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Fritz Wessel blieb so wohl fünf bis sechs Sekunden in seiner Stellung, denn bei etwas so völlig Unerwartetem geschieht es ja wohl öfter, daß uns Erstaunen und Überraschung für einen Moment wie mit einem Zauber gebannt halten. Sein erster Gedanke war auch: »dieser verwünschte Doktor Raspe hat dich heilig wieder für einen ganz andern gehalten, und die Ohrfeige war irgend einem Mainzer Müller oder Meier zugedacht; aber der Zorn gewann doch rasch bei ihm die Oberhand – die Behandlung war zu nichtswürdig und die Ohrfeige selber so heftig gewesen, daß er ordentlich fühlte, wie ihm die Wange anschwoll; ungestraft durfte der Doktor das auch nicht verübt haben. Ein Mißverständnis mußte es freilich gewesen sein, denn die Frage: waren Sie schon einmal in Nürnberg? bezog sich jedenfalls auf eine von einem Fremden erlittene Beleidigung, von der er selber nicht das geringste wußte; dann aber durfte er auch nicht zuschlagen, ehe er sich nicht überzeugt hatte, ob er es mit der richtigen Person zu tun habe. Mit dem Gedanken sprang er auch die letzte Stufe hinauf, die ihn noch von der oberen Etage trennte, um dem Frevler nachzueilen, als dicht vor ihm eine Tür aufgerissen wurde und ein Herr, in einen braunen Überrock eingeknöpft, dabei eine Brille auf und ein Buch in der Hand, auf den Gang und gegen den vermeintlichen Doktor selber ansprang.
»Was haben Sie hier draußen zu tun, Herr Hauptmann?« rief er diesen an. »Wissen Sie nicht, daß der General strenge Order gegeben hat, daß keiner der Herren Offiziere sein Quartier verlasse? – soll ich Sie zur Anzeige bringen?«
»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte der Herr im Schlafrock, jetzt aber, obgleich er sich vorher so roh benommen, vollkommen eingeschüchtert und mit der demütigsten Miene von der Welt; – »ich war ganz in Gedanken gewesen, Herr Doktor!« –
Und damit schlüpfte er, wie froh, den weiteren Vorwürfen zu entgehen, in eine der Türen hinein, die hier oben, gerade so wie in der ersten Etage, den Gang entlang lagen. Der Herr in dem braunen Rock bemerkte aber auch in diesem Augenblick den Fremden oder drehte sich jetzt wenigstens, wenn das schon früher geschehen war, gegen ihn.
»Was wünschen Sie und mit wem habe ich die Ehre?«
»Hab ich das Vergnügen, Herrn Doktor Raspe vor mir zu sehen?« fragte Fritz, der sich vor allen Dingen erst einmal von der Identität des Mannes überzeugen wollte, dann sprach er nachher selber mit jenem Herrn Hauptmann, dessen Verhältnis zu dem Doktor er allerdings noch nicht recht begriff.
»Ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstanden habe,« sagte der Herr mit der Brille, »mein Name ist Doktor Aspelt – wünschen Sie mich zu sprechen?«
»Aspelt?« rief Fritz verdutzt; »zu Herrn Doktor Raspe wollte ich und der Droschkenkutscher fuhr mich vor dies Haus.«
»Das ist dann eine einfache Verwechslung,« erwiderte der Herr in dem braunen Rock kalt, – »Herr Doktor Raspe wohnt allerdings in der nämlichen Straße, aber etwa sechs oder sieben Häuser weiter unten an der entgegengesetzten Seite.«
»Dann bitte ich allerdings um Entschuldigung, Sie gestört zu haben,« sagte Fritz, eben nicht besonders erfreut darüber, – »ersuche Sie aber auch gleichzeitig um den Namen jenes Herrn, mit dem Sie sich da eben unterhielten, und möchte mit ihm, ehe ich das Haus wieder verlasse, ein paar Worte sprechen.«
»Weshalb, wenn ich fragen darf?«
»Er hat mich auf die gröblichste Weise insultiert und ich möchte mir eine Erklärung von ihm ausbitten.«
»Trafen Sie ihn hier an der Treppe?«
»Ja.«
»Und er fragte Sie, ob Sie in Nürnberg gewesen wären?« sagte Doktor Aspelt.
