Friedrich Gerstäcker
Das alte Haus
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 2.

Drei Wochen mochten nach den oben beschriebenen Vorfällen verflossen sein, und der Regierungs-Rath Hechner hatte es indessen wirklich durchgesetzt, daß die in das alte Haus führende eiserne Thür im Beisein von zwei Rathsmitgliedern erbrochen, und der innere Raum – ohne weiter zu untersuchen, wohin der Gang führe – mit einer starken Mauer geschlossen werden solle. Damit war denn jede weitere Verbindung abgebrochen, und der Aberglaube der Dienstleute hatte seinen Halt verloren. Die Veränderung selber sollte in den nächsten Tagen vorgenommen werden.

Marie war in dieser Zeit auch wieder vollkommen wohl und gesund geworden. Aber ein anderer Feind hatte sich bei ihr eingestellt: ein heftiger Zahnschmerz, der, allerdings nur von hohlen Zähnen herrührend, die kaum gesammelten Kräfte doch wieder zu erschöpfen, die Nerven zu überreizen drohte. Alle dagegen angewandten Mittel blieben gänzlich erfolglos, und der Arzt bestand endlich darauf, die beiden schmerzhaften Zähne durch Herausnehmen zu entfernen und dadurch dem Körper die ihm so nöthige Ruhe zurück zu geben.

Marie hatte aber eine unsagbare Angst vor der Operation, und so ungern sich der Arzt dazu verstand, gestattete er doch endlich für das schwächliche Kind den Gebrauch des damals gerade eingeführten Chloroforms, weniger nachtheilige Folgen von der Wirkung des Aethers, als von der übergroßen Angst der armen Kleinen fürchtend.

Selbst hiergegen wollte sich freilich Marie noch sträuben; da aber die Schmerzen immer zunahmen und der herbeigerufene Zahnarzt sogar eine Fistel fürchtete, blieb ihr endlich selber keine Wahl mehr, und sie verstand sich dazu, die Operation am Nachmittage vornehmen zu lassen.

Der Nachmittag kam und der Schmerz war eher heftiger geworden. Der Zahnarzt wurde deßhalb, ohne Marien weiter ein Wort davon zu sagen, mit seinem Apparate herüber bestellt. Als er mit dem Kästchen unter dem Arm in die Thür trat, erschrak das arme Kind wohl und fing an zu zittern, wagte aber doch keine Widerrede mehr. Nur um einen kleinen Aufschub bat sie, sich erst zu sammeln, nur um ein kleines Viertelstündchen, und als das verflossen war, um noch, und um noch eines. Die Mutter, die sich fast eben so vor der doch ganz gefahrlosen Operation fürchtete, war zu schwach, ernsthaft auf rascher Beendigung derselben zu bestehen, so daß sich die Zeit mehr und mehr verzögerte und in der That schon langsam die Dämmerung hereinbrach.

Der Zahnarzt hatte sich indessen mit wirklich grenzenloser Geduld der Angst des Kindes gefügt, erklärte aber doch endlich, daß er entweder jetzt die Operation beenden, oder heute ganz davon abstehen müsse. Die Dunkelheit brach mehr und mehr herein, und er wünschte den Vortheil des Lichtes nicht zu verlieren.

Da bezwang sich die Leidende; sie fing an, sich ihrer Schwäche zu schämen, und suchte in diesem Gefühl die Furcht zu überwinden, die sie vor dem bleichen Manne in dem schwarzen Frack und mit dem entsetzlichen blankpolirten Kästchen unter dem Arm erfaßt hatte. Der Mutter Arm nehmend, die rasch aufsprang, sie zu unterstützen, erhob sie sich vom Sopha und ging selber zu dem schon Stunden lang bereit geschobenen Lehnstuhl, setzte sich hinein und lehnte ihr Köpfchen in die eine Ecke. Beide Händchen preßte sie dabei gegen den, jetzt wieder wie rasend beginnenden Zahn, und sah nun mit klopfendem Herzen, wie der entsetzliche Mann mit der eisernen Ruhe und den weißen ringbedeckten Fingern das Kästchen öffnete. Dort klirrte er ein Paar Secunden lang mit seinen Instrumenten, goß dann eine helle Flüssigkeit auf einen Schwamm, und kam auf sie zu.

