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»Alissa erwartet dich im Garten,« sagte mein Onkel, nachdem er mich väterlich umarmt hatte, als ich gegen Ende des April in Fongueusemare eintraf. Wenn ich erst enttäuscht war, weil sie mich nicht gleich empfing, so wußte ich ihr unmittelbar darauf Dank, daß sie uns beiden den banalen Erguß der ersten Augenblicke des Wiedersehens ersparte.
Sie war im Hintergrund des Gartens; ich machte mich auf den Weg nach diesem Rondell, das von um diese Jahreszeit ganz blütenübersäten Büschen, Flieder, Ebereschen, Bohnenbäumen und Weigelien umgeben war – dorthin, wo sie an jenem Tage mit ihrem Vater plauderte, als ich wider Willen ihrer Unterhaltung gelauscht hatte und wo sie später der Unterhaltung lauschte, die ich mit Juliette hatte. Um sie nicht gleich aus allzu großer Ferne zu bemerken, oder auch, damit sie mich nicht kommen sähe, ging ich nicht den geraden Gang, der an den Spalieren hinführte; ich folgte vielmehr auf der anderen Seite des Gartens dem dunklen Gang, wo die Luft unter den Zweigen frisch war. Ich ging langsam dahin; der Himmel war wie meine Freude: warm, glänzend und von zarter Reinheit. Ohne Zweifel erwartete sie, daß ich auf dem anderen Gang käme; ich kam dicht zu ihr, hinter sie, ohne daß sie mich hätte nahen hören; ich blieb stehen … Und als hätte die Zeit mit mir stehenbleiben können, dachte ich: »Dies ist der Augenblick, der köstlichste Augenblick vielleicht, und ginge er auch dem Glück selber voran, das ihn nicht wieder zu erreichen vermag …« Ich wollte vor ihr auf die Knie fallen und tat einen Schritt, den sie hörte. Sie richtete sich plötzlich auf, indem sie die Stickerei, die sie beschäftigte, zu Boden rollen ließ, streckte die Arme nach mir aus und legte die Hände auf meine Schultern. So blieben wir einige Augenblicke stehen: sie mit ausgestreckten Armen, den lächelnden Kopf geneigt und den Blick ohne ein Wort zärtlich auf mich gerichtet. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Auf ihrem fast zu ernsten Gesicht fand ich ihr Kinderlächeln wieder …
»Höre, Alissa,« rief ich plötzlich; »ich habe zwölf freie Tage vor mir. Ich werde nicht einen länger bleiben, als es dir gefallen wird. Laß uns ein Zeichen verabreden, das sagen soll: Morgen mußt du Fongueusemare verlassen. Am Tage darauf werde ich ohne Vorwürfe, ohne Klagen aufbrechen. Willigst du ein?«
Da ich meine Worte nicht vorbereitet hatte, sprach ich unbefangener. Sie dachte einen Augenblick nach; dann: »An dem Abend, an dem ich, wenn ich zu Tisch herunterkomme, das Saphirenkreuz, das du liebst, nicht mehr am Halse trage … verstehst du?«
»Das wird mein letzter Abend sein.«
»Aber wirst du ohne Tränen, ohne Seufzer abreisen können?« fuhr sie fort.
»Ohne Abschied. Ich werde dich an diesem letzten Abend verlassen, wie ich es am Tage zuvor getan habe, so einfach, daß du dich zunächst fragen wirst: Sollte er mich nicht verstanden haben? Aber wenn du mich am folgenden Morgen suchst, so werde ich ganz einfach nicht mehr da sein.«
»Am folgenden Morgen werde ich dich nicht mehr suchen.« Sie hielt mir ihre Hand hin; und als ich sie an die Lippen führte, sagte ich noch:
»Von heute bis zum verhängnisvollen Abend keine Andeutung, die mich irgend etwas ahnen ließe.«
»Und du: Keine Anspielung auf die Trennung, die folgen wird.«
Jetzt galt es, die Befangenheit zu brechen, die die Feierlichkeit dieses Wiedersehens zwischen uns aufzurichten drohte. »Ich möchte so sehr,« fuhr ich fort, »daß diese wenigen Tage in deiner Nähe anderen Tagen ähnlich wären … Ich meine, wir dürfen alle beide nicht mehr empfinden, daß sie Ausnahmen sind. Und dann … Wenn wir zunächst nicht allzusehr danach suchen könnten, zu plaudern …«
Sie brach in Lachen aus. Ich fügte hinzu:
»Gibt es nichts, womit wir uns gemeinsam beschäftigen könnten?«
Von jeher hatten wir an der Gärtnerei Gefallen gefunden. Seit kurzem war ein Gärtner ohne Erfahrung an die Stelle des alten getreten, und der während zweier Monate vernachlässigte Garten gab viel zu tun. Rosenstöcke waren schlecht beschnitten; manche, die kräftig grünten, waren von totem Holz eingeengt; andere, Kletterrosen, fielen, schlecht gehalten, zu Boden; wieder anderen nahmen wuchernde Nebentriebe die Kraft. Die meisten hatten wir gepfropft; wir erkannten unsere Zöglinge wieder; die Pflege, die sie verlangten, nahm uns lange in Anspruch und erlaubte uns an den drei ersten Tagen, viel zu reden, ohne etwas Ernstes zu sagen, und wenn wir schwiegen, das Schweigen nicht als lastend zu empfinden.
