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Die Polizeidiener mochten wohl selber durch das ruhige Benehmen des jungen Mannes, wie die augenscheinliche Verlegenheit des Herrn auf Nr. 35 stutzig geworden sein; sie behandelten ihren Gefangenen – während der Oberkellner aus Sicht verschwand – wenigstens sehr artig und legten auch seinen Aufträgen nicht das geringste Hindernis in den Weg. Im Polizeiamt angekommen, wurde er auch augenblicklich dem Polizeidirektor gemeldet, der seine Legitimation nachsah, auch den durch Fritz geöffneten Brief an den Bankier Sölenkamp in Frankfurt a. M. las und dann durch den bald darauf eintreffenden Kanzleirat Bruno selber noch die Bestätigung erhielt, daß der Gefangene allerdings nicht unter falschem Namen reise und hier jedenfalls ein Mißverständnis zu Grunde liegen müsse. Außerdem traf gleich darauf auch noch der telegraphisch herbeigerufene Wirt aus Bonn ein und erklärte, diesen Herrn, obgleich er dem Dieb sehr ähnlich scheine, nie gesehen zu haben. Der Polizeidirektor zuckte entschuldigend mit den Achseln.
»Mein lieber Herr Wessel,« sagte er freundlich, »es tut mir leid, Ihnen eine solche Unbequemlichkeit bereitet zu haben, und nur eine zufällige Ähnlichkeit, die Sie mit jenem Vagabunden haben, mag die Schuld tragen.«
»Das ist ja mein einziges Leiden!« rief Fritz in komischer Verzweiflung; – »daß ich allen Menschen ähnlich sehe und alle Augenblicke für einen andern gehalten werde. Ich bin aber auch von dieser Stunde an entschlossen, einen riesigen Bart zu tragen, um endlich einmal ein anderes Gesicht zu bekommen, denn mit diesem lauf' ich nicht länger mehr so herum.«
»Nur eine Frage bitte ich Sie noch mir zu beantworten,« sagte der Polizeidirektor. – »In welcher Beziehung standen Sie zu jener polnischen Familie, für deren Dienerin oder Gesellschafterin Sie heute morgen die abgelaufene Rechnung bezahlt haben.«
»Und woher wissen Sie das auch schon?«
»Der Oberkellner des Hotels war heute morgen bei mir.«
»Ah so,« nickte Fritz, »das kann ich Ihnen mit wenigen Worten sagen.«
Und kurz und bündig erzählte er sein Zusammentreffen mit den Damen, von denen er sich aber schon in Mainz wieder getrennt hatte; natürlich verschwieg er, daß das freilich nicht gleich seine Absicht gewesen und nur durch die unwillkommene Erscheinung des Grafen Wladimir veranlaßt worden sei; des Grafen selbst mußte er aber wenigstens erwähnen.
»Und wissen Sie etwas Genaueres über diesen Grafen?«
»Genaueres? Nein – ich habe ihn das einzige Mal in meinem Leben auf dem Perron in Mainz – und selbst da nur sehr flüchtig gesehen.«
»Und wie sah er aus?«
»Sehr vornehm und elegant; er trug einen kleinen Schnurrbart und – ja weiter wüßte ich wahrhaftig nichts zu seiner Personalbeschreibung hinzuzufügen. – Weshalb fragen Sie?«
»Eigentlich,« lächelte der Polizeidirektor, »richtet man an die Polizei keine Fragen, doch ist es gerade kein Geheimnis. Wir haben nämlich heute morgen erst Depeschen bekommen, nach denen dieser Graf gerade in dem Verdachte steht, nichts weniger als ein polnischer Graf, sondern ein Schneidergesell aus Ihrer eigenen Geburtsstadt, aus Haßburg, zu sein.«
»Alle Wetter!«
»Und man scheint seine Spur verloren zu haben.«
»Dann kann ich Ihnen vielleicht wieder darauf helfen!« rief Fritz rasch, »denn noch vorgestern abend habe ich die junge polnische Dame in Ems, im Hotel Balzer gesehen und wenn mir der Graf selber auch nicht zu Gesicht kam, so zweifle ich doch keinen Augenblick, daß er sich bei den Damen befindet.«
»In der Tat? – und haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Nein,« sagte Fritz und das Blut stieg ihm dabei voll in die Schläfe; – »die Gelegenheit war nicht günstig – mein Koffer wurde gerade polizeilich untersucht, weil man mich im Verdacht hatte, silberne Löffel oder sonst etwas gestohlen zu haben. Auch im Spielsaal starrten mich alle Menschen so an, als ob ich eben auf einem Taschendiebstahl oder Kirchenraub erwischt wäre. Natürlich bin ich da wieder für Gott weiß wen gehalten worden – wenn ich nur erst den Bart hätte!«
Der Polizeidirektor lachte, aber die erhaltene Auskunft war doch auch zu wichtig, um sie nicht augenblicklich zu benutzen.
