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Frau Rat Bach saß auf dem Balkon und stopfte Strümpfe. Sie kam dieser gewohnten, wenn auch nicht gerade liebgewordenen Arbeit nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit nach. Von Zeit zu Zeit hob sie den glattgescheitelten Kopf in die Höhe, richtete sich ein wenig auf und spähte auf die Straße hinaus. Dann zog ein ernster Ausdruck über ihr gutes Gesicht. Mit einem vernehmbaren Seufzer beugte sie sich wieder auf ihre Stopferei hinunter und widmete sich ihr mit erneutem Eifer.
Ella hat schon einige Minuten das merkwürdige Gebahren ihrer Mutter beobachtet. Neugierig trat sie jetzt in den Thürrahmen: »Sag' mir, Mütterchen, was hast du bloß? Du benimmst dich ja wie ein Kriminalschutzmann?« – fragte sie lächelnd. – – – »Beinah' komme ich mir selbst so vor!« – entgegnete die Rätin. »Auch ich fahnde auf einen Verbrecher und fürchte, daß ich nachher scharfen Prozeß machen werde. Lotte bleibt so unheimlich lange fort. Heute ist doch Versetzung, – – – wenn nur da nichts passiert ist. – – Mir schwant so was wie Sitzenbleiben und schlechte Zensur. Das Mädel war nicht umsonst die letzten Tage so artig! Sie wollte uns sicher auf was Schlimmes vorbereiten! Siehst du sie vielleicht?«– –
Ella trat an die Ballustrade und bog sich weit darüber, um die ganze Straße zu übersehen: »Da kommen die Haffnerschen Jungen mit ihren Zensurenmappen; aber unsere Kleine ist nirgends zu erblicken. Vielleicht dauert die Schulfeier so lange; vielleicht aber hast du wirklich recht! Sie hat ein böses Gewissen und traut sich nicht nach Hause.« – Das junge Mädchen setzte sich auf den Stuhl, der Mutter gegenüber, und zupfte die Spitzchen an ihrer Schürze glatt. – »Weißt du, Ella, wenn ich nur daran denke, daß die Jöhre uns die Schande anthut und sitzen bleibt, – weiß der Himmel, es juckt mir in beiden Händen – – so ein nichtsnutziges – – –«
»Ich wollte nur, daß sich dein so häufiges Jucken endlich einmal in einer gehörigen Tracht Keile entladen würde! Wirklich, Mutter, alle Menschen beklagen sich über das Kind! Es ist auch mit ihr absolut nicht mehr fertig zu werden!«
– – Natürlich,« rief Frau Bach ärgerlich, – »du hast wieder einmal Grund, auf das arme Ding loszuhacken. Das kenne ich nun zur Genüge! Immer die gleiche Litanei, immer das alte Lied. Lotte ist nach euch einfach für ein Korrektionshaus reif. – Wasser, Brot und Prügel! Selbstverständlich! – Das arme Mädel hat aber einen schweren Stand hier im Hause; nicht nur die Eltern erziehen sie! Nein! Auch Ihr nörgelt beständig an ihr 'rum. – – Das macht sie nur aufsässig!«
»Das wußte ich schon, daß dies kommen würde, Mutter,« – entgegnete Ella heftig. –»Ihr gebt ja Lotte immer recht. Der Balg wird in einer Weise vorgezogen, und auch verzogen, die unerhört ist. Nächstens müssen wir noch dem vierzehnjährigen Fratz gehorchen!« – »Weißt du, meine liebe Tochter, diese Reden kenne ich nun schon einige Jährchen. Sie wachsen mir bald zum Halse heraus!« unterbrach sie die Rätin erbittert. –
Ihre Zweite stand gekränkt auf: » So werde ich mich eben entfernen!« sagte sie scharf, »du treibst uns aber mit deiner Ungerechtigkeit noch so weit, daß auch uns mal die Geduld reißen wird! – – Und dann kann sich Lotte gratulieren. Wenn wir loshauen, wird sie es fühlen!« – Ella verließ den Balkon. Ein zorniges: »Untersteht euch! In meinem Hause bin ich Exekutor!« und ein Hohngelächter folgte ihr nach.
