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7. Kapitel. Vereinzelte Rückfälle und Schulabgang

Lotte hat Max Helm ein großes Stück Weges begleitet. Er ging in sein Gymnasium, und sie eilte ihrer Freundin Alice Hutten entgegen, um mit ihr gemeinschaftlich in ihre Annenschule zu pilgern. Man hatte sich immer so viel zu erzählen! Man wurde nie fertig! So holte Lotte morgens die Gesinnungsgenossin ab, und mittags wanderte sie mit ihr zahllosemale vor ihrem Hause hin und her. Gesprächsstoff gab es immer, der ging nie aus. – Das unzertrennliche Hausquartett, schlechthin: »Wir Viere!« bezeichnet, war seit Ostern gesprengt. Max, der »lange Labanter«, und Lotte waren die übrig gebliebene Hälfte. Die Lust zu tollen Streichen war bei ihnen noch vorhanden; aber sie blühte nicht mehr in einstiger Üppigkeit. – Denn daß man Frau Putzens Pudel seiner Lockentolle beraubte oder den heranwachsenden Babies: Schielen, mit krummen Beinen gehen und Zungenspiele beibrachte, daß man in Herrn Kühnes Kürbisse und zärtlich gehütete Gurkenpflanzungen Herzen und Monogramme zum Mitwachsen einschnitt – war doch gegen frühere Streiche recht harmlos! Daß man sich von dem beschwipsten Hausdrachen die Spritze zum Sprengen des Gartens herlieh, um dann plötzlich durch einen »irrtümlicherweise« zu hoch gelenkten, heimtückischen Strahl die verhaßte Putz unter Wasser zu setzen – war auch nicht schlimm! Und daß man zuguterletzt Schießübungen mit kleinen Steinen und dem selbstverfertigten »Katapult« anstellte, dabei zwei Fenstern in der Nachbarschaft Sprünge beibrachte und sofort feige verschwand, das waren schließlich auch keine Verbrechen!! –

»Ja, ja, Max, man wird alt, und es ist doch schade um unsere verflossene Jugend!« – seufzte Lotte. – »Weißt du noch, wie wir Maria Stuart aufführten oder die Jungfrau von Orleans?« – »Ja, natürlich, und wenn Franz oder ich den Mortimer gaben, waren wir dir nie leidenschaftlich genug! Dann hast du ihn immer gegeben! Und wir mußten die Maria sein! Aber schöner war es doch, wenn wir Indianer oder deutsch-französischen Krieg spielten und uns so lange verkloppten, bis einer Öl gab!« – rief Helm noch in der Rückerinnerung begeistert. – – »Du, und wie wir Mietze Kühne in der Kabuse eingeschlossen hatten und sie dann vergaßen! Weißte noch, fast den ganzen Tag hat das arme Ding da gehungert!« – – »Gewiß weiß ich, du hattest sie doch mit deinem Lineal berührt und ›Zauber die Bauber, stehe still, das ist mein Will! Halt die Schnauz, sonst kommt die Mautz! Hockepocke – Antiloke!‹ gesagt. Da dachte sie, sie sei wirklich verzaubert und wagte nicht, zu brüllen und um Hilfe zu rufen! Du, Lotte, wenn du dir den schwarzen Schleier umbandest und uns vorschwindeltest, du seist die Fee Urania und ›Zauber die Bauber‹ mit so tiefem Gegrunz 'rausquetschtest, wa – haftig, dann habe ich mich auch immer vor dir gegrault. Und dann haste uns immer so schaurige Romane erzählt, daß einem die Haare zu Berge standen! Und vorgeredet haste uns, du wärst ein verloren gegangenes Königskind, und deine Eltern hätten dich nur in Pflege. Sie dürften bei Todesstrafe das Geheimnis nicht brechen; aber später würdest du in goldener Kutsche mit zwölf Rappen abgeholt. Du – – wir Schöpse haben es immer geglaubt!«

»Ich hätte auch drauf geschworen!« – erwiderte Lotte, gleichfalls lachend, – »Geträumt habe ich immer so tolle Sachen! Du, Max, wie wir heimlich im Lindenpark waren und beim Brand der Hygieneausstellung, wo mich noch der fremde Herr geohrfeigt hat, weil ich beinah' unter die Räder kam?« – – »Du Lotte, und die Landpartie auf dem Müllwagen?« – »Ja und der beschwindelte Zologsche!« – – »Weißte noch, wie uns dein Vater den Flohzirkus spendierte, und wir nahmen die Überzieher mit, weil wir dachten, die Vorstellung dauerte ein paar Stunden? Und wie mich Fritz verkeilte, weil ich sagte: du wärst meine Squaw, dabei hatte er sich mit dir am Abend vorher verlobt – –«

»Du, Max, und wie wir Muttas gute Holztabletts mit der Laubsäge zu Tomahawks zerschnitzt haben?« – – »Ja, damals kam deine Olle in die Laube gestürzt und hat in ihrer Wut uns alle Viere verhauen!« – – »Ach ja! Schön war's doch!« – – »Nee, du, das war nun gerade nich schön, sie hatte zu kräftige Poten! Mir brummte der Kopf noch eine ganze Weile! Die dicke Dame war immer 'ne tüchtige Frau!« – anerkannte Max. – – »Das meinte ich ja nicht! Ja, wenn Mutta 'mal keilte, patsch, klatsch, dann hat man's gespürt, Donnerwetter!« – – »Nee, ich meine, unsere Kindheit war schön! Zu schade, daß sie schon vorbei ist! Mein Himmel, wie hat man sich den Wind inzwischen um die Ohren gehen lassen!« – – »Ach hab' dich man nich', Lotteken!« – höhnte der Kamerad, – »der Wind ist dir janz jut bekommen, bist dick und fett dabei geworden! Ihr müßt euch nur nicht den Kopp so mit Liebesgedanken vollproppen, ihr Mechens!« – »Thun wir gar nich'!« – – »Thut ihr doch, lehr' mich die Weiber kennen!« – – »Du, Mäxeken, bin ich eigentlich hübsch? Aber sag' die Wahrheit!« – fragte Lotte gespannt und blieb stehen. Er beäugte sie scharf: »Na und ob nich, wer' dir doch keinen blauen Dunst vormachen!« – wieder prüfte er sie, – »Na, weißte, 'ne Venus biste nich'. Und kaput geht man auch nich', wenn man dich bekiekt! Aber gefallen thuste einem schon, weil du so was von 'ner quabbligen, schnucklichen, appetitlichen Krabbe hast! Du siehst wenigstens vernünftig aus!« – – Sie seufzte wieder: »Schade, ich wäre gern schön! So schön, daß die ganze Welt futsch wäre, dann sähe mich doch unser Kaiser 'mal an und freute sich über mich, und dann hätte Willi Feller wenigstens Grund, mich zu lieben!« – – »Komisch is das auch, daß er sich mit dir so dämlich hat!« – – »Na, erlaube, liebe Taube!« – – »Da kommt deine Freundin, Lotte, tchö, zwei ›Mechen‹ auf einmal halte ich nich' aus! Letzten – du!« – Ein tüchtiger Schups, und weg war er! –

