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IV.

Die Zeit bis zu den Neujahrsferien war so kurz, daß mein Glaube, der sich in meiner letzten Unterhaltung mit Alissa begeistert hatte, keinen Augenblick zu schwanken vermochte. Wie ich es mir vorgenommen hatte, schrieb ich ihr jeden Sonntag sehr ausführlich; an den andern Tagen hielt ich mich von meinen Kameraden ziemlich fern und verkehrte außer mit Abel kaum mit jemanden. Ich lebte in dem Gedanken an Alissa und bedeckte meine Lieblingsbücher mit Hinweisen für sie, indem ich dem Interesse, das sie daran nehmen mochte, das Interesse unterordnete, das ich selbst darin suchte. Ihre Briefe freilich beunruhigten mich immer noch; obwohl sie die meinen ziemlich regelmäßig beantwortete, glaubte ich doch in dem Eifer, mit dem sie mir folgte, eher den Wunsch zu erkennen, mich in meiner Arbeit zu ermutigen, als eine Hingabe ihres Geistes; und es schien mir sogar, während für mich Würdigungen, Erörterungen und Kritiken nur ein Mittel waren, meinem Denken Ausdruck zu verleihen, als benutze sie all das, um mir das ihre zu verbergen. Bisweilen zweifelte ich, ob sie sich in all dem nicht ein Spielzeug schuf … Einerlei! Entschlossen, mich über nichts zu beklagen, ließ ich in meinen Briefen von meiner Unruhe nichts durchblicken.

Gegen Ende des Dezembers brachen wir, Abel und ich, also nach Le Havre auf.

Ich stieg bei meiner Tante Plantier ab. Sie war nicht im Hause, als ich eintraf. Aber kaum hatte ich Zeit gehabt, mich in meinem Zimmer einzurichten, als ein Dienstbote kam, um mir zu melden, daß sie im Salon wartete.

Sie hatte sich kaum oberflächlich nach meinem Befinden, meiner Unterkunft, meinem Studium erkundigt, als sie der Neugier ihres Herzens die Zügel schießen ließ.

»Du hast mir noch nicht gesagt, mein Kind, ob du mit deinem Aufenthalt in Fongueusemare zufrieden warst? Hast du deine Angelegenheit ein wenig fördern können?«

Ich mußte die ungeschickte Gutmütigkeit meiner Tante ertragen; aber so peinlich es mir war, Empfindungen, die die reinsten und zartesten Worte noch zu vergewaltigen schienen, so oberflächlich behandelt zu hören, so wurde das doch in einem so einfachen und so herzlichen Ton gesagt, daß es borniert gewesen wäre, sich zu ärgern. Nichtsdestoweniger wurde ich ein wenig widerspenstig.

»Hast du mir nicht im Frühling gesagt, daß du eine Verlobung für übereilt halten würdest? …«

»Ja, ich weiß wohl; man sagt das zunächst so,« erwiderte sie, indem sie sich einer meiner Hände bemächtigte, die sie pathetisch in den ihren drückte. »Und dann kannst du dich wegen deiner Studien, wegen deines Militärdienstes nicht vor einer Reihe von Jahren verheiraten, ich weiß wohl. Übrigens bin ich persönlich nicht sehr für eine lange Verlobung; das ermüdet junge Mädchen … Aber es ist bisweilen sehr rührend … Übrigens ist es ja nicht nötig, die Verlobung öffentlich zu machen … nur ist es dann möglich, zu verstehen zu geben – oh, ganz vorsichtig – daß es nicht mehr nötig ist, für sie zu suchen, und dann rechtfertigt es euren Briefwechsel, eure Beziehungen; und schließlich, wenn sich etwa von selbst eine andere Partie bieten sollte – und das wäre doch möglich –« deutete sie mit einem schlauen Lächeln an – »so kann man dann zartfühlend antworten: – Nein, es lohnt nicht der Mühe. Du weißt, es ist jemand gekommen und hat um Juliettes Hand gebeten! Sie ist diesen Winter sehr beachtet worden. Sie ist noch ein wenig jung; das hat sie auch erwidert; aber der junge Mann erklärt sich bereit zu warten; – es ist eigentlich kein junger Mann mehr … kurz, es ist eine ausgezeichnete Partie; ein sehr zuverlässiger Mensch; übrigens wirst du ihn morgen sehen; er wird zu meinem Weihnachtsbaum kommen. Du wirst mir deinen Eindruck sagen.«

