Friedrich Gerstäcker
Irrfahrten
Friedrich Gerstäcker

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6. Im Hotel.

Fritz war nun allerdings noch einen Moment unschlüssig, ob er nicht doch am Ende lieber, ehe er Ems verließ, einmal auf die Polizei gehen und eine Erklärung dieses unwürdigen Verdachts – wenigstens eine Ursache erfragen solle; aber er überlegte es sich anders. Es war ja doch weiter nichts als sein altes Elend: eine Verwechselung mit irgend einem unglückseligen Menschenkind, das ihm oder dem er ähnlich sah; und es blieb nur eine verzweifelte Tatsache, daß alle derartigen Individuen nicht etwa ausgezeichnete Persönlichkeiten, sondern gerade im Gegenteil nichtsnutziges Gesindel zu sein und nur dazu bestimmt schienen, ihn gerade in Verlegenheit zu bringen. Was half es ihm also, sich deshalb hier noch aufzuhalten? er würde nur erfahren haben, daß ein gewisser Schultze oder Schmidt in dem Verdacht stehe, gewisse Gegenstände gestohlen zu haben, und daß man ihn – einer auffallenden Ähnlichkeit wegen – dafür gehalten habe. Den Verdruß wollte er sich doch wenigstens ersparen; und kaum eine halbe Stunde später saß er schon wieder in einem Coupé der Eisenbahn, das ihn den kaum erst gemachten Weg nach Koblenz zurückführte.

Dort hielt er sich, und zwar in einem andern Hotel, aber nur die Nacht auf, denn Passagiere zwischen dieser Stadt und Ems wechselten fortwährend hinüber und herüber, und er wollte sich nicht der Unannehmlichkeit aussetzen, wieder mit einem von denen zusammenzutreffen, die ihn dort gesehen und – nach allem Vorhergegangenen – natürlich für ein schlechtes Subjekt halten mußten. Und Olga? – Bah, sie war doch nichts weiter als eine Kokette, und noch dazu von der schlimmsten Art; was kümmerte sie ihn! und doch gab es ihm einen Stich durchs Herz, wenn er an den einen Blick dachte, den sie ihm zugeworfen, als sie in dem Hotel da drüben an ihm vorüberging und die Polizeidiener sah, die aus seiner Stube kamen. Was mußte sie von ihm denken? Und glich seine plötzliche Abreise nicht weit eher einer Flucht als einem guten Gewissen?

Aber das alles ließ sich jetzt nicht mehr ändern; es war eben geschehen und ihm blieb die einzige Hoffnung, dem schönen, verführerischen Wesen im Leben nicht mehr zu begegnen. Was konnte sie ihm auch fortan nur anders sein als eine fatale Erinnerung unangenehmer Reisebegebnisse! je eher man die aus dem Gedächtnis los wurde, desto besser.

In Koblenz übernachtete er nur, und zwar diesmal unter seinem richtigen Namen, denn durch das letzte Abenteuer war er doch etwas mißtrauisch geworden; die Polizei sollte wenigstens keinen Haken an ihm bekommen. Mit dem ersten Morgenzug fuhr er dann nach Köln weiter und gedachte dort etwa vierzehn Tage zu verbringen. Köln war auch der Mühe wert und für ihn als Künstler eine wahre Fundgrube alles Schönen. Die kurze Zeit verging ihm dort gewiß wie ein Traum und es blieb ihm nachher noch Muße genug, seine weiteren Pläne für die Fortsetzung der Reise festzustellen.

Er stieg dort auch ohne weiteres im N.schen Hofe ab, von wo er den ganzen schönen Rhein vor sich hatte, und beschloß dann, ehe er seinen mitgebrachten Brief an den Kanzleirat Bruno abgab, jedenfalls erst einmal ungestört ein paar Tage lang die Stadt zu durchstreifen und zu sehen, was zu sehen wäre; denn hatte er sich erst einmal an eine Familie gebunden, dann kamen die für beide Teile lästigen Einladungen und neue Bekanntschaften, und mit seinem freien Leben hatte es ein Ende.

Den Tag schlenderte er auch, eigentlich ziellos, aber mit innigem Behagen in der altertümlich gebauten Stadt umher, besah sich den Dom, die Apostelkirche und noch einige andere jener herrlichen Baudenkmale, von denen das alte Köln erfüllt ist, und kam den Abend, wirklich recht innig vergnügt und zufriedengestellt, in sein Hotel zurück, um dort nun bei einem guten Souper und einer bessern Flasche Wein die Belohnung für seine heutigen Anstrengungen zu suchen.