Auf der anderen Seite der Straße wandte er lachend den frechen Jungenkopf. Sie drohte ihm mit der Faust, ging dann aber sittsam Alice Hutten entgegen. »Guten Morgen, Süßing!« – »'n Morgen, Liebling! Du, ihr: du und Helm standet eben wie Max und Moritz da! Der Junge ist doch mächtig gewachsen in der letzten Zeit! – – – Hast du den englischen Aufsatz gemacht?« – »Ja; aber schön ist er nun gerade nicht geworden, wenn auch für Lange immer noch zu schön. Der dumme Mensch soll nicht denken, daß ich mir für ihn Mühe gebe!« – – Arm in Arm schritten die Freundinnen weiter: »Kannst du: Mort de Jeanne d'Arc von Delavigne?« – – »Den Anfang ja, die neuen Verse nicht! Ich war zu müde gestern abend!« – antwortete Alice. – – »Ich habe sie auch nur überlesen, denn ich hatte ein Buch von der Helm vor und sollte es bis heute auslesen. Frieda Klein hatte es mir gepumpt,« – sagte Lotte. »Ist es schön?« – – »Weißte, spannen thut es einen ja bis zuletzt! Aber wenn man fertig ist, merkt man erst, daß die Sache ein bißchen Quatsch ist! So geht es doch im Leben nicht zu! Mit sechzehn heiratet man doch noch nicht, und man verlobt sich auch noch nicht öffentlich! Wenigstens furchtbar selten! Und dann sind die Mädels meist so überspannt und sprechen so zierig, als ob sie gar nicht aus Fleisch und Blut wären. Kennst du eigentlich so 'ne Gewächse in unserer Klasse?« – – Alice überlegte: »Eigentlich nicht,« – meinte sie dann, – »außer Julia, die ist die geborene Romanheldin! Ihre Eltern auch? Findest du das nicht?« – – »Ja, da hast du recht! Weißte, Klexchen, manchmal ist es mir gar nicht lieb, daß wir beide mit ihr bei demselben Pastor Konfirmationsunterricht haben und zu gleicher Zeit eingesegnet werden sollen! – Sie denkt über manches so frei und ist so anders als wir!« – – »Na, ich bin auch nicht orthodox, das geht schon gar nicht, weil Papa so offen über alles spricht.« – »Das meine ich auch nicht, Vata sagt immer, über Glaubenssachen soll ich nie reden, so etwas empfände jeder anders! Das sei jedermanns Privatsache! Nein, Julia ist in anderer Beziehung viel weiter als wir! Ich finde, sie ist doch noch zu jung, um mit Hochthal …« – »Du, ihre Mama hat gesagt, Dietrich und sie würden sich sofort nach der Einsegnung öffentlich verloben und bald heiraten. Geld haben beide wie Heu, alles stimmt bei ihnen. Julia ist doch jetzt schon weit über siebzehn, dann ist sie über achtzehn – –. Und Frau Majorin will sie jung verheiraten, weil sie extravagante Anlagen hätte!« – – »Meinswegen, ich hab' nichts dagegen!« –

Schwatzend weitergehend, erreichten sie das Schulgebäude und verschwanden in ihrer ersten – obersten Klasse, wo man nach Lotte: – »anstandshalber so thun mußte als ob, damit die unteren Schulklepper Respekt vor einem kriegten!« – – Alle plauderten und lachten durcheinander. Man war sehr erregt und schrie den Eintretenden schon im Chore verworrene Sätze entgegen. »Haltet den Schnabel und quiekt nicht alle durcheinander!« – befahl Lotte. – »Man kann ja nichts verstehen! Lene, was ist eigentlich los?« – – »Denkt euch, der Direx war eben da. Morgen ist große Schulinspektion, da kommen drei Inspektoren. So 'ne Liste von Verhaltungsmaßregeln hat er uns gegeben, sowohl für die Stunden als für die Pausen. Alle Hefte sollen wir in Ordnung bringen, und er hat uns versprochen, uns nur Dinge fragen zu lassen, die wir schon genau wissen!« – – »Ja, die Sache kenne ich von früher, bei den Inspektionen zeigt sich die Schule immer im Sonntagskleide! Und den Herren wird das Dollste vorgemumpitzt, damit sie begeistert sind. Den Schwindel mache ich nicht mit! Entschieden nich'!! Ich knoble mir irgend etwas aus! – Alice, nachher überlegen wir!« – – »Um Himmels willen, seid vernünftig!« – warnten die Tugendhaften. »Verderbt euch die Abgangszensuren nicht! So was würde euch der Alte und die ganze Bande nicht verzeihen!« – rieten vereinzelte Wohlmeinende.

»Pah, mir ist alles Wurscht!« – rief Lotte und knipste mit Daumen und Zeigefinger verächtlich – »Arm in Arm mit dir, so fordere ich mein Jahrhundert vor diesen – – Klassenschrank! Bald ist die Quälerei zu Ende!« – – »Ach laßt die Dummheiten und hört und staunt!« – sagte Julia, sie an ein offenstehendes Fenster ziehend – »denkt nur, dort drüben in den Ateliers wohnt ein neuer berühmtem Bildhauer. Der läßt immer die Vorhänge offen. Man kann alle Modelle in ihren verschiedenen Stellungen sehen. Eine aus der zweiten Klasse hat es mir erzählt, die sind schon seit ein paar Tagen in Aufregung.« – Sie kletterte selbst auf die Bank und auf den Tisch. Die beiden anderen machten es ihr nach. Nach wenigen Minuten waren alle Fenster von neugierigen Köpfen besetzt. – Auch aus den Nachbarräumen spähte man hinüber. »Seht ihr? –« fragte Julia. – »Schade, es ist sehr weit!« – rief Lotte. – – »Ich sehe nur 'was Weißes!« – –

In diesem Momente wurde die Thür aufgerissen. Die erste Oberlehrerin stürmte in das Gemach. Sie sah rot und zornig aus: »Also auch die ›I a‹ trifft man bei solchen unerhörten Sachen?« – schrie Fräulein Polkmann entrüstet. – »Sofort von den Bänken und die Fenster geschlossen!« – Die Mädchen gehorchten. – »Schämen Sie sich alle miteinander! Von Ihnen hätte ich erwartet, daß Sie mir diesen Skandal erzählt hätten; aber nicht, daß Sie der ganzen Schule mit schlechtem Beispiel vorangehen!« – – »Wir wissen es erst seit heute!« – verteidigte Lotte.

