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Durch meine Tante – und durch sie allein – erhielt ich die ersten Nachrichten aus Le Havre; ich erfuhr durch sie, wieviel Sorgen Juliettes trauriger Zustand in den ersten Tagen gemacht hatte. Zwölf Tage nach meinem Aufbruch erhielt ich endlich folgenden Brief von Alissa:
»Vergib mir, lieber Jerome, wenn ich dir nicht eher geschrieben habe. Der Zustand unserer armen Juliette hat mir kaum Zeit gelassen. Seit deiner Abreise habe ich sie fast noch nicht verlassen. Ich hatte meine Tante gebeten, dir Nachricht von uns zu geben, und ich denke, sie wird es getan haben. Du weißt also, daß es Juliette seit drei Tagen besser geht. Ich danke Gott schon jetzt, wage mich aber noch nicht zu freuen.«
Auch Robert, von dem ich noch kaum gesprochen habe, konnte mir, als er ein paar Tage nach mir wieder in Paris erschien, von seinen Schwestern Nachricht geben. Um ihretwillen kümmerte ich mich mehr um ihn, als mich der Hang meines Herzens von Natur getrieben hätte; so oft die landwirtschaftliche Hochschule, die er bezogen hatte, ihm Freiheit ließ, sorgte ich für ihn und tat mein möglichstes, um ihn zu zerstreuen.
Durch ihn hatte ich erfahren, wonach ich weder Alissa noch meine Tante zu fragen wagte: Herr Teissière war sehr emsig gekommen, um sich nach Juliette zu erkundigen, aber als Robert Le Havre verließ, hatte sie ihn noch nicht wieder empfangen. Ich erfuhr auch, daß Juliette seit meinem Aufbruch vor ihrer Schwester ein hartnäckiges Schweigen bewahrt hatte, das nichts zu brechen vermochte. Dann hörte ich bald darauf durch meine Tante, daß Juliette selber gebeten hatte, die Verlobung, die Alissa, das ahnte ich, bald zu brechen hoffte, so schnell wie möglich öffentlich zu machen. Dieser Entschluß, an dem Ratschläge, Einschärfungen, Bitten zerschellten, versperrte ihr die Stirn, verband ihr die Augen und mauerte sie in ihrem Schweigen ein.
Es verstrich eine Weile; von Alissa, bei der ich übrigens nicht wußte, was ich ihr schreiben sollte, erhielt ich nur die enttäuschendsten Briefe. Der Winternebel hüllte mich ein, und meine Studienlampe und die ganze Glut meiner Liebe und meines Glaubens hielten nur schlecht, ach! Nacht und Kälte von meinem Herzen fern. – Es verstrich eine Weile.
Dann plötzlich an einem Frühjahrsmorgen ein Brief von Alissa an meine Tante – den meine Tante, die in diesem Augenblick fern von Le Havre war, mir mitteilte. Ich schreibe aus ihm ab, was Licht über diese Geschichte ausbreiten kann.
»… Bewundere meine Gelehrigkeit … Wie du mich auffordertest, habe ich Herrn Teissière empfangen und lange mit ihm geplaudert. Ich erkenne an, daß er sich ausgezeichnet benommen hat, und ich gestehe, fast komme ich zu dem Glauben, daß diese Ehe vielleicht nicht so unglücklich zu werden braucht, wie ich es anfangs fürchtete. Sicherlich liebt Juliette ihn nicht; aber von Woche zu Woche scheint er mir der Liebe weniger unwert. Er spricht klar blickend von der ganzen Lage und täuscht sich nicht über den Charakter meiner Schwester; aber er hat ein großes Vertrauen zu der Kraft seiner Liebe für sie, und er schmeichelt sich, daß nichts vorliege, was seine Beharrlichkeit nicht zu überwinden vermag. Damit sage ich dir schon, daß er sehr verliebt ist.
Wirklich, ich bin sehr gerührt zu sehen, wieviel Jerome sich mit meinem Bruder abgibt. Ich glaube, er tut das nur aus Pflichtgefühl, denn Roberts Charakter hat wenig Beziehungen zu dem seinen – vielleicht auch ein wenig mir zu Gefallen – aber ohne Zweifel hat er schon erkannt, daß die Pflicht, je härter sie ist, die Seele auch um so mehr erzieht und emporführt. Das sind recht verstiegene Betrachtungen! Lächle nicht zu sehr über deine große Nichte, denn diese Gedanken stützen mich und helfen mir bei dem Versuch, Juliettes Heirat als etwas Gutes anzusehen. – Wie wohl mir deine liebevolle Sorge tut, meine teure Tante! … Aber glaube nicht, daß ich unglücklich wäre; ich kann fast sagen: im Gegenteil – denn die Prüfung, die eben jetzt Juliette erschüttert hat, hat auch in mir ihren Rückschlag gefunden. Jenes Wort der Schrift, das ich hersagte, ohne es allzu genau zu verstehen, hat plötzlich für mich einen Sinn bekommen: »Verflucht der Mann, der auf den Menschen vertraut!« Längst ehe ich es in der Bibel wiederfand, hatte ich dieses Wort auf einem kleinen Weihnachtsbild gelesen, das Jerome mir geschickt hat, als er noch keine zwölf Jahre alt und ich eben vierzehn geworden war. Auf diesem Bild standen neben einer Blumengarbe, die uns damals sehr hübsch schien, diese Verse aus einer Paraphrase Corneilles:
Welcher Zauber, siegvertraut,
Treibt zu Gott mich heute empor?