Während er noch unten im Speisesaal vor einer delikaten Portion frischen Rheinlachses saß, legte ihm der Oberkellner das Fremdenbuch vor, in das er, wie er es sich schon vorgenommen, seinen eigenen Namen schrieb: Friedrich Wessel, Maler aus Haßburg; dann aber überflog er die schon ziemlich gefüllte Seite mit dem Blick, um zu sehen, wer etwa noch mit ihm in den letzten Tagen in dem nämlichen Hotel eingekehrt sei, blieb aber schon bei dem ersten Namen, mit dem Bissen im Mund, vor Verwunderung sitzen, denn dicht über seinem eigenen, eben autographierten »Friedrich Wessel« stand: Friedrich Raspe, Dr. med. aus Mainz, mit Familie; Zimmer Nummer 35.

Das war doch wirklich ein eigentümliches Zusammentreffen, daß er jetzt, noch dazu Tür an Tür, in demselben Hotel mit dem Doktor und wahrscheinlich auch seinen beiden Töchtern zu wohnen kam und eigentlich fast, als ob es so sein sollte. Er hatte das Begegnen nicht gesucht, oder wenn auch, nach dem einen verunglückten Versuch in Mainz augenblicklich wieder aufgegeben; jetzt setzte ihn das wunderliche Schicksal nebenan in die Stube hinein, und diesen Wink durfte er natürlich nicht versäumen; er war in der Tat zu deutlich.

Unwillkürlich griff er sich aber auch mit der Hand an das Kinn, denn er hatte die Absicht gehabt, sich einen Bart stehen zu lassen, und deshalb seit seinem Abenteuer in Mainz kein Rasiermesser wieder an sein Kinn gebracht; er mußte schauerlich aussehen, und jetzt erst fiel es ihm auf, daß eine Menge von Gästen, Herren und Damen, unten in dem prachtvoll erleuchteten und dekorierten Speisesaal saßen und aller Wahrscheinlichkeit nach Dr. Raspe mit seinen beiden liebenswürdigen Töchtern sich mitten unter ihnen, ja vielleicht ganz in seiner Nähe befand. Er ließ jetzt auch vorsichtig forschend den Blick umherschweifen, ob er vielleicht irgendwo ähnliche Persönlichkeiten entdecken könne; aber das war schwer, denn die meisten saßen an einer langen Tafel, so daß man die einzelnen Parten nicht gut voneinander kennen konnte. Aber eine Menge von jungen Damen und alten Herren waren dazwischen und Fritz zerbrach sich bei verschiedenen so lange den Kopf, um herauszubekommen, ob es Mann und Frau oder Vater und Tochter sein könne, bis sein noch nicht halb verzehrter Lachs vollkommen kalt und sein Wein warm geworden war, und doch kam er zu keinem Resultat.

Dicht hinter sich hörte er da plötzlich Stimmen.

»Wohin wollen wir uns denn setzen, Papa?« sagte eine junge Dame, eine reizende Blondine, wie er bemerkte, als er rasch den Kopf dahin drehte.

»Ja, mein liebes Kind,« erwiderte ein ältlicher Herr, der sie begleitete; – »hier ist überall noch Platz – am liebsten an einen Ort, wo man nicht dem ewigen Zug der auf- und zugehenden Türe ausgesetzt ist; – wo steckt denn Rosa?«

»Sie kommt gleich nach, Papa« antwortete die jugendliche Stimme wieder, und Fritz gab es einen ordentlichen Stich durchs Herz, denn das mußte also Viola sein.

Sonderbar! er hatte sie sich ganz anders gedacht: mit dunkelbraunen Haaren und Augen und einer griechischen Nase, und diese Viola trug eigentlich ein zwar sehr niedliches, aber auch keckes Stumpfnäschen in die Welt hinein, was eine keineswegs passende Illustration zu dem schmachtenden, schwärmerischen Namen lieferte.

