Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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2.

Mitten auf dem breiten Landgrafenplatz stand eine mächtige runde bretterne Bude, von deren spitzer Zinne die französische Trikolore wehte. Das Innere derselben war übrigens geschmackvoll dekoriert und mit Gas erleuchtet, und an der Kasse für den ersten und zweiten Platz saß ein bildhübsches junges Mädchen, die Billetts auszugeben. – Nur etwas zu hell fiel das Gaslicht auf die leicht geschminkten Wangen und die nachgemachten, an einigen Stellen schon etwas zerknickten Blumen, die ihren Kopfschmuck bildeten.

Das Publikum beteiligte sich indessen sehr bedeutend an diesem ersten Abend, für den auf riesengroßen, farbigen Anschlagzetteln Außerordentliches versprochen worden. Die dritte Galerie war schon eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung bis in ihre letzten Räume gefüllt, während noch umsonst nach Billetts rufende Scharen vor dem Schiebfenster unter der schmalen, dort hinaufführenden Holztreppe standen.

Auch die erste und zweite Galerie füllte sich rasch, und manche Equipage fuhr sogar vor, der Damen in glänzender Toilette entstiegen. Monsieur Bertrand, über den man sich in der Residenz die abenteuerlichsten Dinge erzählte, war eben Mode geworden, und da es gerade in dieser Zeit, besonders in den höheren Kreisen, an Stoff zur Unterhaltung fehlte, so wollte niemand versäumen, ihn zu sehen.

Oben auf der über dem Eingange für die Pferde angebrachten Tribüne hatte sich das Musikkorps gesammelt, das heute morgen auch den Umzug durch die Stadt anführen mußte, und die Leute stimmten ihre Instrumente und tranken Bier dazu. In der Reitbahn selber, die durch einen improvisierten Kronleuchter und zahlreiche Flammen an den Seitensäulen reichlich erhellt wurde, kehrten eben ein paar Stallknechte den Kreis, und ein Mann in hohen Kanonenstiefeln und einem Reitfrack, eine lange Peitsche in der Hand, kam herein, um zu sehen, ob alles in Ordnung wäre.

»Ist er das?« flüsterte es hier und da, aber die Antwort fiel verneinend aus. Es war nur einer der Leute, ein Bereiter – so sah er wenigstens aus – irgend jemand aus dem untergeordneten Personal der Gesellschaft. Die Familie des Kriegsministers von Ralphen erschien gerade und nahm eben ihre Plätze auf der zweiten Bank ein, als die dritte Galerie in ein schallendes Gelächter und lauten Jubel ausbrach. Der Hanswurst sprang nämlich, sich fünf- oder sechsmal dabei überschlagend, eben in den Zirkus und warf sich dem dort sehr ernsthaft befehlenden Stallmeister oder Bereiter so geschickt zwischen die Füße, daß dieser auf ihn zu sitzen kam und durch den Wurf die Balance verlor. Er fiel wenigstens hinterrücks in den Sand, und während er unter dem Gejauchze der Menge wieder aufsprang und den flüchtenden Hanswurst mit der Peitsche zu treffen suchte, benutzte dieser die anscheinend darüber sehr entrüsteten Stallknechte, sich hinter ihnen zu verbergen und sie die nach ihm gezielten Hiebe auffangen zu lassen.

Der Bajazzo hatte ebenfalls die Sympathien der dritten Galerie und der Kinder für sich; aber auch selbst den Ernstesten entlockte er mit seiner grotesken Malerei und Gliedergewandtheit ein Lächeln. Sein Alter ließ sich allerdings in den dick mit weißer und roter Farbe bestrichenen Zügen nicht erkennen, aber seine Figur war schlank und schmächtig, und die kleinen blitzenden Augen behielten selbst unter den bis zur Verzerrung gemalten Brauen ihre scharfe Lebendigkeit. Die ganze Szene hatte übrigens nur dazu dienen sollen, die Aufmerksamkeit des Publikums kurze Zeit zu beschäftigen, und noch während des Umherspringens und Ausweichens des Bajazzos flog plötzlich ein kleines weißes Pony in gestrecktem Galopp über die niedere Eingangsbarriere und mitten in den Zirkus hinein. Auf seinem Rücken aber saß ein kleines, vielleicht siebenjähriges, als Elfe gar phantastisch gekleidetes Mädchen. Stallknechte, Bajazzo und Stallmeister stoben blitzschnell auseinander, und während das Pony den Zirkus durchflog, war die jugendliche Reiterin in die Höhe gesprungen und grüßte, auf dem breiten Sattel stehend, freundlich lächelnd nach allen Seiten hinüber. Sie trug fleischfarbene Trikots, ein kurzes, leichtes rosa Röckchen von durchsichtigem Stoff, das Kleidchen dabei tief ausgeschnitten, und an den halbnackten Schultern ein Paar buntfarbige Flügel, handhabte auch ihr zierliches Roß vortrefflich und zeigte eine für ihre Jahre außerordentliche Übung.