»Schweigen Sie, Charlotte! Es ist unglaublich! Der Künstler weiß vielleicht gar nicht, daß hier junge Mädchen weilen? Der Herr Direktor hat soeben zu ihm geschickt und auch die Polizei benachrichtigt! Der Unfug wird in einer Stunde bereits aufhören! Ich erwarte von Ihrem Anstand und Ihrer Ehre, daß nicht eine von Ihnen sich mehr dem Fenster nähert, verstanden? Das wäre empörend! Gerade heute die Störung, man weiß nicht, wo einem der Kopf steht! Wo doch morgen – – –« damit jagte sie hinaus. Die Schülerinnen blieben zurück. Gleich darauf stürzte die Gesanglehrerin hinein: »Sie werden im Gesange, im Französischen und in den Naturwissenschaften vorgeführt. Kommen Sie um zehn Uhr in die Aula. Wir wollen einige Lieder wiederholen!«

Heute kam kein regelrechter Unterricht zu stande. Alle Viertelstunden wurden die Lehrer und Lehrerinnen abberufen, wofür sich die Mädchen entschädigten. Sobald der oder die Betreffende verschwand, erschien Lotte auf dem Katheder und kopierte ihn so glänzend, daß die anderen vor Lachen schrieen. Sie war gerade an der Arbeit und kopierte Fräulein Polkmanns sonderbare Art, zu nießen, als Herr Professor Meyer die Thür öffnete. Durch den Spalt rief er in die Klasse:

»Bitte gehen zwei von Ihnen nachher in den Physiksaal, und suchen Sie dort die Instrumente aus, und bringen Sie alles für die Experimente in Ordnung. Daß mir ja morgen keine Vorführung verunglückt, das wäre mir höchst peinlich! – – – Dann wiederholen Sie alle § 15 bis 40 aus dem Lehrbuch; aber bitte recht ordentlich! Lotte Bach und Grete Kernig, Sie haben neulich so viel verwechselt, lassen Sie sich, was Sie nicht verstanden haben, lieber noch einmal von mir erklären. Ich bin um zwölf – frei!« – Er entfernte sich.

»Alice und ich werden hinaufgehen, wir haben neulich schon die Experimente vorbereitet! – sagte Lotte kategorisch – »Im übrigen, Onkel Meyer mit dem Ypsilon, habe ich alles verstanden! Aber ich schrieb unter dem Tisch meine Rechenarbeit ins reine Heft und konnte nicht aufpassen!« – Sie machte jetzt der Klasse vor, wie die ungeschickten Herren in der Tanzstunde aufgefordert und sich verneigt hätten. Alice war die betreffende Partnerin, die wiederum Hedwig Trenkow, den »Mehlsack« möglichst naturgetreu kopierte. Auch Wolfgang Scheurer mußte herhalten. Die graziöse Julia dagegen trippelte und schwang sich so knochenlos zappelnd, so – elastisch verziert – wie Herr Führich. – Frieda Klein deklamierte den Taucher, wie sie ihn in einer Wohlthätigkeitsvorstellung von Rainz, dem berühmten Schauspieler, gehört. – Einige tanzten, und Berty Fuchs, der wahre Klown, schoß Purzelbäume. Lene König zeichnete Lehrerkarrikaturen an die Wandtafel. –

So amüsierte sich die obere erste Klasse, bis die Glocke die Pause verkündete. – Nach dieser war Handarbeitsstunde. Alice und Lotte verschwanden, um Professor Meyers Befehl nachzukommen. Der Physiksaal lag im dritten Stockwerk. Als sie so unerwartet in den Riesenraum eintraten, kniff Lotte Alice in den Arm: »Sieh nur!« flüsterte sie. Am offenen Fenster stand auf einem Tritt die eine Lehrerin der Anstalt. In der Hand hielt sie einen Operngucker und äugte eifrig nach den Ateliers, jenseits des Schulhofes! – – Tableau! – – Sie hatte das Eintreten der beiden überhört und fiel jetzt beinah' von ihrer Erhöhung herunter, als Lotte laut fragte: »Na, Fräulein, sind die Modelle immer noch da?« – – – »Ich wollte mich gerade überzeugen, ob die Polizei bereits eingeschritten wäre!« stotterte die Dame verlegen. »So?« – meinte Lotte ernst – »Dann borgen Sie mir doch bitte Ihren Fernseher, ich möchte doch auch die Vorhänge vor den Scheiben sehen!« – – Aber die Angeredete erklärte dies für unnötig und entfernte sich, sehr rot. Ein Blick durch das Fenster hatte das lose Mädchen längst davon überzeugt, daß – drüben – noch alles beim alten war. – Der Künstler schaffte ungeniert weiter. –

Inzwischen hausten Lotte und Alice wie zwei Unholde. Sie verdünnten die Elemente, sie lockerten Schrauben, befeuchteten, was trocken bleiben mußte und trockneten, was besser feucht geblieben wäre. Nach einem kleinen Abstecher in eine benachbarte Bäckerei, kehrten sie in die Klasse zurück und verkündeten vor den beiden technischen Lehrerinnen, daß sie nicht im Physiksaal gewesen wären. Zwei andere sollten nachher Herrn Professors Auftrag vollführen. –