»Es ist ja nur ein Augenblick, mein liebes, süßes Kind,« bat die Mutter; »halte Dich nur wenige Secunden still, und Alles ist vorüber und überstanden. – Wenn nur der Vater zu Hause geblieben wäre!«

Der bleiche Zahnarzt lächelte, sagte jedoch kein Wort, und Marie schaute fest und entschlossen zu ihm auf. Aber – die rechte Hand hielt er etwas zurück; schon hob er den linken Arm mit dem Schwamm, da fiel ihr Blick auf das blitzende Instrument, das er, halb versteckt, in der zurückgebogenen Rechten zu verdecken suchte. In dem einen Moment kehrte bei ihr die alte Furcht und Angst zurück, und mit einem gellenden Schrei, ehe selbst die Mutter sie daran verhindern konnte, sprang sie wieder vom Stuhle auf und der Thür zu.

»Marie!« rief die Mutter erschreckt und bittend, »Marie, wo um Gottes willen läufst du hin?«

Aber Marie ließ sich durch den Ruf nicht halten, denn zu gleicher Zeit hörte sie auch, wie der entsetzliche Doctor hinter ihr drein sprang, sie einzuholen. In der jetzt nur noch vermehrten Angst, von dem fürchterlichen Manne mit den blitzenden Instrumenten gar mit Gewalt gefaßt und gezwungen zu werden, floh sie die Treppe nieder, Schutz drüben bei der Tante zu suchen, die so gut und freundlich mit ihr war.

Aber die Verfolger waren dicht hinter ihr. Schon konnte sie die Schritte fast neben sich hören, und die weiße Hand des Arztes, an der die funkelnden Ringe staken, streckte sich nach ihr aus, sie zu erfassen. Mit einem wahren Angstschrei floh sie den ersten Treppenabsatz nieder, als sie unten an den Stufen zu ihrem Entsetzen eine eben solche Gestalt, mit eben solchem Kästchen unter dem Arm, wie der Doctor oben, zu erblicken glaubte.

In Todesangst auf der nur von einem sehr kleinen Fenster erhellten und schon fast dunklen Treppe nach Hülfe umherschauend, fiel in diesem entsetzlichen Moment ihr Blick auf die bemalte, geheimnißvolle Thür des alten Hauses, neben der sie sich befand und die – ein eisiger Schauer zog ihr durch Mark und Bein – halb geöffnet stand.

»Pst – pst!« rief dabei eine leise Stimme, und ein bleicher, schlanker Knabe, von zwölf oder dreizehn Jahren vielleicht, stand auf der Schwelle und winkte ihr rasch und ängstlich, zu ihm herein zu flüchten.

»Um Gottes Willen,« stammelte Marie – aber hinter ihr sprang Jemand die Stufen herunter, und als sie den Kopf scheu dorthin wandte, sah sie die gierig nach ihr ausgestreckte Hand des Arztes.

»Marie,« flüsterte dabei das liebe fremde Kind dicht neben ihr, und selber kaum wissend, was sie that, halb besinnungslos in Angst und Aufregung, schlüpfte sie durch die eben weit genug geöffnete Thür, die sich augenblicklich wieder hinter ihr schloß. Noch immer aber sich nicht sicher glaubend, wollte sie weiter den Gang hinunter fliehen, um fort, nur aus der Nähe des mehr als alles Andere gefürchteten Arztes zu kommen, als der Knabe sie am Arm festhielt und lächelnd flüsterte:

»Bleib ruhig stehen, Marie; hier können sie nicht her, wenn wir sie nicht hereinlassen wollen. Horch, wie sie hin- und herlaufen und sich den Kopf zerbrechen, wo Du auf einmal hingekommen bist. Hahahaha – ich kenne sie und habe sie oft und oft behorcht, wenn sie auf der alten, hohlklingenden Treppe auf und nieder liefen. Aber Du hast Schmerzen, armes Kind – warte, davon helf ich Dir gleich.«

Dabei strich er ihr nur ein einziges Mal mit der Hand über das fieberglühende Antlitz, und Marien war es, als ob er mit dem einen eiskalten Finger den Zahn berühre. Im Nu verschwand da der Schmerz, und sie fühlte sich leicht und wohl.