Die Frauen waren ganz entzückt von dem kleinen Wesen, das in jeder seiner Bewegungen – nur nicht im Körper selber – vollkommen erwachsen schien. Zum äußersten kokett und überlegen grüßte und winkte sie bald da, bald dorthin, trieb ihr Pferd mit der kleinen Peitsche an, und hielt plötzlich, um sich von dem rasch herbeispringenden Stallmeister noch einmal die Sohlen mit Kreide streichen zu lassen. Dabei lächelte sie auch dem Bajazzo zu, der um sie her die tollsten Kapriolen machte, sprang dann durch Reifen und über Girlanden, und trieb alle die übrigen Kunststücke, die Kinder in dem Alter gewöhnlich bei solchen Gesellschaften treiben. Das Publikum applaudierte zwar lebhaft, aber es bleibt doch immer ein eigenes, eben nicht angenehmes, oft sogar unbehagliches Gefühl, ein Kind zu solchen Künsten abgerichtet zu sehen. – Was für Erfahrungen hat das Kinderherz nicht schon gesammelt, das dort mit der affektierten Handbewegung und halben Kußhänden den Applaus des Publikums erwidert! Wie lange schon mußte es seinen schönsten Schmuck, die Kindlichkeit, abgeschüttelt haben, jede Bewegung einer erwachsenen Kokette täuschend nachzuahmen! Ihr applaudiert und jubelt der Kleinen zu. Fragt euch einmal, wie euch zumute sein würde, wenn das euer Kind wäre, und dann bedauert das unglückliche Wesen, das sein böses Geschick in solche Bahn, in solch ein glänzendes Elend geworfen. Und fühlt es sich selber glücklich in solchem Leben? – Es nickt und lächelt da oben mit freudestrahlendem Gesicht und sprengt lustig – hinter die Kulissen. – Was es dort treibt, kümmert das Publikum nicht.

»Mademoiselle Josefine,« wie die Kleine auf dem Zettel genannt wurde, hatte mit diesem Ritt die Vorstellung eröffnet, und ihr folgte auf einem schwarzbraunen Pony Monsieur Charles, »der kleine Herkules.« Monsieur Charles, ebenfalls in fleischfarbenen Trikots, mit einem kurzen Löwenfell bekleidet und mit einer Keule in der Hand, war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, aber für sein Alter von außergewöhnlicher Kraft und Gewandtheit – ein wahres Talent in seinem Fache. Die schwierigsten Kunststücke führte er auf dem Rücken des dahinsausenden Pferdes aus, und mit kaltem, ja tollkühnem Mute schien er die Gefahr weit eher zu suchen, als zu vermeiden. Monsieur Charles wurde hervorgerufen, wie er die Arena kaum unter stürmischem Applaus verlassen hatte, und zwei Athleten nahmen jetzt seine Stelle ein, die mit halsbrechender Geschicklichkeit, der eine eine Stange balancierte, während der andere daran hinaufkletterte und oben die gefährlichsten und kühnsten Stellungen ausführte.