»Ich fürchte, liebe Tante, er wird nicht auf seine Kosten kommen und Juliette hat einen andern im Kopf,« sagte ich, indem ich mit großer Mühe vermied, Abel nicht sofort zu nennen.

»Hm?« sagte meine Tante fragend mit skeptisch aufgeworfenem Mund und einer seitlichen Kopfbewegung. »Du erstaunst mich! Weshalb hätte sie mir nichts davon gesagt?«

Ich biß mich auf die Lippen, um nicht mehr zu verraten.

»Bah, wir werden ja sehen … Juliette ist in letzter Zeit ein wenig leidend,« fuhr sie fort … »Übrigens handelt es sich vorläufig nicht um sie … Ah, Alissa ist auch sehr liebenswürdig … Nun, ja oder nein, hast du ihr deine Erklärung gemacht?«

Obgleich ich mich mit meinem ganzen Herzen wider dieses Wort »Erklärung« aufbäumte, das mir an unrechter Stelle so brutal erschien, antwortete ich doch, als die Frage mich so von vorn packte, außerstande zu lügen, in großer Verwirrung:

»Ja,« – und ich fühlte, wie mein Gesicht glühend wurde.

»Und was hat sie gesagt?«

Ich senkte den Kopf; ich hätte lieber nicht geantwortet, und in noch größerer Verwirrung sagte ich gleichsam wider meinen Willen:

»Sie hat es abgelehnt, sich zu verloben.«

»Nun, da hat sie recht, die Kleine!« rief meine Tante. »Ihr habt noch soviel Zeit, bei Gott …«

»Oh, liebe Tante, lassen wir das,« sagte ich mit einem vergeblichen Versuch, sie aufzuhalten.

»Übrigens nimmt mich das bei ihr nicht wunder; sie ist mir immer vernünftiger erschienen als du, deine Kusine …« Ich weiß nicht, was mich in diesem Augenblick packte; ohne Zweifel war ich von diesem Verhör entnervt, und plötzlich war es mir, als wolle mir das Herz springen; wie ein Kind ließ ich meinen Kopf der guten Frau auf die Knie rollen und rief schluchzend aus:

»Liebe Tante, nein, du verstehst nicht. Sie hat mich nicht gebeten zu warten …«

»Was! Hat sie dich etwa abgewiesen?« fragte sie im Ton sehr sanfter Bemitleidung, indem sie mit der Hand meine Stirn aufhob.

»Auch nicht … Nein, nicht geradezu.« – Ich schüttelte traurig den Kopf.

»Fürchtest du, daß sie dich nicht mehr liebt?«

»O nein, nicht das fürchte ich.«

»Mein armes Kind, wenn ich dich verstehen soll, mußt du dich ein wenig deutlicher erklären.«

Ich schämte mich und war trostlos, weil ich meiner Schwäche so den Lauf gelassen hatte; meine Tante war ohne Zweifel immer noch außerstande, die Gründe meiner Ungewißheit zu würdigen; aber wenn sich hinter Alissas Weigerung irgendein bestimmtes Motiv verbarg, so würde mir meine Tante vielleicht, indem sie sie vorsichtig ausfragte, helfen, es zu entdecken? Sie kam bald selbst darauf.