Fritz kam es fast vor, als ob etwas wie ein Lächeln um seine Lippen zucke.
»Allerdings,« erwiderte Fritz, die Brauen finster zusammenziehend, denn er dachte gar nicht daran, sich auch noch verhöhnen zu lassen; – »aber gleich darauf, ohne die geringste Veranlassung –«
»Sie verneinten die Frage?«
»Allerdings.«
»Mein lieber Herr,« erwiderte ihm jetzt der Doktor Aspelt, »ich muß Sie vor allen Dingen darauf aufmerksam machen, daß Sie hier aus Versehen in eine Privatirrenanstalt geraten sind und da zu meinem Bedauern einem meiner, sonst allerdings ganz harmlosen Kranken begegneten.«
»Eine Irrenanstalt?« rief Fritz fast erschreckt aus.
»Allerdings, und der Hauptmann – so vollkommen harmlos er sonst ist – hat die einzige Manie, jeden Menschen tätlich anzugreifen, der ihm ableugnet, daß er in Nürnberg gewesen wäre, weil er behauptet, das ganze Menschengeschlecht stamme von dort her. Mein Esel von Torhüter hätte Sie auch darauf aufmerksam machen sollen. – Sie werden aber doch jetzt wahrscheinlich von dem Unglücklichen keine Genugtuung verlangen wollen!«
»Und die junge Dame in der ersten Etage?« sagte Fritz ganz verwirrt.
»Welche junge Dame?«
»Ein bildhübsches junges Mädchen, das aus der Tür zunächst der Treppe kam und mir zuflüsterte, das Haus so rasch als möglich zu fliehen.«
»Meine arme Gräfin,« sagte der Arzt, »sie wurde mit ihren Eltern in Italien von einer Räuberbande überfallen und dabei wahnsinnig. Meine weiblichen Kranken befinden sich alle in der ersten Etage.«
»Und empfängt der Hauptmann alle Besucher auf diese Art?«
»Nein,« lächelte der Doktor, »wenn sie ihm seine Frage bejahen, so ist er unendlich liebenswürdig mit ihnen, schüttelt ihnen die Hand und ladet sie auf nächsten Mittag zu einem großen Diner ein, das er schon seit drei Jahren zu geben beabsichtigt.«
»Sehr angenehm,« sagte Fritz, der sich doch ein wenig gekränkt fühlte, daß der Doktor die Sache so von der humoristischen Seite betrachtete; er verspürte aber auch keine besondere Lust, die Unterhaltung hier oben an der Treppe fortzusetzen. Von einem Verrückten konnte er überdies keine Erklärung verlangen. Das Unglück war einmal geschehen und es blieb ihm jetzt nichts weiter übrig, als dies unheimliche Gebäude so rasch als möglich zu verlassen. »Sie entschuldigen, Herr Doktor,« fuhr er kalt höflich fort, »daß ich Ihre wahrscheinlich kostbare Zeit so in Anspruch genommen habe.«
»Bitte – hat nichts zu sagen – Herrn Doktor Raspes Haus finden Sie schräg gegenüber, Nr. 32 glaub' ich.«
»Ich danke Ihnen.«
»Bitte, warten Sie einen Augenblick,« sagte aber der Doktor, indem er auf eine kleine versteckte Feder drückte, wonach Fritz unten im Haus eine feine Klingel hörte; – »mein Torwärter muß erst aufschließen, sonst könnten Sie in der ersten Etage noch Unannehmlichkeiten haben. Es befinden sich da einige Damen, die mit uns selber sehr harmlos verkehren, aber kein fremdes Gesicht leiden können.«
»Ich danke Ihnen,« sagte Fritz, »ich habe an der Begegnung vollkommen genug und werde das Andenken wohl ein paar Tage tragen müssen.«
»Ich bedaure wirklich sehr,« sagte der Doktor, während Fritz recht gut bemerkte, daß er sich die größte Mühe geben mußte, um sein heimliches Lachen zu verbeißen. Er hatte übrigens keine Lust, sich den spöttischen Blicken des Doktors länger auszusetzen; unten hörte er das Aufschließen der Tür und mit einem flüchtigen Gruß eilte er die Stufen hinab und hielt sich auch nicht einmal in der ersten Etage auf, über die er nur einen scheuen Blick warf, ob er dort nicht wieder einer oder der andern unheimlichen Erscheinung auszuweichen habe. Aber der Gang war vollständig leer und er eilte auch die andere Treppenabteilung hinab, wo er jedoch an der inneren Tür auf den langsam hinter ihm drein kommenden Schließer warten mußte.