»Junge Mädchen sollten eigentlich erst nach dem sechzehnten Jahre getauft werden,« dachte er leise vor sich hin, »es wäre viel zweckmäßiger und würde später eine Menge von Mißverständnissen verhindern. Diese junge Dame da würde ich zum Beispiel nicht Viola, sondern Klärchen genannt haben, oder Blandine oder am Ende noch besser Eva – wahrhaftig, Eva wäre der richtige Name – macht sich gar nichts aus der verbotenen Frucht und bringt den armen Adam mit ihrem kecken Stumpfnäschen noch ebenfalls in die Patsche. Jetzt bin ich nur neugierig auf die Rosa, die doch jedenfalls auch gleich erscheinen muß.«

Doktor Raspe (denn Fritz zweifelte keinen Augenblick, daß es der alte Freund seines Vaters sei), hatte indessen einen ihm passend erscheinenden Platz gefunden und sich daran mit seiner Tochter niedergelassen; sie saßen aber zu weit von ihm ab, als daß Fritz hätte etwas von ihrer, überdies nicht laut geführten Unterhaltung verstehen können. Außerdem richtete er auch jetzt seine ganze Aufmerksamkeit der Tür zu, durch welche die erwartete Rosa eintreten sollte. Jetzt kam sie; aber Fritz erschrak ordentlich, denn einen so schlechten Geschmack hätte er seinem Freund Claus doch nicht zugetraut – das war doch keine Schönheit? Vollkommen rote Haare hatte sie, wenn auch von seltener Üppigkeit, dabei allerdings einen blütenweißen Teint, aber auch eine etwas hohe Schulter und eine noch viel entschiedener ausgeprägte Stulpnase als ihre Schwester. Man konnte trotzdem nicht sagen, daß sie häßlich sei, es lag etwas Gutes und Freundliches in ihrem Gesicht; aber auf Schönheit durfte sie wahrhaftig keinen Anspruch machen, und er beneidete Claus nicht im geringsten um seine Wahl. Viola dagegen war ein reizendes Wesen und er beschloß, unter jeder Bedingung ihre Bekanntschaft zu machen.

Aber mit dem Bart ging das unmöglich an – vorher mußte er sich jedenfalls rasieren; und dann morgen früh erst? – wenn er nun gleich hinauf auf seine Stube ginge? – es war höchstens 8 Uhr und in einer Viertelstunde konnte er wieder unten sein. »Frisch gewagt ist halb gewonnen!« und ohne sich einen Moment länger zu besinnen, stand er auf und ging in sein Zimmer hinauf, um die notwendige Operation vorzunehmen. Wenn er sich wollte einen Bart stehen lassen, konnte er ja immerhin noch ein paar Tage damit warten.

Das war rasch geschehen – heißes Wasser brachte ihm der Kellner – und in unglaublich kurzer Zeit, wenn man nämlich bedenkt, wie lange er unter gewöhnlichen Umständen brauchte, um seine Toilette zu machen, war er wieder so weit, um sich tadellos vor den Damen sehen lassen zu können.

Die Familie befand sich noch unten bei Tisch. Der alte Herr bearbeitete eine Kalbskotelette und die beiden Damen hatten sich jede ein halbes Huhn geben lassen, wozu der Doktor eine Flasche Wein trank. Fritz nahm zuerst seinen vorigen Platz wieder ein und ärgerte sich eigentlich, daß die »kleine Familie« auch nicht einen Blick zu ihm herüberwarf; sie tat gar nicht, als ob er überhaupt auf der Welt wäre, und die beiden Mädchen besonders kicherten und plauderten fortwährend miteinander, ohne die mindeste Notiz von ihrem Nachbar zu nehmen.

Hm, dachte Fritz da endlich und lächelte dabei still vor sich hin; dann werde ich die Herrschaften einmal überraschen und mich ruhig an ihren Tisch setzen, als ob ich zu ihnen gehörte. Wenn mir der alte Herr nachher nicht glaubt, wer ich bin, gebe ich meinen Brief ab und das wird ihn schon herumbringen! – Er fühlte in die Seitentasche, der Brief stak dort, und ohne sich länger zu besinnen, stand er von seinem Stuhl auf, brachte seine Locken noch ein wenig in Ordnung, trat dann hinüber, zog sich einen dort stehenden Stuhl heran, sagte mit seiner freundlichsten Miene: »Guten Abend, meine Herrschaften!« – und nahm dicht neben Viola, die schnell und fast wie erschreckt zu ihm aufsah, seinen Platz ein.