So gewöhnten wir uns wieder aneinander. Ich zählte mehr auf diese Gewöhnung als auf irgendeine Erklärung. Schon erlosch zwischen uns die Erinnerung an unsere Trennung, und schon schwand die Furcht, die ich oft in ihr fühlte, die Zusammenziehung der Seele, die sie bei mir fürchtete. Es schien, als sprächen wir nur noch zum Spiel, und als sei bei unseren Reden nur der lächelnde Blick, die Geste und der Klang unserer Stimme von Bedeutung. Alissa, die jünger war als bei meinem traurigen Herbstbesuch, war mir niemals hübscher erschienen. Ich hatte sie noch nicht geküßt. An jedem Abend sah ich auf ihrer Büste, gehalten von einem goldenen Kettchen, das kleine Saphirenkreuz hängen. Im Vertrauen wuchs in meinem Herzen die Hoffnung wieder auf; was sage ich: Hoffnung? Schon war es Zuversicht, und ich bildete mir ein, sie gleichfalls bei Alissa zu spüren; denn ich zweifelte sowenig an mir, daß ich auch an ihr nicht mehr zweifeln konnte. Allmählich wurden unsere Reden kühner.
»Alissa,« sagte ich ihr eines Morgens, als die liebliche Luft lachte und unsere Herzen sich wie Blumen öffneten – »jetzt, da Juliette glücklich ist, willst du da nicht auch uns …«
Ich sprach langsam, die Augen auf sie geheftet; sie wurde plötzlich bleich, und zwar so außerordentlich, daß ich meinen Satz nicht beendete.
»Mein Freund!« begann sie, ohne ihren Blick auf mich zu richten – »ich fühle mich an deiner Seite glücklicher, als ich geglaubt hätte, daß man es sein kann … – Aber glaube mir: wir sind nicht zum Glück geboren.«
»Was kann die Seele dem Glück vorziehen?« rief ich ungestüm. Sie murmelte:
»Die Heiligkeit« –
und das so leise, daß ich dieses Wort eher erriet als ich es hören konnte.
Mein ganzes Glück öffnete die Flügel und entflog mir in die Himmel.
»Ich werde sie ohne dich nicht erreichen,« sagte ich; und die Stirn auf ihren Knien, einem weinenden Kinde gleich, aber weinend vor Liebe und nicht vor Trauer, fuhr ich fort: »nicht ohne dich – nicht ohne dich.«
Dann verstrich der Tag wie die anderen Tage. Aber abends erschien Alissa ohne das kleine Saphirenkreuz. Meinem Versprechen getreu brach ich am folgenden Tage mit Sonnenaufgang auf.
Zwei Tage später erhielt ich folgenden seltsamen Brief, der als Motto diese Verse Shakespeares trug:
»That strain again; – it had a dying fall:
O, it came o'er my ear like the sweet south,
That breathes upon a bank of violets,
Stealing and giving odour. – Enough; no more
'T is not so sweet now as it was before …
Ja! Mir selber zum Trotz habe ich dich den ganzen Morgen hindurch gesucht, mein Bruder. Ich konnte nicht glauben, daß du fort warst. Ich grollte dir, weil du unser Versprechen gehalten hattest. Ich dachte: es ist ein Spiel. Hinter jedem Busch glaubte ich dich auftauchen zu sehen. – Aber nein! Deine Abreise ist wirklich. Dank! Ich war den Rest des Tages hindurch besessen von der beständigen Gegenwart gewisser Gedanken, die ich dir gern mitteilen wollte – und von der wunderlichen, ausgesprochenen Furcht, wenn ich sie dir nicht mitteilte, so würde ich später die Empfindung haben, daß ich es dir gegenüber an etwas hatte fehlen lassen – daß ich deine Vorwürfe verdient hätte …
In den ersten Stunden deines Aufenthalts zu Fongueusemare erstaunte ich, dann wurde ich unruhig wegen der seltsamen Zufriedenheit, die mein ganzes Wesen in deiner Nähe ergriff; ›einer solchen Zufriedenheit‹, sagtest du mir, ›daß ich über sie hinaus nichts mehr wünsche‹. Nichts über sie hinaus! Ach, eben das macht mich unruhig …
Ich fürchte, mein Freund, ich mache mich schlecht verständlich. Ich fürchte vor allem, du siehst nur eine verstiegene Tüftelei (oh, und wie ungeschickt wäre sie!) in dem, was nur der Ausdruck der gewaltsamsten Empfindung meiner Seele ist.