»Mein lieber Herr,« sagte er, »es sollte mich gar nicht wundern, wenn wir in dem inkognito reisenden Schneidergesellen nicht auch am Ende den Burschen fänden, der Ihren Namen mißbraucht hat, noch dazu, da er aus einer Stadt mit Ihnen stammt. Haben Sie keine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Grafen Wladimir entdeckt? – wunderlichere Sachen sind schon vorgekommen.«
»Das wäre nichts Wunderliches,« seufzte Fritz, »es sollte mich sogar wundern, wenn ich ihm nicht ähnlich sähe, denn ich muß solch ein verwünschtes Normalgesicht haben, daß es eben in alle Formen paßt.«
»Werden Sie sich länger in Köln aufhalten?«
»Ich weiß es wahrhaftig noch nicht, denn ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, Herr Direktor, daß ich das Leben am Rhein herzlich satt habe. Ich bin zu meinem Vergnügen hierher gereist und so lange ich mich in der Nähe des schönen Stroms befinde, aus den Verlegenheiten und Unannehmlichkeiten gar nicht herausgekommen.«
»Das sollte mir wirklich leid tun!« sagte der Direktor; »aber wenn Sie noch länger hier blieben, oder vielleicht hierher zurückkehrten, wäre es mir lieb, wenn Sie mich wieder einmal besuchten.«
»Auf die nämliche Weise wie heute?«
»Nein,« lachte der Polizeidirektor, »freiwillig, oder mich wenigstens wissen ließen, wo Sie zu finden sind, denn es wäre doch möglich, daß wir Ihre Gegenwart brauchen könnten.«
»Für jetzt,« sagte da der Kanzleirat, »möchte ich den jungen Herrn in Beschlag nehmen, und wenn er sich in Köln aufhält, Herr Direktor, so bitte ich nur in meine Wohnung zu schicken, und Sie werden ihn dort jedenfalls antreffen oder Auskunft erhalten, wo er zu finden ist.«
»Aber, bester Herr Kanzleirat –«
»Keine Ausrede, mein junger Freund! wir fahren jetzt in Ihrem Hotel vor, zahlen dort Ihre Rechnung, und dann müssen Sie sehen, wie Sie sich bei uns einrichten – fortgelassen werden Sie nicht wieder, denn ich fürchte, daß Sie sonst der Polizei jedenfalls noch einmal in die Hände fallen; also warten Sie's bei mir ab, bis Ihr Bart gewachsen ist.«
Fritz wollte sich noch dagegen sträuben, aber es half ihm nichts, denn der alte Herr ließ eben nicht nach; die kölnische Gastfreundschaft ist ja berühmt und der junge Mann fand sich bald in dem Hause so wohnlich eingerichtet, als ob er da von Jugend auf gelebt hätte. Der alte Kanzleirat lebte aber auch in den glücklichsten und unabhängigsten Verhältnissen, und seine Frau, so ein recht mütterliches und gutes Wesen, das Fritz gleich auf den ersten Blick lieb gewann, wie auch die einzige, seit etwa vierzehn Tagen mit einem jungen Kaufmann verlobte Tochter, deren Bräutigam schon als mit zur Familie gehörig gezählt wurde, machten das überdies freundliche Haus zu einem kleinen Paradies, in dem sich Fritz unendlich wohl fühlte.