Am nächsten Tage hatte Meyer mit jedem Experimente Pech. Er wütete innerlich und schob äußerlich die Schuld auf die ungenügenden Hilfsmittel: »Nun, wenn Sie dafür sind, können ja Neuanschaffungen gemacht werden, Herr Professor! Die Klasse ist ja soweit ganz gut beschlagen! – – – Anfänglich hatte ich Sie, verzeihen Sie als bewährte Lehrkraft, im Verdacht, für etwas ungeschickt! Aber ich sehe, es sind in der That die mangelhaften Apparate! Die Hauptsache ist jedoch ad oculos demonstrieren, darüber sind wir uns doch einig?« – meinte der »Inspektor« nachher vor versammelter Lehrerkorona. – »Ich verstehe das nicht, es sind doch alle Apparate, lieber Kollege, erst ganz neu beschafft worden! Wir werden sie einfach ins Geschäft hinschicken und untersuchen lassen. Ich bin überzeugt, Sie selbst waren etwas – – – benommen!« – sagte der Direktor noch später ziemlich scharf. – – »Ich verstehe das auch nicht, mir gelingen sonst alle Vorführungen glatt und tadellos!« – widersprach der Angegriffene zornig. – »Nun, heute haben Sie das nicht bewiesen; aber man hat solche Tage zuweilen!« –

Meyer erkundigte sich wut- und racheschnaubend in der Klasse, wer die Apparate zurecht gemacht hätte? Zwei bekannte Musterschülerinnen meldeten sich. Sein Argwohn zerstob. – »So überlassen Sie solche Dinge lieber Alice Hutten und Lotte Bach!« – schnaubte er die Unschuldslämmer zornig an. – »Die verstehen ihre Sache wenigstens und richten nicht mit ihrer Ungeschicklichkeit Unheil an. Sie haben mich unsterblich blamiert!« Die beiden senkten traurig die Köpfe, während sich die ruchlosen Schuldigen vor geheimem Vergnügen braun und blau kniffen. Als sie den Professor mit einer ganzen Masse Pakete in einer Droschke fortfahren sahen, sagte Lotte: »Du, wir lassen uns von dem Mechaniker Prozente zahlen. Verdient haben wir sie uns redlich! Weißte, mir is ordentlich wohl zu Mute, daß ich mal wieder was Festes ausgefressen habe! Tugend ist zu langweilig!« – –

Sie hatte nämlich noch etwas auf dem Gewissen! Das war ein Migräneanfall der Gesanglehrerin. Lotte war die Chorführerin des Soprans, die auch alle Soli zu singen hatte. Um nun ihre schöne Stimme zu zeigen und zugleich ihrer patriotischen Begeisterung Luft zu schaffen, hatte sie sich bei dem Liede:

»Und brauset der Sturmwind des Krieges heran,
und wollen die Welschen ihn haben etc. etc.«

stark überschrieen. Der Schulrat wünschte, ein geistliches Lied zu hören. Das Fräulein trat schnell zu der ersten Stimme: »Lotte Bach, um Gottes willen, zetern Sie nicht so, leise singen! Man braucht Ihre schöne Stimme nicht immer hervorklingen zu hören. Eitelkeit ist ein Laster!« – – Die Getadelte wütete: »Na warten Sie, Ihnen brocke ich auch was ein!« murmelte sie.

Der Taktstock berührte klopfend den schönen Bechsteinflügel. Der Chor setzte ein. Und über dem Ganzen schwebte hellklingend und sehr laut – – – Lottes silbernes Organ. Und anstatt des richtigen Textes: »Es ist ein' Ros' entsprungen« – – klang unverkennbar deutlich: »Es ist ein ›Roß‹ entsprungen aus einer Wurzel zart etc.« – – Die Inspizierenden und der Direktor tauschten lächelnde Blicke aus. Die nervöse Dirigentin zuckte entsetzt zusammen und starrte Lotte hilflos an. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie spürte schon den sie so häufig plagenden Kopfschmerz aufsteigen. Ernst und unschuldig sang die böse Lotte weiter, sich anstellend, als hätte sie ihre eigene Unart gar nicht bemerkt.

»Sehr nett!« – sagte der Schulrat. – »Die Leistungen sind tüchtig; nur achten Sie vielleicht gütigst auf etwas zartere Stimmbehandlung!« Die Lehrerin zitterte vor Wut, denn unmittelbar darauf packte der freundliche alte Herr Lotte unter das Kinn und hob ihr Gesichtchen zu sich empor: »Na, kleine Lerche« – fragte er lächelnd – »werden Sie Ihr Silberstimmchen später einmal ausbilden lassen?« – »Ich möchte schon!« – entgegnete sie. – »Aber meine Eltern wollen nicht!« – »Was ist denn Ihr Vater?« – – »Geheimer Regierungsrat!« – – »So, so, na, auch ich würde Ihnen raten, das Silberkehlchen zur Freude Ihrer Familie zu verwerten. Seien Sie recht fleißig und schonen Sie gerade jetzt beim Chorsingen Ihre Stimmbänder. Wenn die erst überanstrengt sind, ist die Sicherheit fort!« – Lotte knixte. Er trat zurück.

Seine Liebenswürdigkeit spornte ihren Ehrgeiz aber derart an, daß sie im dritten Prüfungsfach, im Französischen, sich trotz ihrer Antipathie gegen den Lehrer, zusammennahm. Sie sprach das Gedicht mit »tadellosem« Accent. Sie konnte alles und versöhnte durch ihre »tadellosen« Leistungen Herrn Doktor Lange vollständig. – Der Schulrat nickte ihr befriedigt zu, der Direktor klopfte sie auf die Schulter: »Sie haben sich in jeder Beziehung außerordentlich gebessert!« – meinte er mild.

»Und ihr habt mich immer falsch behandelt!« – sagte Lotte, als sie allein waren, zornig. »Hättet ihr mich früher öfter gelobt und nicht immer als Erbsündenbock getadelt und betrachtet, so hättet ihr mit mir machen können, was ihr wolltet! Warum habt ihr nicht meinen Ehrgeiz geweckt? Ich kann alles, was ich will; aber ich wollte bloß nicht!« – –

Als Lotte mit Alice auf dem Heimwege war, tauchten an einer Straßenecke drei Jünglinge aus der Tanzstunde auf. Es waren Alices Anbeter: der Student von Wutzleben, der Lehrling Funk und ein dritter – – Fremder. – »Fräulein Hutten war als stolz und abweisend« bekannt. Nun hatten sich die Verehrer den Kopf zerbrochen, wie sie die herbe Art des bewunderten Mädchens umwandeln konnten? Man hatte hin und her geratschlagt und kam endlich auf eine ganz verkehrte Methode. Schon seit vier Tagen standen die Drei an der erwähnten Ecke neben der Anschlagssäule und warteten, »bis die Liebliche sich zeigte!« – – – Aber keiner wagte, ihr zu nahen! Sie schwankten doch, ob sie den richtigen Weg gewählt hatten?