›Wenn es nicht genügte, so wäre es nicht das Glück,‹ – hattest du mir gesagt, entsinnst du dich? Und ich hatte nicht gewußt, was ich erwidern sollte. – Nein, Jerome, es genügt uns nicht. Jerome, es darf uns nicht genügen. Diese Zufriedenheit voller Entzückungen kann ich nicht für echt halten. Haben wir nicht in diesem Herbst begriffen, welche Not sie uns vermachte? …
Echt! Ah, Gott behüte uns davor, daß sie es wäre! Wir sind für ein anderes Glück geboren …
Genau, wie unser Briefwechsel uns jüngst im Herbst das Wiedersehen verdarb, so entzaubert die Erinnerung an deine Gegenwart von gestern heute meinen Brief. Wo ist jetzt der Taumel, den ich empfand, wenn ich dir schrieb? Wie kalt bleiben die Worte, die ich hier niederzeichne! Durch die Briefe und durch die Gegenwart haben wir alles Reine der Freude ausgeschöpft, auf die unsere Liebe Anspruch machen kann. Und jetzt rufe ich wie Orsino im ›Abend der Könige‹ aus: ›Genug! nicht mehr! Es ist so süß nicht mehr wie eben noch.‹
Lebe wohl, mein Freund. Hic incipit amor Dei. Ah, wenn du je wüßtest, wie sehr ich dich liebe …! Bis ans Ende verbleibe ich deine
Alissa.«
Gegen die Falle der Tugend war ich auch jetzt wie zuvor wehrlos. Jeder Heroismus blendete mich und lockte mich dadurch – denn ich trennte ihn nicht von der Liebe … Alissas Brief berauschte mich mit der verwegensten Begeisterung. Gott weiß, daß ich nur für sie noch nach mehr Tugend rang. Jeder Pfad mußte mich, wenn er nur aufwärts führte, dahin leiten, wo ich zu ihr stieß. Ah, der Boden konnte nimmermehr zu schnell enger werden, um nur uns beide zu tragen! Ach! Ich ahnte nichts von der Verstiegenheit ihrer Verstellung und dachte wenig daran, daß sie mir noch einmal durch einen Spalt entschlüpfen konnte.
Ich antwortete ihr ausführlich. Die einzige halbwegs klarblickende Stelle meines Briefes ist diejenige, deren ich mich entsinne: »Es scheint mir oft, sagte ich ihr, daß meine Liebe das Beste ist, was ich noch in mir bewahre; daß all meine Tugenden sich an sie hängen; daß sie mich über mich selbst hinaushebt und daß ich ohne sie auf jene mittelmäßige Höhe eines ganz gewöhnlichen Charakters zurücksinken würde. Vermöge der Hoffnung, dich noch einmal zu erreichen, wird mir stets der steilste Pfad als der beste erscheinen.« Aber was fügte ich noch hinzu, daß sie sich getrieben fühlte, mir folgendes zu erwidern?
»Aber mein Freund, die Heiligkeit ist keine Wahl; sie ist eine Verpflichtung! (Das Wort war in ihrem Briefe dreimal unterstrichen.) Wenn du der bist, für den ich dich hielt, so wirst auch du dich ihr nicht entziehen können.«
Das war alles. Ich begriff, oder ahnte vielmehr, daß unser Briefwechsel hier haltmachen würde, und daß daran der verschlagenste Rat so wenig würde ändern können wie der sicherste Wille.
Trotzdem schrieb ich ausführlich, zärtlich noch einmal. Nach meinem dritten Brief erhielt ich diese Antwort:
» Mein Freund!
Glaube nicht, ich hätte irgendeinen Entschluß gefaßt, dir nicht mehr zu schreiben; ich finde ganz einfach keinen Geschmack mehr daran. Immerhin amüsieren mich deine Briefe noch, aber ich mache es mir mehr und mehr zum Vorwurf, daß ich dein Denken in diesem Grade beschäftige.