»Höre,« fuhr sie fort: »Alissa soll morgen früh kommen, um mit mir den Weihnachtsbaum zu putzen: ich werde bald sehen, um was es sich dreht: ich werde es dich beim Frühstück wissen lassen, und ich bin überzeugt, du wirst erkennen, daß kein Grund vorhanden ist, sich zu beunruhigen.« –

Ich ging zum Diner zu den Bucolins. Juliette, die in der Tat seit einigen Tagen leidend war, schien mir verändert; ihr Blick hatte einen etwas wilden und fast harten Ausdruck angenommen, der sie noch mehr als früher von ihrer Schwester unterschied. Mit keiner von beiden konnte ich an diesem Abend allein sprechen; ich wünschte es übrigens nicht, und da mein Onkel sich ermattet zeigte, so zog ich mich bald nach der Mahlzeit zurück.

Der Weihnachtsbaum, den meine Tante vorbereitete, vereinigte jedes Jahr eine große Anzahl von Kindern, Verwandten und Freunden. Er erhob sich in einem Vestibül, das als Treppenhaus diente, und auf das ein erstes Vorzimmer, ein Salon und die Glastüren einer Art Wintergarten gingen, wo man ein Büfett errichtet hatte. Der Putz des Baumes war noch nicht beendet, und am Morgen des Festes, dem Tage nach meiner Ankunft, erschien Alissa, wie meine Tante es mir gemeldet hatte, zu ziemlich früher Stunde, um ihr zu helfen, während sie die Zierstücke, Lichter, Früchte, Leckereien und Spielzeuge in die Zweige hing. Mir selbst hätte diese Arbeit neben ihr viel Vergnügen gemacht; aber ich mußte meine Tante mit ihr allein lassen, damit sie mit ihr sprechen konnte. Ich ging also fort, ohne sie gesehen zu haben, und versuchte den ganzen Morgen hindurch, meine Unruhe abzulenken.

Ich ging zunächst zu den Bucolins, da ich wünschte, Juliette wiederzusehen; ich erfuhr, daß Abel mir bei ihr zuvorgekommen war; und da ich fürchtete, eine entscheidende Unterredung zu stören, so zog ich mich alsbald zurück; dann irrte ich auf den Kais und in den Straßen umher, bis die Stunde des Frühstücks kam.

»Dummkopf!« rief meine Tante aus, als ich nach Hause kam. »Darf man sich so das Leben verderben? Kein vernünftiges Wort ist in all dem, was du mir heute morgen erzählt hast … Oh, ich habe nicht lange gefackelt: Ich habe Miß Ashburton, die sich abmühte, um uns zu helfen, spazieren geschickt, und sowie ich mich mit Alissa allein befand, habe ich sie ganz einfach gefragt, weshalb sie sich diesen Sommer nicht verlobt hätte. Du glaubst vielleicht, sie sei verlegen geworden? – Sie ist keinen Augenblick verwirrt gewesen und hat mir ganz ruhig geantwortet, daß sie sich nicht vor ihrer Schwester verheiraten wollte. Wenn du sie offen gefragt hättest, so hätte sie dir dieselbe Antwort gegeben wie mir. Da ist mir gerade Grund vorhanden, dich zu beunruhigen, wie? Siehst du, mein Kind, nichts kommt doch der Offenheit gleich … Die arme Alissa! Sie hat mir auch von ihrem Vater gesprochen, den sie nicht verlassen könne … Oh, wir haben viel geplaudert. Sie ist sehr vernünftig, die Kleine; sie sagte mir auch, sie sei noch nicht recht davon überzeugt, daß sie wirklich die ist, die zu dir paßt: sie fürchtet, sie sei zu alt für dich, und wünscht eher ein Mädchen in Juliettes Alter …«

Meine Tante fuhr fort; aber auf alles andere achtete ich kaum; mir war nur eines wichtig: Alissa weigerte sich, sich vor ihrer Schwester zu verheiraten. – Aber war Abel nicht da? Er hatte also recht, dieser große Geck: auf einen Schlag würde er, wie er sagte, unsere Doppelhochzeit zustande bringen … Ich verbarg meiner Tante nach Kräften die Aufregung, in die mich diese doch so einfache Offenbarung stürzte, und ließ nur eine Freude blicken, die ihr sehr natürlich erschien und die ihr um so mehr gefiel, als sie glaubte, sie mir selbst verschafft zu haben; aber gleich nach dem Frühstück verließ ich sie unter ich weiß nicht mehr welchem Vorwand und suchte Abel auf.