Und wie wehe ihm seine Wange tat! Er konnte ordentlich fühlen, daß sie von Minute zu Minute mehr anschwoll. – Der verfluchte Hauptmann mit seiner fixen Idee!
Der Schließer kam jetzt herunter, schielte aber, während er aufschloß, mit einem ganz eigentümlichen Zug um den Mund, an dem jungen Mann vorbei. Fritz drehte ihm jedoch so viel als möglich seine rechte Wange zu, damit er die fatale Anschwellung an der linken nicht bemerken solle. Der Mann sagte auch nichts, ließ ihn in die Vorhalle und schloß dann die eigentliche Haustür auf. Nur erst als er diese öffnete, und ehe Fritz hinaus konnte, fragte er mit einem eigenen trockenen Humor, indem er aber wieder nach einer ganz anderen Richtung hinsah:
»Sie waren wohl noch nicht in Nürnberg?«
»Gehen Sie zum Teufel!« rief aber auch jetzt der junge Maler, ärgerlich gemacht, indem er die Haustür aufriß und auf die Straße hinauseilte. Was kümmerte es ihn, daß der tückische Bursche hinter ihm drein lachte; – sein Taschentuch an die Wange haltend, eilte er die Straße wieder hinab, bis er einer Droschke begegnete und sich hineinwarf. Er fuhr auch direkt in das Hotel zurück, denn mit diesem Gesicht konnte er sich doch jetzt unmöglich bei Doktor Raspe und seinen beiden Töchtern sehen lassen – er durfte sich unter keiner Bedingung lächerlich machen.
»O mon Dieu!« sagte der deutsche Kellner, als er dort abstieg, – »Sie haben wohl Zahnweh?«
»Schändliches,« erwiderte Fritz. »Ich war beim Zahnarzt. Apropos, wann geht der nächste Zug zu Tal?«
»Der nächste Zug? – Um halb zwei Uhr.«
»Ich werde mit dem fahren; bitte um meine Rechnung.«
»Wollen Sie nicht erst table d'hôte speisen!«
»Danke Ihnen; mit dem Gesicht? – Bitte machen Sie nur rasch!«
»Wie Sie befehlen.«
»Und daß der Hausknecht meine Sachen herunter bringt.«
»Ich werde ihn gleich rufen.«
Eine halbe Stunde später saß Fritz Wessel wieder in eben nicht besonderer Laune drüben in der geräumigen Restauration des Bahnhofs und wartete auf die Abfahrt des Zugs, der ihn – gleichviel wohin – nur fort von Mainz bringen sollte, um jetzt nicht etwa zufällig jenem verführerischen Wesen, der Polin Olga, oder dem wirklichen Doktor Raspe und seinen Töchtern zu begegnen. Er wäre allerdings am liebsten mit einem Dampfboot gefahren; aber auf einem solchen war er mit seiner dicken Wange den Blicken sämtlicher Passagiere ausgesetzt, während er sich in einem Eisenbahncoupé doch eher in eine Ecke drücken und versteckt halten konnte – er wollte nicht einmal das Mitleid seiner Reisegefährten rege machen.
Wohin er jetzt eigentlich fuhr, wußte er selber nicht; das beste war, erst einmal bis Koblenz Billett zu nehmen; von dort konnte er nicht allein jeden Augenblick weiter, sondern behielt auch für unterwegs Zeit, sich einen künftigen Reiseplan zu entwerfen. Jedenfalls war er entschlossen, späterhin in einer fremden Stadt nie wieder ein verschlossenes Haus zu betreten, ehe er nicht vorher genaue Erkundigungen darüber eingezogen. Das wenigstens sollte ihm nicht wieder passieren.