Heute endlich wagte sich der Fremde an die Ausführung des Planes. Er trat auf die beiden Freundinnen zu, lüftete den Hut und verbeugte sich: »Eine Empfehlung von meinen Freunden, mein gnädiges Fräulein! Sie erlauben sich, Ihnen die kleine Bonbonniere als Zeichen ihrer Ergebenheit durch mich zu übersenden und lassen bitten, daß Sie, Fräulein Hutten, doch nicht so stolz und unnahbar sein mögen!« – Nach diesen, nur mit einem Aufwand von Energie schnell gestammelten Worten, überreichte er Alice einen offenen Pappkasten mit schönem Konfekt.

Zuerst war das Mädchen sprachlos, dann aber schlug sie dem Unbekannten wütend den Kasten aus der Hand: »So!« – rief sie, als die süßen Dinge auf der Erde umherkullerten, – »das ist meine ganze Antwort!« – – »Mit Speck fängt man Mäuse, und mit Süßigkeiten lockt man Hundchen unter dem Sofa hervor!« – sagte Lotte empört. – »Wir sind aber weder Mäuse noch Hundchen! Die Sache ist frech und dumm, bestellen Sie das Ihren Herren Freunden, verstanden?!« – –

Sie schwenkten scharf ab und ließen den betroffenen Liebesboten wie einen begossenen Pudel stehen. Als sie sich aber nach einem Weilchen umdrehten, bot sich ihnen ein komischer Anblick. Die drei Verehrer kauerten auf der Erde und hoben die herunter gefallenen Konfektstücke auf. Einzelne warfen sie in den Kasten, andere steckten sie sofort in den Mund. »Siehste, sie trösten sich schon, so 'ne dummen Jungen!« – meinte Lotte lachend. – »Sieh nur, mit welcher Hast sie futtern, damit nur ja keiner mehr kriegt und nichts liegen bleibt! – – – Sehr würdig benehmen sich deine Verehrer gerade nicht!« – – – »Laß sie laufen, die frechen Bengels!« – murrte Alice. – »Was bilden die sich denn ein? Als ob meine Liebe für Schokolade käuflich wäre? Tz, tz! Es ist toll! – – – Wutzleben hätte ich auch mehr Lebensart zugetraut. – Siehst du, das hätte Heinz von Miller nie gethan!« – – »Und Willi Feller auch nicht! Besonders hätte er nicht Pralinees von der Straße aufgelesen!« – ergänzte Lotte.

Wochen waren seit der letzten Schulrevision verstrichen. Der Oktober und mit ihm der Abgang von der Annenschule, nahte für unsere Freundinnen! Wenn man Lotte Bach fragte, welche Gefühle sie nun eigentlich vor diesem wichtigen Lebensabschnitte bewegten, dann prägte sich ein tiefer Grübelzug auf ihrem frischen Gesichte aus: »Na, wißt ihr« – sagte sie einst auf solche Anzapfung zu ihren Eltern – »ein bißchen Sosolala ist mir zu Mute: teils Braunbier, teils Spucke! – Aber eine Freude ist es doch, daß man die Schinderei los wird, das kann ich nun nicht leugnen! Schade ist's mächtig um die Pausen und das Zusammensein mit den andern Mädeln! Und dann fuchs ich mich immer, daß ihr um das bißchen Erwachsensein so viel Radau macht. Bildet euch nur nich ein, daß ich plötzlich ein tugendspieliger Engel werde – – –«

»O nein, liebe Tochter, auf so verwegene Ideen wagt keiner von uns zu verfallen!« – unterbrach sie die Geheimrätin lachend. – »Im Gegenteil, ich habe oft große Angst, daß du, bei deiner Anlage – – – eine ewige Berliner Range bleiben könntest!« –

»Das glaube ich beinahe auch; aber wa – – haftig, Muttachen, das schadet nix! Man kommt ja viel weiter, wenn man sich nich von jedem hergelaufenen Menschen unterpuddeln läßt!« »Thut dir denn der Abschied von deinen Lehrern nicht leid?« – lenkte Klara ab. – »Ich finde, sie haben dich, trotz deiner Unarten, immer noch sehr milde behandelt!« – – »Na, weißte, Kläre, wenn's mir auch um einige recht leid thut, so kann ich doch keinen Schmerz heucheln! Im großen und ganzen sind wir ihnen ja auch wurscht, und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken! Wir sind so 'ne Masse wie 'ne Herde, und so ein Lehrmensch ist nun Hirt. Und jedes Jahr kriegt er andere Viecher und soll sich für Kreti und Pleti vor Vergnügen aufbammeln, nur weil ihn die Stadt dafür berappt! Nee, von Liebe kann da nich die Rede sein! Bei Privatstunden ist das noch was anderes oder wenn einer einem durch die ganze Schulzeit Stunden giebt!« – – »Ich finde, ihr habt allen Grund, den Unterrichtenden, die euch ihr Bestes geben, euch mit Bildung und Liebe zum Guten und Schönen erfüllen, dankbar zu sein!« – – »Ja, ja, das ist ja ganz gut und schön, Mutta, es klingt grandios, steckt aber nich viel dahinter!« – beharrte die widerspenstige Lotte eigensinnig. – »Aus Menschenliebe und umsonst thut's doch keiner und aus Vergnügen auch nur kurze Zeit! Das ist gerade ein Beruf wie alle anderen: Arzt und Bäcker und Droschkenkutscher. Wir berappen – – dafür unterrichtet ihr, basta!«

»Nein, Range, ich hoffe, trotz deiner Einwände, daß du dich mit der Reife doch noch zu einem idealeren Standpunkte über den Lehrberuf aufschwingen wirst« – sagte nun auch der Vater eindringlich. – »Ich denke mir, es giebt nichts Edleres, wenn auch Schwereres, als unterrichten!« – – »Wer's glaubt, wird selig; ich glaub's nicht!« – entgegnete die nicht zu überzeugende Tochter philosophisch. – »'ne Schinderei ist jeder Beruf! Und Lokomotivführer und Dampfkesselheizen, und den ganzen Tag nähen oder Akten schreiben is noch toller und verantwortlicher!« – – »Wir wollen das Thema fallen lassen,« sagte die Mutter. – »Die richtige Einsicht wird auch bei dir noch kommen – – – hoffentlich! Ich wünschte sogar sehr, daß du dich mit dem Gedanken befreundetest, selbst dein Examen zu machen!« – – »Mutta, ich fall' um!« – – »Steh' wieder auf, und überlege dir meine Worte, du bist kein Kind mehr!« – – »Na, die armen Jöhren, die ich später – – –« – – »Genug jetzt, Lotte! Iß, und geh an die Arbeit!«