Und wie hing das kecke Menschenkind da oben! Das Nachlassen einer Muskel, ein Krampf in den zum Zerspringen angespannten Sehnen der Hand, ein Straucheln des Stangenträgers, und er war rettungslos verloren. – Und das Publikum saß dabei, hielt den Atem in peinlicher Spannung an, dankte Gott, als der Frevler mit seinen Gliedern den Boden wieder berührte, und – applaudierte doch wie rasend, ihn dadurch nur zu neuen, noch tollkühneren Versuchen anfeuernd. Komtesse Melanie hatte sich schaudernd abgewandt, denn sie befürchtete, den Menschen im nächsten Augenblick zerschmettert vor ihren Füßen zu sehen. Graf Geyerstein, der an ihrer Seite saß, flüsterte: »Sie haben recht Komtesse; ein Nervenkitzel erscheint vielen erwünscht, die Monotonie ihres alltäglichen Lebens zu unterbrechen. Diese Kunststücke werden aber zur Nervenqual – und doch, sehen Sie die freudig staunenden Gesichter ihrer Umgebung, die keine Ahnung von dem zu haben scheinen, was schon im nächsten Moment ihren Genuß unterbrechen könnte.«

»Es sollte verboten werden, solch entsetzliche Kunststücke öffentlich zu zeigen,« sagte Melanie. Graf Geyerstein zuckte mit den Achseln.

»Ja und nein,« sagte er dabei. »Wir wissen dann nur nicht, wo wir die Grenzen ziehen sollen, die der Polizei gestatten, in das Privatleben bürgerlichen Erwerbs einzugreifen. Solange Seiltanzen und Kunstreiterei erlaubt bleibt, wird es unmöglich sein einen Maßstab anzulegen, welches von ihnen für den Ausführenden gefährlicher – für den Zuschauer peinlicher ist. Das Publikum allein hätte es in seiner Gewalt, sich solche Schau zu verbitten, aber die große Mehrzahl verlangt derartige Produktionen, ja läuft gerade dem Unnatürlichsten und Widerlichsten am meisten nach. Doch, Gott sei Dank, es ist vorüber, und der tollkühnste Ritt der Gesellschaft wird uns nach dieser Schau wie Spielerei erscheinen.«

Der Jubel der Zuschauer, als die beiden jungen Athleten den Schauplatz verlassen hatten, legte sich eben, als jener Stallmeister mit einer halbkreisförmigen Verbeugung anzeigte: Madame Georgine Bertrand und Monsieur Bertrand! – Bajazzo benutzte diesen unbewachten Augenblick, seine klappernde Pritsche auf den hervorragendsten Teil desselben niederprallen zu lassen, und wenn der Scherz auch eben nicht zart war, wurde er doch von dem Publikum dankbar angenommen. Während der Stallmeister auf seinen Erzfeind vergebens einfuhr, sprengte das wunderschöne Weib des Kunstreiters und Seiltänzers in die Arena. Mochte nun die Beleuchtung und die vielleicht aufgetragene Farbe dem Gesicht der Frau diese jugendliche Frische geben, aber Georgine war wirklich schön, und ein lautes unwillkürliches »Ah!« entfloh den Lippen der Versammlung, als sie leicht geschürzt und in ganz ähnlicher, nur weit brillanterer Kleidung wie »Mademoiselle Josefine« im Zirkus erschien.

Ein paar junge Kavallerieoffiziere fingen an zu applaudieren, und das Einstimmen des Publikums war eine Huldigung, die man der lieblichen Erscheinung brachte. Madame Bertrand zeigte sich auch dankbar dafür. Ihre Bahn dahinfliegend, hatte sie fast für jeden ein Lächeln, wenn auch ein noch so flüchtiges, für jeden einen freundlichen Blick, eine halbversteckte Kußhand, mit der sie die Herzen gleichsam sichelförmig abschnitt oder mähte – denn zwei genügten für das ganze Publikum. Und wie sie dahinflog, siegesgewiß – siegesgewohnt! Das hochgeschürzte leichte Kleid im Winde flatternd, die Locken von dem Luftzug gelöst, mit den zarten Fußspitzen den Sattel kaum berührend, glaubte man wirklich, sie habe Flügel, und wäre kaum noch erstaunt gewesen, das Pferd unter ihr davoneilen und sie ihren Rundzug ohne dasselbe fortsetzen zu sehen.

»Eine reizende Erscheinung!« flüsterte Melanie ihrem Nachbar zu, während Madame Bertrand ihr schnaubendes Tier am Eingange plötzlich parierte, daß es auf den Hinterbeinen herumflog und Front gegen die Mitte machte; »wenn sie nur etwas weniger keck und zuversichtlich auftreten wollte!«

Ihr Nachbar antwortete ihr durch ein langsames, kaum bewußtes Kopfnicken, und als sie ihr Auge zu ihm hob, sah sie, daß sein Blick fest und fast stier auf der Stelle haftete, an der die schöne Reiterin hielt. Ihre eigene Aufmerksamkeit wurde aber in dem Moment von ihm abgelenkt.