Weh dem Menschen, der, ein Tor,
Auf die Menschen sein Leben baut!
denen ich, das gebe ich zu, den einfachen Vers des Jeremias unendlich vorziehe. Ohne Zweifel hatte Jerome damals dieses Blatt gewählt, ohne viel auf die Inschrift zu achten. Aber wenn ich nach seinen Briefen urteilen kann, so ist seine Neigung heute der meinen gleich, und ich danke Gott mit jedem Tage, daß er uns beide auf einen Schlag sich näher brachte.
Da ich an unsere Unterredung denke, so schreibe ich ihm jetzt nicht mehr so ausführlich wie in der Vergangenheit, um ihn nicht in seiner Arbeit zu stören. Du wirst ohne Zweifel finden, daß ich mich schadlos halte, indem ich von ihm rede; aus Furcht, es noch länger zu tun, schließe ich schnell meinen Brief; schilt mich diesmal nicht zu sehr.«
Was habe ich mit den Gedanken zu tun, die dieser Brief in mir aufrührte? Ich fluchte dem indiskreten Eingriff meiner Tante (was für eine Unterredung war das, auf die Alissa anspielte und der ich ihr Schweigen verdankte?), der ungeschickten Aufmerksamkeit, die sie trieb, mir dies mitzuteilen. Wenn ich Alissas Schweigen schon schwer ertragen konnte, ach, war es nicht tausendmal besser, mich in Unwissenheit darüber zu lassen, daß sie, was sie mir nicht mehr sagen wollte, einem anderen schrieb! – Alles reizte mich hier, sowohl, daß ich sie meiner Tante so leichthin von den kleinen Geheimnissen zwischen uns erzählen hörte, wie auch der natürliche Ton und die Ruhe, der Ernst und die Heiterkeit …
»Aber nein, mein armer Freund! Nichts reizt dich an diesem Brief, als daß du weißt, er ist nicht an dich gerichtet,« sagte Abel, mein täglicher Gefährte, Abel, mit dem allein ich reden konnte und zu dem mich in meiner Einsamkeit unablässig Schwäche, klagendes Bedürfnis nach Sympathie, und in meiner Verlegenheit Mißtrauen gegen mich und Vertrauen zu seinem Rat hintrieben, aller Verschiedenheit unserer Charaktere zum Trotz, oder eher noch gerade infolge dieser Verschiedenheit …
»Laß uns dieses Blatt studieren,« sagte er, indem er den Brief auf seinem Schreibtisch ausbreitete. Drei Nächte waren schon über meinem Groll verstrichen, den ich vier Tage hindurch bei mir behalten hatte! Ich ging fast von selbst auf das ein, was mein Freund mir zu sagen wußte:
»Die Partie Juliette-Teissière überlassen wir dem Feuer der Liebe, nicht wahr? Wir wissen, was diese Flamme wert ist! Bei Gott, Teissière scheint mir ganz der Schmetterling zu sein, der man sein muß, um daran zu verbrennen …«
»Lassen wir das,« sagte ich, da ich mich über Abels Scherze ärgerte. »Kommen wir zum Rest.«
»Zum Rest?« sagte er … »Der ganze Rest ist für dich! Beklage dich doch! Keine Zeile, kein Wort, das nicht der Gedanke an dich ausfüllt. Fast, als wäre der ganze Brief an dich gerichtet; als Tante Felicia ihn dir schickte, hat sie ihn nur an den eigentlichen Adressaten befördert. In Ermangelung deiner wendet sie sich wie an den ersten besten Lückenbüßer an diese wackere Frau; was können deiner Tante wohl Corneilles Verse sagen – die, nebenbei gesagt, von Racine sind; – sie plaudert mit dir, glaub mir; dir sagt sie all das. Du bist nur ein Tropf, wenn deine Kusine dir nicht, ehe vierzehn Tage verstreichen, genau so ausführlich, behaglich und angenehm schreibt …«
»Sie macht kaum Miene dazu!«
»Es liegt nur an dir, daß sie es tue!«
»Willst du meinen Rat? Kein Wort von hier aus … auf lange Zeit, weder von Liebe noch von Heirat zwischen euch; siehst du denn nicht, daß sie seit dem Unfall ihrer Schwester all das haßt. Bearbeite die brüderliche Saite und rede ihr unermüdlich von Robert – da du einmal die Geduld hast, dich mit diesem Kretin abzugeben. Beschäftige ganz einfach fortwährend ihren Intellekt; alles andere folgt nach. Ach, wenn ich ihr zu schreiben hätte! …«
»Du wärst nicht würdig, sie zu lieben.«
Nichtsdestoweniger folgte ich Abels Rat; und wirklich begannen bald Alissas Briefe wieder lebendiger zu werden; aber eine wahre Freude ihrerseits, eine Hingabe ohne stillschweigenden Vorbehalt konnte ich von ihr nicht eher erwarten, als bis die Lage und, fast hätte ich gesagt, das Glück Juliettes gesichert war. Die Nachrichten, die Alissa mir von ihrer Schwester gab, wurden freilich besser. Ihre Hochzeit sollte im Juli gefeiert werden.