Der Zug rasselte bald darauf an dem schönen Rhein dahin und erreichte Koblenz noch am hellen Tag; aber Fritz ließ sich, an Ort und Stelle endlich angekommen, in einem Hotel zweiten Ranges ein Zimmer geben, trug einen fremden Namen in das Fremdenbuch ein und war fest entschlossen, hier so lange inkognito zu bleiben, bis er seine linke Wange wieder zu ihrer Normalstärke zurück hätte. Er dachte gar nicht daran, sich lästigen Fragen auszusetzen, denen er nur mit einer Notlüge ausweichen durfte, denn die Wahrheit konnte er doch sicherlich keinem Menschen sagen, er wäre sonst gewiß überall ausgelacht worden. Unter seinen Empfehlungsbriefen fand er allerdings auch einen nach Koblenz an den Major Buttenholt, einen alten Freund seines Vaters; aber der hatte Zeit. Jetzt konnte er ihn doch nicht abgeben, denn aller Wahrscheinlichkeit nach fand er dort ebenfalls junge Damen im Haus – er wußte ja doch, weshalb ihn sein Vater auf Reisen geschickt, und solchen durfte er in seinem jetzigen Zustand am wenigsten begegnen. Ist doch der erste Eindruck, den ein Fremder auf uns macht, fast immer der allein maßgebende, und er durfte jetzt mit seiner schiefen Seite auf keinen günstigen rechnen.
Am nächsten Morgen hatte er allerdings die Genugtuung, zu sehen, daß sich die am letzten Abend nicht unerhebliche Geschwulst bedeutend gelegt habe, aber er mochte sich noch immer nicht auf der Straße oder selbst im Speisesaal blicken lassen, schützte deshalb Unwohlsein vor und blieb auf seinem Zimmer, ja ließ sich selbst das Essen dort hinaufbringen. Erst am dritten Tage schien auch die Wange wieder so weit gefallen, daß er selber vor dem Spiegel keine merkliche Erhöhung mehr entdecken konnte; die Stelle war nur noch ein wenig empfindlich; aber das gab sich ja jetzt auch mit jeder Stunde mehr und Fritz beschloß deshalb, Koblenz wieder zu verlassen, ohne irgend jemand zu besuchen, ja ohne sich nur die Stadt selbst anzusehen, und lieber einmal nach einem der Badeorte hinüberzufahren und dort so recht in das wildgesellige Leben einzutauchen, das diese Plätze füllte.
Seiner Karte nach war Ems das nächste Bad, und da er ohnehin schon so viel von der Schönheit des Lahntales gehört, so brachte er diesen Entschluß auch rasch zur Ausführung. – Mainz! Daß ihn auch der Böse geplagt, gerade diese Stadt aufzusuchen – aber eben »der Böse« hatte auch wieder gar so lieb und hold ausgesehen, daß er damals nicht widerstehen konnte; und dann war auch alles so rasch und plötzlich gekommen – eben das Unangenehme auf Reisen, wo man nur fortwährend, oft selbst ohne eigenen Willen, in allerlei Überraschungen und Unbequemlichkeiten förmlich hineingeworfen wird und sich nur in Ausnahmefällen dagegen stemmen kann.
Übrigens nahm er sich fest vor, sich nicht wieder überrumpeln zu lassen und von nun an mit nüchternem Auge die Welt zu betrachten; er reiste ja eben nur zu seinem Vergnügen und konnte weit eher als jeder andere einer möglichen Unbequemlichkeit ausweichen.
Die Fahrt ging rasch von statten und Fritz erstaunte wirklich, als er Ems endlich erreichte und sich plötzlich von solchen Schwärmen geputzter Menschen umgeben sah, daß er eigentlich gar nicht begriff, wie sie alle in dem verhältnismäßig kleinen Ort ein Unterkommen gefunden hätten. Er mußte es übrigens auch an sich erfahren, daß es gar nicht so leicht mehr sei, ein Logis zu bekommen; denn er fuhr in einer Droschke wohl über eine Stunde von einem Hotel zum andern und erhielt überall die Antwort: Es sei jetzt mitten in der Saison, und wenn er ein Zimmer hinten hinaus, vier Treppen hoch haben wolle, so könne man ihm vielleicht willfahren – sonst bedauere man sehr. Die Kellner hielten sich dabei nicht einmal besonders lange mit ihm auf, gaben ihm nur Antwort und schlenderten dann jedesmal mit ihrer Serviette unter dem Arm in das Hotel zurück, es dem Fremden überlassend, ob er noch bei ihnen einkehren wolle oder nicht.