Das erste Samenkorn war in Bachs Jüngste gesenkt worden. Man kann aber nicht sagen, daß es auf fruchtbaren Boden fiel. Sie quälte sich lange Zeit mit dem Gedanken ab, ob sie noch zwei Jahre »schuften« möchte und Lehrerin werden, dann ließ sie ihn leichtsinnig fallen: »Eh' ich so was Tugendhaftes werden kann, lernt die Katze Eier legen« – dachte sie. – »Im übrigen wird er, – – – Willi – – – doch – – –« Weiter wagte sie nicht zu grübeln. Sie war ja zu aller Welt Erstaunen und Entsetzen noch nicht einmal eingesegnet!

Lotte stand am offenen Fenster vor einer großen Waschschüssel, die auf einen Stuhl gestellt war. Sie wusch mit aller Kraft, so daß der Schaum um sie herumspritzte. Ihre Wangen glühten, während ihr Mund ununterbrochen plapperte. Bald richtete sie das Wort an Max Helm, der oben am Fenster ein »Stricktelephon« zusammenbastelte, bald an Gretchen Thronick, die eifrig nähte. Eine Strippe war quer durch das Zimmer gezogen, und an diese waren kunstvoll eine ganze Reihe schon halbtrockener Wäschestücke in winzigstem Format befestigt. Ein Plättbrett lag auf der Kommode. – In diese thätig bewegte Situation kam Alice Hutten: »Nanu, was ist denn hier los?« – fragte sie erstaunt. –

»Ach schrecklich!« – antwortete Lotte. – »Setz dich, wenn ihr euch begrunzt habt, hin und entschuldige, wenn ich dir meine ›Schwesterkralle‹ nicht gebe. Ich bin in zehn Minuten fertig, dann hole ich auch Füllung für unsere Futterluken. Wir sind allein zu Haus!« – – »Was macht ihr denn bloß?« – –

»Ach, gräßlich!« – sagte Lotte mit schmerzlichem Seufzer. – »Wir begraben meine Jugend. Und da ich die Sachen doch nicht schmutzig wegpacken kann, haben wir noch große Puppenwäsche und Schneiderei. Dort in den Koffer kommen Iwan, Feodora und zwei andere Puppen mit ihren Ausstattungen! Das übrige Spielzeug schenke ich weg; aber meine Lieblinge will ich für meine Kinder aufheben!« – – »Meine sind alle an das Kinderkrankenhaus gegeben, ich fand die Spielerei zuletzt albern!« – – »Nein, das finden wir nie nich Grete? Wir sind fuchtig, daß wir's anstandshalber müssen, sonst spielten wir noch lange! Die Papierpuppen lasse ich auch sicher noch draußen! Etwas fürs Herz muß der Mensch haben!« – – »Soll ich ihnen die guten Sachen anziehen, Lotte?« – – »Ja, Grete; aber die Unterröcke sind noch nicht alle geplättet. Warte eine Minute, ich bin schon bei den letzten Höschen! – – – Berta bringt gleich den heißen Bolzen, dann plätte ich sie noch schnell!« – – »Schade, Kinder, ich wollte euch in den Tiergarten abholen. Papa hat mir fünfzig Pfennig zum Vernaschen von seinem Skatgewinn geschenkt. Da hätte ich euch beim Wiener Bäcker ›Windbeutel‹ spendiert!« – – »Auch fein, du hast wohl Spendierhosen an?« – fragte Gretchen respektvoll. »Geliebtes, gutes Alicenklexchen, warte ein halbes Stündchen, dann sind wir fertig und kommen mit. Packen thue ich dann abends; aber Plätten muß ich unbedingt jetzt noch. Berta, der deiblige ›Brummtriesel‹, macht mir sonst keinen Bolzen mehr heiß, ich habe ihr diese drei schon abgebettelt!« bat Lotte so klagend, daß die gute Alice nicht widerstehen konnte.

Zuguterletzt half sie selbst mit, Spitzchen aufzupfen oder Bänder aufziehen. Dann legte sie die einzelnen Wäschepaketchen ihrer Art nach zusammen und band sie mit zierlichen hellblauen Schleifen: »Wißt ihr, wenn ich ganz offen sein soll,« – meinte sie, – »dann muß ich gestehen, daß mir die Trennung von meinen Puppen doch recht schwer gefallen ist! Der Winkel, wo sie immer gesessen, kommt mir ordentlich leer vor!« – – »Na, ich kann dir sagen, ich weiß absolut noch nich, wie ich es ohne Feodora aushalte?« – rief Lotte eifrig. – »Es ist trostlos, wie immer ein Stück nach dem andern losbröckelt, ehe man groß wird! Erst mußte ich Fritz Haffner, dann Franz hergeben, dann die Märchenbücher, die Puppenstube, die Küche, den Kaufladen, – – – jetzt noch diese Puppen! Mir wird angst und bange, wer weiß, ob ich nich graue Haare vor Gram kriege, wenn die Feodora erst im Köfferchen auf 'm Schrank im dunklen Korridor steht!«

»Na, du, übertreib nicht so, ich fürchte, die Puppe kriegt eher die Motten als du graue Haare!« – – »Nein, Alice, du weißt nicht, was sie mir war!« – – »Hast du übrigens gehört, daß der ›Direx‹ uns 'n Abschiedsfest giebt?« – – »Nee, wa – haftig?« – – »Ja, er thut es immer, in jedem Jahre! Und mit Kaffee und Kuchen, Baisertorte und Bowle wartet er uns auf!« – – »Himmlisch!« – schrie Lotte. – »Wann aber?« – – »Am Nachmittage vor der Abgangsfeier in der Schule, wo es Zensuren giebt, und Lohngrin die Rede ›redert!‹ Du, wenn ich dran denke, wird mir heulerig!« – – »Erst abwarten, dann Theetrinken!« – sagte Lotte sorglos. – »Erst freue ich mich aufs Fest beim Alten! – – – Schade, daß du nicht mitkannst, Gretchen!« – – »Ach was, so 'ne Abfütterungen sind mir pipe! Kinder, nu ist alles in Ordnung, wegpacken kannst du nachher allein! Wollen wir nicht losstiebeln?« – –