Köln fehlt nur eins: eine romantische Szenerie in der Umgebung, und Fritz war doch eigentlich an den Rhein gekommen, um sich an der zu erfreuen und einige Studien zu machen, denn eine Frau zu suchen hatte er aufgegeben. Er war dabei zweimal und rasch hintereinander zu schlecht angekommen. Wie er sich deshalb eine volle Woche recht tüchtig ausgeruht, deutete er an, daß er doch jetzt wieder an die Abreise denken müsse, stieß aber dabei auf den hartnäckigsten Widerstand. Der alte Kanzleirat wollte nichts davon hören, und das Äußerste, was er zugestand, war, daß Fritz einige Abstecher den Rhein hinauf machen, dann aber wieder zu ihnen zurückkehren solle, was er denn auch endlich versprechen mußte.
Am nächsten Morgen fuhr er stromauf, um sich erst einmal am Loreleifelsen und in der dortigen herrlichen Gegend eine Zeitlang aufzuhalten; sein Bart, den er sich gewissenhaft stehen ließ, hatte überdies jetzt ein Stadium erreicht, gegen das sich seine Eitelkeit sträubte, es selbst in dem Familienkreise des Kanzleirats zu zeigen; er fing an sehr struppig zu werden, und Fritz gedachte sich vierzehn Tage einmal in der Wildnis oder in kleinen abgelegenen Orten herumzutreiben, bis er ihn so weit gebracht, daß man doch wenigstens sehen konnte, was es werden sollte. Dann gedachte er auch in Koblenz den ältesten Freund seines Vaters, den Major von Buttenholt aufzusuchen; der Vater hatte ihm das ja ganz besonders ans Herz gelegt und er erkundigte sich auch schon in Köln nach ihm, konnte aber gar nichts weiter über ihn erfahren, als daß er aller Wahrscheinlichkeit nach noch in Koblenz wohne; gesehen wollte ihn aber niemand seit langen Jahren haben, selbst gehört hatte man nichts von ihm, als daß er außer Dienst und pensioniert sei und viele Sorge mit seinem einzigen Sohn gehabt habe, der bedeutende Schulden gemacht und nachher in einem Duell geblieben wäre. In Koblenz selber würde er aber jedenfalls das Nähere erfahren können.
Dorthin kam er freilich vorderhand noch nicht; aber das hatte ja auch noch Zeit, da er doch jetzt entschlossen war, noch einige Wochen am Rheine zuzubringen.
Auf dem Dampfer, der ihn stromauf führte, fand er keine besondere Gesellschaft: ein paar langweilige Engländer, die entsetzlich vornehm taten und aller Wahrscheinlichkeit nach doch nichts weiter waren als in Plaids gehüllte Schneider oder Krämer, die hier in Deutschland auf vier Wochen den Lord spielten, bis sie dann in London wieder in ihr Garnichts zurücksanken – ein paar Professoren, die in einer kurzen Ferienreise den Schulstaub abschütteln wollten, französisches Gesindel, das in die Bäder an die Spieltische zog, und ein Gemisch von älteren oder jüngeren Damen, die sich, kaum an Bord gekommen, in die Kajüte hinunterzogen und aus verschiedenen Körben und Kobern ihr mitgebrachtes Frühstück hervorzogen und verzehrten. Der Dampfer lief dabei entsetzlich langsam gegen den Strom an, und die Gegend bot außerdem nicht das geringste Interessante, so daß Fritz schon bereute, die Rückfahrt zu Wasser angetreten zu haben; hätte ihn die Lokomotive doch viel schneller in die Berge hineingeführt!
Und die Fahrt wurde immer langsamer; an dem einen Haltplatz blieben sie außergewöhnlich lange liegen, und das Gerücht verbreitete sich, daß an der Maschine etwas nicht in Ordnung wäre. Das Boot setzte allerdings seine Fahrt fort, aber es arbeitete schwer gegen die Strömung an; und als sie, stundenlang nach der eigentlich angegebenen Zeit, Koblenz endlich erreichten, erklärte der Kapitän den Passagieren, daß er heute da liegen bleiben müsse, um eine nötig gewordene Reparatur vorzunehmen, das Gepäck aber, wenn es verlangt würde, auf das nachfolgende Boot der nämlichen Gesellschaft schaffen lassen wolle.