Fritz fand endlich noch in Balzers Hotel ein zufällig gerade frei gewordenes, sehr freundliches Zimmer in der zweiten Etage, kleidete sich dort um und schlenderte dann langsam und jetzt mit einbrechender Nacht über die Brücke hinüber dem Kurhaus zu, um sich dort das eigentliche Leben und Treiben des Ortes ganz in der Nähe in aller Ruhe zu betrachten.
Natürlich war die Spielhölle der Ort, um welchen sich, wie in der Walpurgisnacht um den Blocksberg, das ganze Leben drehte, und in der Tat gab es auch in Ems keinen andern Platz, weder am rechten noch linken Ufer der Lahn, wo man hätte gemütlich seinen Abend verbringen können. Nun wurde allerdings kein Mensch zum Spiel gezwungen; der Eintritt in die Säle und Lesezimmer war vollkommen frei, Musik gab es ebenfalls und man konnte dort tanzen, plaudern, spazieren gehen oder sich sonst amüsieren, wie man wollte. Die Entrepreneurs rechneten aber auf eine andere Musik, die ihnen ihre Opfer zuführte – den Klang des Goldes, der aus den Spielsälen heraustönte und die Besucher erst in Neu-, dann in Habgier heranzog, und sie verrechneten sich wahrlich nicht dabei. Der Zudrang zu den besonderen Spielsälen war ein ganz enormer, und nicht allein Herren beteiligten sich an dem Spiel, sondern auch eine Menge von Damen, die ebensowohl an dem Tische selber Posto fassten, als auch schüchtern daran hingingen, um nur dann und wann einmal einen »Satz« zu wagen.
Fritz, der ebenfalls gleich das Rouge et Noir aufsuchte, amüsierte sich – da er selber grundsätzlich nicht spielte – ganz besonders damit, diese verschiedenen Nuancen der Damenwelt zu studieren und beschloß sogar, an einem der nächsten Abende sein kleines Skizzenbuch mit herüber zu bringen, um ein paar Studien zu machen, so weit das nämlich, ohne aufzufallen, geschehen konnte – und wahrlich, Stoff dazu gab es hier, besonders unter der »schönen Welt«, im Überfluß.
Am Tisch selber saßen vier »Damen«, wenn man solche Frauenzimmer eben mit einem solchen Namen belegen kann. Es waren aufgeputzte, verlebte und von Leidenschaft durchwühlte Gesichter – eine junge, üppig gebaute Person ausgenommen, die sehr dekolletiert und auffallend mit Schmuck behangen, nachlässig mit Napoleond'ors spielte und jedenfalls von der Bank selber engagiert war, um als Lockvogel zu dienen, denn um sie her drängten eine Anzahl von jungen Herren und – wie Fritz zu seiner Genugtuung bemerkte, lauter Franzosen, mit einem oder zwei Russen dazwischen.
Wahrhaft empörend war es dabei, die scheinbare Gleichgültigkeit zu beobachten, mit welcher die geputzten und wahrscheinlich auch bemalten Megären das Spiel betrieben und mit welcher heimlichen Gier sie doch auch wieder gewonnenes Gold einstrichen und dann die gefallenen Chancen auf kleinen, neben ihnen liegenden Tafeln notierten. Ob sie vornehmen Familien angehörten? – es ließ sich nicht gut bestimmen, denn die Leidenschaft des Spiels hatte jeden Adel aus ihren Zügen gewischt und nur dafür den Stempel der Frechheit und Habgier darauf zurückgelassen.
An der andern Seite standen zwei Damen und pointierten, aber sie schienen sich selber nicht wohl in der Gesellschaft zu fühlen; sie hatten noch nicht alle Scham verloren und ihre Züge verrieten – was bei einer echten Spielerin nie der Fall sein darf – wenn sie gewannen, Freude, wenn sie verloren, Enttäuschung.