Der Sommer ist nicht mehr fern. Laß uns eine Weile auf den Briefwechsel verzichten und komm in den letzten vierzehn Tagen des September nach Fongueusemare, um sie bei mir zu verbringen. Nimmst du an? Wenn ja, so bedarf ich keiner Antwort. Ich werde dein Schweigen als Zustimmung ansehen und wünsche also, daß du nicht antwortest.«
Ich antwortete nicht. Ohne Zweifel war dieses Schweigen nur eine letzte Prüfung, der sie mich unterwarf. So stark blieb noch das Vertrauen auf die Kraft meiner Tugend, ich fühlte mich nicht verdrängt.
Als ich nach einigen Monaten der Arbeit und dann einigen Wochen der Reise nach Fongueusemare zurückkehrte, geschah es in der ruhigsten Zuversicht.
Wie sollte ich durch einen einfachen Bericht zum Verständnis dessen führen, was ich mir selbst zuerst so schlecht erklärte? Was kann ich hier schildern außer dem Anlaß der Not, der ich mich hinfort völlig hingab? Denn wenn ich heute in mir keine Entschuldigung dafür finde, daß ich nicht unter der Verkleidung des künstlichsten Scheins noch die Liebe pochen fühlte, so konnte ich zunächst nur den Schein erkennen, und da ich meine Freundin nicht wiederfand, so klagte ich sie an … Nein, ich klagte dich nicht einmal an, Alissa! Sondern ich weinte nur verzweifelt, weil ich dich nicht mehr erkannte. Jetzt, da ich die Kraft deiner Liebe an der List ihres Schweigens und an ihrer grausamen Verschlagenheit ermesse, muß ich dich um so mehr lieben als du mich grauenhafter trostlos machtest? …
Verschmähung? Kälte? Nein, nichts, was sich hätte besiegen lassen; nichts wogegen ich auch nur ankämpfen konnte; und bisweilen zögerte ich, zweifelte, ob ich mir mein Elend nicht vielleicht nur erfand, so fein verborgen blieb seine Ursache und so geschickt zeigte Alissa sich, indem sie tat, als verstände sie es nicht. Worüber hätte ich mich denn beklagen sollen? Ihr Empfang war lächelnder als je; nie hatte sie sich eifriger, zuvorkommender gezeigt; am ersten Tage ließ ich mich fast dadurch täuschen … Was kam schließlich darauf an, daß eine neue flache, langgezogene Frisur die Züge ihres Gesichts verhärtete, als wollte sie ihren Ausdruck fälschen; daß eine schlechtsitzende Bluse von düsterer Farbe und aus einem Stoff, der sich häßlich anfühlte, den feinen Rhythmus ihres Körpers verbog … das war nichts, was sie nicht, so dachte ich blind, gleich am folgenden Tage von selbst oder auf meine Bitte abändern konnte … Schwerer trafen mich diese Zuvorkommenheit und dieser Eifer, die zwischen uns so ungewöhnlich waren, und in denen ich mehr Entschlossenheit als Schwung zu erblicken fürchtete, und kaum wage ich es zu sagen: mehr Höflichkeit als Liebe.
Als ich abends in den Salon trat, sah ich mit Staunen, daß das Piano nicht mehr an seinem gewohnten Platz stand; und auf meinen enttäuschten Ausruf erwiderte Alissa lächelnd und mit ihrer ruhigsten Stimme:
»Das Piano wird mit neuen Saiten bezogen, mein Freund.«
»Ich hatte es dir doch so oft gesagt, mein Kind,« sagte mein Onkel im Ton eines fast strengen Vorwurfs: »da es dir bisher genügt hatte, so hättest du warten können bis Jerome wieder fort war, ehe du es abschicktest; deine Übereilung beraubt uns eines großen Vergnügens …«
»Aber Vater,« sagte sie, indem sie sich abwandte, um zu erröten, »ich versichere dir, es war in letzter Zeit so schrill geworden, daß selbst Jerome nichts mehr hätte herauszuholen vermocht.«
»Als du darauf spieltest,« erwiderte mein Onkel, »schien es so schlecht noch nicht.«
Sie blieb einige Augenblicke gegen das Dunkel geneigt sitzen, als sei sie damit beschäftigt, zu einem Sesselüberzug Maß zu nehmen, und verließ dann unvermittelt das Zimmer, um erst später wieder zu erscheinen, als sie auf einem Tablett den Kräuteraufguß brachte, den mein Onkel jeden Abend zu nehmen gewohnt war.
