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Gretchen Thronick und Lotte Bach saßen Hand in Hand, eng aneinander geschmiegt, in Lottes Zimmer. – Sie standen jetzt in der vollsten Blüte ihrer Backfischjahre und flossen über vor Liebesbedürfnis und Sentimentalität. Jedes tadelnde Wort irgend eines Nebenmenschen, jede harmlose Bemerkung eines Verwandten erregte geheime Zerknirschung und Thränenströme. Selbst ein eifriges Zurkirchegehen, eine plötzliche, hitzige Frömmigkeit, Eisbahn und Tanzstunde halfen nichts. Aus ihnen selbst unerklärlichen Gründen wühlten sich unsere einst so tollen Rangen in irgend einen, ihnen selbst unbekannten Gram ein. Und auf den gegenseitigen Besuchen hatte man sich nur dann amüsiert, wenn man sich Arm in Arm, Brust an Brust, ausgeheult, bedauert, Mut zugesprochen und sein Unglück in ein gemeinsames Tagebuch eingetragen hatte. –
Seit nun unsere beiden bei einer dieser unheilvollsten Giftpflanzen: bei einer Kartenlegerin gewesen waren, glaubten sie sich vernichtet. Dumme, alberne Aberglauben wucherten in ihnen auf und zerstörten manche frohe Stunde. Das Schwindelweib hatte Lotte vor ihren Freundinnen gewarnt, ihr drei Männer und einen Tod vor dreißig Jahren prophezeit. – Gretchen dagegen wurde vor ihrem Verehrer gewarnt und zur alten Jungfer bestimmt! – So waren denn die Mädchen wirklich recht unglücklich! Trotzdem verhinderte sie die heimlich getragene Trauer nicht, Rückfälle in alte Unarten zu bekommen. – Sie traten unschuldig vorüber wandelnden Damen auf die Schleppen. Sie quälten die Droschkenkutscher mit verbrauchten Witzen: »Kutscher, Kutscher!« – – »Wat is denn los? – – »Um Gotteswillen!« – – »Wat denn, wat denn?« – – »Ihr Rad dreht sich!« – – »Dumme Bäljer« – –
Oder: »Kutscher, fahren Sie – – –« – – »Jewiß!« – – »Sehr schön, wir gehen!«
Sie telephonierten an fremde Menschen dumme Bestellungen und störten plötzlich die Verbindung. Und hinter verschlossenen Thüren antworteten sie sogar unter angenommenen Namen auf sonderbare Zeitungsannoncen. – Auf der Straße oder in den Museen unterhielten sie sich, damit es fließend und natürlich klänge, in englischen oder französischen Gedichten, die sie im gewöhnlichen Sprechton rezitierten. Einstmals plapperten sie sogar, möglichst naturgetreu eine Unterhaltung nachahmend, selbsterfundene Worte mit viel Gaumenlauten und Konsonanten und hofften, daß man sie für Russinnen hielte! Bis plötzlich eine Stimme hinter ihnen sagte: »Hör dir das nur an, Frauchen! Diese niedlichen Backfische quatschen sich an, um sich wichtig zu machen! Mir machen solche Dinger zuviel Spaß!«
Lotte und Grete flohen entsetzt vor den scharfen Späheraugen des Herrn, welcher sie durchschaut hatte. Dafür rächten sie sich auf andere Weise! Sie forderten von den simpelsten Verkäuferinnen in einfachen Geschäften – komplizierte Kunstwerke wie: »Ariadne auf dem Nashorn« oder eine »Leokohngruppe (Laokoon)« oder »Apoll und Diana in griechischer Uniform!« – Sobald man ihnen dann verwunderte Gesichter machte oder die richtigen Figuren zeigte und beteuerte, daß es keine anderen gäbe, dann verschwanden die losen Mädchen und schüttelten sich vor Lachen. – Wenn dann irgend ein Herr mit voller Berechtigung die unartigen Geschöpfe ansah oder ansprach, so packte sie die Angst. Wie zwei Wilde rasten sie über die Straßen, drängend, stoßend, rücksichtslos weitereilend, je mehr man hinter ihnen drein schalt.
Und dies alles geschah, wenn die vertrauenden Eltern und Verwandten nichts ahnend ihren Geschäften nachgingen, auf die gute Erziehung ihrer Töchter bauend. Sie waren ja jetzt vernünftig und benahmen sich in Gesellschaft Erwachsener sehr nett. Gretchen zeigte sich, im Beisein anderer, noch immer äußerst schüchtern und bescheiden. Kein Mensch traute ihr etwas Böses zu. Lotte hingegen hatte ihr keckes Mundwerk, ihre übermütige, kritische Berliner Art und Sprechweise beibehalten. Man glaubte ihr jede Rüpelei. Und frei von irgend welcher Verstellung und Heuchelei machte sie aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Sie war für jede Tollheit zu haben, blieb das enfant terrible ihrer Eltern und Geschwister und machte kein Hehl daraus, lieber ein: »Berliner Schusterjunge« als eine »Tugendtunte und Zierliese« sein zu wollen! –
Heute waren die ersten Klagen und Weinereien glücklich überwunden. Die beiden Gebeugten faßten sich und schöpften zu neuer Unterhaltung Atem: »Wie haste dich denn im Wallenstein amüsiert?« – fragte Gretchen plötzlich – »Du hast mir ja noch gar nichts davon erzählt!« – – »Weißte, Grete, über das, was einem am allertiefsten geht, kann man nicht sprechen! Mir ist's dann, als ob ich 'was Heiliges entweihe! So ein Buch oder so'n Theaterstück, 'n geliebten Menschen oder sonst so was, wenn's mir gefällt, liebe ich so, daß ich nich aushalte, wenn man's tadelt oder drüber die Nase rümpft. Dann wer' ich wild und grob und kränk' mich obendrein!« – – »Na aber, Lotte, du hast 'n kleinen Vogel! Ich wer' doch nich lachen oder die Nase rümpfen, wenn du mir was erzählst. Noch dazu über Schiller, das wagt doch kein Mensch!« – meinte Gretchen. – »Soo? Das denkst du, mein Kind!« – höhnte Lotte – »Aber als ich vorgestern in der Schule ganz begeistert vom Wallenstein anfing und sagte: Schiller sei für mich ein Gott. – – – Hihi, ich platze noch vor Wut, wenn ich nur dran denke!« Da lachte Alice und meinte: »Ihr Papa hielte Goethe für viel bedeutender, und Schiller mit seinem Tamtam und seiner Schönfärberei hätte sich längst überlebt! Als ob ein Mensch auf der Welt wäre, der sich nicht im Tasso und in der Iphigenie im Theater mopste! Es wagt es nur keiner auszusprechen! Ich aber kann dir sagen, ich hab beides mit den Eltern im Schauspielhaus gesehen, und sie haben mir alles erklärt und trotzdem habe ich mich gelangstiezt. Als wir es in der dramatischen Lesestunde in der Schule durchkauten, hat es mir viel besser gefallen. Was thue ich aber mit Lesedramen, wenn ich sie im Theater sehen und hören soll und mich dabei mopsen?« – – – Und Julia lachte höhnisch und sagte: »Man sähe eben an meiner Vorliebe für ›Jungfrau‹ und ›Wallenstein‹, was ich noch für ein harmloses Ding wäre! – Für sie brauchten die ›gereimten Ritterschwarten‹ gar nicht mehr zu existieren, seitdem sie den ›Veilchenfresser‹ und ›die Journalisten‹ gesehen habe! Allenfalls ›Kabale und Liebe‹ ginge noch; denn da seien wenigstens moderne Ideen drin! Was sagst du nur dazu?« – Sie ließ die Freundin los. –