Der Vater der beiden jungen Damen ließ erstaunt den Kotelettenknochen sinken, an dem er gerade in aller Behaglichkeit kaute; Rosa sah ihn ebenfalls überrascht und wie fragend an, denn es war allerdings etwas Ungewöhnliches, daß sich ein Fremder – wo es sonst nicht an Platz fehlte, da noch mehrere kleine Tische ganz unbesetzt standen – bei völlig unbekannten Damen auf diese Weise einbürgern wollte. Fritz wußte auch genau, was sie jetzt über ihn dachten: daß diese Unverschämtheit doch ein wenig weit ging, und ergötzte sich einen Moment in dem Gefühl; er durfte es aber nicht zu weit treiben, und als er etwa glauben mochte, genügenden Effekt hervorgebracht zu haben, sagte er freundlich:

»Sie kennen mich wohl alle nicht mehr?«

»Habe in der Tat nicht die Ehre,« sagte der alte Herr, ihn aber doch genauer betrachtend.

»Die jungen Damen auch nicht?«

»Ich muß bedauern,« flüsterte Rosa, während Viola nur mit Mühe ein Lächeln bezwang, das schon in ein paar ganz allerliebsten Grübchen auszubrechen drohte.

»So?« nickte Fritz stillvergnügt vor sich hin, daß ihm die Überraschung so vollständig gelungen war. »Sie erinnern sich also auch wohl nicht mehr auf einen jungen wilden Burschen in den Flegeljahren, der sich bei Ihrem letzten Besuch in Haßburg vielleicht eben nicht vorteilhaft ausgezeichnet hat?«

»Ich weiß nicht, mein verehrter Herr« – sagte der Alte mit einem trockenen Humor – »inwieweit Sie die letzte Andeutung auf sich selber beziehen, kann Ihnen aber die Versicherung geben, daß Sie, als ich zum letztenmal in Haßburg war – wenn Sie sich überhaupt schon auf der Welt befanden – wohl kaum noch in diese Blüte der Mannbarkeit eingetreten waren, denn das sind jetzt dreißig Jahre her; meine Töchter aber haben Haßburg noch nie besucht.«

»Nie besucht?« rief Fritz jetzt wirklich verdutzt. – »Habe ich denn nicht das Vergnügen, Herrn Doktor Raspe nebst Familie vor mir zu sehen?«

»Das haben Sie allerdings nicht,« erwiderte der alte Herr wieder, während die beiden jungen Damen jetzt zusammen kicherten. – »Ich bin der Archivrat Homberg aus Gießen.«

»Archivrat Homberg?« stammelte Fritz in peinlichster Verlegenheit. »Aber im Fremdenbuch – Sie entschuldigen – ich glaubte so sicher, daß ich das Vergnügen hätte, Herrn Doktor Raspe in Ihnen zu begrüßen, da auch die Namen Ihrer beiden Fräulein Töchter –«

»Meine beiden Töchter?«

»Fräulein Rosa und Viola.«

»Sie scheinen vollkommen konfus geworden zu sein, verehrter Herr,« sagte der Archivrat trocken. – »Rosa ist meine Frau und Henriette dort meine Tochter.«

Henriette konnte sich jetzt nicht länger halten; sie kicherte gerade hinaus, und nur die Frau Archivrätin schien sich in etwas geschmeichelt zu fühlen, daß sie der Fremde noch für eine »Tochter« gehalten hatte.

Fritz aber, sich in aller Verlegenheit von seinem Stuhl erhebend, stammelte:

»Dann muß ich allerdings Ihre Verzeihung nachsuchen, Sie in unverantwortlicher Weise belästigt zu haben.«

»Bitte,« sagte der alte Herr, »ein Mißverständnis ist wohl leicht zu entschuldigen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Friedrich Wessel, Porträtmaler.«

»Sehr angenehm,« erwiderte der Archivrat, merkwürdig kurz, und setzte sich so rasch wieder zu seinen Kotelettes nieder, daß Fritz gar nichts anderes übrig blieb, als sich mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung gegen die Damen in sein Nichts zurückzuziehen. Er verließ aber auch augenblicklich den Saal, denn daß er nach diesem faux pas nicht länger neben der Familie des Archivrats aushalten konnte, verstand sich von selbst. In seinem Zimmer angekommen, beschloß er auch ohne weiteres zu Bett zu gehen; der Tag heute eignete sich nicht zu weiteren Unternehmungen und er hoffte, morgen jedenfalls mehr Glück zu haben.