Fritz war noch nicht ganz mit sich einig, ob er überhaupt zu Wasser seine Reise fortsetzen werde, und nahm seinen Koffer an Land. Er wünschte auch einmal den Ehrenbreitstein zu besuchen, und dazu konnte ihm vielleicht der Major helfen, wenn er ihn hier in Koblenz fand.
In dem Hotel wußte ihm aber niemand Auskunft über Major von Buttenholt zu geben. Er hatte allerdings lange Jahre in Koblenz gelebt und der Wirt kannte ihn genau, aber, wie es hieß, sollte er vor einiger Zeit hier fortgegangen sein; wohin? wußte er nicht. Es war ihm sehr knapp gegangen und der alte Herr immer leidend gewesen. Vielleicht konnte der Fremde, wenn er den Major aufzusuchen wünsche, Näheres über ihn von einem der älteren Offiziere erfahren. Um den Ehrenbreitstein zu besuchen, mußte er sich überhaupt eine Erlaubniskarte geben lassen.
Fritz, mit gerade keiner anderen Beschäftigung, machte sich dazu auf den Weg und wurde von einem der Offiziere, den er deshalb anredete, in die Kommandantur gewiesen; den Major von Buttenholt kannte derselbe nicht.
In der Kommandantur, wo er die Erlaubniskarte ohne weiteres erhielt, traf er einen alten Soldaten und fragte diesen nach dem Major.
»Du lieber Gott!« sagte der alte Mann; »ob ich ihn kenne? so ein lieber braver Herr! hab' ich doch bei seinem Regiment gestanden.«
»Und lebt er nicht mehr in Koblenz?«
»In Koblenz? – nein; aber nicht weit von hier in einem kleinen Nest, Mühlheim, drüben am andern Moselufer; 's ist auch nicht weit und ein ganz hübscher Spaziergang, aber er kommt trotzdem nur selten oder gar nicht herein, und ich habe ihn Jahr und Tag nicht gesehen.«
»Und geht es ihm gut?«
»Ich glaube, es geht ihm recht knapp,« sagte der alte Mann; »und er ist wohl nur von Koblenz fortgezogen, weil es ihm hier zu teuer wurde. Sorgen und Leid hat er genug gehabt, aber nur wenig Freude –«
»Mit seinem Sohn?«
»Leider Gottes!« nickte der Alte, »das war ein Tunichtgut, wie er im Buche steht, und die gottverdammten Spielhöllen in der Nachbarschaft richteten ihn vollends zu grunde. Heimlich und in Zivil schlich er sich hinüber nach Ems und schob den Gaunern das kleine Vermögen des Vaters nach und nach in den Rachen; ja, als das fort war, machte er Schulden über Schulden, und um seinen Schlechtigkeiten endlich die Krone aufzusetzen, schoß er sich eine Kugel vor den Kopf.«
»Ich denke, er ist in einem Duell geblieben?«
»So hieß es. Man hatte es auch dem alten Major so beigebracht, daß er sich die Sache nicht gar so sehr zu Herzen nehmen sollte; aber ich war dabei, wie sie ihn fanden.«
»Armer, alter Mann!«
»Jawohl, armer Mann, und jetzt bezahlt er von seiner kleinen Pension langsam die Schulden ab, die der leichtsinnige Bursche Hals über Kopf gemacht hat, und sitzt dabei drüben in dem kleinen Nest mutterseelenallein und lebt, wie mir neulich ein Kamerad sagte, in Hunger und Kummer.«
»So hat er weiter keine Kinder?«
»Noch eine Tochter; die hat aber auch zu fremden Leuten gehen müssen, um etwas zu verdienen.«
»Und wie komme ich am besten nach Mühlheim?«
»Ach, jedes Kind zeigt Ihnen den Weg; gehen Sie nur über die Moselbrücke und fragen Sie dort, wen Sie wollen, Sie können gar nicht fehlen.«
Heute war es dazu allerdings zu spät, denn er gedachte doch erst von seiner Karte Gebrauch zu machen und wünschte auch den Sonnenuntergang auf dem Ehrenbreitstein mit anzusehen; aber am nächsten Morgen sollte es sein erster Weg sein – er wußte ja, daß seinem Vater besonders daran lag, über den Major Auskunft zu erhalten, und dann wollte er auch an »seinen Alten« wieder einmal schreiben; hatte er ihm doch seit Wochen keine Nachricht von sich gegeben!