»So, Marie!« sagte da der fremde Knabe freundlich, »jetzt komm mit mir, denn da Du doch nun einmal bei mir bist, so zeige ich Dir auch jetzt die eigene Heimath. Wie lange habe ich mich darauf gefreut!«

»Marie, meine Marie!« rief in diesem Augenblicke der Mutter Stimme in Todesangst draußen auf der Treppe, und Marie zögerte ängstlich. Der Laut klang gar so wehmüthig zu ihr herein.

»Wir bleiben nicht lange,« flüsterte ihr aber der Knabe zu, »nur bis der Doctor fort ist.«

»Der Doctor!« schauderte Marie, und draußen hörten sie sein feines höfliches Lachen, und es kam ihr fast vor, als ob sie das Klirren der Instrumente, wie der Stahl klingend zusammenstieß, unterscheiden konnte.

»Fort, fort!« stöhnte sie und floh so rasch den dunklen, schmalen Gang entlang, daß ihr der fremde Knabe kaum zu folgen vermochte, bis sie eine verschlossene Thür erreichte und dort stehen bleiben mußte.

»Siehst Du,« lachte der Knabe hinter ihr drein, »so ist's, wenn man hinter verschlossenen Thüren sitzen und warten muß und nicht hindurch kann. Aber nur vorsichtig, Marie! hier sind Stufen – tritt leise auf,« setzte er mit unterdrückter Stimme hinzu, »und sprich kein Wort, bis ich selber es Dir sage. Wir dürfen den alten Mann nicht böse machen.«

»Welchen alten Mann?« flüsterte Marie mit kaum hörbarer Stimme furchtsam zurück.

»Nun, den Herrn Quetzlinberger, wen denn sonst? Dem gehört ja das Haus.«

»Ja, dem Herrn Quetzlinberger,« hauchte Marie mehr, als sie sprach. Der Knabe drückte ihr aber wieder leise den Finger auf die Lippen und öffnete auch in demselben Augenblicke eine hohe und, wie sie beim Oeffnen sah, wunderlich geschnitzte Thür. Dann aber wollte ihr das Blut fast in den Adern stocken, denn vor ihr lag – sie deckte die Augen einen Moment mit der Hand, das konnte und mußte ja doch nur ein Traum sein – nein, vor ihr lag in voller unverkennbarer Wirklichkeit das Hauptzimmer des alten Hauses mit seinen gelbseidenen, niedergelassenen Gardinen, mit dem schweren Teppich, den alten, aus dunklem Eichenholze gar sonderbar geschnitzten und vergoldeten, aber auch weich gepolsterten Möbeln, und den polirten und ebenfalls zierlich geschnittenen Nußbaum-Wänden, an denen alte, kaum noch erkennbare, mächtige Bilder hingen.

Eines von diesen fesselte ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen. Es stellte einen jungen Mann in Lebensgröße dar, mit hochgepudertem Haar und reich brodirtem, hellgelbem Seidenrocke; das Gesicht sehr roth und weiß, und die ganze helle Figur aus dem fast schwarz gedunkelten Hintergrunde des Zimmers herausspringend.

»Herr Quetzlinberger,« flüsterte da der Knabe leise, der dem auf das Bild gehefteten Blicke seines jungen Gastes mit den Augen gefolgt war. Er deutete dabei vorsichtig mit der Hand nach dem schon fast düsteren Erker hinüber, wo Marie jetzt zu ihrem Entsetzen die Gestalt des kleinen Mannes erkannte, gerade wie ihn die Großmama in dem gelbseidenen Schlafrocke mit den grellrothen Aufschlägen beschrieben haben sollte, und der jetzt zwischen den fest zusammengezogenen Gardinen vorsichtig nach der Straße hinunter blinzelte.

Wie das aber so eigenthümlich ist, daß wir den eigenen Namen, der in unserem Umkreise, oft selbst außer Gehörweite ausgesprochen wird, fast mehr fühlen als verstehen und uns unwillkürlich, manchmal sogar unbewußt, danach umdrehen, so wandte auch die Gestalt im Erker, die den leisen Ton unmöglich gehört haben konnte, den Kopf halb zur Seite, und ihr Blick fiel in diesem Moment auf das kleine Mädchen, das zitternd in der Mitte der Stube stand.