Am folgenden Tage wechselte sie weder die Frisur noch die Bluse, die sie am Abend zuvor auch bei Tisch anbehalten hatte; sie setzte sich zu ihrem Vater auf eine Bank vor dem Hause und nahm die Näharbeit – oder besser, die Flickarbeit wieder auf, die sie schon abends beschäftigt hatte. Sie griff neben sich, auf der Bank oder dem Tisch, in einen großen Korb voll abgenutzter Strümpfe und Socken. Ein paar Tage darauf waren es Tücher und Laken … Diese Arbeit, so schien es, nahm sie vollständig in Anspruch, so sehr, daß ihre Lippen dadurch jeden Ausdruck und ihre Augen jedes Leuchten verloren.
»Alissa!« rief ich am ersten Abend, fast entsetzt ob dieser seltsamen Entpoetisierung des Gesichts, das ich kaum wiedererkennen konnte und das ich seit einigen Augenblicken fixierte, ohne daß sie meinen Blick zu fühlen schien.
»Was denn?« fragte sie, indem sie den Kopf hob.
»Ich wollte sehen, ob du mich hören würdest. Dein Gedanke schien mir so fern!«
»Nein, ich bin da – aber wenn man stopft, muß man scharf aufpassen.«
»Möchtest du nicht, daß ich dir vorlese, während du nähst?«
»Ich fürchte, ich kann nicht recht zuhören.«
»Weshalb wählst du eine so anspruchsvolle Arbeit?«
»Irgend jemand muß sie doch machen.«
»Es gibt so viel arme Frauen, für die es ein Brotverdienst wäre. Und doch zwingst du dich nicht aus Sparsamkeit zu einer so undankbaren Arbeit.«
Sie versicherte mir alsbald, daß keine Arbeit ihr mehr Vergnügen machte, daß sie seit langem nichts anderes mehr getan hätte und ohne Zweifel jede Geschicklichkeit dazu verloren habe … Sie lächelte, während sie sprach. Nie war ihre Stimme sanfter gewesen als jetzt, da sie mich so trostlos machte. ›Ich sage da etwas, was nur natürlich ist,‹ schien ihr Gesicht zu sagen; ›weshalb solltest du darüber traurig werden?‹ – Und der volle Einspruch meines Herzens stieg mir nicht einmal auf die Lippen; er erstickte mich.
Als wir am übernächsten Tage Rosen gepflückt hatten, lud sie mich ein, sie in ihr Zimmer zu bringen, das ich in diesem Jahr noch nicht betreten hatte. Mit welcher Hoffnung schmeichelte ich mir alsbald! Denn noch immer machte ich mir meine Trauer zum Vorwurf; ein Wort von ihr hätte mein Herz geheilt.
Ich betrat dieses Zimmer niemals ohne Rührung. Ich weiß nicht, woraus dort eine Art melodischen Friedens entstand, in dem ich Alissa wiedererkannte. Der blaue Schatten der Vorhänge vor den Fenstern und um das Bett, die Möbel aus leuchtendem Mahagoni, die Ordnung, die Sauberkeit, die Stille, alles erzählte meinem Herzen von ihrer Reinheit und ihrer nachdenklichen Anmut. Ich erstaunte, als ich an jenem Morgen an der Wand dicht bei ihrem Bett zwei große Photographien von Masaccio, die ich aus Italien mitgebracht hatte, nicht mehr erblickte. Ich wollte sie gerade fragen, was aus ihnen geworden war, als mein Blick dicht vor mir auf den Bücherständer fiel, auf den sie in Reihen die Bücher stellte, die sie vor dem Bett haben wollte. Diese kleine Bibliothek hatte sich langsam gebildet; zum Teil aus Büchern, die ich ihr geschenkt hatte, zum Teil aus anderen, die wir gemeinsam gelesen hatten. Ich hatte eben bemerkt, daß diese Bücher alle beseitigt und ausschließlich durch nichtssagende kleine Werke gemeiner Andacht ersetzt worden waren, für die sie, so hoffte ich, nur Verachtung haben konnte. Als ich plötzlich die Augen hob, sah ich Alissa, die lachte – ja, die lachte, während sie mich beobachtete.
»Ich bitte dich um Verzeihung,« sagte sie alsbald; »dein Gesicht machte mich lachen; es verlor so unvermittelt seine Fassung, als du meine Bibliothek bemerktest …«
Ich war sehr wenig in der Stimmung, um zu scherzen.