Der Weg auf die Festung lohnte sich reichlich; der Anblick von da oben über das herrliche Rheintal war wirklich bezaubernd, und dabei hatte sich der Himmel heute gerade nur leicht bewölkt und bei vollkommen reiner Luft mit seinen wundervollsten Tinten geschmückt, so daß sich der Wanderer von dem Anblick kaum wieder losreißen konnte. Der Anblick söhnte ihn auch mit dem Rhein aus – welche Unannehmlichkeiten er auch bis jetzt gehabt, sie waren in der Stunde vergessen und vergeben; und als er an dem Abend an seinem Tisch im Hotel ganz allein saß und einer Flasche trefflichen Markobrunners zusprach, trank er ein Glas nach dem andern auf das Wohl des Vater Rhein und seiner schönen Gauen.
Am nächsten Morgen war er früh auf und beschloß auch gleich einen Spaziergang nach Mühlheim zu machen. Bei einem alten einzeln lebenden Herrn gab es ja keine Stunde der Etikette, und er fand diesen gewiß schon auf und munter, wenn auch noch im Schlafrock und mit der langen Pfeife in seinem kleinen Gärtchen, konnte dann eine Stunde mit ihm plaudern und mittags seine Reise stromaufwärts fortsetzen.
Der Weg war wunderhübsch, durch lauter Rebengelände, und von einer Masse von Landleuten belebt, die nach Koblenz zum Markt zogen; die Richtung konnte er indessen nicht verfehlen, und nach einer Stunde, in welcher er sich noch da und dort aufgehalten, erreichte er den kleinen, allerdings sehr unscheinbaren Ort, frühstückte erst in einer Weinschenke, denn es war doch unterwegs warm geworden, trank seinen Schoppen dazu und ließ sich dann durch einen Jungen, der sich bereitwillig dazu erbot und barfuß neben ihm hersprang, die Wohnung des alten Majors zeigen, die er sich freilich, als sie endlich in Sicht kam, doch nicht so unscheinbar gedacht hatte, wie er sie jetzt fand.
Es war ein kleines einstöckiges Häuschen, das kaum mehr als einige Stuben enthalten konnte, mit niederen Fenstern und moosbewachsenem Schieferdach – ein Gärtchen lag allerdings daneben, aber es konnte kaum mehr als vierzig Schritte im Quadrat halten und schien auch mehr zum Gemüse- und Kartoffelbau als zu Zierpflanzen verwendet zu sein; nur einige Obstbäume standen darin. Und dort lebte ein Major, der doch wahrlich in früheren Zeiten eine bessere Einrichtung gewohnt gewesen! Der alte Soldat hatte jedenfalls recht; es ging dem Mann knapp und er konnte nicht viel auf äußeren Glanz verwenden, hatte sich dafür aber gewiß in seiner Häuslichkeit desto behaglicher eingerichtet.
Fritz öffnete auch ohne weiteres die Haustür, riß aber rasch den Hut vom Kopf, als er sich dadurch plötzlich schon in der Stube des Majors und diesem gegenüber sah. Der alte Herr ging mit auf den Rücken gelegten Händen in seiner Stube auf und ab, blieb mitten in seinem Spaziergang stehen und sah sich erstaunt nach der Tür um, als diese so unerwartet aufgerissen wurde.
»Ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten, verehrter Herr,« sagte Fritz erschreckt; »aber ich glaubte nicht, daß die Tür direkt in Ihr Zimmer führte, und habe nicht einmal erst angeklopft.«
»Bitte, keine Entschuldigung!« sagte der alte Soldat, eine ehrwürdige, stattliche Gestalt, mit schneeweißem, aber noch militärisch zugestutztem Bart, indem er sein kleines Käppchen nur eben lüftete; – »wünschen Sie mich zu sprechen und mit was kann ich Ihnen dienen?«
»Ich habe Sie allerdings im Auftrage meines Vaters aufgesucht, Herr Major – Sie erlauben mir, daß ich mich durch dessen Brief einführe.«
»Ihres Vaters?«
»Regierungsrat Wessel in Haßburg.«
»Sind Sie der junge Wessel?« rief der Major, indem er ihn erstaunt betrachtete, – »und woher kommen Sie jetzt?«
»Von Köln, wo ich mich einige Wochen aufgehalten.«
»Merkwürdig – merkwürdig!« sagte der Major, indem er den Brief nahm und erbrach; – »aber wollen Sie sich nicht setzen? Legen Sie Ihren Hut ab – bitte, machen Sie nicht viel Umstände,« setzte er mit einem bittern Blick auf seine Umgebung hinzu: »Sie sehen, daß wir hier in außerordentlich einfachen Verhältnissen leben.«
Fritz warf einen flüchtigen Blick umher: Du lieber Himmel, der alte Herr hatte in der Tat recht – es waren einfache Verhältnisse und einfacher konnte eigentlich kein Tagelöhner wohnen, als der pensionierte Major es tat. Das Zimmer war einfach geweißt und das ganze Ameublement bestand in einem großen in der Mitte stehenden Tisch von weißem aber blank gescheuertem Tannenholz, einem kleineren, auf dem Schreibmaterialien lagen, einem kleinen Regal mit Büchern, drei hölzernen Stühlen und einem Miniaturspiegel in braunem Rahmen. Nur einige Bilder aus früherer Zeit hingen an den Wänden und im Fenster standen freundliche, sorgfältig gepflegte Blumen. Aber wie sauber sah alles aus – wie leer freilich, aber doch auch wie nett und ordentlich; und Fritz nahm mit größerer Befangenheit auf einem der hölzernen Stühle Platz, als er wahrscheinlich in dem reichsten und kostbarsten Salon gezeigt haben würde. Der Major, der indessen seine Brille von seinem Schreibtisch genommen hatte, überflog die Zeilen mit dem Blick, dann faltete er den Brief wieder zusammen, legte ihn auf den Tisch und starrte wohl eine halbe Minute lang schweigend vor sich nieder. Endlich sagte er leise:
»Mein junger Freund, es läßt sich eben nicht ändern. Tatsachen, die Sie selber mit Augen gesehen, sind unmöglich zu verheimlichen. Ich – lebe nicht mehr in den Verhältnissen, in denen mich Ihr Vater früher gekannt, und nur daß sie unverschuldet über mich gekommen, läßt mich dieselben leichter ertragen.«
»Mein lieber Herr Major –«
»Bitte, lassen Sie mich ausreden. Wäre es anders, so verstände es sich von selbst, daß der Sohn meines teuersten Jugendfreundes auch bei mir seine Wohnung aufschlagen müßte.«
»Aber mein bester Herr, ich bin nur im Vorbeifliegen bei Ihnen eingekehrt – nur um Ihnen des Vaters Grüße zu bringen und ihm endlich einmal Nachricht von Ihnen zu geben, da er auf alle seine Briefe keine Antwort erhalten hat.«
»Ich habe ihm gestern geschrieben.«
»Gestern?«
»Ja! – ich hatte eine Schuld an ihn abzutragen!«
»Eine Schuld? Davon hat er nie etwas gegen mich erwähnt.«
»Das glaub' ich – sie ist auch noch neu – doch davon nachher – ein Glas Landwein kann ich Ihnen wenigstens vorsetzen und ein Butterbrot, daß wir einmal mitsammen anstoßen mögen – ich bin außerdem auch noch in Ihrer Schuld.«
»In meiner Schuld! – ich verstehe Sie nicht.«
»Sie sollen es gleich erfahren; ich lasse Sie nur einen Augenblick allein – bitte, behalten Sie Ihren Platz!«
Fritz wußte sich das Benehmen des alten Herrn nicht zu erklären, und wünschte fast, daß er den Platz gar nicht betreten hätte. Es lag ein so tiefer Schmerz in den Zügen des Majors, gepaart mit so stiller, eiserner Resignation, daß ihm die Tränen in die Augen kamen. Und doch, wie hätte er hier helfen können, denn er fühlte recht gut, daß schon die Andeutung eines solchen Erbietens den alten Soldaten auf das tiefste gekränkt hätte und jedenfalls starr und unerbittlich von ihm zurückgewiesen würde.