»Laß sie quatschen! Wir lieben unsern Schiller weiter!« – – »Na ob, denn wenn all die Modernen tot und vergessen sind, wird er erst wieder modern werden! – Und, Grete ich kann dir sagen, seit Dienstag komme ich gar nicht mehr zur Ruhe, ich habe mich verliebt!« – – »Nanu, schon wieder? Wohl in den Schauspieler vom Max Piccolomini?« – – »Ach was, der war himmlisch; aber einen lumpigen Mann kann jeder lieben! Nein, Grete, du allein sollst alles hören; aber schwöre mir ewiges Schweigen!« – Gretchen schwur! Lotte nahm eine Photographie aus ihrer Kommode. – »Das habe ich mir von meinem Taschengeld gekauft. Sieh her, das ist das Herrlichste, was die Welt trägt. Sie spielte die Gräfin Terzky. So 'was Geistvolles und Imposantes! Vata war auch ganz futsch! – Jucza Beerbu heißt sie, und Sonntag gehe ich hin und mache ihr Besuch. Drei Briefe habe ich ihr schon geschrieben! Ich ruhe nicht eher, bis wir Freundinnen geworden sind, und damit basta!« – –
»Donnerwetter, du gehst drauf los; aber Lotte, verdreht bist du doch! So 'was Hohes, Berühmtes wird sich grade mit dir anfreunden? Bin neugierig, wie du das machen willst?« – »Haha, das laß man meine Sorge sein! Fensterpromenade habe ich ihr schon gemacht, und Blumen bringe ich ihr. Und eine Handarbeit mache ich ihr. Laß nur gut sein, vielleicht werde ich auch 'mal berühmt! Jedenfalls schwärme ich so lange für sie, bis sie mir einen Kuß giebt! Und von da ab liebe ich sie! – Alle Mädel bei uns schwärmen für Schauspieler!«
»Ja, für Herren lasse ich es mir noch gefallen!« – sagte Grete nachdenklich – »Für Mandowsky und Rainz schwärmen sie bei uns auch; aber für Damen?« –-»Grade wat Schenes! Die kann man ungeniert streicheln und besuchen! So'n Mannsvolk redet sich immer gleich ein: man will es heiraten! Nee, ich bin nur für meine Jucza, die ist lieb und hübsch und klug! Und zu jedem soll sie freundlich sein, selbst zu dummen Backfischen!« – – »Du erzählst mir doch jetzt gar nichts mehr von Herrn Feller?« – lenkte die Zuhörerin ab. – – »Gott, was soll ich dir auch da viel berichten? Er tanzt viel mit mir, glotzt mich immer an und tuschelt mir dumme Redensarten ins Ohr, wie süß ich sei, wie lieb er mich habe, wie er auf die Zukunft hoffe! Neulich hat er mir in der Garderobe ein Billet mit einem Gedicht zugesteckt. Darin sagt er, ich sei das süßeste Wesen der Schöpfung. Von mir ließe er sich lieber weiterhin maltraitieren als von Elly Bernhard oder Julien gut behandeln.« – – »Ihr drei seid wohl die Hauptpersonen?« – – »Ja!« – bekannte Lotte offenherzig – »Aber ich schwatze viel lieber mit den Herren, als mit ihnen 'rumzuhopsen. Leider kommen wir nicht viel dazu! Führich paßt streng auf, daß wir viel tanzen. Weißte, bei uns ist ein junger Maler von der Kunstakademie, Heidenreich heißt er! Der macht mir doll den Hof! Das ist ein frecher Dachs! Ungeniert und über alles macht er sich lustig. Immer lacht er. Wir beide verstehen uns famos! – Feller ist furchtbar eifersüchtig; aber das freut mich grade! So'n dummer Kerl, mich zu lieben?! Verstehe ich gar nicht!« – – »Du pickst immer auf dem armen Willi 'rum! Dabei ist er ein schneidiger Mensch und sehr tüchtig. Mein Erich ist in demselben Korps und sagt: Aus dem wird 'mal 'was! Er ist so fleißig! Und im Korps vergöttern sie ihn. Auf dem Paukboden ist er der Tapferste. Ich glaube, der ist bloß dir gegenüber solch Lulatsch, der Schöps!« –
»Soo?« – Lotte bückte sich und kippte den Teppich um. Ihr Gesicht strahlte vor Glückseligkeit. Ihr Herz klopfte heftig. Aber sie biß die Zähne zusammen und beherrschte sich. Jedoch war sie immer noch dunkelrot, als sie gleichgültig erwiderte: – »Mag sein! Mir ist er pipe! Um mich brauchte er sich nich so zu haben! Wenn ich noch so schön wie Elly oder so klug wie Julia wäre! Aber so'ne wilde Range wie ich!!?« – – »Möchtest du ihm nie einen Kuß geben?«
Lotte fuhr entrüstet auf: »Ich? Ihm? – – – Nie! Du bist – – du – – – Im übrigen sterbe ich ja doch jung!« – – »Aber erst hast du doch drei Männer!« – – »Himmeldonnerwetter, weißte, Grete, das ist das Schrecklichste! Tante Luni sagt: Man hätte schon an einem genug! Was mache ich bloß mit den dreien?« – – »Is eure Ella noch so verliebt?« – »Na, wenn einer vier Wochen verheiratet ist, muß er schon anstandshalber so thun! Manchmal thut es mir ordentlich leid, daß ich die Ehe von Robert und Ella gemacht habe!« – – »Warum denn?« – – »Äx, sie knutschen sich so viel und sogar vor andern! Gestern hat er sie ›vor Vata und Mutta‹ und mir so auf den Mund geküßt. Ekelhaft, seine Liebe vor einem dritten zu zeigen! Ich kann das Gehabe nicht ausstehen. Mir ist's immer, als müßte ich heulen – – – bei – – so was!«
»Ist es jetzt im Kränzchen nett?« – – »Nee, scheußlich! Es wird sich wohl bald ausgekränzchent haben. Wir krachen jetzt sehr viel, seit der Tanzstunde. Lenn König is doch nich dabei und mag auch nich, wenn wir nur vom Tanzen sprechen. Und dann – – lange dauert die Sache doch nich mehr. Jede will was anderes werden. Alice soll studieren. Lene wird Lehrerin, Julia will zur Bühne gehen! Ich heirate drei Männer auf einmal! Also unsere Interessen gehen doch auseinander. Mit Julia verhalte ich mich aber doch, wegen der Freibillets! Weißte, vielleicht wird sie doch mal 'ne große Schauspielerin, man kann doch nie wissen, was 'ne Sache is!« – – »Natürlich! – Spielst du noch viel mit Franz und Max?« – »Nee, eigentlich sehe ich sie nur noch auf der Eisbahn. Neulich haben sie mir einen großen Gefallen gethan!« – »Was denn?« – – »Ach, sie haben mit zwei anderen Jungen unseren englischen Lehrer, den Lange, das Ekel, auf meine Bitte hin mit Schnee beschmissen und ihn tüchtig verstubst. Er wollte ihnen nachrennen, aber es war abends und schon stockduster. Er kam aus der Schule, wo er mit dem Direx die Rechnungen macht! – Ostern kommt Franz auch fort. Er soll später Marineoffizier werden. Max kommt erst Oktober in eine Lehre und studiert Verdienologie. Sein Papa sagt, er brauche kein verhungerter Beamter zu werden!«
»Lotte, Grete! Kommt zum Abendbrot!« rief die Geheimrätin und störte die beiden Mädel aus der Unterhaltung auf. Sie eilten mit plötzlich erwachtem Hunger die Kegelbahn entlang. Vor ihnen ging die »neue«, schwarzhaarige Berta, welche an Stelle der verheirateten Minna ihren Einzug bei Bachs gehalten. Sie war eine stramme Pommerin aus einem Dorf bei Stettin. Mit Fräulein Lottchen stand sie sich wie alle Vorgängerinnen ausgezeichnet. Da aber in ihrem sonst braven Charakter eine starke Empfindlichkeit lag, brummte Berta zuweilen. Dann gab ihr Lotte einen freundschaftlichen Rippenstoß und sang:
»O Bertchen – Süßes Pferdchen – Woll'n Sie brummen in Berlin?