Um den Tisch bewegte sich die haute volée, und da geschah es denn nicht selten, daß irgend ein reizendes junges Frauchen, am Arm eines sehr vornehm aussehenden Herrn diesem ein paar Worte errötend zuflüsterte, die er dann mit lächelndem Kopfnicken bejahte, worauf er auch direkt mit ihr zum Tisch trat. Die junge Frau legte dann schüchtern, nachdem sie unschlüssig den Tisch überschaut, einen Doppeltaler oder Louisd'or auf irgend eine Marke, und wenn sie verlor, sah sie erst gar so lieb erschreckt aus und lachte dann selber herzlich über ihr Unglück, und wenn sie gewann, wollte sie das Geld erst gar nicht nehmen, das ihr der Gatte ordentlich aufdrängen mußte, der dann lachend und plaudernd weiter mit ihr durch die Säle schritt.
Fritz hatte sich diesen verschiedenen, ihn umschwärmenden Charakteren so mit ganzer Aufmerksamkeit hingegeben, daß er gar nicht bemerkte, wie er selber von verschiedenen Personen beobachtet wurde, und daß sich dann mehrere etwas leise zuflüsterten und ihn immer wieder ansahen. Erst als auch die am Tisch Befindlichen davon angesteckt wurden und selbst vom Spiel weg ihn mit Lorgnetten und Opernguckern betrachteten, fing er an Notiz davon zu nehmen und sah sich jetzt in seiner Nachbarschaft um, ob sich dort vielleicht irgend eine auffallende Persönlichkeit befände, die man so allgemein ins Auge gefaßt habe. Er konnte aber nichts Derartiges entdecken, ja er stand an der Stelle, wo er sich gerade befand, fast ganz allein und nur ein alter, sehr ehrwürdig aussehender Herr war noch in seiner Nähe, der aber, wie er jetzt erst entdeckte, eine Art von Livree trug und also jedenfalls mit in den Spielsalon gehörte.
Was zum Henker war das nun wieder? Trug er, ohne es zu wissen, etwas Auffallendes oder Unordentliches an seiner Kleidung? Er betrachtete sich, soweit das ohne sich lächerlich zu machen geschehen konnte, von oben bis unten, konnte aber nicht das geringste entdecken, und dabei wurde das Zischeln immer stärker; ja der alte Herr, der die obere Leitung der Bank zu haben schien, unterhielt sich sogar, den Blick fest auf ihn geheftet, mit einem der Croupiers und dieser winkte dann einen Diener heran, mit dem er etwas flüsterte und dem er jedenfalls einen Auftrag gab. Der Diener nickte wenigstens zustimmend, zum Zeichen, daß er es verstanden, und zog sich dann nach der Tür zurück, durch welche er verschwand. Es dauerte aber keine zehn Minuten, als er mit ein paar anderen dienstbaren Geistern wieder zurückkehrte und diesen – Fritz behielt ihn scharf im Auge – ganz unverkennbar seine Person bezeichnete. Die beiden Leute kamen auch langsam heran; aber als unser junger Freund schon hoffte, daß er nun irgend eine Aufklärung erhalten würde, blieben sie nur, scheinbar dem Spiel zusehend, in seiner Nähe stehen, und fast aller Augen beobachteten ihn jetzt, wahrscheinlich um zu sehen, wie er sich dabei benehmen würde. Ja aus den nächsten Sälen drängten verschiedene Gruppen Neugieriger herzu, die sich unverkennbar seine Person bezeichnen ließen und ihn dann auf die unverschämteste Art anstarrten.
Das war ihm denn doch zuletzt außer dem Spaß, und während ihm das Blut voll in die Schläfe stieg und er ordentlich fühlte, wie er über und über rot wurde, fixierte er einige der ihn anstarrenden Personen fest und entschlossen, um nur erst einmal an irgend jemand einen bestimmten Halt zu bekommen – aber das gelang ihm nicht. Die er selber fest anschaute, sahen jedesmal zur Seite; und doch wußte er, daß aller anderen Blicke an ihm hingen, und endlich müde, das Ziel einer solchen unerträglichen Aufmerksamkeit zu sein, wandte er sich ab und schritt in den nächsten Saal hinein. Man machte ihm dabei auch höflich, sogar bereitwilliger als jemand anderem, Platz und da der Menschenschwarm im Spielsaal blieb, glaubte er sich schon jeder lästigen Aufmerksamkeit entzogen zu haben. Ein Blick zurück genügte aber, ihn zu überzeugen, daß ihm die beiden Diener folgten; und wenn sie auch gar nicht so taten, als ob sie von ihm die geringste Notiz nähmen, ließen sie ihn doch keinenfalls aus den Augen.