Die Tür öffnete sich wieder und herein trat der Major, hinter ihm aber ein junges Mädchen, das eine Flasche und zwei Gläser trug und mit schüchternem Gruß auf den Tisch stellte.
Wo, um Gottes willen, hatte er nun das Gesicht schon gesehen? Diese großen, braunen Augen mit den scharf geschnittenen Brauen. Und was für wundervolles Haar das Mädchen hatte! – er mußte sich doch irren, denn das Haar wäre ihm unter allen Umständen aufgefallen.
Das junge Mädchen – sie mochte kaum achtzehn Jahre zählen – hatte sich indessen der Flasche und Gläser entledigt und drehte ihm noch den Rücken zu, Fritz bemerkte aber, daß sie über und über rot geworden war. Sahen sie so selten hier Besuch oder schämte auch sie sich ihrer Armut? – Armes Ding! – da drehte sie sich plötzlich nach ihm um; ihr Antlitz war ordentlich purpurrot gefärbt, aber ihm die Hand entgegenstreckend, sagte sie herzlich:
»Wie freue ich mich, daß ich Ihnen nochmals für die Hilfe danken kann, die Sie mir neulich in Köln geleistet! – o, ich wußte gar nicht, wie ich mir helfen sollte.«
»Mein liebes gnädiges Fräulein!« rief Fritz ordentlich erschreckt aus, denn erst in diesem Augenblick erkannte er das junge Mädchen aus dem Hotel; – »ich hatte keine Ahnung, daß –«
»Das arme hilflose Mädchen, die von einem Kellner beleidigte Fremde, die Tochter des Majors von Buttenholt sein könne,« sagte der alte Major bitter; »ich glaube es Ihnen, aber desto ehrenvoller haben Sie sich benommen, und auch ich danke Ihnen herzlich für den Schutz, den Sie ihr gewährten, mein lieber junger Freund.«
»Mein bester Herr Major –«
»Sie können sich denken, wie erstaunt ich war,« fuhr dieser fort, »als mein armes Kind nach Hause zurückkehrte, erzählte, wie es ihr gegangen und mir Ihre Karte gab. Es versteht sich aber von selbst, daß ich meine Schuld so rasch als möglich abgetragen habe; und da ich natürlich nicht ahnen konnte, daß Sie mich alten, weggesetzten Invaliden hier in meiner Einsamkeit aufsuchen würden, so schickte ich gestern das Geld an Ihren Papa und schrieb ihm dabei, wie edel sein Sohn an einer armen Fremden gehandelt habe.«
»Mein bester Herr, jener Kellner betrug sich so roh und flegelhaft –«
»Es bleibt sich gleich, das arme Kind war Ihnen doch vollkommen fremd und wußte sich in dem Augenblick nicht zu helfen. Sie ist schändlich von jener polnischen Familie behandelt worden.«
Fritz schwieg; es war ihm ein gar so peinliches Gefühl, zu denken, daß der alte, auf seinen Rang und Namen doch gewiß noch stolze Herr sein einziges Kind hatte hinaus zu fremden Leuten und in Dienst geben müssen; und daß es ein Muß gewesen, du lieber Gott! er sah das ja hier aus allem, was ihn umgab und die äußerste Armut, die größte Einschränkung verriet. Der alte Major aber, der etwa erraten mochte, was in ihm vorging, schob ihm ein Glas hin und rief mit erzwungener Fröhlichkeit:
»Und nun trinken Sie erst einmal, mein lieber junger Freund! es ist zwar schnöder Landwein, aber doch nicht vom schlechtesten, und der gute Wille muß eben die Qualität ersetzen. Nachher aber erzählen Sie mir von meinem alten wackeren Freund, Ihrem Papa, und seinem Wohl soll das erste Glas gelten!«