O Bertchen – Großes Pferdchen – Zieh'n Sie lieber nach Stettin!«
Dann mußte Berta lachen. Und die Sache ging in Ordnung! – – Jetzt band sie dem neuen Haustyrannen rasch die Schürze auf und gab ihr einen Nasenstüber. Berta trug gerade ein Tablett mit Theegläsern und Bierflaschen, so daß sie sich nicht wehren konnte. Na, und ehe sie zum Schelten kam, waren die beiden Mädchen im Speisezimmer verschwunden. –
Julia hatte am folgenden Mittwoch das Kränzchen zu empfangen. Der Tisch war gedeckt und so reich mit Schlagsahne versehen, daß Lottes Herz vor Begeisterung klopfte. Es war ihr unmöglich, den »göttlichen Fraß« mit strenger Miene von der Tafel zu verbannen. Sie nahm in heldenmütiger Aufwallung sogar die vom Herrn Major spendierte »Appeltorte« hin. Man konnte doch nicht so unhöflich sein und eine solch noble Aufnahme, als nach den Statuten ungehörig, zurückweisen! – In der Vorfreude auf die Mahlzeit durchwanderte sie mit Julia und Lene die eleganten Salons. Die Wohnung gehörte ihnen heute allein. Vater und Mutter beteiligten sich zu Pferde an einer Quadrille, die in einer bekannten Reitbahn vor Seiner Majestät getanzt, das heißt geritten, wurde. Heinz war im Dienst und die karrierte Hopfenstange, unartigerweise im »Bunde der Seele« mit – »Mist« anstatt Miß – bezeichnet, had suddenly to go to church! »Immer wenn Miß fromme Anwandlungen kriegt, trifft sie sich auf dem Monbijouplatze mit dem englischen Buchhalter aus der großen Maschinenfabrik da in der Nähe. Dann wandelt sie mit ihm durch den Park, und anstatt zu beten – betet sie an!« – sagte Julia pfiffig. – »Kinder, mir kommt ganz Berlin schon wie ein Rendezvousplatz vor!« – meinte Lotte – »unsere ›Made‹ benutzt den Tiergarten – Mist den Monbijoupark – Du, Julia, triffst dich mit Hochthal am Kreuzberg, unsere Berta mit ihrem Braun in der Invalidenstraße! Wa–haftig, nächstens fange ich auch noch an! Ich gehe dann in ein Museum! Vor so großen Kunstwerken hat die Sache dann wenigstens noch etwas Ideales!« – – »Na, ich danke! – entgegnete Lene und wies auf die Bronzen- und Marmorwerke der Majorin, welche in ihrem Boudoir verteilt waren – »ich liebe die Museen nicht, vor so vielen nackenden Gestalten und vor vielen Bildern schämte ich mich tot!«
Lotte machte große Augen. Sie war starr. »Nackliche Gestalten auf die schönen, ollen, griechischen Kunstwerke? Du bist gut! Die sind so schön – – – wahrhaftig, ich hatte noch nie daran gedacht, daß nackliche Kunst unanständig wäre! Das muß doch sein, und dann ist es ja immer so schön! Donnersachsen, ich hab noch nie was dabei gefunden. Ich wäre auch mit 'nem Herrn hingegangen! Aber nun will ich es lieber lassen! Wenn es sone Schweine giebt, die sogar im Museum 'was rausfinden, dann – – – äx, pfui Deibel! – Wenn man erst auf solche Gedanken gebracht wird, kommt man ja schließlich dazu, sich überall zu schämen und muß um Entschuldigung bitten, daß man nackend geboren ist! Pfui, Lene, daß du so ferklig und thuerig bist!« – – »O Bitte! – erwiderte diese heftig und gereizt – »ich thu' mich gar nicht; aber dir fehlt dann überhaupt das richtige Gefühl, wenn du auf ›sowas‹ nicht von selber kommst!« – – »Schweinigel!« war Lottes ganze Entgegnung, dann sprang sie an den Flügel und klimperte. Helene war beleidigt und setzte sich wortlos hin. Julia sang Lottes Melodie mit, hob ihr Kleid und tanzte:
»Seht ihr wohl, da kimmt er – Lange Schritte nimmt er!
Seht ihr wohl, da ist er schon – Der geliebte Schwiegersohn!«
In diese schon etwas geladene Atmosphäre schneite Alice, die zu spät kam. Sie rieb sich die kalten Hände, hauchte hinein und brachte ›etwas Leben in die Bude‹, wie Lotte erleichtert dachte. Man setzte sich an den Kaffeetisch und speiste. Solange man dieser beruhigenden Thätigkeit oblag, ruhte das Kriegsbeil. Schlagsahne besänftigt immer! – – Kaum war der letzte Bissen herunter, so begann Alice ein Gespräch, das verhängnisvoll werden konnte. Auch sie war seit der letzten Tanzstunde in verhaltener Wutstimmung. Ohne sich um den abräumenden livrierten Burschen zu kümmern, schob sie hastig die Tasse zur Seite und sagte:
»Weißt du, Julia, du kannst deinen Bruder von mir grüßen und ihm bestellen, er solle sich pökeln lassen, oder wenn er sonst will, einmarinieren! Ich verzichte auf seine weiteren Aufforderungen!« – – »So, was hat denn der Bengel wieder verbrochen?« fragte die Schwester lachend. – »Ach was, erstens ist das Gehabe mit Käte und Anni unerträglich! Wenn er die beiden so schön findet, so soll er nur mit ihnen tanzen! Ich liebe keine Brocken, die von des Reichen Tische fallen. Aber das ist doch schon der Gipfelpunkt, wenn einer einem x-mal auf dem Wege erklärt, wie gern er sich mit einem unterhalte. Und wenn dann die Tänze kommen, bei denen dies allein möglich ist, wie Kontre, Polonaise, Menuett oder Quadrille, da engagiert er Käte oder Anni oder Herta. Und wenn diese versagt sind – mich! Dafür danke ich entschieden! Um Heinz willen hatte ich Wutzleben was vorgeschwindelt. Er wollte durchaus den Kontre haben! Aber Heinz tanzte ihn natürlich mit Ada. Ich mußte mich mit Wolf Scheurer begnügen, der in Obersekunda sitzt, keine Spur von Bart hat und immer Verwirrungen anrichtet. – – Und da grinzt mich dein Bruder beim › chassez-croissez‹ noch an und fragt mich, wie ich mich amüsiere? So ein – – – ein Esel!« – Sie verschränkte die Arme und machte ein finsteres Gesicht.
»Aber Wolf ist ein sehr netter Junge, bloß zu schüchtern. Ich mag ihn sehr gern!« beschwichtigte Lotte.