Herr Quetzlinberger sah sie ein Paar Secunden still und forschend an, hob dann langsam die Hand auf und drohte ein klein wenig mit dem Finger. Aber er sah nicht böse dabei aus, und es war mehr, als ob er Ruhe gebieten wolle.

»Er kommt heute wieder nicht,« sprach er dabei leise vor sich hin und schüttelte traurig mit dem Kopfe; »es ist schon fast dunkel und er läßt sich noch nicht sehen.«

Marie sah fragend zu ihrem Führer auf, der aber legte warnend den Finger auf seine Lippen und zog Marien mit sich auf die gegenüberliegende Seite der Stube, wo, gerade unter dem großen Bilde, ein breitmächtiges, weich gepolstertes und mit schwerem Seidenzeuge überzogenes Canapee stand. In dessen eine Ecke drückte er sich hinein und winkte dem Mädchen, neben ihm Platz zu nehmen.

In dem großen Zimmer war es indessen ganz dunkel geworden – dunkel und still. Von gegenüber aber, und wie es Marien so vorkam, von einer breiten, hochbeinigen Commode nieder, schaute ein anderes, fast weißleuchtendes Gesicht aus dem vollkommen unerkennbaren Hintergrunde heraus. Es war dies das Gesicht eines jungen, bildschönen Mannes, auch natürlich in der Tracht damaliger Zeit, doch mit edlen, offenen Zügen, aus denen nur ein trüber, gar so schwermüthiger Ernst sprach. Marien kam es aber fast vor, als ob das gar kein Bild sein könne und die Gestalt mit den lebhaft klugen Augen und den halbgeöffneten, wie sprechenden Lippen dort oben in Wirklichkeit stehen müsse und jeden Augenblick herunter springen könne.

Links von dem Erker, wo an der schmalen Wand eines starken Vorbaues ein schmaler, hoher Spiegel in goldgeschnitztem Rahmen angebracht war, stand unter diesem ein kleiner Pfeilertisch mit Marmorplatte und eingebogenen vergoldeten Beinen. Auf diesem lag ein großes, aufgeschlagenes Buch voll schwarzer und rother Buchstaben mit großen, gelben Beschlägen, wie es die Großmutter beschrieben. Die Brille zwischen den Blättern verrieth auch, daß der alte Herr erst ganz kürzlich darin gelesen und den Band vielleicht erst weggelegt hatte, als es anfing dunkel zu werden.

Auf der Commode stand eine Uhr, wie ihr Vater eine ganz ähnliche, ein Erbstück aus alter Zeit, in seinem Studirzimmer hatte. Der Perpendikel ging auch in regelmäßigen Schwingungen herüber und hinüber – aber vollkommen geräuschlos. Nicht das geringste Schnarren oder Klappern konnte sie hören. Lautlos schwang er hin und her, und eben so rückte der Zeiger nach, das unerbittliche Schreiten der Zeit verkündend.

Keines sprach von da an mehr ein Wort, und Marie schloß die Augen. Es war ihr dabei fast, als ob sie nun wieder daheim in der eigenen Stube in dem bekannten Lehnstuhl sitzen müsse und nur um sich zu schauen brauche, um gleich zu wissen, daß irgend ein toller, wunderlicher Traum sie geneckt. Und doch fühlte sie, daß es kein Traum sei, selbst noch ehe sie die Augen wieder öffnete. Die ganze Luft um sie her war anderer Art; das Sopha, auf dem sie lehnte, so leicht und elastisch, als ob sie mehr darauf schwebe wie ruhe, und das fremde, wunderbare Wesen selbst dort drüben im Erker – deutlich hörte sie es seufzen, und als sie, darüber erschreckt, die Augen aufschlug, hatte es sich von seinem Sitze erhoben und ging langsam, mit den Pantoffeln eben hörbar auf dem weichen Teppich schleppend, durch das Zimmer, durch dessen andere Thür es verschwand.

Marie sah das Alles und wunderte sich dabei, daß sie bei all dem Unheimlichen, Grausenhaften um sie her so ruhig blieb und sich so gar nicht fürchtete. Aber der freundliche Knabe an ihrer Seite hatte seine Hand wieder auf ihren Arm gelegt, und mit der Berührung war es ihr fast, als ob ihr nun gar nichts Böses von irgend Jemandem geschehen könne.