»He! Was hatte ich dir gesagt?« rief er aus, indem er mich umarmte, sowie ich ihm von meiner Freude gesagt hatte. – »Mein Lieber, ich kann dir schon mitteilen, daß die Unterredung, die ich heute morgen mit Juliette hatte, nahezu entscheidend war, obwohl wir fast nur von dir gesprochen haben. Aber sie schien erschöpft und nervös … Ich fürchtete, sie aufzuregen, wenn ich zu weit ging, und sie zu exaltieren, wenn ich zu lange blieb. Nach dem, was du mir da sagst, ist es erledigt! Mein Lieber, ich stürze mich auf meinen Stock und meinen Hut. Du begleitest mich bis zur Tür der Bucolins, um mich festzuhalten, wenn ich unterwegs davonfliege; ich fühle mich leichter als Euphorion … Wenn Juliette erfährt, daß ihre Schwester dir ihre Einwilligung nur um ihretwillen versagt, und wenn ich dann gleich meine Werbung anbringe … Ah, mein Freund, ich sehe schon meinen Vater, wie er heute abend vor dem Weihnachtsbaum den Herrn lobt, vor Glück weint und seine Hand voller Segnungen über die Köpfe von vier knienden Verlobten ausstreckt. Miß Ashburton wird in einem Seufzer verdunsten, Tante Plantier wird in ihrem Korsett schmelzen, und der flammende Baum wird Gottes Ruhm singen und nach Art der Berge in der Schrift mit den Händen klatschen.«

Erst gegen Ende des Tages sollte der Weihnachtsbaum entzündet werden und sollten sich Kinder, Eltern und Freunde darum versammeln. Unbeschäftigt stürzte ich mich voller Angst und Ungeduld, nachdem ich Abel verlassen hatte, um die Zeit meines Wartens hinwegzutäuschen, auf einen langen Marsch über die Klippe von Sainte-Adresse; ich verirrte mich und es kam so, daß das Fest, als ich zu meiner Tante Plantier zurückkehrte, bereits seit einiger Zeit begonnen hatte.

Gleich im Vestibül sah ich Alissa; sie schien auf mich zu warten und kam sofort auf mich zu. Um den Hals trug sie im Ausschnitt ihrer hellen Bluse ein kleines antikes Kreuz aus Saphiren, das ich ihr als Andenken an meine Mutter gegeben, aber bisher noch nicht an ihr gesehen hatte. Ihre Züge waren langgezogen, und der schmerzliche Ausdruck ihres Gesichtes tat mir weh.

»Weshalb kommst du so spät?« fragte sie mich mit bedrückter und rascher Stimme. »Ich hätte dich gern gesprochen.«

»Ich habe mich auf der Klippe verirrt … Aber du bist leidend … Oh, Alissa, was gibt es?«

Sie blieb einen Augenblick wie sprachlos und mit zitternden Lippen vor mir stehen; mich würgte eine solche Angst, daß ich sie nicht zu fragen wagte; sie legte mir die Hand auf den Hals, als wollte sie mein Gesicht an sich ziehen. Ich sah, daß sie im Begriffe stand zu reden: aber in diesem Augenblick traten Gäste ein; ihre entmutigte Hand fiel zurück …

»Es ist schon keine Zeit mehr dazu,« murmelte sie. Und als sie sah, wie meine Augen sich mit Tränen füllten, erwiderte sie auf die Frage in meinem Blick, als könnte diese lächerliche Erklärung genügen, um mich zu beruhigen: »Nein … mache dir keine Sorge: ich habe nur Kopfschmerzen; diese Kinder machen einen solchen Lärm … Ich habe hierher flüchten müssen … Es ist Zeit, daß ich wieder zu ihnen gehe.«

Sie ließ mich unvermittelt stehen. Es kamen Leute, die mich von ihr trennten. Ich sah sie am anderen Ende des Raumes von einer Schar Kinder umringt, deren Spiele sie leitete. Zwischen ihr und mir erkannte ich mehrere Leute, an denen ich mich nicht vorbeiwagen konnte, ohne mich der Gefahr auszusetzen, daß sie mich zurückhielten; zu Höflichkeiten und Unterhaltungen fühlte ich mich außerstande. Vielleicht, wenn ich an der Wand entlangglitt … Ich versuchte es.

