Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXIV. Der Korallenbaum

Kamanita folgte ihnen lange mit dem Blick und wunderte sich. Und dann wunderte er sich über sein Wundern. »Wie kommt es denn, daß Alles mich hier so seltsam anmutet? Wenn ich hierher gehöre, warum scheint mir dann nicht Alles selbstverständlich? – Aber jede neue Erscheinung hier ist mir rätselhaft und setzt mich in Erstaunen. Zum Beispiel dieser Duft, der jetzt plötzlich an mir vorüberweht. Wie ist er doch so ganz verschieden von allem anderen Blumendufte hier – viel voller und mächtiger, anziehend und beunruhigend zugleich. Wo mag er wohl herkommen?

... Aber wo mag ich wohl selber herkommen? Es scheint, als ob ich vor kurzem noch ein Nichts gewesen bin. Oder habe ich doch ein Dasein gehabt, nur nicht hier? Aber wo dann? Und wie bin ich denn hierhergekommen?«

Während diese Fragen in ihm aufstiegen, hatte sich sein Körper, ohne daß er es bemerkte, vom Rasen losgelöst, und er schwebte schon weiter – aber in keiner von den Richtungen, denen die anderen gefolgt waren. Kamanita stieg aufwärts, gegen eine Einsattelung im Gipfel des Hügels. Als er über sie hinstrich, wurde er von einem noch stärkeren Hauch jenes neuen, seltsamen Duftes empfangen.

Kamanita flog weiter.

Jenseits des Hügels verlor die Gegend etwas an Lieblichkeit. Der Blumenflor war spärlicher, das Gebüsch dunkler, die Haine dichter, die Felsen schroffer und höher. Herden von Gazellen weideten da, aber nur ganz vereinzelt zeigte sich eine selige Gestalt.

Das Tal verengte sich und mündete in eine Kluft. Hier war jener Duft noch stärker. Immer schneller wurde seine Flucht, immer nackter, steiler und höher schlossen sich die Felsenwände zusammen, bis nirgends mehr ein Ausgang zu sehen war.

Die Schlucht machte ein paar scharfe Wendungen und öffnete sich plötzlich. Um Kamanita breitete sich ein von himmelstrebenden Malachitfelsen eingeschlossener Talkessel, und mitten in diesem stand der Wunderbaum.

Stamm und Äste waren von blanker, roter Koralle; ein wenig gelblicher war die Röte des krausen Laubwerkes, aus dem die Blüten tief karmesinfarbig hervorglühten.

Über Felsenzinnen und Baumwipfel spannte der Himmel sich dunkelblau, ohne daß ein einziges Wölkchen zu sehen war. Auch drang die Musik der Genien kaum hierher – was noch in der Luft zitterte, war wie eine Erinnerung an längst gehörte Melodien.

Nur drei Farben waren da: das Ultramarinblau des Himmels, das Malachitgrün der Felsen, das Korallenrot des Baumes. Und nur ein Duft – jener geheimnisvolle, allen anderen unähnliche Duft der karmesinroten Blumen, der Kamanita hierher geführt hatte.

Und alsbald zeigte sich nun auch die Wunderart dieses Duftes:

Als Kamanita ihn hier einsog, wo er verdichtet den ganzen Kessel füllte, erweiterte sich plötzlich sein Bewußtsein und überschwemmte und durchbrach die Schranke, die bis jetzt hinter seinem Erwachen im Teiche errichtet gewesen war.

Sein vorheriges Leben lag offen vor ihm:

Er sah die Halle des Hafners, wo er mit jenem törichten Buddhamönch im Gespräche saß; er sah das Gäßchen in Rajagaha, das er durcheilte, und die ihm entgegenstürmende Kuh – dann die bestürzten Gesichter ringsum und die gelbgekleideten Mönche.... Und er sah die Waldungen und Landstraßen seiner Pilgerschaft, seinen Palast und seine beiden Frauen, die Hetären Ujjenis, die Räuber, den Krishnahain und die Terrasse der Sorgenlosen mit Vasitthi, das Elternhaus und die Kinderstube....

Und dahinter sah er ein anderes Leben und noch eins und noch eins – und immer noch andere, wie man die Baumreihe einer Landstraße sieht, bis die Bäume zu Punkten werden und die Punkte in einen einzigen Schattenstreifen zusammenschmelzen.

Bei diesem Anblick schwindelte ihm. Und sofort befand er sich wieder in der Kluft, wie ein Blatt, das vom Winde getrieben wird. Denn das erstemal hält niemand den Duft des Korallenbaumes lange aus, und der Selbsterhaltungstrieb führt Jeden beim ersten Schwindel von dannen.

Als er nun ruhiger durch das offene Tal schwebte, erwog Kamanita:

»Jetzt verstehe ich, warum die Weiße sagte, ich sei wohl noch nicht am Korallenbaume gewesen. Denn freilich konnte ich damals nicht verstehen, was sie mit ,Traumgestalten' meinten; jetzt aber weiß ich es, denn in jenem Leben habe ich ja solche gesehen. Und jetzt begreife ich auch, warum ich hier bin. Ich wollte ja im Mangohaine bei Rajagaha den Buddha aufsuchen. Freilich wurde das durch meinen plötzlichen, gewaltsamen Tod vereitelt, aber mein guter Wille ist mir angerechnet worden, und so bin ich an diesen Ort der Seligkeit gelangt, als ob ich zu seinen Füßen gesessen und in seiner beseligenden Lehre gestorben wäre. Also ist mein Pilgergang nicht vergebens gewesen.« Und Kamanita erreichte bald wieder den Teich und ließ sich auf seine rote Lotusrose nieder, wie ein Vogel, der sein Nest aufsucht.


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