füßen Vajacravas' gesessen, von dem ich dir schon erzählt habe, und den du wohl auch sonst hast nennen hören.

Als nun aber dieser Asket mir offenbarte, daß nicht eine willkürliche Göttermacht, sondern unser eigenes Herz allein durch seine Gedanken und Taten uns hier und dort geboren werden läßt, bald auf Erden, bald in einem Himmel, bald wieder in einer Hölle – da mußte ich eben an jenen Vajacravas denken, wie er uns durch Vernunftgründe und mittelst der Schrift bewies, daß es keine Höllenstrafen geben könne, und daß alle darauf bezüglichen Stellen in der heiligen Schrift von den schwachen und feigen Seelen in dieselbe hineingeschmuggelt seien, um die starken und mutigen durch solche Drohungen einzuschüchtern und dadurch sich vor der Gewalttätigkeit der letzteren zu schützen. – »Freund Vajaçravas,« dachte ich, »hat mich niemals so ganz überzeugen können. Ob wohl dieser Asket es vermag? Hier steht eben Meinung gegen Meinung, Gelehrter gegen Gelehrten. Denn selbst, wenn auch dieser Asket einer der großen Jünger des Sakyersohnes sein sollte, so wurde ja auch Vajaçravas von seinen Anhängern hochgepriesen, und jetzt, nach seinem Tode, wird er sogar vom gemeinen Volke als ein Heiliger verehrt. Wer will also entscheiden, wer von diesen beiden recht hat?«

»Du bist nicht mehr ganz bei der Sache, Angulimala,« sagte da der Asket: »du denkst an jenen Vajaçravas und an seine Irrlehren.«

Sehr verwundert gab ich das zu.

»So hat denn der Ehrwürdige auch meinen Freund Vajaçravas gekannt ?«

»Man hat mir sein Grab vor dem Tore gezeigt, und ich sah, wie dort törichte Reisende ihr Gebet verrichteten in dem Wahne, er sei ein Heiliger.«

»So ist er denn kein Heiliger?«

»Nun, wir wollen, wenn es dir so scheint, ihn aufsuchen und sehen, wie es ihm mit seiner Heiligkeit nun geht.«

Der Asket sagte dies, als ob es sich darum handele, von einem Hause ins andere zu gehen.

Ganz bestürzt starrte ich ihn an:

»Ihn aufsuchen? Vajaçravas? Wie wäre denn das möglich?« »Gib mir deine Hand,« sprach er. »Ich werde mich in jene Selbstvertiefung versenken, durch die in einem standhaften Herzen der zu den Göttern und der zu den Dämonen führende Weg sichtbar werden. Da wollen wir denn seiner Fährte folgen, und was ich sehe, wirst auch du sehen.«

Ich reichte ihm meine Hand. Eine Weile saß er schweigend da, die Augen gesenkt, die Pupillen nach innen gerichtet, und ich spürte nichts. Plötzlich aber war es mir, wie es wohl einem Schwimmer sein mag, wenn der Dämon, der im Wasser haust, seinen Arm ergreift und ihn nach unten zieht, so daß der blaue Himmel und die Bäume des Ufers verschwinden, indem die Welle über seinem Kopfe zusammenschlägt, und immer tiefer werdendes Dunkel ihn umgibt. Bisweilen aber loderte auch Flammenschein um mich, und mächtiges Getöse dröhnte mir im Ohre.

Schließlich befand ich mich wie in einer ungeheuren Höhle, die ganz dunkel war, jedoch durch unzählige kurz zuckende Blitze unruhig beleuchtet wurde. Als ich mich etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatte, entdeckte ich, daß diese Blitze von dem Erglänzen eiserner Speerspitzen herrührten, die hin und her fuhren, als ob Lanzen von unsichtbaren Armen geschwungen würden – etwa in einer Geisterschlacht. Auch hörte ich Schreie, aber nicht wilde und mutige wie von kampfestrunkenen Streitern, sondern Schmerzensschreie und Stöhnen Verwundeter, die ich jedoch nicht sah. Denn diese Schreckenslaute kamen aus dem Hintergrunde, wo das Zucken der Lanzenspitzen einen einzigen zitternden und wirbelnden Nebel bildete. Der Vordergrund aber war leer.

Hier traten nun aber drei Gestalten herein, von einem rechts einmündenden, schwarzen Höhlenschlund gleichsam ausgespieen. Der Mann in der Mitte war Vajaçravas; sein nackter Körper zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, als ob er heftig fröre oder vom Fieber geschüttelt würde. Seine Begleiter hatten beide einen menschlichen Rumpf, der aber von Vogelbeinen mit starken Krallen getragen wurde, während er bei dem einen von einem Fischkopfe, bei dem anderen von einem Hundekopfe gekrönt war. In den Händen trug jeder einen langen Speer.

Der mit dem Fischkopf sprach zuerst:

»Dies, Ehrwürdiger, ist die Speerhölle, wo du nach dem Spruch des Höllenrichters zehntausendjährige Strafe abzubüßen hast, indem du von diesen zuckenden Speeren ununterbrochen durchbohrt wirst; – um dann je nach deinen sonstigen Taten irgendwo wiedergeboren zu werden.