»Monsieur Bertrand! Monsieur Bertrand!« ging der flüsternde Ruf durch die Reihen der Zuschauer, und als Melanie den Kopf dorthin wandte, sah sie, wie an Georginens Seite, in phantastischer, aber höchst geschmackvoll gewählter Tracht, der Reiter auf milchweißem arabischen Hengste hielt. Doch auch Graf Geyerstein bog sich jetzt zu ihr nieder und erwiderte auf die frühere Bemerkung seiner Nachbarin vollkommen ruhig: »Sie dürfen bei solchen Damen nicht sittsame Schüchternheit erwarten, Komtesse. Schon das Reiten selber bedingt eine gewisse Zuversicht, die Reiter oder Reiterin haben muß, um das Tier in der Gewalt zu halten. Wie viel mehr also hier, wo der Ritt für die Öffentlichkeit bestimmt ist und die Frau nur zu leicht jede zarte Weiblichkeit abschüttelt!«

»Sie mögen recht haben,« sagte Melanie nach kurzem Zögern. »Aber gerade das Außergewöhnliche hat ja auch uns hierher geführt. Wir wollen die Pferde und Menschen bewundern – uns wenigstens an ihnen ergötzen. Was kümmert uns das übrige!« Der junge Offizier sah die schöne Gräfin etwas erstaunt über diese Bemerkung an; Melanies Aufmerksamkeit schien aber wieder vollständig auf das Paar gerichtet, das jetzt mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit und wirklich vieler Grazie ein Pas de deux mit den Pferden tanzte. Gleich darauf, und inmitten desselben, sprengten die beiden Kinder wieder herein – der Knabe jetzt genau so gekleidet wie Monsieur Bertrand – indem sie das Pas de deux in ein Pas de quatre verwandelten. Die Pferde führten dasselbe auch vortrefflich durch, und der rauschende Beifall galt diesmal besonders der Geschicklichkeit und Ausdauer des Mannes, der die Dressur der edlen Tiere zu solcher Vollkommenheit gebracht. Nach dem Tanze hielten die beiden Paare wieder ihren Umritt um die Arena, in einer Art Triumphzug den wohlverdienten Applaus einzuernten, den ihnen diesmal selbst die Damen nicht versagten. Nur Melanie saß still und regungslos, ihren Blick fest auf die schöne Reiterin heftend, deren Auge sie bewachte. Es war ihr nämlich nicht entgangen, daß die Kunstreiterin, wo das nur irgend geschehen konnte, ihren Nachbar, den Grafen Geyerstein, scharf fixierte. Der nach allen Seiten hin grüßende Blick haftete in der Sekunde, in der sie an ihnen vorüberflog, jedesmal fest und forschend auf der edlen Gestalt des Rittmeisters, und als sie die Arena verlassen und durch dröhnenden Applaus zurückgerufen wurde, schien derselbe Blick nur ihm allein zu danken.

Die Szene wechselte jetzt, und der Bajazzo übernahm die Unterhaltung des Publikums aufs neue durch halsbrechende Kunststücke und Gliederverrenkungen. Aber das Publikum wollte sich amüsieren; die übersättigten Bewohner der Residenz verlangten einen neuen Reiz für ihre abgespannten Nerven – und diese atemlose Angst um ein Stück wertlosen Menschenlebens gewährte ihn. Ein Mulatte beschloß die erste Abteilung durch groteske Sprünge und gymnastische Übungen, die er mit seinem Pferde ausführte. Wie eine Schlange wand und schnellte er sich im vollen Rennen seines Tieres darüber hin. All die verschiedenen und schwierigsten Piecen führte er aber mit solcher Leichtigkeit aus, und war dabei in jeder seiner noch so gewagten Bewegungen so sicher, daß sich das Publikum unmöglich für ihn interessieren konnte. Es sah eben keine Gefahr dabei, und die Szene vorher hatte es verwöhnt.