Alissa schrieb mir, sie könne sich freilich denken, daß Abel und ich um diese Zeit von unseren Studien in Anspruch genommen seien … Ich begriff, daß sie es für besser hielt, wenn wir zur Feier nicht erschienen; und indem wir irgendeine Prüfung zum Vorwand nahmen, schickten wir nur unsere Wünsche.
Etwa vierzehn Tage nach dieser Hochzeit schrieb mir Alissa folgenden Brief:
»Mein lieber Jerome!
Denke dir meine Verblüffung, als ich gestern den hübschen Racine, den du mir geschenkt hast, aufs Geratewohl aufschlage und die vier Verse von deinem alten kleinen Weihnachtsbild, das ich seit bald zehn Jahren in meiner Bibel aufbewahre, darin wiederfinde.
Welcher Zauber, siegvertraut,
Treibt zu Gott mich heute empor?
Weh dem Menschen, der, ein Tor,
Auf den Menschen sein Leben baut!
Ich glaubte, sie stammten aus einer Paraphrase Corneilles, und ich gestehe dir, daß ich sie nicht gerade wunderbar fand. Aber als ich im vierten geistlichen Choral weiterlese, stoße ich auf so schöne Strophen, daß ich es mir nicht versagen kann, sie dir hier abzuschreiben. Ohne Zweifel kennst du sie schon, wenn ich nach den indiskreten Initialen urteilen darf, die du an den Rand des Bandes gesetzt hast.
(Ich hatte in der Tat die Gewohnheit angenommen, meine Bücher und die Alissas mit dem ersten Buchstaben ihres Namens zu übersäen, und zwar neben den Stellen, die ich liebte und mit denen ich sie bekanntmachen wollte.)
… Einerlei, ich schreibe sie zu meinem Vergnügen ab. Ich war erst ein wenig ärgerlich, als ich sah, daß du mir darbrachtest, was ich entdeckt zu haben glaubte. Dann wich diese häßliche Empfindung vor meiner Freude, daß du wie ich diese Verse liebst. Während ich sie abschreibe, ist es mir, als lese ich sie mit dir durch.
Der ewigen Weisheit Stimme
Donnert und lehrt uns dies;
Wo ist die Frucht, ihr Menschen,
Die eure Sorge verhieß?
Ihr eitlen Seelen, was macht,
Daß ihr mit dem reinsten Blut
Nicht ein Brot habt an euch gebracht,
Zu stillen des Hungers Wut,
Nein, nur einen Schatten, daß mehr
Euch hungert noch als vorher?
Der Friede, den ich euch bringe,
Dient den Engeln als täglich Brot:
Gott selbst hat ihn geknetet
Aus herrlichstem Weizenschrot.
Dies Brot so voller Lust
Noch nie auf dem Tische lag
Der Welt, der folgt eure Brust.
Ich biet' es dem, der mir folgen mag.
Kommt, wer zum Leben strebt:
Nehmt hin und eßt und lebt.
Die glücklich gefangene Seele
Unter deinem Joch sucht sie Ruh,
Und letzt sich am Lebenswasser,
Kein Sand schüttet jemals es zu.
Ein jeder kann trinken dies Naß,
Das die Welt zu sich entbot:
Doch laufen wir ohne Laß
Und suchen nach Quellen voll Kot
Und nach der Zisterne, die lügt,
Deren Wasser ewig versiegt.
Wie schön ist das, Jerome! Wie schön ist das! Findest du es wirklich ebenso schön wie ich? Und eine Anmerkung meiner Ausgabe sagt, als Frau von Maintenon Fräulein von Aumale diesen Choral singen hörte, habe sie den Eindruck gemacht, als schwebe sie in Bewunderung; sie habe ›einige Tränen vergossen‹ und einen Teil des Liedes wiederholen lassen. Ich kenne es jetzt auswendig und werde nicht müde, es mir zu wiederholen. Meine einzige Trauer hier ist, daß ich es dich nicht habe vorlesen hören.
Die Nachrichten von unseren Reisenden sind fortgesetzt sehr gut. Du weißt schon, wie sehr Juliette trotz der schrecklichen Hitze Bayonne und Biarritz genossen hat. Sie haben seither Fontarabie besucht, in Burgos Aufenthalt genommen und die Pyrenäen zweimal durchquert. Sie gedenken zehn Tage in Barcelona zu bleiben, ehe sie nach Nimes zurückkehren, wo Eduard vor Anfang September wieder eintreffen will, um alles für die Weinlese zu organisieren.
Seit einer Woche sind wir, Vater und ich, in Fongueusemare, wo Miß Ashburton morgen und Robert in vier Tagen zu uns stoßen soll. Du weißt, der arme Junge ist in seinem Examen durchgefallen; nicht als wäre es schwierig; aber der Examinator hat ihm so wunderliche Fragen gestellt, daß er verwirrt wurde; ich kann mir nicht denken, daß Robert, nach dem, was du mir von seinem Eifer geschrieben hattest, nicht reif war, aber es scheint, dieser Examinator findet ein Vergnügen daran, die Schüler in dieser Weise aus der Fassung zu bringen.
Was deine Erfolge angeht, so kann ich kaum sagen, daß ich dich zu ihnen beglückwünsche, so natürlich erscheinen sie mir. Ich setze so großes Vertrauen in dich, Jerome! Sowie ich an dich denke, füllt sich mein Herz. Wirst du bald die Arbeit beginnen können, von der du mir gesprochen hattest?