Er schenkte ihm ein und Fritz konnte einer so freundlichen Einladung natürlich nicht widerstehen. Es war allerdings »schnöder Landwein« und in irgend einem Hotel würde ihn der etwas verwöhnte junge Mann jedenfalls verächtlich beiseite geschoben haben; hier schmeckte er kaum, was er trank, und als ihm Margaret auf einem gewöhnlichen irdenen Teller die frische Butter brachte und ein großes Schwarzbrot dazu auf den Tisch legte und sich dann ans Fenster setzte, um mit einer aufgenommenen Arbeit seinen Worten zu lauschen, erzählte er erst von daheim, wie es sein Vater treibe und wie es ihm gehe – hatte er doch nur Gutes zu berichten – und kam dann auf seine eigene Reise, deren kleine Hindernisse er in so humoristischer und drolliger Weise schilderte, daß selbst der alte Major lächelte und ein paarmal Margarets perlengleiche Zähne sichtbar wurden. Wie er aber auf die Vorgänge in Köln und den Verdacht kam, den man gegen den vermeintlichen Grafen Wladimir gefaßt, rief der Alte aus:
»Dann hat die Margaret doch recht gehabt! Mit dem Burschen ist es auch nicht richtig. Dahinter steckt faules Spiel; und wenn sie der Gesellschaft nur auf die Spur kämen! aber dergleichen Gelichter weiß sich gewöhnlich in Sicherheit zu bringen, und der verdammte Respekt, den das kriecherische Marqueurgesindel in den Gasthöfen vor allem hat, was fremdartig auftritt und nur recht unverschämt vornehm tut, schafft ihnen Sicherheit und macht, daß sie überall ungestraft durchkommen. – Und wie haben sie mein armes Kind behandelt!«
»Waren denn die Damen auch unfreundlich mit ihr?«
»Die Alte nicht, aber die Junge soll ein wahrer Satan gewesen sein.«
»Die Komtesse Olga?«
»Sie war recht bös und hart mit mir,« sagte Margaret leise; »und ich tat doch alles, was ich ihr an den Augen absehen konnte.«
Fritz gab es bei den Worten einen Stich durchs Herz. Wie still, wie geduldig hatte das in guter Familie erzogene arme Kind die Mißhandlung – vielleicht einer Abenteurerin ertragen, nur um dem Vater eine Sorge abzunehmen, und wie war sie dafür von dem nichtsnutzigen Gesindel behandelt worden! Er bekam auch eine wirklich stille Wut auf jenes verführerische Geschöpf mit seinem bezaubernden Lächeln, in welchem er einmal – verblendet wie er gewesen – das Ideal aller Weiblichkeit entdeckt zu haben glaubte. Mit all den Gedanken, die ihm hier durch den Kopf zogen, litt es ihn aber nicht lange bei dem alten Major; er mußte nach Koblenz zurück; er gab vor, heute morgen Briefe zu erwarten, aber er komme noch einmal heraus, wenn es ihm der Major gestatte, um Abschied zu nehmen; er hatte ja auch versprochen, noch einmal nach Köln zurückzukehren und, wenn es ihm dann »seine Zeit« erlaubte, hielt er ebenfalls wieder in Koblenz an.
Ganz in Gedanken hatte er, während er noch sprach, seine Zigarrentasche herausgenommen, um sich eine Zigarre anzuzünden. Jetzt erst fiel ihm auf, daß der alte Major ja ohne lange Pfeife war, wie er ihn sich immer gedacht.
»Rauchen Sie gar nicht?« fragte er ihn, als er ihm die Tasche entgegenhielt, – »die Zigarren sind gut.«
»Ich danke Ihnen – ich habe es mir vollkommen abgewöhnt,« sagte der alte Soldat; »ich – vertrug es nicht.«
Fritz sah, wie sich Margaret abwandte und ein gar so weher Schmerz ihr liebes Antlitz bewegte. Der alte Mann vertrug es wohl, aber hatte sich auch den letzten und liebsten Genuß versagt und alles vom Munde abgedarbt, um seinen ehrlichen Namen zu wahren, den der eigene Sohn unter die Füße getreten; und als Fritz bald darauf wieder den Weg in die Festung zurück schritt, summte es ihm so von allerlei wirren Gedanken durch den Kopf, daß selbst das reizende Landschaftsbild vor ihm wie mit einem dichten Nebel bedeckt schien und er nichts sah als das bleiche, abgehärmte Gesicht der Tochter und die ernsten, resignierten Züge des alten Soldaten.