»Nun muß ich aber wieder hinüber gehen,« sagte sie endlich, als der junge Bursche aufgestanden war und eine Weile hinter dem alten Herrn hergehorcht hatte – »die Mutter ängstigt sich doch sonst um mich.«

»Jetzt?« lachte aber der Knabe, »jetzt essen wir ja erst zu Nacht, und da mußt Du ja doch unser Gast sein. Hörst Du nicht die alte Margareth draußen mit den Schlüsseln klimpern? das ist stets ihr Zeichen. Heute hat es überdies so lange gedauert.«

»Die alte Margareth?«

»Nun ja, unsere Haushälterin.«

»Von der hat mir aber ja Mama neulich erzählt,« sagte Marie ganz erstaunt, »daß sie spurlos verschwunden wäre und kein Mensch wieder Etwas von ihr gehört hätte. Ist das nicht wahr?«

Der Knabe lachte leise vor sich hin und sagte kopfschüttelnd:

»Da draußen mögen sie sich wunderliche Dinge erzählen, ihre Spanne Zeit durch, und sie kommen und gehen. Einer hört's vom Andern und Jeder thut das Seine noch dazu. Laß Dich das nicht kümmern, Marie; siehst Du, da kommt sie schon. So, nun gieb mir Deine Hand, und ich führe Dich hinüber in den Speisesaal.«

Marie sprang von ihrem Sitze auf, als sich die Thür auch öffnete und eine alte Frau mit einer, das gelbe Gesicht dicht umschließenden spitzen, hohen, weißen Mütze den Kopf in's Zimmer steckte und ein freundliches »Es ist angerichtet!« herein rief. Da nahm der Knabe die Hand des Mädchens und führte es über den sammetweichen dicken Teppich, der Nebenstube zu. Diese öffnete er, und ein heller, blendender Lichtstrahl schoß ihnen daraus entgegen.

»Aber, mein Gott, da hat der alte Nachtwächter ja doch Recht gehabt!« rief Marie fast unwillkürlich aus.

»Ja, sieh nur nach den Gardinen, Margareth,« lachte der Knabe, der ihr aber jetzt schon viel größer und älter vorkam als vorher, »daß der alte Narr nicht wieder die ganze Straße in Aufruhr bringt, wie neulich einmal. Und nun komm, Mariechen; setz' Dich zu uns und thu', als ob Du bei Dir zu Hause wärest. Du bist gern gesehen bei uns, und wir haben uns lange darauf gefreut, Dich einmal hier zu bewirthen; hätten aber doch lange darauf warten müssen, wenn der Doctor heute nicht gekommen wäre.«

Marie konnte nichts erwidern, denn zu viel des Neuen, Unbegreiflichen umgab sie hier. Der Kopf wirbelte ihr ordentlich.

Das Speisezimmer stieß dicht an das Wohnzimmer, mußte auch in früherer Zeit gar prachtvoll mit gelber Seide tapeziert gewesen sein, wie denn überhaupt Gelb die Lieblingsfarbe des Hauses schien. Die helle Beleuchtung verrieth hier aber doch, daß die Jahre den Wänden arg mitgespielt. Die Seide hing an sehr vielen Stellen in Streifen herunter und war verschossen und abgebleicht, die Spiegel sahen blind und fleckig aus, und nur die mächtigen Stühle und Schränke standen noch in alter Stattlichkeit. Sie hatten dem Zahn der Zeit trotzig die Stirn geboten, und das Einzige, was er vermochte, war vielleicht, ihrem Holze einen dunkleren Glanz zu geben und das Zimmer dadurch allerdings noch düsterer zu machen.

»Nun, gefällt es Dir nicht bei uns?« fragte der Knabe.