Als ich vor der großen Glastür des Gartens vorübergehen wollte, fühlte ich mich am Arm ergriffen. Juliette stand da, halb von der Nische verborgen und in den Vorhang gehüllt.

»Laß uns in den Wintergarten gehen,« sagte sie hastig. »Ich muß mit dir sprechen. Geh dort herum: ich komme gleich zu dir.« – Und indem sie die Tür einen Augenblick ein wenig öffnete, entfloh sie in den Garten.

Was war geschehen? Gern hätte ich Abel gesprochen. Was hatte er gesagt? Was hatte er getan? … Ich wandte mich ins Vestibül zurück und trat in das Treibhaus, wo Juliette auf mich wartete.

Ihr Gesicht stand in Flammen; das nervöse Zucken ihrer Augenbrauen gab ihrem Blick einen harten und schmerzlichen Ausdruck; ihre Augen glänzten, als hätte sie das Fieber; selbst ihre Stimme schien rauh und zusammengekrampft. Eine Art Wut erregte sie, und trotz meiner Unruhe stand ich erstaunt, fast befangen vor ihrer Schönheit da. Wir waren allein.

»Alissa hat mit dir gesprochen?« fragte sie mich sofort.

»Kaum zwei Worte: ich bin sehr spät nach Hause gekommen.«

»Du weißt, daß sie will, ich soll mich vor ihr verheiraten?«

»Ja.«

Sie sah mich fest an …

»Und du weißt, wen ich heiraten soll?«

Ich blieb stumm.

»Dich,« erwiderte sie in einem Schrei.

»Aber das ist Wahnsinn!«

»Nicht wahr?« – Es lagen zugleich Verzweiflung und Triumph in ihrer Stimme. Sie richtete sich auf, oder vielmehr, sie warf sich ganz nach hinten.

»Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe,« fügte sie verwirrt hinzu, indem sie die Gartentür öffnete, die sie gewaltsam hinter sich zuschlug.

 

Alles wankte mir im Kopf und im Herzen. Ich fühlte das Blut in meinen Schläfen pochen. Ein einziger Gedanke leistete meinem Zusammenbruch Widerstand: Abel aufsuchen: er konnte mir vielleicht die seltsame Reden der beiden Schwestern erklären … Aber ich wagte nicht, wieder in den Salon zu treten, wo jeder, wie ich glaubte, meine Verwirrung bemerken würde. Ich ging hinaus. Die eisige Luft des Gartens beruhigte mich; ich blieb dort eine Weile. Der Abend sank herein, und der Meeresnebel verbarg die Stadt; die Bäume waren ohne Blätter, die Erde und der Himmel schienen unermeßlich trostlos … Es erhob sich ein Singen; ohne Zweifel ein Chor der Kinder, die sich um den Weihnachstbaum versammelt hatten. Ich ging durchs Vestibül ins Haus zurück. Die Türen des Salons und des Vorzimmers standen offen; ich bemerkte im Salon, der jetzt verlassen war, hinterm Piano kaum verborgen, meine Tante, die mit Juliette sprach. Im Vorzimmer drängten sich um den geputzten Baum die Gäste. Die Kinder hatten ihren Choral beendet; es entstand ein Schweigen, und Pastor Vautier begann vor dem Baum eine Art Predigt. Er ließ keine Gelegenheit verstreichen, wenn er »die gute Saat ausstreuen« konnte, wie er es nannte. Die Lichter und die Wärme waren mir lästig; ich wollte wieder hinaus; an der Tür sah ich Abel lehnen; ohne Zweifel stand er schon seit einer Weile da. Er sah mich feindselig an und zuckte mit den Achseln, als unsere Blicke sich begegneten. Ich trat auf ihn zu.