Schon im Bett überlegte er sich noch einmal die Vorgänge des heutigen Abends und kam dann zu dem Resultat, daß es ihm eigentlich angenehm sei, sich in der Familie geirrt zu haben. Henriette sah ganz anders aus, als er sich Viola gedacht – von Rosa gar nicht zu reden – und der Archivrat – was der Mann für einen maliziösen Zug um den Mund hatte und wie sonderbar er ihn fortwährend angesehen! er gefiel ihm gar nicht. Aber morgen mußte er nun jedenfalls den wirklichen Doktor Raspe aufsuchen, mit dem er ja Stube an Stube wohnen sollte. Hm! – vielleicht hatten die beiden jungen Damen das Zimmer neben ihm inne und er konnte hören, wenn sie nach Hause kamen. Aber es war alles noch so still nebenan; nichts regte sich; möglich, daß sie gerade heute das Theater besucht hatten. Er wollte wach bleiben, bis sie nach Hause kämen, aber es ging nicht; die Augen wurden ihm schwer und ehe er es selber wußte, schlief er sanft und süß, ja am nächsten Morgen schien die Sonne schon in sein Fenster herein, ehe er nur wieder erwachte.

Nun hatte ihn sein Vater allerdings gebeten, von unterwegs fleißig zu schreiben und ihm gewissermaßen ein kleines Tagebuch einzuschicken, damit er immer wisse, wo er sich befinde und wie es ihm gehe. Mit seinen bisherigen Abenteuern konnte Fritz aber keinen besonderen Staat machen und wahrlich nicht damit prahlen; was also sollte er schreiben? Es war besser, er verschob den Brief bis nach der Zeit, wo er einen von seines Vaters Freunden getroffen, also bis Nachmittag, und war dann vielleicht imstande, Erfreulicheres zu melden.

Um übrigens nicht wieder einen Mißgriff zu begehen und ganz sicher zu sein, fragte er den Kellner, der ihm den Kaffee brachte, wer hier neben ihm logiere, und erhielt dann wirklich die Bestätigung seiner gestrigen Entdeckung: Herr Dr. Raspe mit zwei Töchtern auf der einen und ein Weinhändler aus Bingen auf der anderen Seite. So weit war alles in Ordnung und er konnte nur den Damen natürlicherweise seinen Besuch nicht so früh abstatten, sondern mußte doch wenigstens bis elf Uhr warten, ehe er sich anmelden ließ oder sich selber einführte; er war darüber noch nicht mit sich einig. Die Zwischenzeit mochte er indessen benutzen, um noch ein wenig am Rhein auf und ab zu schlendern.

Wie er hinunter in das Hotel kam, hörte er die heftige Stimme eines der Kellner oder des Wirts und eine bittende Frauenstimme dazwischen; und als er, neugierig geworden, hinzutrat, um wenigstens zu sehen, was es dort gebe, bemerkte er eine junge, sehr einfach, aber sauber gekleidete Dame, deren Gesicht ihm merkwürdigerweise bekannt vorkam, die sich schüchtern und mit groben Tränen in den Augen gegen den ihr unverschämt gegenüberstehenden Oberkellner verteidigte.

»Was geht denn hier vor?« fragte Fritz, dem das arme junge Wesen leid tat.

»O, nichts Ungewöhnliches hier am Rhein,« bemerkte die Oberserviette hochmütig, – »hier die Mamsell hat sich im Hotel unter dem Vorgeben, eine Herrschaft zu erwarten, schon ein paar Tage eingeschmuggelt und tut dabei auch noch vornehm und hochnäsig; aber ich bin dahinter gekommen und wenn sie jetzt nicht bezahlen kann, soll uns die Polizei schon zu unserem Geld verhelfen.«

Die junge Dame hatte indessen, ihre Tränen aus den Augen wischend, Fritz aufmerksam und überrascht angesehen; jetzt sagte sie plötzlich:

»Der Herr kennt mich; er kann bezeugen, daß ich die Wahrheit gesprochen.«

Fritz sah sie erstaunt an, und wieder fiel es ihm auf, daß er das liebe Gesicht schon einmal irgendwo gesehen haben mußte, aber er konnte sich nicht besinnen, wo?