»Nein, wirklich, Alissa, ist das jetzt das, was du liest?«
»Aber ja. Worüber wunderst du dich?«
»Ich glaubte, ein an kräftige Nahrung gewöhnter Geist könnte an solchen Fadheiten nur noch mit Ekel kosten.«
»Ich verstehe dich nicht,« sagte sie. »Das sind demütige Seelen, die einfältig mit mir plaudern, indem sie sich ausdrücken, so gut sie können, und in deren Gesellschaft es mir gefällt. Ich weiß im voraus, daß sie in keine Falle schöner Worte und ich, wenn ich sie lese, in keine profane Bewunderung gerate.«
»Liest du denn nichts mehr als das?«
»Beinahe. Ja, seit einigen Monaten. Übrigens habe ich nicht mehr viel Zeit zum Lesen. Und ich gestehe dir, als ich ganz kürzlich einmal einen jener großen Schriftsteller, die du mich zu bewundern gelehrt hattest, wieder aufnehmen wollte, kam ich mir vor wie der, von dem das Evangelium spricht, und der sich bemüht, seiner Länge eine Elle zuzusetzen.«
»Welches ist dieser ›große Schriftsteller‹, der dir eine so wunderliche Meinung von dir selbst gegeben hat?«
»Nicht er hat sie mir gegeben; ich habe sie mir gebildet, während ich ihn las … Es war Pascal. Vielleicht war ich an eine weniger gute Stelle geraten.«
Ich machte eine ungeduldige Geste. Sie sprach mit klarer und eintöniger Stimme, als sagte sie eine Lektion her; die Augen hob sie nicht von ihren Blumen, mit deren Ordnung sie nicht zu Ende kam. Einen Augenblick hielt sie bei meiner Geste inne; dann fuhr sie im gleichen Ton fort:
»Soviel Großrederei erstaunt, und soviel Ringen; und alles, um so wenig zu finden! Ich frage mich bisweilen, ob sein pathetischer Tonfall nicht eher die Wirkung des Zweifels als des Glaubens ist. Der vollkommene Glaube hat nicht so viel Tränen, hat kein Zittern in der Stimme.«
Gerade dieses Zittern, gerade diese Tränen machen die Schönheit dieser Stimme aus,« versuchte ich zu entgegnen, aber ohne Mut, denn ich erkannte in diesen Worten nichts mehr von dem, was ich an Alissa liebte. Ich schreibe sie so nieder, wie ich mich ihrer entsinne, ohne nachträglich Kunst oder Logik hineinzulegen.
»Wenn er nicht erst das gegenwärtige Leben seiner Freude entkleidet hätte,« fuhr sie fort, »so würde es in der Wagschale schwerer wiegen als …«
»Als was?« fragte ich, starr ob dieser seltsamen Reden.
»Als das unbestimmte Glück, das er verheißt.«
»Glaubst du denn nicht daran?« rief ich aus.
»Was tut das?« erwiderte sie; »ich will, daß es unbestimmt bleibe, um jeden Verdacht eines Schachers fernzuhalten. Aus natürlichem Adel, nicht aus Hoffnung auf Lohn wird sich die in Gott verliebte Seele in die Tugend versenken.«
»Daher dieser heimliche Skeptizismus, in den sich Pascals Adel flüchtet.«
»Kein Skeptizismus; Jansenismus,« sagte sie lächelnd.
»Was hatte ich mit all dem zu tun? Diese armen Seelen hier« – und sie wandte sich zu ihren Büchern um – »wären sehr in Verlegenheit, wenn sie sagen sollten, ob sie Jansenisten, Quietisten oder ich weiß nicht was sonst noch sind. Sie neigen sich vor Gott wie Gräser, die ein Wind niederdrückt, ohne Tücke, ohne Unruhe, ohne Schönheit. Sie halten sich für wenig bemerkenswert und wissen, daß sie nur ihrem Verbleichen vor Gott einigen Wert verdanken.«
»Alissa!« rief ich aus, »weshalb reißt du dir die Flügel ab?«
Ihre Stimme blieb so ruhig und natürlich, daß mein Ausdruck mir nur um so mehr als stumpf emphatisch erschien.
Sie lächelte von neuem und schüttelte den Kopf.
»Alles, was ich von diesem letzten Besuch bei Pascal behalten habe …«
»Was denn?« fragte ich, denn sie hielt inne.