»Na, bitte, dann tanze du doch immer mit ihm. Es steht dir ja frei! Du hast gut reden, denn Heidenreich und Feller kommen immer erst zu dir. Kein Wunder, kokettierst ja auch genug mit ihnen!« – – »Ich, ich kokettiere? Du bist wohl 'n bißchen lititi, ja?« rief die Angeredete beleidigt, »das kann ich gar nicht mal! Ich stürbe vor Scham, wenn ich dämliche Augenklapperei machte und mir dächte, man merke es. – – P! Das ist doch nur der gelbe Neid! Überhaupt weißt du doch, daß man mit blauen Augen gar nich schmeißen kann. Und mich so anzubrüllen, schäm dich was! Kann ich dafür, wenn du – – –« – – »Ach quatsch nicht, Krause,« unterbrach sie Alice kurz, »ich durchschaue Heinzens Taktik! Wir sind ja bloß bürgerlich und da sind wir ihm nicht gut genug!«
»Oho!« trumpfte Lotte auf, die jetzt auch fuchtig geworden. »Dann würde er Elly Bernhard nicht so den Hof machen, die is auch nich adlig. Aber das kommt nur von deiner verflixten Sozialdemokratie und deinen ewigen bissigen Bemerkungen auf das zweifarbige Tuch und die zu einfarbige Intelligenz. – Ich ließe mir das auch nich gefallen, wenn ich Heinz wäre, sondern würde sagen: Ich danke, Frau Krause, fahren Se nach Hause!« – – »Hör mit deinem ewigen dummen Berlinisch auf, das ist einem über, und man könnte aus der Haut fahren!« stieß Alice gereizt hervor. – »Bitte, allergnädigstes Fräulein, fahren Sie ruhig aus Ihrer Haut, und setzen Sie sich getrost daneben! Ein Wechsel Ihrer heute etwas verschrubbelten Pelle würde für Euer Hochwohlgeboren von höchstem Nutzen sein! Denn« – sie hob ihre helle Stimme – »wer Berlinisch und dumm miteinander verbindet, hat einen so gewaltigen Piep, daß er nach Kamerun gehen muß und sich dort von den Schwarzen die verrenkten Begriffe einrenken lassen. Und damit basta!«
Lotte flog auf dem Sofa in ihrer Leidenschaft in die Höhe und ließ sich wieder gewichtig nieder. Julia saß lässig zurückgelehnt wie der verkörperte Hohn da, und lächelte hochmütig mit halb geschlossenen Augen. Lene häkelte an ihren Kanten eine neue Tour. Während sie zählte – »sechs, sieben« – sagte sie ironisch – »ich muß bekennen, acht, neun – wir entsprechen heute in der That, elf zwölf, dem Namen unserer Kränzchens: Bund – vierzehn, funfzehn – der Seele – umdrehn! eins, zwei – das kommt davon, wenn man Tanzstunde nimmt – drei, fünf – und die Konfirmationsstunde – neun, zehn, aufschiebt! So jetzt habe ich mich verzählt und kann die Reihe auftrennen! – Zu dumm!« – fügte sie hinzu.
»Ist es auch,« – ergänzte Alice höhnisch – »Bund der Seele! Hahaha! So was Überspanntes konnte auch nur Lotte Bach 'rausfinden!« – – »Warum hast du es denn angenommen, meine Liebe? Wenn es so überspannt war, hättest du doch 'was Besseres vorschlagen können. Aber das ging nicht, weil es an Grips fehlte! Hoho! Im übrigen bist du eine Meineidige und handelst mit deinem Gezanke gegen die Statuten!« – – »So stoßt mich doch aus! Es paßt mir schon lange nicht, mit einem Mädchen zu verkehren, das noch mit Puppen spielt!« – sagte Alice.
Ehe Lotte eine scharfe Erwiderung machen konnte, fiel Julia ihr ins Wort: »Kinder, ich denke, wir essen erst die Apfeltorte und dann pöbelt ihr euch weiter! Wozu zanken wir uns denn? Keiner kann dafür, wenn Alice eifersüchtig ist! Auch ich mische mich nie in Heinzens Affären, denn wenn er wütend ist, kneift er mich in die Arme! Und ich habe keine Lust, zum Tanzstundenball mit braun und blauen Flecken zu erscheinen. Wir wollen auch den Herren kein Schauspiel geben und uns wie verzankte Kinder geberden! Reicht mir eure Teller, bitte?!« – – »Ich zanke ja gar nicht!« – sagte Lotte, angesichts der Torte verklärt. »Na und ich etwa? Wenn aber Lotte alles so auf die Wagschale legt!« – rief Alice noch grollend. – – »Wann ist denn der Ball, und was zieht ihr dazu an?« – fragte Lene kauend.
»Der Ball ist schon am ersten Sonnabend im März, weil einige Herren verreisen müssen. Ich trage ein rosaseidenes Tüllkleid mit gelblichen Spitzen und Apfelblüten! Mama läßt es mir bei ihrem Schneider machen!« – antwortete Julia hoffnungsfroh. – »Na, so üppig sind wir nicht!« – versetzte Lotte darauf. – Meine Eltern lieben auch keine Seide für junge Mädchen. Ich ziehe mein Hochzeitskleid von Ellas Hochzeit an. Es ist reizend hellblauer Tüll mit eingestickten Tupfen, die Schärpe ist Mutters hellblau gefärbter Krepdechineshawl. Ins Haar nehme ich einen Vergißmeinnichtkranz. Und Onkel hat mir einen weißen Spitzenfächer, mit Vergißmeinnicht gemalt, versprochen, wenn ich ihm die beiden Jungfrauenmonologe ohne Fehler hersagen kann!« – – »Ich trage ein weißes Kaschmirkleid mit goldenen Litzchen! Es ist sehr hübsch, aber Lottes ist duftiger!« – brummte Alice, damit die Freundin versöhnen wollend. Diese biß auch auf den Angelhaken. Sie lächelte geschmeichelt. »Na, deins ist aber reizend, steht dir vorzüglich!« – »Na, dann werdet ihr ja en gros Herzen knacken!« – seufzte Lene – »ihr habt es gut gehabt mit eurer Tanzstunde, den ganzen Winter habt ihr euch fein amüsiert. Und wie oft ihr im Theater war't!« – – »Vätachen hat mir fest versprochen: sobald er wieder fürs Stadttheater Freiplätze bekommt, gehst du mit mir hin. Und er holt uns ab. Das wäre fein! – Was?« – – »Na und ob! Aber das könnte ich ja gar nicht annehmen!« wehrte Lene geziert. – »Ach Unsinn, du Affenschwanz, wenn mein Papa es dir giebt, wirst du sein kaffriges Billet doch nehmen können. Und dann is' es ja von mir purer Egoismus! Du sollst meine süße, bezaubernde Jucza sehen und mit mir für sie schwärmen. Sie ist wonnig!« sagte Lotte und träumte selig lächelnd vor sich hin. Sie hatte inzwischen die berühmte Künstlerin besucht, ihr von einer Bekannten Grüße gebracht und von ihr wirklich den ersehnten Kuß empfangen. Ihr derbfrisches Wesen hatte das Wohlgefallen der großen Schauspielerin erregt. Die geplante und erhoffte Freundschaft schien in der That in Gang zu kommen. –