Hier ist im Garten nichts verändert; aber das Haus scheint recht leer! Du wirst begriffen haben, nicht wahr, weshalb ich dich bat, in diesem Jahr nicht zu kommen? Ich fühle, es ist besser so; ich wiederhole es mir jeden Tag, denn es kommt mich schwer an, dich so lange nicht zu sehen … Bisweilen suche ich unwillkürlich nach dir; ich unterbreche meine Lektüre, ich wende jäh den Kopf … mir ist, als seist du da! …
Ich nehme meinen Brief wieder auf. Es ist Nacht; alles schläft; ich ziehe den Brief an dich vor dem offenen Fenster in die Länge; der Garten ist ganz voller Düfte; die Luft ist lau … Entsinnst du dich, als wir Kinder waren, wenn wir da irgend etwas sehr Schönes sahen oder hörten, wie wir gleich dachten: Dank, mein Gott, daß du es geschaffen hast … Heute nacht dachte ich von ganzer Seele: ›Ich danke dir, Gott, daß du diese Nacht so schön erschaffen hast!‹ und plötzlich habe ich dich hergewünscht, dich hier gefühlt, dicht neben mir, und das mit einer solchen Kraft, daß du es vielleicht gespürt hast.
Ja, du hast es in deinem Brief ausgesprochen: Die Bewunderung verwandelt sich bei ›schönen Seelen‹ in Dankbarkeit … Wieviel möchte ich dir noch schreiben! – Ich denke an jenes strahlende Land, von dem Juliette mir spricht, ich denke an andere Länder, weiter, strahlender noch, und einsamer. Ein heimliches Vertrauen wohnt in mir, daß wir eines Tages, ich weiß nicht wie zusammen, ich weiß nicht welches große, geheimnisvolle Land erblicken werden …«
Ohne Zweifel wird man sich leicht denken, mit welchem von Freude springenden Herzen ich diesen Brief las, und mit welchem Schluchzen der Liebe. Andere Briefe folgten. Freilich dankte Alissa mir, daß ich nicht nach Fongueusemare kam; freilich hatte sie mich gebeten, keinen Versuch zu machen, um sie in diesem Jahre wiederzusehen, aber es tat ihr leid, daß ich nicht da war, sie sehnte sich jetzt nach mir; von Seite zu Seite hallte derselbe Ruf. Woher nahm ich die Kraft, ihm zu widerstehen? Ohne Zweifel aus Abels Ratschlägen, aus der Furcht, meine Freude auf einen Schlag zu vernichten, und aus einer natürlichen Erstarrung wider das Fortgerissensein meines Herzens.
Ich schreibe aus den folgenden Briefen all das ab, was diesen Bericht aufklären kann.
» Lieber Jerome!
Ich schmelze vor Freude, indem ich dich lese. Ich wollte eben auf deinen Brief aus Orvieto antworten, als der aus Perugia und der aus Assisi gleichzeitig eintrafen. Mein Denken zieht auf Reisen aus; nur mein Körper tut, als sei er noch hier; in Wirklichkeit bin ich bei dir auf den weißen Straßen Umbriens; mit dir breche ich morgens auf, ich blicke mit einem ganz neuen Auge auf die Morgenröte … Riefst du mich wirklich auf der Terrasse von Cortona? Ich habe dich gehört. Man war auf den Bergen oberhalb von Assisi furchtbar durstig! Aber wie gut mir das Glas Wasser des Franziskaners schien! … O mein Freund! Ich sehe alle Dinge durch dich hindurch. Wie liebe ich, was du mir aus Anlaß des Heiligen Franziskus schreibst: Ja, nicht wahr? Suchen muß man eine Erhebung, nicht eine Befreiung der Gedanken. Die gibt es nicht ohne einen abscheulichen Hochmut. Seinen Willen nicht zur Empörung, sondern zum Dienst benutzen …
Die Nachrichten aus Nimes sind so gut, daß mir scheint, Gott erlaube mir, mich der Freude hinzugeben. Der einzige Schatten dieses Sommers ist der Zustand meines armen Vaters; trotz meiner Pflege bleibt er traurig, oder vielmehr, er findet seine Trauer wieder, sowie ich ihn sich selber überlasse, und es wird immer schwieriger, ihn aus ihr herauszuziehen. Die ganze Freude der Natur spricht rings um uns eine Sprache, die ihm fremd wird; er macht nicht einmal mehr eine Anstrengung, um sie zu hören. – Miß Ashburton geht es gut. Ich lese ihnen beiden deine Briefe vor, und dann haben wir für drei Tage Stoff zum Plaudern: dann kommt ein neuer Brief …
… Robert hat uns vorgestern verlassen; er wird den Schluß der Ferien bei seinem Freund R. verbringen, dessen Vater ein Mustergut leitet. Sicherlich ist das Leben, das wir hier führen, für ihn nicht sehr lustig. Ich habe ihn in seinem Plan nur ermutigen können, als er von seiner Abreise sprach …
… Ich habe dir soviel zu sagen, ich dürste nach einer so unerschöpflichen Plauderei! Bisweilen finde ich keine Worte, keine deutlichen Gedanken mehr – heute abend schreibe ich wie im Traum – und ich habe nur noch die fast drückende Empfindung eines unendlichen Reichtums, den ich geben und empfangen könnte.