»Mein liebes Fräulein,« sagte er betreten, »allerdings kommen Sie mir bekannt vor; aber ich kann mich in dem Augenblick doch wirklich nicht erinnern –«

»Wir sind miteinander nach Mainz gefahren; ich war in Begleitung der Gräfin Rosowska und ihrer Tochter Olga.«

»Alle Wetter, ja, jetzt besinne ich mich,« rief Fritz, der in diesem Augenblick die junge Gesellschafterin wieder erkannte, auf die er allerdings, mit dem verführerischen Wesen neben sich beschäftigt, wenig oder gar nicht geachtet hatte. – »Aber wie kommen Sie allein hierher? Haben Sie Ihre Begleitung verlassen?«

Wieder mußte sich das arme Mädchen Mühe geben, ihre Tränen zurückzuzwingen; endlich sagte sie leise:

»Ich fürchte fast, sie haben mich verlassen und mich auf schmähliche Weise von sich gestoßen.«

»Bah, die alte Geschichte,« sagte der Oberkellner verächtlich, »nichts als Lügen und Flunkereien.«

»Sie unverschämter Mensch,« fuhr aber Fritz jetzt auf, dem nicht entging, daß das arme, unbeschützte Mädchen totenbleich bei der frechen Anschuldigung wurde; – »wie können Sie sich unterstehen, eine Dame so zu beleidigen!«

»Bitte, mein Herr,« sagte die Oberserviette, die nicht den geringsten Respekt vor einem einzelnen Reisenden hatte, der zu Fuß angekommen, jetzt im dritten Stock wohnte und sich mit einem bürgerlichen, noch dazu deutschen Namen als Maler in das Fremdenbuch geschrieben; – »in Geschäften hört die Gemütlichkeit auf, und wenn die Dame bezahlt, was sie schuldig ist, werde ich auch wieder höflich gegen sie werden.«

»Bei Gott!« rief jetzt Fritz, der sonst wohl phlegmatischer Natur war, doch leicht, wie viele solcher Charaktere, vom Jähzorn übermannt wurde; – »ich werde Sie auch vorher höflich machen. Noch ein freches Wort – und verdammt will ich sein, wenn ich Sie nicht bei der Jacke nehme und die Treppe hinabwerfe.«

»Mein Herr!« rief die Oberserviette, aber doch etwas scheu zurücktretend.

»Wieviel ist die Dame schuldig?«

»Hm – und wollen Sie es bezahlen?«

»Ich frage Sie, wieviel die Dame schuldig ist?«

»Nun gut! – Sie hat drei Zimmer in der ersten Etage seit zwei Tagen belegt gehabt, wir wollen das billigst 12 Tlr. rechnen, ferner selbst hier gewohnt, mit Kaffee, Diner und Souper, Bougies und Service zusammen 7 Tlr., macht 19 Tlr.; außerdem Auslage für eine telegraphische Depesche 16 Sgr., also Summa 19 Tlr. 16 Sgr., mit Dienstmann für Hintragen 2½ Groschen; im ganzen 19 Tlr. 18 Sgr. 6 Pf.«

Fritz nahm, ohne ein Wort zu erwidern, sein Taschenbuch heraus, als die junge Fremde aus rief:

»Aber, mein Herr, das kann ich nicht zugeben: wie kommen Sie dazu, für eine vollkommen Fremde –«

»Bitte, mein liebes Fräulein,« sagte Fritz, indem er einen Fünfundzwanzigtalerschein herausnahm und dem Kellner reichte, – »Sie haben mich zum Zeugen aufgerufen und müssen mir nun auch erlauben, Sie auszulösen. Ich habe auch meine ganz besonderen Gründe dabei, die aber natürlich nicht Sie, sondern jene Familie betreffen. Sie ersuche ich denn,« wandte er sich an den plötzlich geschmeidig gewordenen Kellner, »mir eine ordentliche Rechnung für die Gräfin, – wie war der Name, mein Fräulein?«

»Rosowska.«

»Schön; – für die Gräfin Rosowska auszuziehen und zu quittieren und ich bitte Sie nur, mein Fräulein, mir mit kurzen Worten die Umstände, die Sie vorhin erwähnten, etwas genauer anzugeben. Herr Oberkellner, ich habe die quittierte Rechnung gewünscht. Sie sind bei der Unterhaltung nicht weiter notwendig.«