»Papa findet die Pape größer in ihrer Leidenschaft!« – sagte Alice unbesonnen. – »Die Beerbu ist ihm fast zu natürlich! Überhaupt kann ich mich nur für Mandowsky erwärmen. Von ihm habe ich jetzt die vierte Photographie bekommen, von Tante Professor als Vielliebchen!« – »Ach ja, das muß man der Beerbu lassen, sie spielt großartig und hat das schönste Organ in Berlin!« – bestätigte Julia zu Lottes Freude – »Wenn ich mich für eine und einen als Schwarm entscheide, dann wäre es für Rainz – und, und Solmar. Wir denken das hier alle!« – – »Ich war noch nicht im Reichstheater! Papa nimmt mich dort nicht gern hin!« – sagte Alice. Lotte hatte dort schon den »Don Carlos« gesehen. Sie ging zuweilen in das Theater. –
So war für kurze Zeit die Unterhaltung in friedliche Bahnen gelenkt. Jedoch tobte der Kampf noch einmal los, als Alice den Studiosus Feller mit einer harten Bemerkung genannt hatte. Lotte ergriff mit leidenschaftlichem Feuer für den Angegriffenen Partei. Kaum aber begann Julia sie mit ihrer nun bewiesenen Vorliebe für den »schönen Willi« zu necken, da wandte sich das Blättchen. Sie verurteilte ihn scharf, zog alle Schattenseiten von ihm vor das Forum der Öffentlichkeit. Je erregter sie war, je lauter tönte in ihrem Innern das unüberhörbare Wort: »Judas!« – Am Schlusse sagte Alice ironisch, daß sie am nächsten Mittwoch am Kommen verhindert wäre. Lene ersann auch einen Vorwand, und nun erklärte Lotte Bach mit brennenden Wangen, daß das Kränzchen von diesem Tage an aufgehoben sei. Der »Bund der Seele« war zerstört. – Die Bündlerinnen gingen auf getrennten Pfaden nach Hause. Sic transit …
Bei Bachs im Salon war die ganze nähere Verwandtschaft versammelt. Selbst die geliebte Tante Luni war mit ihren Kindern Alfred und Else erschienen. Frau Geheimrätin saß in schwarzseidenem Kleide im Sessel und unterhielt sich mit den andern über die Reize des Ballmuttertumes. Ihre Hauptfreude war, daß dieser Tanzstundenball wenigstens schon um spätestens halb elf Uhr zu Ende ging. »Na, wie ist denn unsere Range nun so in den Tanzstunden gewesen?« – fragte der eine Vetter. – »Da kann ich nur mit Busch mein alt erprobtes Citat anwenden, nämlich: Der größte Lump sitzt obenauf! – Lotte ist immer der gleiche Frechdachs und kennt keine Ziererei. Woher sie es hat, weiß ich nicht, aber ihr Übermut und ihre Derbheit sind ihr angeboren. Ich glaube, wenn sie 'mal mit unserm Kaiser spräche, würde sie keine Gêne haben, sondern ihm ihre anbetende Begeisterung schlankweg offenbaren! Dabei kann ich ihr nicht einmal Unhöflichkeit oder schlechte Manieren vorwerfen, im Gegenteil, sie ist sehr höflich! Aber mein Mann hat sie ja in Grund und Boden verzogen!« – – »Na, Ollchen, und von dir hat sie so viel ererbt, daß das Resultat eben nur so sein kann!« – lachte der Geheimrat. – »Ihr könnt ganz zufrieden sein, Onkelchen, wir haben den munteren, gutherzigen Kerl alle von Herzen lieb. Sie ist immer frisch und lustig!« – meinte Frau Luni, bei der Lotte einen großen Stein im Brette hatte. Der Vetter, welcher das Mädel »Schnauzel« genannt hatte, wandte sich dagegen fort. Er schmunzelte süßsauer: seine und Lottes wechselseitige Liebe war nicht sehr bedeutend!
Dann erschien Lotte an der Hand der ältesten Schwester. Diese war das Hausmütterchen und in ihrem stillen Walten ein wahres Juwel! Sie hatte die Jüngste zu dem bevorstehenden Feste angeputzt und nahm alle ihre, durch die innere Erregung entstandenen Launen ungestört in den Kauf. Die »Balldame«, mit ihrer Vergißmeinnichtkrone auf dem heute leicht hochgesteckten Haare, sah sehr vorteilhaft aus. Sie drehte sich stolz nach allen Seiten und ließ sich bewundern. – »Was hast du denn da für einen reizenden Strauß, Schnauzel?« – fragte der Vetter. – Lottes Augen funkelten ihn an: »Ach Quatsch – – das sind – – ja bloß Blumen!« stotterte sie verlegen und wurde noch mehr rot. »Ja, für Kartoffeln habe ich die Rosenknospen und Vergißmeinnicht allerdings auch nicht gehalten!« – sagte er lachend. »Na, weißte, zugetraut hätte ich es dir!« – rief sie zornig und wandte sich rasch an die anderen Besucher.
»Ja, hört und staunt! Meine Tochter hat das entzückende Bouquet heute morgen von einem Dienstmann überbracht bekommen. Ein niedliches Gedichtchen von ihrem glühendsten Verehrer lag dabei. Lotte, wenn du nicht artig bist, nenne ich seinen Na …« Aber die Tochter hatte ihr schon die Hand auf den Mund gedrückt: »Mutta, wenn du ihn verrätst, dann … dann … wa–haftig, dann binde ich alle deine eingemachten Früchte auf, nasche und lasse sie verderben. Das hast du dann davon! Wir müssen fort, sonst kommen wir zu spät!« – – Alle amüsierten sich und neckten die Range, die erleichtert aufatmete, als sie endlich warm verpackt mit der Mutter über die Straße schritt. – Hastig entkleidete sie sich in der Garderobe und trat neben der Geheimrätin in den Saal. – Dort war in einer Ecke ein von den Eltern gemeinsam gespendetes Büffet mit Salaten, schwedischen Schüsseln, Obst, kalten Braten, Torten, Bier und Limonade besetzt, aufgestellt worden. – Eine Kaffeetafel mit obligatem Kuchen sollte nach dem ersten Kontre hereingerollt werden. – Die jungen Mädchen hatten von ihrem Taschengelde Orden, Schleifen und kleine Gaben gestiftet, die auf dem Seitentisch in einer anderen Ecke zierlich niedergelegt waren. Die Herren spendeten auf allgemeine Unkosten eine große Lyra mit zahllosen kleinen Sträußchen und sehr niedliche Bonbonieren in farbigen Atlasbeutelchen. Die Familie von Miller, als eigentliche Veranstalter des ganzen Unternehmens, überraschte die Jugend noch mit Bomben aus Fruchteis und einer ergiebigen Ananasbowle. –
Für die Mütter und »Anstandsbaubaus« war heute die Herrengarderobe geräumt und in ein Plauderwinkelchen verwandelt. – Der Klavierspieler hat noch zwei Geiger zur Verstärkung der Musik erhalten. Und Herr Führich verteilte unter seine Schülerinnen allerliebste Tanzkarten mit seinem Bilde. Die Schüler erhielten buntbemalte Bleistifte, mit denen sie sich in die Tanzrubriken eintragen sollten. –
Heute war die sonst streng innegehaltene Methode einer Unterrichtsstunde aufgehoben. Alle wogten bunt durcheinander. Die reizenden, jugendfrischen Mädchen, die uniformierten oder befrackten blühenden Jünglinge boten ein liebenswürdiges, anmutvolles Bild, an dem sich die mütterlichen Herzen vom Nebenzimmer aus erbauten. Der Tanzmeister ließ heute jede Ermahnung und beschränkte sich darauf, maître du plaisir zu sein. Nachdem eine halbe Stunde verflossen war, sich alle versammelt und ausgeplaudert hatten, befahl er einen Walzer und bat, zu engagieren.