»Ist dieses Wort Christi: Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren. Den Rest,« fügte sie hinzu, indem sie stärker lächelte und mir gerade ins Gesicht sah, »den habe ich fast nicht mehr verstanden. Wenn man eine Weile in Gesellschaft dieser Kleinen gelebt hat, dann bringt einen die Verstiegenheit der Großen erstaunlich schnell außer Atem.«
Sollte ich in meiner Bestürzung keinerlei Antwort finden? …
»Wenn ich heute mit dir all diese Predigten, diese Betrachtungen lesen sollte …«
»Aber,« unterbrach sie mich, »ich wäre trostlos, zu sehen, daß du sie läsest! Ich glaube in der Tat, daß du für weit besseres geboren bist.«
Sie sagte das ganz einfach und scheinbar, ohne zu ahnen, daß diese Worte, die so unser beider Leben trennten, mir das Herz zerreißen könnten. Mir brannte der Kopf. Ich hätte weinen mögen wie ein Kind; vielleicht wäre sie durch meine Tränen besiegt worden; aber ich blieb stehen, ohne noch etwas zu sagen, die Ellbogen auf den Kamin gestützt und die Stirn in den Händen. Sie fuhr in aller Ruhe fort, ihre Blumen zu ordnen und sah nichts von meinem Schmerz oder tat, als sähe sie nichts …
In diesem Augenblick erklang die erste Glocke, die zu Tische rief.
»Ich werde niemals zum Frühstück fertig werden,« sagte sie. »Laß mich schnell allein.«
– Und als hätte es sich nur um ein Spiel gehandelt:
»Wir werden dies Gespräch später wieder aufnehmen.«
Dieses Gespräch wurde nicht wieder aufgenommen. Alissa entschlüpfte mir unaufhörlich; nicht als ob sie sich mir je zu entziehen geschienen hätte; aber jede zufällige Beschäftigung wurde alsbald zu einer Pflicht von weit dringenderer Wichtigkeit als es das war, was mein Herz folterte. Ich wurde eingereiht; ich kam erst nach den stets wieder auflebenden Sorgen für den Haushalt, erst nach der Überwachung der Arbeiten, die man in der Scheune hatte machen müssen, nach den Besuchen bei den Pachtbauern, die uns Eier, Milch, Butter und Geflügel lieferten, nach den Besuchen bei den Armen, mit denen sie sich immer mehr beschäftigte. Mir gehörte die Zeit, die übrigblieb, recht wenig; ich sah sie stets nur geschäftig – aber vielleicht sah ich in diesen kleinen Sorgen, indem ich darauf verzichtete, sie zu verfolgen, noch am wenigsten, wie sehr ich entthront worden war. Die geringste Unterhaltung zeigte es mir deutlicher. Wenn Alissa mir einige Augenblicke gewährte, so geschah es in der Tat nur für eine höchst linkische Unterhaltung, für die sie sich hergab, wie man es für ein Kinderspiel tut. Sie ging schnell an mir vorüber, zerstreut und lächelnd, und ich fühlte, daß sie mir ferner war als wenn ich sie nie gekannt hätte. Manchmal glaubte ich sogar in ihrem Lächeln irgendeine Herausforderung zu sehen, wenigstens irgendeine Ironie, glaubte zu sehen, daß es sie amüsierte, meine Sehnsucht so zu vereiteln … Dann wandte ich alsbald jede Beschwerde wider mich selber, denn ich wollte dem Vorwurf nicht bestimmen und wußte auch nicht mehr recht, was ich von ihr erwartet hatte, noch was ich ihr vorwerfen konnte.
So verstrichen die Tage, von denen ich mir soviel Glückseligkeit versprochen hatte. Ich sah ihrer Flucht in Verblüffung zu, aber ich hätte weder ihre Zahl vermehren noch ihren Lauf verlangsamen wollen, so sehr erschwerte mir ein jeder meinen Schmerz. Am zweiten Tage vor meiner Abreise jedoch, als Alissa mir vorgeschlagen hatte, sie bis zu der Bank der aufgegebenen Mergelgrube zu begleiten, von der aus der Blick sich am weitesten dehnte – es war an einem klaren Herbstabend und bis zum nebellosen Horizont erkannte man bläulich jede Einzelheit und in der Vergangenheit jede verschwebende Erinnerung – konnte ich meine Klage nicht mehr zurückhalten und malte grell hin, aus der Trauer, um welches Glück sich mein heutiges Unglück zusammensetzte.