Wie haben wir es angefangen, so lange Monate hindurch zu schweigen? Wir hielten ohne Zweifel unsern Winterschlaf. Oh, daß dieser furchtbare Winter des Schweigens auf ewig zu Ende sei! Seitdem ich dich wiedergefunden habe, scheint mir das Leben, das Denken, unsere Seele, scheint mir alles schön, wunderbar, unerschöpflich fruchtbar …«
Den 12. September.
»Ich habe deinen Brief aus Pisa erhalten. Auch wir haben prachtvolles Wetter; nie noch ist mir die Normandie als so schön erschienen. Ich habe vorgestern allein und zu Fuß einen ungeheuren Spaziergang gemacht – querfeldein, aufs Geratewohl; ich kam mehr begeistert als müde nach Hause, ganz trunken von Sonne und Freude; wie schön die Strohmieten unter der glühenden Sonne waren! Ich brauchte nicht mehr zu glauben, ich sei in Italien, um alles wunderbar zu finden.
Ja, mein Freund, eine Mahnung zur Freude, wie du sagst, höre und verstehe ich in der ›wirren Hymne‹ der Natur. Ich höre sie in jedem Vogelzwitschern, ich atme sie im Duft jeder Blume ein, und ich komme dahin, nur noch die Anbetung als einzige Form des Gebets zu begreifen – und sage wie Sankt Franziskus: Mein Gott! Mein Gott! ›e non altro‹, das Herz erfüllt von unaussprechlicher Liebe.
Fürchte jedoch nicht, daß ich zur Ignorantinerin werde! Ich habe in letzter Zeit viel gelesen; als ein paar Regentage halfen, habe ich meine Anbetung in den Büchern gleichsam wieder aufgeschlagen … Malebranche beendet und sogleich die Briefe von Leibnitz an Clarke vorgenommen. Dann habe ich, um mich auszuruhen, die Cenci von Shelley wiedergelesen – ohne Genuß; auch die Sensitive wiedergelesen … Ich werde vielleicht deine Entrüstung erregen: ich würde fast den ganzen Shelley, den ganzen Byron für die vier Oden von Keats hingeben, die wir im vergangenen Sommer zusammen lasen. Ebenso wie ich den ganzen Hugo für einige Sonetten von Baudelaire hingäbe. Das Wort ›ein großer Dichter‹ sagt nichts; es kommt darauf an, ein reiner Dichter zu sein … O mein Bruder! Ich danke dir, daß du mich all das kennen, verstehen und lieben lehrtest.
… Nein, kürze deine Reise nicht ab, um das Vergnügen einiger Tage des Wiedersehens zu genießen. Im Ernst, es ist besser, wir sehen uns noch nicht wieder. Glaube mir: selbst wenn du da wärst, dicht neben mir, könnte ich nicht stärker an dich denken. Ich möchte dir nicht weh tun, aber ich bin dahin gekommen, deine Gegenwart – vorläufig – nicht mehr zu wünschen. Soll ich es dir gestehen? Wenn ich wüßte, daß du heute abend kämest … ich würde fliehen. –
Oh, verlange nicht von mir, daß ich dir diese … Empfindung erkläre, ich bitte dich. Ich weiß nur, daß ich unaufhörlich an dich denke (was für dein Glück genügen muß) und daß ich so glücklich bin.«
Ich bewundere, wenn ich heute diese Briefe wiederlese, wie die menschliche Stimme, um die gleichmäßigste wenn auch in ihrer Intensität größte Empfindung zu malen, stets so einfache und verschiedene Modulationen zu finden weiß; aber nicht um unsere Liebe zur Schau zu stellen, habe ich diesen Bericht unternommen.
Kurze Zeit nach diesem letzten Brief wurde ich, als ich aus Italien zurückkam, zum Militärdienst eingezogen und nach Nancy geschickt. Ich kannte dort keine lebendige Seele, aber ich freute mich, allein zu sein, denn so zeigte es sich meinem Hochmut als Liebhaber und Alissa deutlicher, daß ihre Briefe meine einzige Zuflucht und die Erinnerung an sie, wie Ronsard gesagt hätte, meine einzige Entelechie waren.
Was diese Briefe für mich waren, das würde ich denen, die es noch nicht begriffen haben, vergebens zu sagen versuchen. Ich trug sie bei mir, und sowie ich frei war, zog ich mich von allem und von allen zurück, um sie wieder durchzulesen; denn obwohl ich sie auswendig kannte, so erfüllte mich doch der Anblick der Zeichen, die sie selbst geschrieben hatte, mit einer fast fleischlichen Freude.
Die Wahrheit zu sagen, so ertrug ich die ziemlich harte Zucht, der man uns unterwarf, ziemlich heiter. Ich verhärtete mich gegen alles, und in den Briefen, die ich an Alissa schrieb, beklagte ich mich nur über die Trennung. Ja, wir fanden sogar in der langen Dauer dieser Trennung eine Prüfung, die unserer Tapferkeit würdig war. »Du, der du dich nie beklagst,« schrieb mir Alissa; »du, den ich mir nicht als schwach werdend vorstellen kann …« Was hätte ich nicht vor dem Zeugnis dieser Worte ertragen!