Eine kurze Pause folgte jetzt, in der selbst die ebenso unermüdlichen wie erbarmungslosen Musiker ihre gequälten Instrumente für eine Viertelstunde ruhen ließen. Das Trommelfell der ihnen zunächst sitzenden Zuschauer vibrierte aber eine ganze Weile fort, als ob sich die aufgewühlten Schallwellen des hohen Raumes noch nicht beruhigt hätten. Die Trompeter gossen dabei ihre Instrumente aus und ließen ihre Bierkrüge füllen, wechselten die Notenblätter, um eine andere Nummer aufzulegen, und nahmen dann ihre Sitze wieder ein, beim ersten gegebenen Zeichen mit schmetterndem Tusch und lustiger Fanfare bereit zu sein.

Ein Teil des Publikums, besonders alle solche, die den Ausgang leicht erreichen konnten, ohne die hinter ihnen sitzenden Damen zu sehr zu inkommodieren, strömte hinaus an das Büfett und fand dort nicht allein Erfrischungen in Masse, sondern auch – Buketts, Kränze und Zuckertüten, für die der vortrefflich spekulierende Restaurateur Sorge getragen. Die Blumen für die Damen, das Zuckerwerk für die Kinder! Die jungen Kavaliere kauften in Masse, und das Büfett machte ausgezeichnete Geschäfte. Unter den zurückgebliebenen Zuschauern entspann sich indessen eine lebhafte Unterhaltung über das Geschehene, und besonders schien Monsieur Bertrand auf die Damen einen für ihn nur schmeichelhaften Eindruck hervorgebracht zu haben. Die jüngeren besonders – vielleicht weniger zurückhaltend als die älteren – schwärmten für ihn, und Komtesse Rosalie erklärte, daß sie die Zeit kaum erwarten könne, in der er wieder erscheinen würde.

»Und was halten Sie von Monsieur Bertrand, Herr Rittmeister?« wandte sich da Melanie an ihren auffallend schweigsamen Nachbar. »Als so vortrefflicher Reiter werden auch Sie ihm Ihren Beifall kaum versagen können.«

»Allerdings nicht, Komtesse,« erwiderte der junge Mann, »es ist eine edle, männliche Gestalt, und – er reitet untadelhaft.«

»Wie ernst er aber aussieht und was für dunkle, seelenvolle Augen er hat! Ich kann mir kaum denken, daß er wirklich zum Kunstreiter – und noch schlimmer – zum Seiltänzer erzogen ist, denn mit seiner Erscheinung würde er jeden Platz in der menschlichen Gesellschaft ehrenvoll ausfüllen.«

»Ich glaube auch,« sagte der Rittmeister leise, fast wie mit sich selber redend. »Wer weiß, welche unglücklichen Verhältnisse ihn gerade in diese Bahn getrieben!«

»Und doch fühlt er sich vielleicht vollkommen glücklich darin,« warf Melanie ein. »Wir dürfen andere nicht immer nach uns selber beurteilen. Eine andere Erziehung gibt dem Menschen doch auch sicher andere Ansichten über das Leben, und jeder hält die seinigen gewiß immer für die richtigen.«

»Sein Ernst widerspricht dem,« entgegnete Graf Geyerstein. »Eher glaub' ich, daß sich die Dame glücklich in ihrem Berufe oder – ihrer Kunst fühlt – wenn wir es so nennen wollen.«

»Es ist seine Frau?« sagte Melanie, leicht hingeworfen.

»Ich glaube wohl – ich weiß es nicht,« erwiderte der Graf. »Sie trägt, dem Zettel nach, wenigstens seinen Namen,«

»Vielleicht seine Schwester.«

»Der Zettel sagt Madame Bertrand.«

»Die Kleine kann aber kaum ihre Tochter sein; die Frau sieht dafür zu jugendlich aus. Wo sind Sie früher schon mit ihnen zusammengetroffen?«

»Ich?« fragte der Rittmeister, »so viel ich mich besinnen kann, habe ich die Gesellschaft heute zum erstenmal gesehen.«

»Sagten Sie mir nicht heute morgen, daß es eine alte Bekanntschaft sei?« fragte die Komtesse, und ihr Blick haftete dabei forschend auf den Zügen ihres Nachbars.