Auf Lotte war, gleich beim Eintritt, der Sekundaner Wolf Scheurer im dunklen Anzug, natürlich unbefrackt, zugestürzt. Er betete sie an, weil er sie für die einzige hielt, die vor ihm Achtung hatte. Wenigstens war sie stets seiner Schüchternheit zu Hilfe gekommen, hatte ihn auch bei der Damenwahl geholt und versucht, sich mit ihm zu unterhalten, – Gutmütig reichte sie ihm die Karte und gewährte ihm den ersten Walzer und einen Rheinländer. »Aber mehr nich, Wölfchen, nun haben Sie genug. Holen Sie mich, wenn Sie wollen, noch zu einigen Extratouren. Das ist mir recht. – Sonst engagieren Sie nur Fräulein Trenkow oft, die mag Sie so gern!« riet sie ihm. Darauf drehte sie sich zu Willi Feller, der mit dem Galaband seines Korps wirklich wunderschön aussah. Er harrte ihrer schon längst. Lotte wurde sehr blaß, aber sie lächelte gezwungen: »So, nun habe ich unser männliches und weibliches Mauerblümchen zusammengebracht. Hoffentlich mopsen sich die armen Würmer nun nicht,« sagte sie und senkte die Blicke, weil sie auf seinem Gesicht zu deutlich merkte, daß sie ihm gefiel. Dann reichte sie ihm ihre kalte, rechte Hand und hob mit der linken die Blumen bis zu ihrer kleinen Nase empor. – »Ich habe Ihnen noch für den schönen Strauß und Ihr Gedicht innig zu danken,« flüsterte sie, »wa–haftig, Sie haben mir eine große Freude bereitet!« – – »Das war mein Wunsch, und ich hoffe, daß Sie die Sprache der kleinen Gabe verstanden haben. Rosenknospen erblühen zu Rosen und dann: ›vergiß mein nicht‹! All mein Fleiß, mein heißes Streben hat ein Ziel! Ich will schnell vorwärtskommen, um mir das Mädchen meiner Liebe bald holen zu können! Holen, ehe ein anderer sie mir raubt! Heute ist das süße Geschöpf erst fünfzehn und ein halbes Jahr alt, ich bin im dreiundzwanzigsten, da habe ich noch keine Zeit und kein Recht, sie zu binden oder eine Entscheidung herbeizuführen. Aber ich bin treu und zäh, ich kann und werde warten, Lotte,« sagte er leise und erregt.
Sie wollte trotzig aufbrausen, wollte ihn mit einer ihrer kräftigen Ulkbemerkungen scherzend abführen, aber sie vermochte es nicht. Ihr Herz stand still in einer süßen Ahnung. Ein geheimnisvoller Schauer glitt über ihren Rücken. – – – »Sehen Sie mich an, wilde, kleine Dornenrose,« flehte er, »nur einen Blick! Ich will ja noch kein Wort, Lotte!« – – Sie zitterte. – – Plötzlich sah sie ihn eine Sekunde an. – Und in dem Übermaß an Empfindung, das sie durchrieselte, fiel sie der herbeieilenden Alice mit einem unterdrückten Schluchzen um den Hals. »Nanu, ist dir schlecht?« fragte diese erstaunt, »du siehst ja ganz käsig aus!« – – Lotte hatte Zeit, sich in dieser Minute zu fassen. Energisch richtete sie sich auf und versuchte ein kurzes Lachen: »Ja, der ganze Saal kreiste vor mir; aber nun geht es schon! Sechs Wochen war die Padde krank, nun raucht sie wieder, Gott sei Dank,« rief sie etwas heiser.
Andere Tänzer umdrängten die beiden Mädchen. Ihre Tanzkarten gingen von Hand zu Hand und füllten sich schnell. All die verschiedenen Empfindungen, welche so urplötzlich in Lotte gekämpft und sie von etwas ganz neuem in ihrem Seelenleben unterrichtet hatten, schlugen jetzt in eine wilde, übermütige Ausgelassenheit um. Sie kannte sich selbst nicht mehr, wenn sie sich lachen und scherzen hörte, während in ihrem Innern die bange Frage: »Was ist denn eigentlich mit dir los? Wie komisch ist dir zu Mute?« immer wieder sie beängstigte! – Wolfgang Scheurer hatte schüchtern in der Ecke gestanden. Er hatte absolut keine Kourage, die Herrengruppen um Fräulein Bach zu durchdringen und sie zu dem versprochenen Tanz zu holen. Nachdem er ein Weilchen mit sich gekämpft und sich eine kleine Anzahl von Fragesätzen durch fortwährende Wiederholung fest eingeprägt, machte er sich endlich auf den Weg. Sehr erregt landete er vor seiner Dame: »Darf ich bitten, gnädiges Fräulein?« stotterte er und erschreckte sich über seine eigene Heldengröße so sehr, daß er gleich nach einigen Drehungen aus dem Takte kam. Lotte versuchte mit verzweifelter Anstrengung ihren Tänzer zu halten. Aber – die Sysiphosarbeit mißlang: hurtig mit Donnergepolter kam Scheurer an einer Saalecke zu Fall. Er plumpste und zog sie mit herunter.
Beide kullerten auf dem Boden. Man sprang hinzu und half Lotte empor. Sie war sehr ärgerlich: »Sie sind ein Gefühlsturner, Wölfchen,« sagte sie heftig, als sie aber in seinen Augen etwas wie aufsteigende Thränen bemerkte, that er ihr zu leid, um weiter zu schelten. – »Na, aber das schad't nischt, das kann jedem passieren. Kommen Sie, wir setzen uns hier hin und plaudern ein bißchen!« – Sie packte ihn bei seiner behandschuhten Rechten und zog ihn auf einen Stuhl nieder. Er lächelte beglückt und raffte sich zu einem, wie ihm dünkte, interessanten Ballgespräch auf:
»Nicht war, gnädiges Fräulein, der Saal ist recht hoch?« – – »Na, wissen Sie, Wölfchen, die Siegessäule ist etwas höher!« – – Scheurer blickte sie an. Er wußte nicht, ob das Hohn oder Ernst war. »Ja – – – gewiß! – – Essen Sie gern – – Apfeltorte – – – oder lieber – – – Nuß,« stammelte er. Jetzt prustete Lotte aber los: »Wölfchen, ich futtere alles, was mit Kuchen und Süßem zusammenhängt, mächtig gerne, aber wenn Sie mich nich besser unterhalten können, dann lassen Sie mich lieber tanzen.« – Sie sprang auf, denn Heidenreich verneigte sich vor ihr. »Schade, ich wollte Sie eben nach Lederstrumpferzählungen fragen?« rief der Sekundaner traurig hinter dem fortwirbelnden Paare her; aber dieser höchste Aufschwung zu einer litterarischen Salonkonversation verhallte ungehört. –
Heinz von Miller drehte sich munter mit Alice Hutten: »Ich kann Ihnen sagen, so ein Backfischball – – einfach öde für uns, die an schwerere Kost gewöhnt sind. Wäre auf Ehre nicht gekommen, wenn nicht hier im Saale 'ne kleine witzige Person wäre, die Geist in die Sache brächte! Und tanzen kann sie – – – jöttlich!« – – »Ach was!« erwiderte das junge Mädchen abgebrochen und atemlos, »mir können Sie keinen blauen Dunst vormachen. Ich falle auf Ihre Anzüglichkeiten nicht mehr rein! Sie sind ein Don Juan – – – bald verhimmeln Sie Käte von Hallisch, bald strampeln Sie sich vor Elly Bernhard ab! Bitte zum Platz.« – – Er brachte sie mit eingebildetem Lächeln zu einem Stuhl, blieb aber neben dem zornigen Mädchen stehen und beugte sich zu ihr: »Wenn Sie wüßten, wie reizend Sie die Eifersucht kleidet. Jede möchte Alleinherrscherin sein, Alice! Wenn ich Paris gewesen wäre, auf Ehre, ich hätte die stolze Juno, die dumme Venus laufen lassen und den Apfel der herben klugen Athene gegeben!« – Über diesen geistreichen Vergleich selbst begeistert, wirbelte er stolz den Schnurrbart.