»Gewiß, gewiß,« sagte schnell Marie; »ich hatte mir das hier Alles nur ganz anders gedacht,« setzte sie dann langsam und schüchtern hinzu. »Ich glaubte früher, der Staub müsse auf den alten Möbeln handhoch liegen.«

»Da kämest Du bei Margareth schön an,« lachte der Knabe; »siehst Du, die geht nicht einmal von einer Ecke des Zimmers in die andere, ohne das Wischtuch in der Hand zu haben.«

Die alte Wirthschafterin hatte sich bis dahin eifrig damit beschäftigt, die Gardinen und Vorhänge nachzusehen, ob sie auch alle vollständig und doppelt verhängt wären, und drehte sich jetzt zum Licht, als Marie erstaunt ausrief:

»Aber die kenne ich ja auch! Das ist ja die Frau Bause aus der Scharrenstraße, die den kleinen Laden hat, und den Leuten Schmerzen bespricht, und aus Karten und Kaffeesatz künftige Schicksale prophezeit.«

Die alte Frau schmunzelte still und selbstzufrieden vor sich hin und sagte:

»Ich weiß wohl, Mariechen, Du bist ein braves Kind, und sollst den schönsten Bonbon haben, den ich im Laden finde, wenn Du einmal wieder zu mir kommst; aber prophezeihen thue ich Dir nichts.«

»Und warum nicht, Frau Bause?«

»Ja, Kinder, ich habe jetzt keine Zeit zum Plaudern,« sagte die Alte geschäftig. »Der Herr Quetzlinberger werden gleich da sein, und dann muß auch das Essen auf dem Tisch stehen.«

Ihre Schüssel aufgreifend, warf sie dabei einen Blick nach rechts und links im Zimmer umher, ob auch Alles in Ordnung sei, und mit ihrem Tuche noch im Vorbeigehen über die eine Commode fahrend, möglicher Weise aufgeflogenen Staub sorgfältig mit fortzunehmen, verschwand sie rasch durch die hintere Thür.

Der Knabe blieb mit Marie im Zimmer stehen, ohne an dem runden Tische, auf dem für vier Personen gedeckt war, Platz zu nehmen. Marie sah aber fragend und auch ein wenig neugierig zu ihm auf; denn in dem dunklen Zimmer war sie bis jetzt noch gar nicht im Stande gewesen, sein Gesicht deutlich und ordentlich erkennen zu können.

Der junge Bursche mochte ihrer Meinung nach wohl fünfzehn Jahre zählen und sein Gesicht war zart und selbst schön zu nennen. Die dunklen, castanienbraunen Locken kräuselten sich ihm leicht und weich um die hohe Stirn, und die feingeschnittenen Lippen zeigten ein Paar Reihen blendendweißer Zähne. Auch die Augen waren lebhaft und feurig. Dennoch lag etwas in ihnen, das sie schüchtern von ihm zurücktreten machte, wenn sie sich auch keinen Grund dafür anzugeben wußte – und doch lächelte er so freundlich zu ihr nieder. Wunderbarer Weise zog sich ihm eine feine Narbe quer über die ganze Stirn, oben von der rechten Seite bis hinunter und über den linken Schlaf laufend. Und doch war es auch kaum eine Narbe zu nennen, sondern glich mehr einem scharf darüber hingezogenen Schnitte, der gerade nur die Haut verletzt haben konnte, weil er sonst hätte den ganzen Kopf von einander legen müssen.

Wie sie aber noch furchtsam zu der Narbe aufsah und der Knabe sie anlächelte, ging plötzlich die andere Thür auf, und Herr Quetzlinberger, jetzt nicht mehr im Schlafrock, sondern in einem hochgelben seidenen Frack mit reicher Stickerei, trat herein. Er trug dabei die Haare schön und sorgfältig gepudert, daß das zierlich gedrehte schlanke Zöpflein, ein wenig nach der linken Schulter hinüberneigend, ihm keck und etwas nach oben gebogen hinten ausstand; dabei ein kleines dreieckiges Hütlein in der Hand, das er aber augenblicklich wieder ablegte und kurze, ebenfalls gelbseidene Hosen, Strümpfe und Schnallenschuhe.

Mit einer freundlichen, aber etwas formellen Verbeugung gegen das Kind, die dieses in die größte Verlegenheit setzte, ging er jetzt auf den nächsten Stuhl zu, auf den er sich niederließ, und Margareth, die hinter ihm eingetreten war, legte ihm eine große weiße Serviette vorn über die gelbseidene Weste und band sie hinten in einem großmächtigen Knoten zusammen, daß die beiden Zipfel nach rechts und links hinausstanden.