»Ich wüßte nicht, Komtesse,« erwiderte der Graf. »So viel ich mich entsinne, sprach ich von einer Ähnlichkeit, und das begegnet uns ja oft im Leben, daß uns die Züge eines sonst vollkommen fremden Menschen irgendeine Erinnerung aus früheren Zeiten wecken, so wenig er selber auch mit ihnen im Zusammenhang steht. Ist Ihnen das noch nie vorgekommen?«

»Mir? – ja – o ja. Ich habe mich dann geirrt. Ich glaubte, Sie sprächen von einer alten Bekanntschaft. Aber die Vorstellung beginnt wieder. Jene schrecklichen Menschen da oben in den alten, uniformierten Jacken nehmen ihre Marterinstrumente wieder zur Hand. Mir wirbelt der Kopf schon ordentlich von dem furchtbaren Lärm. Ob man uns damit einen Genuß bereiten will?«

»Täuschen Sie sich darüber nicht, Komtesse,« lächelte der Rittmeister. »Was jene Leute Musik nennen, ist meist nur ein für die Pferde bestimmter, taktmäßiger Lärm, den sie vollführen. Schwiegen sie still, so würden auch die Tiere ihre Kunststücke nicht ausführen, zu denen sie den geräuschvollen Takt notwendig brauchen. Daß die Zuschauer gewöhnlich glauben, die Musik würde ihretwegen gemacht, ist ihre eigene Schuld.«

»Dann werde ich mich künftig nicht mehr darüber beklagen,« lächelte Melanie. »Aber da beginnen sie wirklich ihre Pferdemusik schon von neuem, und jener gräßliche Gliederverrenker scheint seine Künste ebenfalls wieder produzieren zu wollen. Sehen Sie nur, Herr Graf, was dieser Bajazzo für ein fataler Mensch ist. Ein frecheres, widerlicheres Gesicht ist mir im ganzen Leben noch nicht vorgekommen. – Ob der Mann auch Familie hat?«

»Und warum nicht?« erwiderte der Rittmeister. »In seinen Kreisen glänzt er vielleicht sogar.«

»Und glauben Sie wirklich, daß sich ein Mädchen in solch ein – Geschöpf verlieben kann?«

»Komtesse,« sagte achselzuckend der Rittmeister, »in jenen Kreisen kommt es oft auf Liebenswürdigkeit oder ehrenvolles Brot nicht an. Sobald der Mann nur eben sein Brot hat – sobald er imstande ist, eine Frau vor Mangel zu schützen – denn mehr verlangen solche Leute selten – sobald hat er auch Anspruch darauf, als gute Partie betrachtet zu werden – betrachtet er sich doch selber dafür. In welcher Achtung er bei seinen Nachbarn oder gar den höheren Schichten der Gesellschaft steht, was liegt ihm daran! Solange das Publikum, dem er seine Späße vormacht, darüber lacht, solange ihn sein Brotherr dafür bezahlt, solange er ein Mann ist, der seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft – gleichviel, wie – ausfüllt: so lange hat er eben sein Brot. Hört das einmal auf, bricht er einen Arm oder ein Bein oder wird er sonst zum Krüppel, vielleicht gar krank – dann ist er eben verloren. Dann macht er Kollekten oder schickt die Frau betteln – aber das alles liegt für ihn noch in der Zukunft – liegt weiter als der nächste Tag, und was sollte er sich jetzt schon deshalb Sorge machen?«

»Ein fürchterliches Leben!« sagte die Komtesse, zusammenschaudernd, »und doch klingt es, als ob es wahr sein könnte. Wo haben Sie nur einen so tiefen Blick in diesen Abgrund des Elends getan, Graf?«

»Guter Gott,« sagte der Rittmeister, »ein Soldat verkehrt mit allerlei Ständen, und ohne daß wir es wollen oder suchen, wendet uns oft das Leben auch seine dunkeln Seiten zu.«

Wüstes Geschrei und Jauchzen unterbrach ihr Gespräch, denn Bajazzo hatte die zweite Abteilung auf einem Esel eröffnet, mit dem er in die Arena sprengte. Auf dem Rücken des Tieres suchte er Monsieur Bertrand nachzuahmen, und die Galerie war glücklich darüber. Ihm folgten die beiden Kinder wieder, denen man die erst angekauften Zuckertüten zur Belohnung zuwarf, und als Bajazzo ein paar davon entwenden wollte und von dem Stallmeister dabei erwischt und daran verhindert wurde, kannte der Jubel des Publikums keine Grenzen mehr.