Er ging in den großen Saal, in welchem überall Gruppen geputzter Herren und Damen saßen und standen oder plaudernd auf und ab gingen; die Diener hielten sich, wenn auch in einiger Entfernung, neben ihm. Er betrat das Lesezimmer und warf sich, irgend ein Journal aufgreifend, in einen der Fauteuils. Einer der Diener kam ebenfalls herein, fing an, den Tisch abzuwischen, und machte sich so lange eine Beschäftigung darin, bis er wieder aufstand und den Platz verließ. Er betrat jetzt die Restauration, aber nicht mit besserem Erfolg; ja, es war augenscheinlich, daß die ihn Verfolgenden dem Restaurateur etwas über ihn zuflüsterten, wonach sich die Kellner einander in die Ohren zischelten und dann ebenfalls jede seiner Bewegungen aus das schärfste beobachteten.
Er ließ sich ein Glas Grog geben, zahlte einen unverschämten Preis dafür und hatte nachher noch die Genugtuung, daß sie den Taler, den er ihnen hinwarf, auf das mißtrauischste untersuchten, klingen und aufspringen ließen und ihn einander zeigten.
»Glauben Sie, daß ich Ihnen falsches Geld geben werde?« rief er endlich ärgerlich.
»Lieber Gott,« sagte achselzuckend der Oberkellner, »es kursiert so viel falsches.«
»Wollen Sie mir darauf herausgeben oder nicht?«
»Mit dem größten Vergnügen,« erwiderte der Bursche, der einen Scheitel wie eine Chaussee mitten über den Kopf weg hatte.
Fritz verspürte jetzt aber nicht die geringste Lust mehr, sich auch nur einen Moment länger in dem Gebäude aufzuhalten; er schob das zurückerhaltene Geld, ohne es zu zählen, in die Tasche und verließ gleich darauf den Kursaal, um nach Hause zurückzukehren. Er war auch fest entschlossen, morgen mit dem ersten Frühzug Ems wieder zu verlassen. Zu Hause aber stand ihm noch eine Überraschung bevor.
Wie er oben an sein Zimmer kam, fand er dort, mit der größten Geduld seiner harrend, zwei Polizeidiener, die ihn, wie er nur den Schlüssel in die Tür steckte, nach seinem Namen fragten und ihn dann baten, seinen Koffer zu öffnen.
»Was, zum Teufel, ist das nun wieder!« rief Fritz, jetzt wirklich ärgerlich gemacht, aus, – »für wen halten Sie mich?«
»Ist noch schwer zu beurteilen,« sagte der eine mit einem eigentümlichen Humor, – »bis wir erst einmal Ihren Koffer gesehen haben.«
»Aber wer gibt Ihnen das Recht?«
»Bitte, wir sind von der Polizei,« sagte der Mann wieder, »und die Polizei hat immer recht.«
»Nun denn, in des Bösen Namen, meinetwegen,« sagte Fritz in einer wahrhaft verzweifelten Laune, – »vorher aber sagen Sie mir, in wessen Auftrag Sie handeln.«
»Mit dem größten Vergnügen,« erwiderte der Beamte; »im Auftrag des Herrn Polizeidirektors. Machen Sie nur weiter keine Schwierigkeiten, denn es hilft Ihnen nichts und kann Ihre Sache bloß verschlimmern.«
Fritz fühlte, daß der Mann recht hatte, und ohne sich also weiter zu sträuben, öffnete er, sich seiner Unschuld irgend welchem Verdacht gegenüber vollständig bewußt, seinen Koffer, setzte die beiden angezündeten Lichter daneben auf einen Tisch und warf sich dann selber in den nächsten Lehnstuhl, um der Prozedur in aller Ruhe zuzusehen. Er fing an, die Sache von der humoristischen Seite zu betrachten, und nur als er merkte, daß die Hausleute draußen aufmerksam geworden waren und heraufdrängten, stand er noch einmal auf, schloß die Tür und riegelte sie von innen zu. Die neugierige Bande brauchte wenigstens nicht zu wissen, was hier innen vorging, oder gar Zeuge zu sein.