»Aber, Gundelrebe,« sagte der alte Herr da plötzlich, als er sich die Serviette gerückt, eine große Tabaksdose aus der Tasche genommen und neben sich niedergestellt, und den Hals ein Paar Mal hin und her gedreht hatte, weil ihm die Margareth wahrscheinlich den Knoten etwas zu fest gebunden, »warum führst Du denn Deinen kleinen Gast nicht zu Tisch? Das Essen wird kalt und die Margareth nachher wieder böse.«

»Heißt Du Gundelrebe?« fragte Marie den Knaben leise.

»Nicht wahr, das ist ein wunderlicher Name?« lächelte dieser, »aber Onkel nennt mich immer so. Doch nun komm, setze Dich hieher und lange zu und iß und trink. Wenn Du satt bist, führe ich Dich wieder hinüber auf die Treppe.«

»Und darf ich dort Alles erzählen, was ich hier gesehen?« fragte die Kleine schüchtern.

»Warum nicht, mein Kind?« lachte da der alte Herr, der indessen schon tüchtig zugelangt hatte und mit beiden Backen kaute. »Warum nicht, mein Herzchen? Sie werden Dir's nur nicht glauben.«

»Ich habe noch nie gelogen,« sagte Marie.

Der alte Herr Quetzlinberger lachte, wie er das hörte, dermaßen, daß ihm der Bissen, den er gerade im Munde hielt, vor die Luftröhre kam und er furchtbar an zu husten fing. Nachher fing er noch einmal von Neuem an zu lachen, drehte sich dann nach der hinter ihm stehenden Margareth herum und blinzelte sie mit den kleinen verschmitzten Augen gar so komisch an. Die Margareth aber schüttelte den Kopf, und die Haube darauf wurde immer größer und weißer, und zuckte wie in Strahlen nach der Decke hinauf. Das Flüstern des Knaben an ihrer Seite klang Marien dabei wie das Knistern eines lustigen Feuers im Ofen, und in aller Verlegenheit hob sie den schon eine ganze Weile auf der Gabel gehaltenen Bissen an den Mund. So delicat duftete ihr aber die fremdartige Speise entgegen, daß sie bald alles Andere darüber vergaß.

»O wie herrlich das riecht!« rief sie erstaunt aus, »wie nach Vanille und Zucker und Rosen! So etwas habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet!«

»Spucken Sie aus, Mariechen, spucken Sie aus!« rief ihr aber die Frau Bause in dem Augenblick, über den Herrn Quetzlinberger weg, zu, »sonst bleiben Sie hier drüben bei uns und können nie wieder hinüber zu Ihrer Frau Mama.«

Und wie sie das sagte, und Mariechen den Bissen im Munde vor Schrecken festhielt, drehte sich der Herr Quetzlinberger ärgerlich nach der Frau Bause um, legte sein Messer hin und faßte seine große Dose, als ob er ihr die an den Kopf werfen wollte.

»Iß nur, Mariechen, und laß Dir's schmecken,« flüsterte jetzt Gundelrebe an ihrer Seite, »die Frau Bause hat nur Spaß gemacht, und der Onkel wird ihr gleich den Kopf mit der Dose herunterwerfen.«

Aber Marie sah nur die Serviettenzipfel und die große spitze Haube, die in weißen Lichtem nach der Decke hinauf auszuckten und blitzten. Zwischen den funkelnden Strahlen heraus, unbekümmert um diese wie um die nach ihr zielende Tabaksdose, rief dabei die Frau Bause immer noch: »Spucken Sie aus, spucken Sie aus!« und jetzt war es Marien plötzlich, als ob ihr die Stimme so bekannt vorkomme und die Frau Bause das eigentlich gar nicht gerufen hätte. Die Warnung kam ja von Jemandem, der dicht hinter oder neben ihr stand und den sie bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. War das der, für das vierte Couvert erwartete Gast?

Kaum hob sie aber das Köpfchen, so blickte sie in das todtenbleiche lächelnde Gesicht des Zahnarztes, der ihr nachgekommen sein mußte, und wie sich das Zimmer in Schrecken und Entsetzen mit ihr zu drehen anfing, und die regenbogenfarbigen Streifen der Serviettenzipfel und Haubenbänder zu vielfarbigen Kreisen wurden, schloß sie die Augen und lehnte sich in den Stuhl zurück.