»Dummkopf!« sagte er halblaut; dann plötzlich:

»Ah, komm! Laß uns hinaus; ich habe die gut gemeinten Worte satt!« Und sowie wir draußen waren, sagte er, da ich ihn beklommen und wortlos ansah, von neuem: »Dummkopf!«

»Aber sie liebt ja dich, Dummkopf! Konntest du mir das nicht wenigstens sagen?«

Ich war wie zu Boden geschlagen; ich weigerte mich zu begreifen.

»Nein, nicht wahr? Du konntest es nicht einmal allein merken!« –

Er hatte meinen Arm ergriffen und schüttelte mich wütend. Seine Stimme klang zitternd und zischend durch die zusammengepreßten Zähne.

»Abel, ich flehe dich an,« sagte ich nach einem Augenblick des Schweigens mit einer Stimme, die gleichfalls zitterte, während er mich mit weiten Schritten aufs Geratewohl dahinzog, – »versuche lieber, statt so in Aufregung zu geraten, mir zu erzählen, was geschehen ist. Ich weiß von nichts.«

Beim Licht einer Laterne blieb er plötzlich stehen und sah mich an. Dann zog er mich heftig an die Brust, legte mir den Kopf auf die Schulter und murmelte schluchzend:

»Verzeih! Ich bin selbst borniert und habe nicht klarer zu blicken verstanden als du, mein armer Freund!« –

Seine Tränen schienen ihn ein wenig zu beruhigen; er hob den Kopf, begann wieder auszuschreiten und fuhr fort: »Was geschehen ist? … Was nützt es jetzt, noch darauf zurückzukommen? Ich hatte morgens mit Juliette gesprochen, wie ich dir sagte. Sie war außerordentlich schön und lebhaft; ich glaubte, es sei um meinetwillen; es war ganz einfach, weil wir von dir sprachen.«

»Du hast es dir auch nicht gleich erklären können? …«

»Nein, eigentlich nicht; aber jetzt werden mir die kleinsten Einzelheiten klar …«

»Bist du sicher, daß du dich nicht täuschst?«

»Mich täuschen? Aber mein Lieber, man muß blind sein, um nicht zu sehen, daß sie dich liebt.«

»Und Alissa …«

»Und Alissa opfert sich. Sie hatte das Geheimnis ihrer Schwester erkannt und wollte ihr ihren Platz abtreten. Laß sehen, Junge, das ist doch nicht schwer zu begreifen … Ich wollte noch einmal mit Juliette sprechen; bei den ersten Worten, die ich ihr sagte, oder vielmehr, sowie sie mich zu begreifen begann, stand sie von dem Kanapee auf, wo wir saßen, und wiederholte mehrmals: Ich wußte es ja! – und zwar im Ton dessen, der es keineswegs wußte …«

»Ah, scherze doch nicht!«

»Weshalb nicht? Ich finde diese Geschichte possenhaft … Sie stürzte sich in das Zimmer ihrer Schwester. Ich hörte ungestüme Stimmen, die mich beängstigten. Ich hoffte Juliette wiederzusehen; aber nach einem Augenblick kam Alissa heraus. Sie hatte den Hut auf dem Kopf, schien befangen, als sie mich sah, und sagte mir im Vorübergehen hastig guten Tag … das ist alles.«

»Du hast Juliette nicht noch einmal gesehen?«

Abel zögerte ein wenig.

»Doch. Als Alissa fort war, stieß ich die Tür des Zimmers auf. Da stand Juliette reglos vor dem Kamin, die Arme auf den Marmor gestützt, das Kinn in den Händen; sie sah sich starr im Spiegel an. Als sie mich hörte, wandte sie sich nicht um, sondern stampfte mit dem Fuß und rief: Ach, lassen Sie mich! und das in einem so harten Ton, daß ich ging, ohne noch mehr zu verlangen. Nun weißt du es.«

»Und jetzt?«

»Ah, es hat mir gut getan, daß ich mit dir sprechen konnte … Und jetzt? Nun, du mußt versuchen, Juliette von ihrer Liebe zu heilen, denn ich müßte Alissa schlecht kennen, wenn sie vorher zu dir zurückkehrte.«

Wir gingen ziemlich lange schweigend dahin.