Dann sprach der mit dem Hundekopf:

»So oft sich, Ehrwürdiger, in deinem Herzen zwei Speere kreuzen, wisse, daß dann tausend Jahre von deiner Höllenqual um sind.«

Kaum hatte er dies gesagt, so schwangen beide Höllenwächter ihre Lanzen und durchbohrten Vajaçravas. Wie auf ein gegebenes Zeichen zuckten jetzt alle Speere ringsum auf ihn los und durchbohrten ihn mit ihren Spitzen von allen Seiten, wie eine Schar von Raben sich über ein hingeworfenes Aas wirft und ihre Schnäbel in das Fleisch hackt. Bei diesem schrecklichen Anblick und den jammervollen Schreien, die Vajaçravas in seiner Qual ausstieß, vergingen mir die Sinne.

Als ich wieder erwachte, lag ich im Walde, unter dem großen Baume, zu Füßen des Erhabenen hingestreckt.

»Hast du gesehen, Angulimala?«

»Ich habe gesehen, o Herr.«

Und ich wagte nicht einmal hinzuzufügen: »Errette mich!« Denn wie konnte ich begehren, errettet zu werden?

»Wenn du nun nach der Auflösung deines Leibes infolge deiner Taten auf abschüssige Fährte gelangst, in höllische Welt, und der Richter der Schatten über dich denselben Spruch ergehen läßt, und die Höllenwächter dich in die Speerhölle zu derselben Strafe führen: geschieht dir dann zuviel, Angulimala?«

»Nein, Herr, es geschieht mir nicht zu viel.«

»Ein Wandel aber, von dem du selber gestehst, daß er gerechterweise zu solchen unausdenkbaren Qualen führt, ist das wohl, Angulimala, ein Wandel, der wert ist, fortgesetzt zu werden?«

»Nein, o Herr! Diesem Wandel will ich entsagen, abschwören will ich meine teuflischen Gewohnheiten um ein Wort deiner Wahrheit.«

»Vor Zeiten einmal, Angulimala, hat der Richter der Schatten innig erwogen: ›Wer da wahrlich Übeltaten in der Welt verübt, wird mit solchen mannigfachen Strafen gestraft. O, daß ich doch Menschentum erreichte, und daß ein Vollendeter, ein vollkommen erwachter Buddha in der Welt erschiene, und ich um ihn, den Erhabenen, sein könnte: und daß er, der Erhabene, mir die Satzung darlegte, und daß ich sie verstände!‹

Was nun jener Richter der Schatten sich so innig erwünschte, das ist dir, Angulimala, geworden. Du hast das Menschentum erreicht. Gleichwie aber, Angulimala, auf diesem indischen Festlande nur wenig freundliche Haine, herrliche Wälder, schöne Hügel und liebliche Lotusteiche sich befinden, sondern im Vergleich damit reißende Flüsse, Urwälder, öde Felsgebirge und dürre Wüsten bei weitem zahlreicher sind:

ebenso auch werden nur wenig Wesen unter den Menschen geboren im Vergleich zu den weit zahlreicheren Wesen, die in anderen Reichen als dem der Menschheit zum Dasein gelangen; –

ebenso auch sind nur wenige Geschlechter gleichzeitig mit einem Buddha auf Erden, im Vergleich zu den weit zahlreicheren, zu deren Zeit kein Buddha erstanden ist; –

ebenso auch wird es von jenen wenigen Geschlechtern nur wenigen Wesen zuteil, den Vollendeten zu sehen, im Vergleich zu jenen weit zahlreicheren, die ihn nicht sehen.

Du aber, Angulimala, hast Menschentum erlangt; und zwar zu einer Zeit, wo ein vollkommener Buddha in der Welt erschienen ist, und du hast ihn gesehen und du kannst um ihn, den Erhabenen, sein.«

Als ich diese Worte vernahm, faltete ich die Hände und rief:

»Heil dir, o Heiliger! So bist du denn selber der vollkommen erwachte Buddha! So hat denn das edelste der Wesen sich des schlechtesten erbarmt! So willst denn du, Erhabener, mir erlauben, um dich zu sein?«

»Ich will's,« antwortete der Erhabene. »Und so vernimm nun auch dieses:

ebenso gibt es unter den wenigen, die den Erhabenen sehen, nur wenige, die seine Satzung hören, und von diesen nur wenige, die sie verstehen. Du aber wirst die Satzung hören und verstehen. Komm, Jünger!«

Und der Erhabene war in den Wald hineingeschritten gleichwie ein Elefantenjäger, der auf seinem zahmen Ilfen reitet. Er verließ aber den Wald wieder, gleichwie ein Elefantenjäger den Wald verläßt, von einem wilden, durch seine Kunst bezähmten Ilfen gefolgt.

So bin ich denn nun zu dir gekommen, Vasitthi: nicht der Räuber Angulimala, sondern der Jünger Angulimala. Sieh, ich habe Speer und Keule, Stock und Geißel von mir geworfen, habe Töten und Quälen abgeschworen, und vor mir haben alle Wesen Frieden.


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