Fast ein Jahr war seit unserem letzten Wiedersehen verstrichen. Sie schien nicht daran zu denken, sondern ihr Harren erst vom gegenwärtigen Augenblick an zu datieren. Ich warf es ihr vor:
»War ich nicht mit dir in Italien?« antwortete sie. »Undankbarer! Ich habe dich nicht einen Tag verlassen. Begreife doch, daß ich dir jetzt eine Zeitlang nicht mehr folgen kann, und das, nur das nenne ich Trennung. Ich versuche freilich wohl, dich mir als Soldat vorzustellen … es gelingt mir nicht. Höchstens finde ich dich des Abends wieder, in deinem kleinen Zimmer der Gambettastraße, wenn du schreibst oder liest … und selbst das, nein; eigentlich finde ich dich nur in einem Jahr in Fongueusemare oder in Le Havre wieder.
In einem Jahr! Ich zähle nicht die schon verstrichenen Tage; meine Hoffnung blickt starr auf diesen kommenden Punkt, der langsam, langsam näherrückt. Du entsinnst dich ganz im Hintergrund des Gartens der niedrigen Mauer, an deren Fuß man im Windschutz die Chrysanthemen pflanzte; Juliette und du, ihr schrittet kühn darauf entlang, gleich Muselmännern, die geraden Wegs ins Paradies ziehen – mich hielt der Schwindel nach den ersten Schritten zurück, und du riefst mir von unten her zu: ›Sieh nicht auf deine Füße! Vor dich! Immer weiter! Fasse das Ziel ins Auge!‹ Schließlich aber – und das half mehr als deine Worte – klettertest du am Ende der Mauer empor und erwartetest mich. Dann zitterte ich nicht mehr, ich fühlte den Schwindel nicht mehr; ich sah nur noch dich an; ich lief bis in deine offenen Arme …
Was würde ohne das Vertrauen auf dich aus mir werden, Jerome! Ich habe es nötig, dich als stark zu empfinden, nötig, mich auf dich zu stützen. Werde nicht schwach!«
Aus einer Art Trotz heraus verlängerten wir gleichsam mutwillig unsere Erwartung – vielleicht auch aus Furcht vor einem unwillkommenen Wiedersehen, und wir kamen überein, daß ich meine wenigen Urlaubstage beim Nahen des neuen Jahres in Paris bei Miß Ashburton verbringen sollte.
Ich sagte es schon: ich setze nicht alle diese Briefe her. Den hier folgenden erhielt ich um Mitte Februar:
»Große Aufregung; als ich vorgestern durch die Rue de Paris kam und in der Auslage M.s, indiskret den Blicken hingehalten, Abels Buch sah, das du mir angekündigt hattest, an dessen Realität zu glauben mir jedoch noch nicht gelang. Ich konnte es mir nicht versagen; ich trat ein; aber der Titel schien mir so lächerlich, daß ich zögerte, ihn dem Verkäufer zu nennen; ich sah sogar schon den Augenblick, in dem ich den Laden mit irgendeinem andern Buch verlassen würde. Zum Glück erwartete den Kunden in der Nähe der Kasse ein kleiner Haufe ›Unanständigkeiten‹. Ich warf, nachdem ich mich eines Exemplars bemächtigt hatte, ohne erst reden zu müssen, ein Fünffrankenstück hin.
Ich weiß Abel Dank, daß er mir sein Buch nicht geschickt hat – ich habe es nicht ohne Scham durchblättern können; Scham nicht so sehr wegen des Buches selbst – in dem ich letzten Grundes mehr Dummheiten finde als Unschicklichkeiten, sondern Scham, wenn ich bedachte, daß Abel, Abel Vautier, dein Freund, es geschrieben hat. Vergebens habe ich von Seite zu Seite jenes ›große Talent‹ gesucht, das der Kritiker des … darin findet. In unserer kleinen Gesellschaft von Le Havre, wo man oft von Abel spricht, erfahre ich, daß das Buch viel Erfolg hat. Ich höre die unheilbare Nichtigkeit dieses Geistes ›Leichtigkeit‹ und ›Anmut‹ nennen; natürlich beobachte ich vorsichtige Zurückhaltung und rede nur dir von meiner Lektüre. Der arme Pastor Vautier, den ich erst mit Recht trostlos sah, fragt sich schließlich, ob er nicht vielleicht eher Grund hätte, stolz zu sein; jedermann in seiner Umgebung arbeitet daran, ihm diesen Glauben beizubringen. Als gestern bei Tante Plantier Frau V. unvermittelt zu ihm sagte: ›Sie müssen über den schönen Erfolg ihres Sohnes sehr glücklich sein, Herr Pastor‹, … erwiderte er ein wenig verwirrt: ›Mein Gott, so weit bin ich noch nicht … ›– ›Aber Sie werden soweit kommen! Sie werden soweit kommen!‹ sagte die Tante, sicherlich ohne Bosheit, aber in einem so ermutigenden Ton, daß jedermann in Lachen ausbrach, selbst er.
Was wird nur werden, wenn man den ›Neuen Abeilard‹ spielt, den er, wie ich höre, für ich weiß nicht welches Theater der Boulevards vorbereitet, und von dem die Zeitungen offenbar jetzt schon reden! … Der arme Abel! Ist wirklich das der Erfolg, den er sich wünscht und mit dem er sich begnügen wird?