»Laß uns umkehren,« sagte er schließlich, »die Gäste sind jetzt fort, ich fürchte, mein Vater wartet auf mich.«

Wir machten kehrt. Der Salon war wirklich leer; im Vorzimmer, bei dem geplünderten und fast erloschenen Baum, waren nur noch meine Tante und zwei ihrer Kinder, mein Onkel Bucolin, Miß Ashburton, der Pastor, meine Kusinen und eine ziemlich lächerliche Persönlichkeit zurückgeblieben, die ich lange mit meiner Tante hatte plaudern sehen, die ich aber erst in diesem Augenblick als den Bewerber erkannte, von dem Juliette mir gesprochen hatte. Größer, stärker, röter als irgendeiner von uns, fast kahl, aus anderem Stand, anderen Verhältnissen und anderer Rasse … so schien er sich auch unter uns als Fremder zu fühlen; er zog und drehte nervös unter einem ungeheuren Schnurrbart an dem Pinsel eines ergrauenden Zwickels. – Das Vestibül, dessen Türen offen standen, war nicht mehr erleuchtet; da wir beide geräuschlos ins Haus getreten waren, bemerkte niemand unsere Anwesenheit. Eine furchtbare Ahnung würgte an mir.

»Halt!« sagte Abel, indem er mich am Arm faßte.

Da sahen wir, wie der Unbekannte auf Juliette zutrat und ihre Hand ergriff, die sie ihm widerstandslos ließ, ohne ihren Blick auf ihn zu heben. In meinem Herzen schloß sich die Nacht.

»Aber Abel, was geht vor?« murmelte ich, als begriffe ich noch nicht, oder als hoffte ich, falsch zu verstehen.

»Potztausend, die Kleine überbietet,« sagte er mit zischender Stimme. »Sie will nicht hinter ihrer Schwester zurückbleiben. Gewiß klatschen oben die Engel Beifall! – …«

Mein Onkel trat auf Juliette zu und umarmte sie, während Miß Ashburton und meine Tante sie umringten. Pastor Vautier näherte sich … Ich tat einen Schritt vorwärts. Alissa bemerkte mich und lief bebend auf mich zu.

»Aber Jerome, das geht nicht! Sie liebt ihn nicht! Sie hat es mir noch heute morgen gesagt. Versuche es zu verhindern, Jerome! Oh, was soll aus ihr werden? …«

Sie hing sich in einem verzweifelten Flehen an meine Schulter; ich hätte mein Leben hingegeben, um ihre Qual zu lindern.

Ein plötzlicher Schrei am Baum; eine wirre Bewegung … Wir liefen hinzu. Juliette ist ihrer Tante bewußtlos in die Arme gesunken. Jeder beeilt sich, neigt sich über sie, und ich kann sie kaum sehen; ihr gelöstes Haar scheint ihr grauenhaft blasses Gesicht mit den geschlossenen Augen nach hinten zu ziehen. Es zeigte sich in den Zuckungen ihres Leibes, daß es keine gewöhnliche Ohnmacht war.

»Aber nein, aber nein,« sagte meine Tante mit lauter Stimme, um meinen Onkel Bucolin zu beruhigen, der außer sich ist und den schon Pastor Vautier mit gen Himmel gerichtetem Zeigefinger tröstet. »Aber nein! Es wird nichts sein. Es ist die Aufregung, eine einfache Nervenkrisis. Herr Teissière, helfen sie mir doch, Sie sind stark. Wir wollen sie in mein Zimmer hinaufbringen; auf mein Bett.« – Dann neigte sie sich zu dem ältesten ihrer Söhne, und sagt ihm etwas ins Ohr; ich sehe, wie er sofort aufbricht, ohne Zweifel, um einen Arzt zu holen.