Die beiden anderen waren bereit, nachdem sie noch schnell das Zimmer aufgeräumt hatten. Sie zogen sich alle drei an und begaben sich, da es spät geworden war, direkt in die Bäckerei. In einem etwas versteckten Winkel saßen sie um ein Marmortischchen gemütlich beisammen, schmausend und schwatzend. – Lotte befolgte, trotzdem sie nicht etwa zerstreut war, ängstlich ihre alte Taktik. Sie aß vorsichtig erst das weniger Gute, also den Teig, und hob sich den Superlativ – die süße Sahne – bis zuletzt auf. Es schien ihr ein Zeichen von vornehmer Enthaltsamkeit einerseits und triumphierender Tapferkeit andererseits, wenn sie gerade mit den wohlschmeckendsten Speisen am längsten Haus hielt! Auch jetzt blickte sie zufrieden auf die Teller der anderen. Diese waren mit ihren Windbeuteln fast fertig. Sie aber hatte noch ein stattliches Hügelchen von Schlagsahne vor sich. – »Menschenskinder,« – sagte sie – »ich würde euch gern noch jedem ein Sechserstück auffahren lassen; aber es geht leider nicht. Momentan bin ich 'n bißchen schwach auf der Pinke!« – – »Wieviel Taschengeld kriegst du eigentlich?« – fragte Gretchen, die in Lotte eine Großkapitalistin sah. »Na, Vata is' nich' grade üppig; aber immerhin anständig! Mit zwei-ein-halb (25 Pf.) die Woche könnte man ja auskommen. Dann die Krabbelsechser; die Sechser, wenn ich Briefe in 'n Kasten trage und die Pfennige, die ich von Mutta abbettle, Gott! – so zu Haus stehe ich mich summa summarum im Monat fast zwei Mark! – – – – Nu rechnet aber Hefte, Federn, Naschsachen und Geschenke für die Geburtstage und Weihnachten!! – – Sprünge kann ich nich' viel machen!«

»Na, ich danke, zwei Mark is' doch genug!« – rief Gretchen, – »ich krieg' man bloß 'n Groschen pro Woche und kann sonst nix weiter 'rausklemmen. Und doch muß ich durchkommen, ha! Macht mir das 'mal erst gefälligst nach! Überhaupt du, Lotte, dein alter nobler Onkel Doktor greift dir öfter unter die Arme! Wenn du ihm Gedichte aufsagst, schenkt er dir immer 'n Fünfziger!« – – – »Ja, Onkel ist hochanständig!« – beteuerte Lotte. – »Neulich hat er mir sogar 'ne Mark gegeben, dabei hatte ich ihm dasselbe Gedicht schon vor vier Monaten aufgesagt! Er hat es aber nich' gemerkt, denn ich habe es mit Pathos gesprochen, so daß er über meinen Avek ganz futsch war. Aber die verdienten Moneten spare ich im Sparkassenbuch!« – – »Ich bekomme nichts Bestimmtes,« – meinte Alice sorglos, – »aber ich kann nicht klagen. Skatgewinne, überzählige Groschen und sonstige ›gemünzte Moosabfälle‹ sind nicht zu verachten. Und sparen thue ich nicht; denn ich brauche mir nichts zu kaufen!« – – – »Pfui Deibel, ich möchte nicht so abhängig sein und um jedes Heft betteln gehen!« – sagte Lotte. – »Nee, wenn man kein bestimmtes Taschengeld kriegt, lernt man nie wirtschaften und mit Geld umgehen. Ich bin fürs Selbständige und führe genau Buch. Vata meinte erst neulich: ich sei ein so ›anständiger Gauner‹, daß an mir ein famoser Kaufmann verloren gehe!« Das Gerissene sei Berliner Erbtugend!« – »Bei euch spielt Berlin eine mächtige Rolle!« – konstatierte Alice, – »dabei ist deine Mama doch Schlesierin?« – – »Ja; aber alles Preußen, echte gute Preußen! Und wir Kinder schon echte, hier geborene Berliner, himmlisch!!« –

»Dabei kann ich mir nun gar nichts denken!« – – »Du, Grete? Pfui! Aber ich denk' mir was dabei und bin so stolz drauf und so selig, daß ich vor Wonne am liebsten auseinanderginge, wenn ich nur dran denke!« – – »Ja, Lotte, meine Eltern sagen auch, sie hätten noch nie einen Menschen gesehen, der so vom Geist seiner Vaterstadt mit all seinen verschiedensten Schattierungen durchdrungen wäre, wie dich!« – versicherte Alice. »Da haben sie recht! – Wir Berliner sind frech – helle und gutmütig, das weiß ich! Und emsig wie die Bienen sind sie und querköpfig, darum haben sie es auch zu was gebracht!« – – sagte Lotte kräftig, um jeden Widerstand im Keim zu unterdrücken. – »Doch nun danke ich dir herzlich, Alicenklexchen, das nächste Mal bin ich am dransten und spendiere! – – Schenken laß ich mir nischt!! Ich muß nach Haus!« Sie gingen nach der Kasse, wo Alice mit einer Miene fünfundvierzig Pfennig hinwarf, als bezahlte sie Europa. Und dann trennten sich alle drei nach zärtlichstem Abschied und pilgerten heimwärts. –

Beim Direktor war das lang erwartete und herbeigesehnte Abschiedsfest für die abgehenden Schülerinnen. Lehrer und Lehrerinnen ließen die ihnen anunterrichtete, unfehlbare Würde mit allen Begleiterscheinungen für diesen Nachmittag fallen. Harmlos und liebenswürdig plauderten sie mit den jungen Mädchen, beteiligten sich an den arrangierten Spielen und vergaßen sogar ihren heimlichen Groll gegen Lotte Bach und die übrigen schwarzen Schafe! – Ihr sonniger Humor beherrschte auch heute die Situation, wenn Lotte von einem Zimmer ins andere wandelte. Dort half sie Tellerdrehen. Da spielte sie: »Wie gefällt dir dein Nachbar?« Hier riet sie Charaden und stellte geduldig und heiter die schwierigsten »Panoptikum-Kunstwerke«.