Ich las gestern wieder einmal diese Worte aus der ›Inneren Tröstung‹: ›Wer wahrhaft den wahren und dauernden Ruhm begehret, achtet des vergänglichen nicht; wer ihn nicht in seinem Herzen verachtet, der zeiget wahrlich, daß er den himmlischen nicht liebet‹; und ich dachte: ›Ich danke dir, Gott, daß du Jerome für diesen himmlischen Ruhm auserwählt hast, neben dem der andere ein Nichts ist‹.«
Die Wochen, die Monate liefen in einförmigen Beschäftigungen hin; aber da ich mein Denken nur an Erinnerungen oder Hoffnungen anknüpfen konnte, so merkte ich kaum, wie langsam die Zeit verstrich, wie lang die Stunden waren …
Mein Onkel und Alissa sollten im Juni in der Umgegend von Nimes zu Juliette stoßen, die um diese Zeit ein Kind erwartete. Ein wenig weniger gute Nachrichten beschleunigten ihren Aufbruch.
»Dein letzter Brief nach Le Havre«, schrieb mir Alissa, »traf ein, als wir es eben verlassen hatten. Wie soll ich erklären, daß er mich erst acht Tage darauf erreichte? Die ganze Woche hindurch trug ich eine unvollkommene, erstarrte, zweifelnde, verringerte Seele mit mir herum. O mein Bruder, ich bin nur mit dir wirklich ich, mehr als ich …
Juliette geht es wieder gut; wir erwarten von Tag zu Tag ihre Entbindung, und zwar ohne allzu große Sorgen. Sie weiß, daß ich dir heute morgen schreibe; am Tage nach unserer Ankunft in Aigues-Vives fragte sie mich: ›Und was wird aus Jerome? … Schreibt er dir immer noch?‹ … Und da ich nicht lügen konnte, sagte sie: ›Wenn du ihm schreibst, sag ihm …‹ Sie zögerte einen Augenblick, und dann mit einem sehr sanften Lächeln: ›… daß ich geheilt bin‹. – Ich fürchtete ein wenig, daß sie mir in ihren sehr lustigen Briefen die Komödie des Glücks vorspielte, und daß sie sogar sich selbst dabei fangen ließ … Das, worin sie heute ihr Glück sieht, ist so verschieden von dem, was sie erträumte und wovon ihr Glück scheinbar abhängen sollte! … Ach, wie wenig ist das, was man ›Glück‹ nennt, der Seele fremd, und wie wenig machen die Elemente aus, die es von außen her zu bilden scheinen! Ich erspare dir eine Fülle von Reflexionen, die ich auf meinen einsamen Spaziergängen über den ›Weideplatz‹ machen konnte, wo mich am meisten erstaunt, daß ich mich nicht freudiger fühle; Juliettes Glück müßte mich überwältigen … Weshalb überläßt mein Herz sich einer unbegreiflichen Melancholie, gegen die mich zu wehren mir nicht gelingt? Selbst die Schönheit dieser Gegend, die ich spüre, die ich wenigstens feststelle, steigert meine unerklärliche Trauer noch … Als du mir aus Italien schriebst, verstand ich alles durch dich zu sehen, jetzt scheint es mir, als entzöge ich dir alles, was ich ohne dich erblicke. Schließlich hatte ich mir in Fongueusemare und Le Havre eine Widerstandstugend für die Regentage geschaffen; hier paßt diese Tugend nicht mehr, und ich bin unruhig, daß sie ohne Sinn ist. Das Lachen der Leute und der Gegend beleidigt mich; vielleicht nenne ich es auch nur traurig sein, daß ich nicht so lärmend bin wie sie … Ohne Zweifel mischte sich früher einiger Hochmut in meine Freude, denn jetzt empfinde ich mitten unter dieser fremden Fröhlichkeit etwas wie Demütigung …
Kaum habe ich beten können, seit ich hier bin; ich hatte die kindliche Empfindung, daß Gott ›nicht mehr an derselben Stelle‹ ist. Lebe wohl, ich verlasse dich schnell; ich schäme mich dieser Lästerung, meiner Schwäche, meiner Trauer, dessen, daß ich sie dir eingestehe und dir all das schreibe, was ich morgen zerreißen würde, wenn die Post es mir nicht heute abend entführte …«
Der folgende Brief sprach nur von der Geburt ihrer Nichte, deren Patin sie sein sollte, von Juliettes Freude, von meinem Onkel …, aber von ihren eigenen Empfindungen war keine Rede mehr.
Dann kamen Briefe, die von neuem aus Fongueusemare datiert waren, wo Juliette im Juli zu ihnen stoßen sollte …
»Eduard und Juliette haben uns heute morgen verlassen; nach meiner kleinen Patin vor allem sehne ich mich zurück; wenn ich sie nach sechs Monaten wiedersehe, werde ich all ihre Gesten nicht mehr erkennen; sie hatte fast noch keine einzige, die ich sie nicht hätte erfinden sehen. Die Bildungen sind stets so geheimnisvoll und überraschend; nur aus Mangel an Aufmerksamkeit erstaunen wir nicht häufiger. Wie viele Stunden habe ich über diese kleine Wiege voller Hoffnung geneigt verbracht. Vermöge welches Egoismus, welcher Selbstzufriedenheit, welches Mangels an Streben nach dem Besseren macht die Entwicklung so schnell halt und erstarrt jedes Geschöpf schon in solcher Ferne von Gott! Oh, wenn wir uns ihm doch mehr nähern könnten und wollten … welch ein Wettstreit wäre das! –
Juliette scheint sehr glücklich. Ich wurde erst traurig, als ich sah, daß sie aufs Piano und auf die Bücher verzichtete; aber Eduard Teissière liebt die Musik nicht und findet wenig Geschmack an der Literatur; ohne Zweifel tut Juliette klug daran, wenn sie ihre Freuden nicht da sucht, wohin er ihr nicht folgen könnte. Dagegen nimmt sie großes Interesse an den Beschäftigungen ihres Gatten, der sie über all seine Geschäfte auf dem laufenden erhält. Sie haben in diesem Jahr eine große Erweiterung erfahren; es macht ihm Vergnügen, zu sagen, das liege an seiner Heirat, die ihm eine bedeutende Kundschaft in Le Havre eingetragen habe. Robert hat ihn auf seiner letzten Geschäftsreise begleitet; Eduard ist voller Erwartungen für ihn, behauptet, seinen Charakter zu begreifen, und verzweifelt nicht daran, es zu erleben, daß er ernsthaft Geschmack an dieser Arbeit finden werde.