Alissa hebt die Füße ihrer Schwester auf und küßte sie zärtlich. Meine Tante und der Bräutigam halten Juliette an den Schultern, während sie halb in ihren Armen liegt. Abel stützt den Kopf, der sonst nach hinten sinken würde, – und ich sehe, wie er, niedergebeugt, diese gelösten Haare, die er zusammenrafft, mit Küssen bedeckt.

Vor der Tür des Zimmers bleibe ich stehen. Man streckt Juliette auf dem Bett aus; Alissa sagt ein paar Worte, die ich nicht verstehe, zu Herrn Teissière und Abel; sie begleitet sie bis zur Tür und bittet uns, ihre Schwester ruhen zu lassen; sie wolle mit meiner Tante Plantier bei ihr allein bleiben … Abel ergreift mich am Arm und zieht mich fort, nach draußen, in die Nacht hinein, wo wir lange ziellos, mutlos und gedankenlos dahingehen.

 

Ich sah keinen anderen Sinn in meinem Leben als meine Liebe; ich klammerte mich an sie, erwartete nichts und wollte nichts erwarten, was nicht von meiner Freundin käme. Als ich mich am Tage darauf bereit machte, sie zu besuchen, hielt meine Tante mich an und reichte mir diesen Brief, den sie erhalten hatte:

»… Juliettes große Aufregung ist erst gegen Morgen den vom Doktor verordneten Tränken gewichen. Ich flehe Jerome an, ein paar Tage lang nicht herzukommen; Juliette würde vielleicht seinen Schritt oder seine Stimme erkennen, und sie braucht die größte Ruhe …

Ich fürchte, Juliettes Zustand hält mich hier fest. Wenn ich vielleicht Jerome vor seiner Abreise nicht mehr werde sehen können, so sag ihm, liebe Tante, daß ich ihm schreiben will …«

Das Verbot traf nur mich. Meine Tante, jeder andere durfte bei den Bucolins schellen; und meine Tante wollte noch am selben Morgen hingehen. Das Geräusch, das ich machen konnte? Welch ein mittelmäßiger Vorwand … Einerlei.

»Gut. Ich werde nicht hingehen,« sagte ich zu meiner Tante. Es kostete mich viel, Alissa nicht auf der Stelle wiederzusehen; und dennoch fürchtete ich dieses Wiedersehen; ich fürchtete, sie möchte mir die Verantwortung für den Zustand ihrer Schwester zuschieben, und ich ertrug es leichter, sie gar nicht als sie gereizt wiederzusehen.

Wenigstens Abel wollte ich sprechen.

An seiner Tür reichte mir ein Mädchen einen Brief:

»Ich lasse dieses Wort zurück, damit du dir keine Sorge machst. In Le Havre bleiben, in solcher Nähe Juliettes, und sie nicht wiedersehen, das war mir unerträglich. Ich habe mich gestern abend nach Southampton eingeschifft, fast unmittelbar, nachdem ich dich verlassen hatte. Ich werde den Schluß der Ferien bei S… in London verbringen. Wir werden uns in der Schule wiedersehen.«

… Jede menschliche Hilfe entzog sich mir plötzlich. Ich verlängerte den Aufenthalt in Le Havre, der mir nur Schmerzliches bringen konnte, nicht mehr und kehrte vor Wiederbeginn des Unterrichts nach Paris zurück. Ich wandte meine Blicke zu Gott empor, zu dem, von dem jeder wahre Trost kommt, jede Gnade und jede vollkommene Gabe. Ihm brachte ich meinen Schmerz dar. Ich glaubte, zu ihm flüchte sich auch Alissa, und der Gedanke, daß sie betete, ermutigte, begeisterte mein Gebet.

Lange Zeit verstrich in Betrachtungen und im Studium ohne andere Ereignisse als Alissas Briefe und die, die ich ihr schrieb. Ich habe all diese Briefe aufgehoben; meine Erinnerungen, die von nun an wirr werden, ordnen sich nach ihnen …


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