Die Polizeibeamten hielten sich nicht lange bei der Vorrede auf; sie wußten genau, was sie und wie sie es zu tun hatten, und sobald der Koffer geöffnet war, begannen sie ihre genaue Durchforschung desselben, aber allerdings ohne den geringsten Erfolg. Denn es fand sich, außer den Zeichen- und Malergerätschaften, nicht das geringste, was nicht in dem Koffer eines jeden anderen Reisenden ebenfalls gefunden werden konnte. Sie waren augenscheinlich in Verlegenheit, denn es gibt für Polizeidiener nichts Fataleres, als jemanden für einen ehrlichen Mann halten zu müssen, den der Polizeidirektor im Verdacht hat, gerade das Gegenteil zu sein.
Es blieb ihnen aber endlich nichts anderes übrig und nur nach der Legitimation des Reisenden fragten sie zuletzt noch, die Fritz in vollgültigster Weise nicht allein in seiner Paßkarte, sondern auch in einem Kreditbrief bei sich hatte.
»Und sonst führen Sie kein Gepäck bei sich?«
»Ja – meine Zeichenmappe dort! Wünschen Sie die vielleicht auch zu untersuchen, ob Sie silberne Löffel oder vielleicht einen aus einer Kirche gestohlenen Kelch darin entdecken?«
Der Polizeidiener warf einen verzweifelten Blick nach der dünnen Mappe hinüber.
»Dort liegt auch mein Stock und Regenschirm.«
»Bitte, ist nicht nötig,« sagte der Mann, »wünsche Ihnen einen recht vergnügten Abend.«
»Danke Ihnen, gleichfalls!« erwiderte Fritz, indem er die Tür wieder aufriegelte, was den beiden Beamten auch als ein Zeichen gelten konnte, daß sie jetzt machen sollten, fortzukommen.
Draußen auf der Treppe wurden Stimmen laut – es waren jedenfalls Inwohner des Hotels, die nach Hause kamen und von den Dienstboten erfragt hatten, was hier oben vorgehe, denn Fritz unterschied deutlich die Worte: »Spitzbuben in Verdacht – Koffer durchsuchen.« – Das hatte noch gefehlt; aber, zum Henker auch, was kümmerte ihn das fremde Volk! was hatte er mit ihnen zu tun! und noch heute abend um zehn Uhr – denn jetzt blieb er keine Viertelstunde mehr in Ems – konnte er nach Koblenz zurückfahren.
Der eine Polizeidiener hatte sein Brillenfutteral in der Stube liegen lassen – er hielt ihm die Türe offen, um gleich einen der Dienstboten herbeizurufen und seine Rechnung zu verlangen. Es kam jemand die Treppe herauf. Gerade als der Polizeidiener sein Zimmer verließ, betrat, von dem Licht der Lampe hell erleuchtet, eine Dame den oberen Teil der Treppe und Fritz sah sie, wirklich starr vor Schrecken, an – es war Olga. In aller Verlegenheit grüßte er sie auch noch; sie dankte ihm aber gar nicht, ließ nur ihren Blick halb verächtlich, halb stolz von ihm nach den Polizeidienern gleiten, wandte sich dann ab und schritt über den Gang hinüber, ihrem eigenen Zimmer zu.
Fritz bemerkte wohl, daß ihr die alte Dame wahrscheinlich mit ihrem Gemahl noch folgte, aber er hatte wahrlich keine Lust, auch diese abzuwarten; und die Türe zuwerfend, riß er nur hastig an der Klingel, erklärte dem blitzschnell herbeieilenden Dienstmädchen, daß sie ihm die Rechnung und eine Droschke besorgen solle, da er mit dem nächsten Zug nach Koblenz fahre, und packte dann, fast sprachlos vor innerem Grimm, seinen durcheinander gewühlten Koffer wieder zurecht.