Alice lächelte bewundernd und höchlichst geschmeichelt: »Das haben Sie famos gesagt!« – rief sie versöhnt – »Donnerwetter, das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut!« Sie konnte nicht weitersprechen. Wutzleben holte sie zu einer Tour. – Miller richtete sich straff auf und schritt am Rande des Saales entlang, um sich möglichst Elly Bernhard zu sichern, die gerade nach dem entgegengesetzten Ende des Raumes geführt wurde. – Anni von Hallisch und Herta von Wutzleben kamen untergefaßt an ihm vorbei: »Verstehe nicht, was den schönen Feller gerade zu Lotte treibt?« – – »Kommt man am weitesten. Sie kokettiert auch empörend. Wie gefällt dir Feig heute?« – »Na, etwas Bourgeois!« hörte er noch von ihrem Geflüster: »Wenn Sie weiter ruddeln, meine Damen, lassen Sie mich bitte am Leben! – Seien Sie gnädig. – Ich stehe doch über Ihrem Urteil!« rief er ihnen nach. – »Sei nicht so eingebildet, du unausstehlicher Mensch!« entgegnete Herta, seine Cousine, ärgerlich. Sie zog die Freundin rasch weiter. – Heinz kam zu spät. Elly tanzte eben mit Schwertborg fort. Enttäuscht verneigte sich der Fähnrich vor Lucie Schütt. Erst als er diese zu ihrem Platze zurückgeleitet, gelang es ihm, die »Schönheit der Tanzstunde« zu ergattern. »Uff,« sagte er, »eigentlich muß ich mich noch verpusten, denn Fräulein Schütt gehört zum schweren Geschütz. Sie tanzt jut, kann sich aber nicht umdrehen. Jestatten Sie mir, mein jnädiges Fräulein, daß ich des Lebens höchste Seligkeit jenieße?! Die letzte Tour mit der graziösen Schönheitsfee! Wenn ich Paris wäre, auch ich hätte nur Venus – Apfel gegeben! Mit ›Stolz‹ und ›Weisheit‹ hätte mich, auf Ehre, totgemopst!«
Und die blondlockige Elly glaubte ihm, wie ihm die schlaue Alice geglaubt. – –
Man erholte sich von mehreren Tänzen. Zum Entsetzen der Geheimrätin erschollen, grade aus der Ecke, die sich Lotte ausgesucht, fortwährende Lachsalven. Ihr silberhelles Lachen übertönte noch die andern Stimmen. Sie ulkte mit dem schlagfertigen Heidenreich in einer witzigen Wortschlacht. Eine Menge der Jünglinge und einige Mädchen umgaben die beiden Spaßmacher und lauschten entzückt. Alle Scherze wurden jubelnd aufgenommen.
Julia durchwanderte an Hochthals Arm langsam schlendernd den Saal. Sie sprachen leise flüsternd mit einander. Die glühenden Komplimente des geckigen Menschen hatten sie ganz aus der Fassung gebracht. Sie war sehr heiß und fächelte sich erregt Luft zu. Ihr reizendes Gesichtchen war ihm selbstvergessen zugewandt: »Ich lasse dir den prachtvollsten Lorbeerkranz zuwerfen, denn schon heute schwöre ich darauf, du wirst nicht nur das schönste Weib, sondern die genialste Künstlerin Deutschlands!« – sagte er. »Und Fürsten und Grafen werden mir zu Füßen liegen; aber heiraten werde ich nur dich!« – antwortete sie, schon jetzt von ihren Zukunftsträumen berauscht. Er preßte ihren Arm fest an sich: »Wenn es deine Eltern nur zugeben?« – – »Oho, ich brenne durch! Nein, zur Bühne muß ich! Sonst lieber sterben!« – flüsterte sie. – Eine neue Lachsalve störte sie. Wie mißtönend dieses urgesunde quellende Gelächter in ihre Erregung fiel. Er wandte den Kopf: »Das ist wieder einmal deine Freundin Lotte Bach! Sonderbarer Geschmack von dir, Julia mia, Ihr beiden paßt doch nicht zusammen! Kannst du dich denn mit diesem Kobold überhaupt unterhalten?« – fragte er. – »Lotte ist ein harmloses Baby, das noch mit Puppen spielt. Sie ist sehr begabt; aber sie thut mir immer leid, daß sie so kindlich ist, ich möchte sie zu mir emporziehen. Sie ist aber starrköpfig! Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß sie mich so wenig begreifen kann, sie ist doch schließlich eine Großstädterin. Vielleicht verstellt sie sich, ich werde nicht klug aus ihr!« – meinte Julia und zuckte die Achseln. »Der Feller ist ja ganz verschossen in die Krabbe.« – –
Willi Feller lehnte gegen einen Wandvorsprung. Er ärgerte sich über Lotte, deren Lustigkeit ihn verletzte. Während er sich mit Herrn Funk und Fräulein Perlow unterhielt, beschloß er innerlich, den ersten Kontre zu benutzen, um dem Mädchen bittere Vorwürfe zu machen. Sein ernster Charakter konnte sich nicht darein finden, daß Lotte nach seiner direkten Andeutung so unbefangen und unberührt erschien. Nicht mit einem Blicke streifte sie ihn, nicht einmal wandte sie sich zu ihm, so oft er auch zu ihr hinblickte! War sie wirklich nichts weiter als ein übermütiger, spielerischer Backfisch? War der gütige Ernst, die tiefe Innerlichkeit, die er hinter ihr suchte, nur eine Einbildung seiner erregten Gefühle? Verstimmt grübelte er darüber: Der Blick vorhin? Ihre Blässe, ihre kalten Hände, sollten das alles Täuschungen gewesen sein? Er mußte endlich zur Klarheit kommen.
Der Ball ging weiter. Die Stimmung wurde immer lustiger. Eins schien entschieden! Lotte flog zwar von Arm zu Arm. Alice tanzte ununterbrochen. Alle amüsierten sich, weil ebensoviel Herren wie Damen vorhanden waren. Die ausgesprochene Ballkönigin war und blieb entschieden: Julia von Miller, während sich die beiden Herren Fähnriche mit ihren Erfolgen die Wage hielten. Wirklich verstimmt waren in dem heiteren Treiben nur Fräulein Trenkow und Feller. Der ersteren hatte der Obersekundaner Scheurer beim Abendbrot Bier auf das Kleid gegossen, von dem er noch dazu im Übereifer kurz vorher eine Schleife gerissen hatte! – Der letztere hat beim Kontre von Lotte nichts herausbringen können. Sie behandelte ihn herb und spöttisch von oben herab und neckte sich mit Heidenreich und Alice, ihrem vis-a-vis, ungehindert weiter. Sobald er nur ihre Hand ergriff, machte sie sich so schnell als möglich frei. Er ahnte ja nicht, welche Revolution dabei in ihrem Innern tobte, wie sie all die ihr innewohnende Zärtlichkeit gewaltsam unter dieser Maske des Übermutes verbarg. – Während des Soupers wurden einige Toaste ausgebracht. Hochthal sprach auf die Damen. Miller auf die Tanzstunde im allgemeinen und Herrn Führich. – Und Studiosus Feller ließ nach einigen kurzen kernigen Sätzen das Ehepaar von Miller, als die Veranstalter, und die übrigen Elternpaare hochleben. Darauf kommandierte er höchst schneidig einen Salamander. Beim bibite ex trafen seine suchenden Augen Lotte Bach. Und was ihm ihr selbstvergessener, unbeobachteter Gesichtsausdruck verriet, war so beglückend, daß er ihr ihre gesamten Sticheleien, ihre Kälte und Lustigkeit in Vergangenheit und Zukunft verzieh! –
Die Stelle des ereignisreichen Kotillons mit seinen zahlreichen Touren und Abwechselungen, seinen verräterischen Geschenken und Ordensverteilungen, vertritt jetzt die Polonaise. Als Herr Führich Eltern und Schülerinnen wie Schüler zu diesem Tanze zusammentreten ließ, war der Höhepunkt des Festes erreicht. – Er führte die Touren, zu Hochthals Wut, mit Julia an. Dietrich sah, daß alle Damen vergeben waren. So blieb ihm denn nichts anderes übrig, als die alte Großmama Schwertborg zu engagieren! – Lotte und Feller, Alice und Heinz, Herta und Heidenreich, die hintereinander marschierten, schüttelten sich vor Schadenfreude und Vergnügen. Und Heidenreich machte den despektierlichen Witz: »Es ist nur gut, daß Großmamachen schon etwas zähe ist, sonst würde unser Balllöwe sie vor Wut mit Haut und Haaren verspeisen!« »Wenn du denkst, du hast se – Bist du der Geschaß–te!« – citierte Lotte und fügte hinzu: »Ich könnte mich vor Wonne kegeln, denn das gönne ich ihm von Herzen!« – – »Wie schlecht Sie doch sind, Fräulein Bach!« – meinte ihr Tänzer lachend. – »Die Polonaise ist der entscheidende Tanz jedes Balles!« – – »Nanu?« – – »Gewiß, sehen Sie sich einmal unsere zwölf Paare an! Sie werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, daß jedes Doppelglied sich so gefunden hat, wie es nach den vielen Tanzstunden zu erwarten war. Man hat eben die engagiert, die einem die Liebste war – – –« – – »Das mag wohl sein!« – erwiderte Lotte. – »Aber dies ist doch ungerecht!« – – »Weshalb?« – – »Na, weil wir Damen so mir nichts, dir nichts die Aufforderungen annehmen müssen, sonst beleidigen wir die Herren der Schöpfung! Eigentlich müßten wir auffordern, das wäre viel richtiger!« – – »Wen hätten Sie dann wohl gewählt, Fräulein Bach?« – fragte er neckend. – »Bestimmt Herrn Scheurer, der ist mir in seiner Bescheidenheit der Allerangenehmste!« – sagte sie schnell und blickte ihn schelmisch an.