Vater geht es viel besser; daß er seine Tochter glücklich sieht, verjüngt ihn; er interessiert sich von neuem für den Meierhof und für den Garten; er hat mich gerade gebeten, das Vorlesen wieder aufzunehmen, das wir mit Miß Ashburton begonnen hatten und das durch den Aufenthalt der Teissières unterbrochen worden war; ich lese ihnen so die Reisen des Barons von Hübner vor; auch mir macht das viel Vergnügen. Ich werde jetzt mehr Zeit haben, auch meinerseits wieder zu lesen; aber ich erwarte von dir einige Fingerzeige; ich habe heute morgen nacheinander mehrere Bücher zur Hand genommen, ohne an einem einzigen Geschmack zu finden …!«
Alissas Briefe wurden von diesem Augenblick an trüber und drängender:
»Die Furcht, dich zu beunruhigen, läßt mich dir nicht sagen, wie sehr ich dich erwarte,« schrieb sie gegen Ende des Sommers. »Jeder Tag, der noch verstreichen muß, ehe ich dich wiedersehe, lastet auf mir, bedrückt mich. Noch zwei Monate! Mir scheint das länger als die ganze Zeit, die schon fern von dir verstrichen ist! Alles, was ich unternehme, um zu versuchen, ob ich mich über mein Warten hinwegtäuschen kann, scheint mir lächerlich vorläufig, und ich kann mich zu nichts zwingen. Die Bücher sind ohne Kraft, ohne Zauber; die Spaziergänge reizlos, die ganze Natur ohne Göttlichkeit und der entfärbte Garten ohne Düfte. Ich beneide dich um deine Fron. Diese erzwungenen und nicht von dir erwählten Übungen, die dich unaufhörlich dir selber entreißen, ermüden dich, beschleunigen deine Tage und stürzen dich abends voll Ermattung in den Schlummer. Die packende Schilderung, die du mir von den Manövern entworfen hast, hat mich verfolgt. In den letzten Nächten fuhr ich, da ich sehr schlecht schlief, mehrmals beim Ruf der Reveille empor … ich hörte sie tatsächlich. Ich kann mir diesen leichten Rausch, von dem du sprichst, diese Morgenheiterkeit, diesen halben Schwindel so gut vorstellen … Wie herrlich mußte im eisigen Glanz des Tagesgrauens diese Hochebene von Malzéville sein! …
Mir geht es seit einiger Zeit ein wenig weniger gut; oh, nichts Ernstes. Ich glaube, ich warte ganz einfach ein wenig zu intensiv auf dich …«
Und sechs Wochen darauf:
»Dies ist mein letzter Brief, mein Freund. So wenig du bisher auch sicher über das Datum deiner Rückkehr weißt, so kann sie sich doch nicht mehr lange verzögern; ich könnte dir nichts mehr schreiben. Ich hätte dich gern in Fongueusemare wiedergesehen, aber die Witterung ist schlecht geworden, es ist schon sehr kalt, und Vater spricht von nichts als der Rückkehr in die Stadt. Jetzt, da weder Juliette noch Robert mehr bei uns sind, könnten wir dich leicht bei uns unterbringen, aber es ist besser, wenn du bei Tante Felicia absteigst, die gleichfalls glücklich sein wird, dich aufnehmen zu können.
Je näher der Tag unseres Wiedersehens heranrückt, um so ängstlicher wird meine Erwartung; es ist fast Besorgnis; mir ist jetzt, als fürchtete ich dein so ersehntes Kommen; ich bemühe mich, nicht mehr daran zu denken; ich stelle mir dein Schellen, deinen Schritt auf der Treppe vor, und mein Herz hört zu schlagen auf oder schmerzt mich … Vor allem erwarte nicht, daß ich mit dir reden kann … Ich fühle, daß meine Vergangenheit hier abschließt; jenseits sehe ich nichts; mein Leben macht halt …«
Vier Tage darauf, das heißt, eine Woche vor meiner Entlassung erhielt ich jedoch noch diesen sehr kurzen Brief:
»Mein Freund, ich billige es völlig, daß du deinen Aufenthalt in Le Havre und die Zeit unseres ersten Wiedersehens nicht über Gebühr hinausziehen willst. Was hätten wir uns zu sagen, das wir uns noch nicht geschrieben hätten? Wenn dich also die Immatrikulation schon am 28. nach Paris zurückruft, so zögere nicht, bedaure nicht einmal, daß du uns nur zwei Tage geben kannst. Werden wir nicht das ganze Leben haben?«