»Sie sind ja der reine Komet, Charlotte!« – rief Doktor Lohn lachend. Während der Zeichenlehrer sie für ein »Wunderkind« ausgab, weil sie in drei Gemächern zu gleicher Zeit zu sein scheine. Und sie antwortete wie stets: unbefangen und offenherzig.

Alle Augen richteten sich nach der Thür. Das Hausmädchen erschien mit der riesigen Monstre-Baisertorte, hinter ihr der Schuldiener mit den eingefüllten Bowlengläsern. – »Alice!« – flüsterte Lotte eifrig der Freundin ins Ohr – »befolge meinen Rat, und mach mir alles nach; dann kommst du gut fort! Ich kenne den Rummel aus dem F. F.« – – Verständnislos nickte die kleine Hutten. Sie hielt sich in Lottes unmittelbarer Nähe und beobachtete sie scharf, da sie immer noch nicht wußte, was diese eigentlich beabsichtigte.

Die Magd erschien und präsentierte vor Fräulein Bach ihre Herrlichkeit. – – – Lotte nahm eine anständige Portion. Alice desgleichen. Lotte schlang ihre Auflage wortlos und hastig hinunter. Alice dito. – – Ein Blick, dann erhob sich unsere Range und zupfte ihre Gesinnungsgenossin am Arm: »Komm mit!« – Alice gehorchte.

Das servierende Mädchen war mit ihren schäbigen Resten abgezogen. Mit einer neuen Torte tauchte sie im Nebenzimmer auf, wo man gerade »Citatenraten« gespielt. In einer Ecke saßen – unschuldsvoll und dazu gehörig –: unsere beiden. Wieder reichte man ihnen das Labsal. Wieder nahmen sie davon und verzehrten es. »Lotte, ich kann nicht mehr! Ich platze sonst!« – raunte Alice. – »Der Mensch muß die Gelegenheit benutzen,« – antwortete diese. – »Das Schlimmste ist, daß ich zu Haus einen Löffel Natron nehme. Komm nur!« –

Wieder übersiedelten sie in das dritte Gemach, wo man aufmerksam einem Lehrer lauschte, der gerade ein interessantes Reiseabenteuer erzählte. Hier waren nur sehr wenige Personen versammelt! – – Daher kam es wohl, daß das Hausmädchen des Herrn Direktors ihre beiden treuesten »Kunden« wiedererkannte. Wenigstens fragte sie mit impertinentem Gesicht: »Waren die beiden Fräuleins nicht schon nebenan?« – – Lotte und Alice wurden dunkelrot vor Verlegenheit. »Wir wollten auch nichts mehr nehmen!« – erwiderte Lotte kleinlaut und legte den Löffel nieder, den sie schon kampfbereit erhoben hatte.

Man sah sie an, stieß sich heimlich an und lächelte. Die beiden F – – esser konnten dies schmachvolle Ertapptsein nicht lange ertragen. Sie wären am liebsten schamvoll in einer Versenkung untergetaucht. So rafften sie sich denn auf und kehrten in den ersten Raum zurück: »Schade war's doch, daß uns die Sache vorbeigeglückt! Aber dennoch ist es vielleicht vom Schicksal ganz weise, mir war schon etwas schlimm! Am Ende hätten wir morgen nicht zur Schulfeier gehen können!« – sagte Lotte, sich selber tröstend.

Und so war es denn diesem weisen, richtig waltendem Geschick zu danken, daß Lotte am nächsten Vormittage gesund und munter auf dem Podium stand. Der Direktor überreichte ihr die vorzügliche Abgangscensur mit einigen freundlichen, anerkennenden Worten. Vor der ganzen Schule sprach er ihr die Freude des Lehrerkollegiums aus, daß sie sich noch zur rechten Zeit besonnen habe und ihre ›glänzenden Gaben bei besserem Betragen‹ ausgenutzt hätte! Lotte schwamm in Wonne. Am liebsten hätte sie die Welt umarmt. Ihre Phantasie stellte ihr schon den häuslichen Triumph und alle fernsten Folgen eines »Lobenswert« im Betragen vor. Trotzdem hatte sie genug Selbsterkenntnis, um sich zu Alice zu beugen und zu sagen: »Du! Ein blindes Huhn findet auch mal 'n Korn. Oder die« – mit einem Blick auf die Lehrer – »sind nich ganz klar!« – – »Unsinn, sie sind so froh, daß sie uns los werden, daß sie uns zum Schlusse loben!« – entgegnete diese flüsternd. – – »Das mag sein; aber mir ist's schnuppe. Daran denkt keiner, der die feine Censur liest! Und das ist mir die Hauptsache! Besser auf die anständige Weise 'rausgelobt als volle Wahrheit!« – –

Herr Doktor Lohn hielt eine tiefergreifende Rede. Meist wandte er sich mit seelenvollen Blicken an die Abgehenden. Und obgleich er längst verheiratet war, verfehlte er doch seine Wirkung nicht. Die Mädchen waren erschüttert. Dann sang der Chor noch obendrein das rührende Lied:

»Ihr lieben Schulgenossen aus guter alter Zeit – –
Zum letztenmal umschlossen seid ihr von unserm Kreise.«

nach der Melodie von: – »O Thäler weit, o Höhen.« – Da war es um aller Fassung geschehen. Alle weinten. Alice und Lotte schluchzten, als ob sie es bezahlt bekämen. Der Abschied von den Lehrern wirkte noch mehr auf die Thränendrüsen. Als man sich endlich im Hausflur befand, hatte man so rote Augen und Nasenspitzen, daß man »so« unmöglich auf die Straße hinaus konnte! –

So standen denn Julia, Alice und Lotte in einer windgeschützten Ecke des großen Hausflures und gelobten, bei noch immer rieselnden Thränen, treue Freundschaft für alle Zeiten. Die Hände lagen bei diesem Eidschwur ineinander.

*

Plötzlich fuhr draußen ein Postwagen vorbei. Der Postillon hatte sein blankes Instrument hochgehoben und blies die übliche Weise.

»Kinder!« – jauchzte Lotte Bach – Lobenswert im Betragen! Ich!! Nee, ich halte es nicht mehr aus, ich muß heim! Onkel Doktor schenkt mir vor Erstaunen und Freude sicher 'nen Thaler.

Das Posthorn hör' ich mächtig zu mir dringen,
Das Zeugnis steigt, und die Moneten klingen!«

Mit dieser Verunstaltung der schönen Schillerschen Worte, schwang sie die Zensurenmappe und stürzte fort.


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