»Spucken Sie nur gefälligst aus!« sagte da die Stimme wieder dicht neben ihr, und eine andere rief: »Gott sei tausend Mal gelobt, sie kommt wieder zu sich!«

»Mutter!« rief Marie, halb erschreckt, halb erfreut die Augen zu der geliebten Stimme aufschlagend, »wie bist Du hier hereingekommen?« – Sie fühlte dabei, wie sie in dem Arm der Mutter lag, die sie vornüber gebeugt hielt. Vor ihr aber kniete der entsetzliche Mann mit den Stahl-Instrumenten und hielt ein Waschbecken in der Hand, in dem Blut war. Als sie jedoch davor zurückschrecken wollte, rief die Mutter wieder mit zitternder Stimme:

»Sei ruhig, mein Kind, sei ruhig – es ist ja Alles glücklich vorüber. Ach, ich habe es ja gleich gefürchtet, daß es sie zu sehr angreifen würde.«

»Aber wie bin ich denn wieder hier herübergekommen?« sagte Marie, erstaunt und überrascht dabei um sich herschauend. Sie lag wieder in demselben Lehnstuhl, aus dem sie vor dem schrecklichen Manne geflohen, und weder von Herrn Quetzlinberger, noch Gundelrebe war das Mindeste zu sehen. – »Wo ist denn – wo ist denn die Frau Bause?«

»Die Frau Bause?« sagte die Mutter erschreckt; der Arzt winkte ihr aber heimlich zu, der eben Erwachten nicht gleich zu widersprechen, und sagte leise und beruhigend:

»Sie ist eben fortgegangen, liebes Kind. Sehen Sie, nun haben Sie sich vor dem Schmerz gefürchtet und doch nicht das Mindeste davon gefühlt, nicht wahr? Da, da liegen jetzt die beiden bösen Zähne, die Ihnen so heftiges Weh verursacht haben. Es sind aber auch recht häßliche Knochen, und der eine hat wirklich eine starke, schon fast reife Fistel, die Ihnen noch hätte viel zu schaffen machen können. Es war die höchste Zeit, daß sie herauskamen. Nun ist aber auch Alles überstanden, und Sie werden in ein Paar Tagen wieder so gesund und munter herumspringen wie nur je.«

»Und der Herr Quetzlinberger?« sagte Marie leise.

»Aber, Mariechen!« bat die Mutter, ihre Stirn streichelnd.

»Lassen Sie nur, lassen Sie nur, beste Frau Regierungs-Räthin,« beschwichtigte sie der Arzt. »Das giebt sich Alles von selber wieder.«

»Ich habe ihr neulich von dem alten Mann erzählt,« sagte die Mutter, noch immer mit ängstlicher Besorgniß in den Zügen, »und das hat sich ihr jetzt am Ende in den Kopf gesetzt.«

»Sie hat das geträumt,« lächelte der Arzt, »wir haben davon manchmal die wunderlichsten Beispiele, und bei den gefährlichsten Operationen singen die Kranken nicht selten, oder träumen die schönsten, angenehmsten Sachen. Lassen Sie die Kleine eine Stunde schlafen, dann ist Alles vorüber, und das Ganze wie ein Rausch verflogen, mit dem es auch in seinen Wirkungen eine Aehnlichkeit hat.«

Marie blickte in Zweifel und Schwanken zu dem Sprechenden auf, aber der Einfluß des Aethers lag noch zu lähmend auf ihrem Geiste, um sie schon irgend einen Gedanken klar fassen zu lassen.

»Nur ein Traum,« hauchte sie leise, und sank dann, die Augen schließend, in den Stuhl zurück, wo sie bald darauf in einen leisen, wohlthätigen Schlummer fiel.

Der Arzt verließ, von seinem Erfolge vollkommen befriedigt, leise das Zimmer, und die Mutter saß neben dem kranken Kinde und bewachte mit liebender Sorgfalt, aber auch mit schon halb getröstetem Herzen die ruhigen, regelmäßigen Athemzüge der Schlafenden.



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