»Aber was kann ich dabei machen, mein Freund?« sagte sie alsbald: »du verliebst dich in ein Phantom.«
»Nein, nicht in ein Phantom, Alissa.«
»In eine erdichtete Gestalt.«
»Ach, ich erfinde sie nicht. Sie war meine Freundin. Ich rufe sie zurück. Alissa! Alissa! Du warst die, die ich liebte. Was hast du mit dir gemacht? Was hast du aus dir werden lassen?«
Sie blieb einige Augenblicke stumm, indem sie langsam eine Blume zerriß und den Kopf gesenkt hielt. Dann endlich: »Jerome, weshalb nicht ganz einfach zugestehen, daß du mich weniger liebst?«
»Weil es nicht wahr ist! Weil es nicht wahr ist!« rief ich voll Entrüstung. »Weil ich dich niemals mehr geliebt habe!«
»Du liebst mich … und dennoch bedauerst du mich!« sagte sie, indem sie zu lächeln versuchte und ein wenig die Achseln zuckte.
»Ich kann meine Liebe nicht zum Vergangenen werfen.« Der Boden gab unter mir nach, ich klammerte mich an alles …
»Sie wird wohl mit allem andern vergehen müssen.«
»Eine solche Liebe wird nur mit mir vergehen.«
»Sie wird langsam schwächer werden. Die Alissa, die du noch zu lieben vermeinst, lebt schon nur noch in deiner Erinnerung; es wird ein Tag kommen, da du dich nur noch daran erinnerst, sie geliebt zu haben.«
»Du sprichst, als ob irgend etwas sie in meinem Herzen ersetzen könnte, oder als ob mein Herz aufhören müßte zu lieben. Entsinnst du dich nicht mehr, daß du selbst mich geliebt hast, da du dir so daran gefallen kannst, mich zu foltern?«
Ich sah ihre blassen Lippen zittern; mit fast unhörbarer Stimme murmelte sie:
»Nein; nein; das hat sich in Alissa nicht geändert.«
»Aber nichts hätte sich geändert,« sagte ich, indem ich sie am Arm ergriff …
Sie fuhr sicherer fort:
»Ein Wort würde alles erklären, das du ohne Zweifel nicht auszusprechen wagst.«
»Welches?«
»Ich bin gealtert.«
»Sei stille.« – Ich beteuerte alsbald, daß ich selbst ebensosehr gealtert sei wie sie, daß der Altersunterschied zwischen uns der gleiche bleibe … Aber sie hatte sich wieder gefaßt; der einzige Augenblick war verstrichen, und indem ich mich herbeiließ, zu streiten, gab ich jeden Vorteil auf; ich verlor an Boden.
Ich verließ Fongueusemare zwei Tage später, unzufrieden mit ihr und mit mir selber, voll von einem unbestimmten Haß gegen das, was ich noch immer ›Tugend‹ nannte, und von Groll wider die gewöhnliche Beschäftigung meines Herzens. Es schien, als hätte ich in diesem letzten Wiedersehen eben durch die Übertreibung meiner Liebe meine ganze Glut verbraucht; ein jedes der Worte Alissas, gegen die ich mich zunächst empörte, blieb lebendig und triumphierend in mir zurück, nachdem meine Proteste verstummt waren. Ach, ohne Zweifel hatte sie recht! Ich hegte nur noch ein Phantom in meiner Liebe; die Alissa, die ich geliebt hatte, die ich noch liebte, war nicht mehr … Ach, ohne Zweifel waren wir gealtert! Diese grauenhafte Entpoetisierung, vor der mein ganzes Herz zu Eis erstarrte, war im letzten Grunde nichts als die Rückkehr zur Natur; wenn ich sie langsam allzu hoch erhoben, wenn ich mir selber aus ihr ein Idol erschaffen hatte, indem ich sie mit allem schmückte, worein ich verliebt war – was blieb nun von meiner Mühe außer meiner Ermattung? … Kaum sich selbst überlassen, war Alissa auf ihr Niveau zurückgeglitten, und auf ihm erkannte ich auch mich selbst, aber sie begehrte ich dort nicht mehr. Ach, wie widersinnig und chimärisch erschien mir dieses erschlaffende Ringen nach der Tugend, um sie auf den Höhen zu finden, auf die mein einziges Ringen sie gestellt hatte! Ein wenig weniger hochmütig – und unsere Liebe wäre leicht gewesen … Aber was bedeutete hinfort das Verharren in einer Liebe ohne Ziel? Es war Eigensinn, es war keine Treue mehr. Treue wider was? – Wider einen Irrtum. War es nicht das gescheiteste, wenn ich mir eingestand, daß ich mich geirrt hatte …?
Da ich derweilen für die Schule von Athen vorgeschlagen wurde, so erklärte ich mich bereit, sofort einzutreten, und zwar ohne Ehrgeiz, ohne Freude an der Sache, aber lächelnd beim Gedanken an den Aufbruch wie bei dem an ein Entspringen.