Dem Kinderritt folgte ein imposanteres Schauspiel: ein Turnier, in einer Art von Pantomime, in der sich zwei Ritter um den Besitz der schönen Georgine stritten. Monsieur Bertrand war einer von diesen, und in voller Rüstung, mit geschlossenem Visier und eingelegter Lanze, warf er in wirklich prachtvollem Rennen seinen Gegner in den Sand. Dann, mit abgeworfenem Helm, hielt er an der Seite der erbeuteten Schönen seinen Siegesritt um die Arena, und die Buketts flogen jetzt von allen Seiten dem lieblichen Ritterfräulein zu. Eins der Buketts hatte die schöne und kecke Reiterin selber vom Boden aufgehoben, und es hoch in der Hand haltend, schwang sie sich damit unter dem Beifallsjauchzen der Menge wieder auf ihr Pferd, während dieses, bei dem Schmettern der Trompeten, in wilder Flucht die Arena umschnaubte. Der Ritter konnte sich kaum an ihrer Seite halten, und immer wilder, immer toller hieb er auf das schäumende Tier ein, es noch zu stärkerem, rasenderem Laufe anzutreiben. Wieder kam es Melanie da vor, als ob ihr Blick, sooft die tolle Jagd an ihnen vorüberbrauste, den Nachbar suche und finde. Grüßend neigte sie sich gegen ihn, und jetzt – als sie ihren Zelter mitten in vollster Flucht herumriß, die Arena, dem Ausgange zu, quer zu durchfliegen, warf sie die linke Hand, in der sie die Blumen hielt, empor, und der Strauß – ob absichtlich oder zufällig nach dieser Richtung getrieben – fiel im nächsten Augenblicke zu den Füßen des jungen Grafen nieder. Fast in demselben Moment war auch die Schöne, über die Bahn hinweg, verschwunden, und Melanie sah zu dem Rittmeister empor, dessen Antlitz Totenblässe deckte.

»Wollen Sie den Strauß nicht aufheben?« sagte sie mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme.

Der Rittmeister bückte sich , aber er tat es wie in einem Traume, und die Blumen aufgreifend, hielt er sie fast bewußtlos seiner Nachbarin entgegen.

»Sie befehlen, Komtesse?«

»Ich danke Ihnen, Herr Graf!« erwiderte jedoch die junge Dame mit so auffallender Kälte im Ton, daß Graf Geyerstein sie erstaunt ansah. »Die Blumen sind ohne Zweifel dorthin gelangt, wohin sie bestimmt waren, und ich möchte Sie derselben nicht berauben – würde ich überhaupt etwas annehmen, was einer – Kunstreiterin zugeworfen ist.«

»Komtesse?«

»Sie haben jetzt Gelegenheit, Ihr Bukett wieder zu verwerten,« sagte das schöne und, wie es schien, beleidigte Mädchen. In der Tat erschien Georgine in diesem Augenblicke wieder auf den donnernden Hervorruf der Menge, während ihr aufs neue von allen Seiten Blumen entgegenflogen. Graf Geyerstein war aber durch die Worte Melanies so überrascht worden, daß er das Bukett unschlüssig in der Hand behielt, bis die schöne Reiterin die Arena verlassen hatte.

Wieder sprang jetzt der Bajazzo mit seinen gliederverrenkenden Künsten in die Arena, nachdem die Bahn vorher von den hineingeworfenen Blumen gesäubert worden, und zwei andere junge Damen, Mademoiselle Amelie und Leontine, waren ebenfalls noch in dem Programme angeführt. Komtesse Melanie hatte durch den Lärm der Trompeten Kopfschmerzen bekommen, und obgleich sich die jüngere Schwester Rosalie dem nur ungern fügte, bat doch die Mutter den Grafen, ihren Wagen vorfahren zu lassen. Zehn Minuten später verließ die Familie des Kriegsministers von Ralphen, vom Grafen Geyerstein natürlich begleitet, den Zirkus, um nach Hause zurückzukehren.

 


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