Er glaubte, sie jetzt zu verstehen, und ihre Zurückhaltung entzückte ihn noch mehr. – Für die nächste Viertelstunde ließ Lotte ihren Gefühlen freien Lauf. Sie schmückte ihren Verehrer mit den schönsten Orden. Sie brachte ihm den niedlichen, selbst gestickten Uhrpantoffel. Zum Austausch empfing sie Bouquets und Schleifen, Seidenpapiermützen und eine Bonboniere im roten Atlasbeutel, auf dem ein Amor zwei Herzen mit Rosenketten umschlang. – Auch die anderen Tänzer bedachten die stets fröhliche und erheiternde Lotte mit Zeichen ihrer Verehrung.
»Sieh dir nur unsere Range an, die schwimmt ja förmlich in Wonne und sieht ganz verklärt aus!« – meinte der Geheimrat, der seit einem Stündchen anwesend war, zu seiner Gattin. »Ja, sie ist selig. Und doch, Mann, ich habe Angst!« – – »Schon wieder mal.« – »Beobachte nur den jungen Feller und sie, wie sie sich immer wieder bei all den ›Schlangen ‹, ›Kreistouren ‹ und ›Brücken ‹ ansehen! Schon das Bouquet heute morgen war mir zu viel! Zu solcher Tanzstundenliebelei ist sie mir denn doch noch zu jung!« – – »Ihr Mütter vergeßt immer, daß ihr auch jung gewesen« – sagte Herr Bach leise und energisch. – »Das ist ja fast lächerlich, wie ihr euch habt und eure Kinder unter die Glasglocke bringen wollt. Zu einer Range gehören wilde Streiche und Frechheiten! Zum Backfisch – – – Liebeleien und Überspanntheiten! Das sind menschliche, weibliche und männliche Häutungsprozesse, die durchgemacht werden müssen wie die Ouvertüren bei den Opern. Hier wie dort klingen die Akkorde, die Grundmotive einleitend an, die für die späteren Handlungen und Charaktere bestimmend werden! Und wenn in den Lebensouvertüren die Melodien so überschäumend reich, so sprudelnd frisch klingen wie bei unserer Tochter, dann haben wir keinen Grund zur Besorgnis! Früher habt ihr über Lottes Tollheiten gestöhnt! Ihr seht, sie haben sich mit den Jahren von selbst geläutert! – Stöhnt mir jetzt nicht über den beginnenden Gefühlsfrühling bei ihr, und zerstört die Triebe nicht unklugerweise! Ihr gesunder Sinn wird sie über die Klippen einer Jugendliebe von selbst fortleiten. Bleiben sich die jungen Leute in Zukunft treu, so wird ihnen die Tanzstunde eine wonnige Einleitung ihres Glückes. Und zerstört das Leben den Bund, nun, dann ist das Gedenken an solch unschuldig keusche Liebelei ein Heiligtum für alle späteren Zeiten! Wir Eltern können unsere Kinder nur anleiten und beraten. Wir dürfen sie nicht von eigenen Erfahrungen zurückhalten, denn gerade diese bilden und stärken Leib und Seele! Lotte ist in wenigen Monaten sechzehn Jahre. Sie ist ein gesundes, vollentwickeltes Großstadtmädel und kein Baby mehr!« – – »Ach, das sind schöne Theorien, Alter, wäre es dir etwa recht, wenn sie sich mit dem Feller heimlich küßte?« – fragte die Mutter. Er legte ihr nur die Hand auf die Schulter und blickte sie mit wehmütigem Lächeln an: »Denk an deine Jugend und das, was du mir erzählt hast! Nein, Altchen, mich schreckst du nicht ab! Der Kuß der Fünfzehnjährigen ist kein Kapitalverbrechen, sondern ein noch ungefährlicher Jugendstreich. Und über ein paar wird es auch nicht hinauskommen. Bei der ersten Liebe ist der Kuß noch etwas so Hohes, Erschütterndes, daß man ihn noch nicht zur Alltagsspeise macht. Er ist höchste Feiertagsbelohnung: ein kostbares Konfekt vom Weihnachtsbaum, das man halb andächtig, halb entzückt verspeist. – – – Und im übrigen sieht unsere Range mir gar nicht darnach aus! Was ich vorhin von ihrer Unterhaltung mit Feller aufschnappte, war so kratzbürstig wie nur möglich!«
Der Geheimrat behielt Recht. Bis zum Schlusse des »himmlischen, herrlichen, unvergleichlich schönen Balles« blieb Lotte ihrem getreuen Trabanten gegenüber – – eine kleine Kratzbürste. Sie hielt sich so streng im Zaum, daß sie sich nicht einmal mehr mit ihren Blicken verriet. Zwei Sonntage später machte Herr Feller in »Wichs« Visite und fragte nach dem Befinden der Damen, und wie ihnen der Ball bekommen wäre? – Freundlich empfing ihn die Bachsche Familie. Er kam gleichzeitig, um Abschied zu nehmen. Ostern sollte er auf Wunsch seiner Eltern nach Heidelberg zu weiteren Studien übersiedeln. Zum erstenmale in ihrem Leben lernte Lotte einen tieferen Schmerz kennen. Auch diesen verschloß sie in ihr tiefstes Innere. Von Gretchen Thronick begleitet, traf sie sich noch einmal mit »ihm« am Luisendenkmal. Und beim Abschied ließ sie sich in ihrer Aufregung sogar auf ihre weiße Stirn küssen. Er drückte ihr ein Päckchen in die Hand. –
Lotte öffnete es erst daheim, als Gretchen sie daran erinnerte. Es war ein winziger goldener Reif mit einem Goldherzchen. »Schenkt er mir 'nen Ring, zu verdreht!« – sagte sie rauh und warf ihn in die Kommode, ihre gleichgültige Miene bewahrend. – »Und geküßt hat er dich auch. Lotte, meiner Ansicht nach bist du jetzt wirklich Braut!« – meinte Gretchen. »Kann schon sein! Ich bin jetzt wirkliche Braut, nicht wie damals bei Fritz, das war man Quatsch, damals hat man nur so gethan als ob!« – –
Als Gretchen fort war, ergriff sie den kleinen Ring, setzte ihn eine Sekunde auf und küßte ihn leise. Dann verwahrte sie ihn mit seinem Brief, dem Gedichtchen und den getrockneten Blumen. Kein Mensch sah, daß Lotte Bach weinte! – –