Der Herr im schwarzen Frack zog sich mit einem nichts weniger als freundlichen Gesicht in sein Kontor zurück und die junge Fremde erzählte jetzt mit flüchtigen Worten, wie sie sich als Gesellschafterin bei der Gräfin Rosowska vor etwa zwei Monaten engagiert habe und ungefähr sechs Wochen mit den beiden Damen am Rhein und dessen Umgegend herumgefahren sei. Vor vierzehn Tagen etwa habe die Komtesse den jungen Grafen Wladimir getroffen, und ihn ihr als ihren Gatten vorgestellt. Sie versicherte, sich nicht wohl in der Familie gefühlt und einen Verdacht gefaßt zu haben, daß nicht alles so sei, wie man es darstelle, war aber durch eigene Familienverhältnisse gezwungen, auszuhalten. Ein Gehalt – obgleich die Summe zwischen ihnen festgestellt – hätte sie in der ganzen Zeit nicht bekommen, und auch nicht gewagt, ihn zu fordern; endlich hätte die Gräfin selbst davon angefangen und ihr gesagt, daß sie in Köln einen Wechsel zu erheben hätten; sie wollten alle hierher, aber in Bingen seien sie ausgestiegen, um angeblich eine dort wohnende Freundin zu besuchen und mit dem Abendboot nachzukommen. Sie selber habe den Auftrag bekommen, hier im Hotel indessen Zimmer zu belegen und auf sie zu warten; das sei bis jetzt vergebens geschehen, und sie fürchte nun wohl mit Recht, daß sie von der fremden Herrschaft auf recht abscheuliche und hinterlistige Weise hintergangen sei.

»Und haben Sie keine Ahnung, wo sie sich jetzt befinden?«

»Keine.«

»Dann kann ich Ihnen die genaue Adresse geben,« lachte Fritz. »In Ems, in Balzers Hotel –«

»In Ems?«

»Wo ich die junge Dame noch gestern gesehen habe.«

»Und was sagte sie?«

»Ich hatte nicht die Ehre, mit ihr zu sprechen,« erwiderte Fritz, »denn wir trafen unter eigentümlichen Umständen zusammen. Aber ich glaube fast selber, daß Sie betrogen sind, denn die kleine Familie denkt wahrscheinlich gar nicht daran, nach Köln zu kommen. – Und was wollen Sie jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht – es bleibt mir nichts anderes übrig, als nach Koblenz zurückzukehren.«

»Wohnen Sie dort?«

»Mein Vater lebt dort.«

»Hat er da ein Geschäft?«

»Nein,« sagte das junge Mädchen schüchtern, und Fritz sah es ihr an, daß ihr die Frage peinlich war. Der Kellner kam in diesem Augenblick zurück und brachte die quittierte Rechnung und das übrige Geld.

»Kann ich Ihnen noch mit etwas dienen?« sagte Fritz freundlich. »Wenn es Ihnen an Mitteln fehlen sollte, nach Hause« –

»Nein – ich danke Ihnen aus voller Seele,« sagte das arme Mädchen schüchtern. »Sie haben schon mehr für mich getan, als ich je erwarten und hoffen konnte; nur um eins bitte ich Sie: Ihre Adresse, daß mein Vater, wenn ich nach Hause komme, die Schuld wieder abtragen kann, die ich heute übernommen.«

Der Oberkellner steckte beide Hände in die Taschen, drehte sich ab und stieg pfeifend die Treppe hinunter: Fritz aber achtete gar nicht auf ihn.

»Hier, mein liebes Fräulein,« sagte er, »ist meine Karte! aber sorgen Sie sich um Gottes willen nicht deshalb. Nur noch eins – darf ich Ihren Namen nicht wissen?«

»Ich heiße Margaret,« sagte das junge Mädchen leise.

»Und Ihr Zuname?«

»Margaret,« wiederholte sie, fast noch leiser als vorher.

»Das genügt dann,« lächelte Fritz gutmütig; »ich will nicht weiter in Sie dringen. Und nun, mein liebes Fräulein Margaret,« fuhr er fort, indem er ihr die Hand reichte, – »leben Sie wohl! ich hoffe, man wird Ihnen hier im Hause nichts mehr in den Weg legen.«

Wie sie ihm die Hand gab, kamen ein paar junge Damen, von dem Oberkellner begleitet, die Treppe herauf und lachten miteinander. Sie gingen an Fritz vorüber und sahen ihn an. Er hatte aber jetzt andere Dinge im Kopf, als auf sie zu achten; und die Stufen hinabspringend, eilte er aus dem Hause, um seinen beabsichtigten Spaziergang anzutreten.

 


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