Die älteste Schwester saß im Speisezimmer und stickte: »Du fängst immer wieder von der alten Geschichte an, Ella!« meinte sie unmutig, – »Wir ändern an Lottes verfehlter Erziehung nichts, der kann nur später der eigene Verstand helfen! Und was eine Bestrafung unserer edlen Jüngsten anbelangt, – – so folge meinem Rat, und verbrenne dir die Finger nicht. Lotte ist stärker als wir und beißt und kratzt besser als alles Getier der Welt. Die ist von dem Garten her an Keilereien und Verteidigungen gegen Angriffe gewöhnt!« – Klara lachte; aber sie verscheuchte damit die Wolken auf Ellas Angesicht noch lange nicht. Diese schaute mißmutig aus dem Fenster auf den Hof hinab.
»Ich habe es immer gesagt, dieser unbewachte Verkehr, diese Freiheitsdressur durch und mit Jungens ist nicht das richtige. Sie müßte eine Erzieherin bekommen oder in Pension ...« »Aber, Ella, du übertreibst wirklich! Sie ist schon etwas vernünftiger geworden und wird in den oberen Klassen noch anders – – mädchenhafter werden. Laß sie nur erst in die Backfischjahre kommen und Verehrer haben! Ihr Charakter ist doch ein selten guter!« – – »Gewiß, aber diese, pardon, ich finde keine andere Bezeichnung, diese Schnauze ...«
»... ist mit dem Spreewasser eingesogen und wird sich im Leben auch noch abschleifen. Und im übrigen,« – Klara seufzte, – »wer weiß, ob sie damit nicht weiter kommt als wir mit unserer Bescheidenheit! Sie wird sich nie die Butter vom Brot nehmen lassen!« – – »O nein, davon bin ich durchdrungen, aber ...«
»Ella, es klingelt!«
»Das ist sie; wenn sie doch einmal ihre Keile kriegte!« rief Fräulein Bach und sagte dem hinzueilenden Mädchen: »Lassen Sie nur, Minna, ich mache selbst auf, es ist die Kleine!« – – »Jott sei Dank, wenn't Lotte is, kommt wenigstens Leben in die Bude!« entgegnete Bachs neuer Hausdrache und verzog sich in ihr Küchengebiet. Sie wußte, daß ihr Liebling sie dort bald heimsuchen würde. Minna hatte stets irgend einen Knochen abzuknabbern, eine Schüssel auszukratzen oder sonst eine Herrlichkeit für ihre Lotte in Bereitschaft.
Ella war zur Korridorthür gestürzt; aber der Einlaßbegehrende war nicht ihr Schwesterlein, sondern der Regierungsrat in höchst eigener Person: »Na, Herzchen, du wunderst dich wohl, daß ich bereits so früh erscheine?« – fragte er munter. – »Aber ich kann meine Arbeit auch hier vollenden! Warum sollte ich also im Bureau 'rumsitzen? – Der Kanzleidiener holt die Papiere um fünf Uhr ab!« – Während sie dem Vater die Ledertasche hielt, entledigte sich dieser seines Überziehers und Hutes. Dann klopfte er jovial die Wangen des jungen Mädchens, ergriff seine Mappe und trat in den Salon, wo sein Schreibtisch stand.
»Guten Tag, Altchen!« – rief er ins Freie hinaus, – »heute arbeite ich daheim; – – wo ist die Range?« – sagte er dann besorgt und blickte umher. – »Was ist los, du siehst ja so erhitzt aus, Frauchen?« –
Frau Bachs Stimmung hatte sich durch den Streit mit ihrer zweiten Tochter nicht gehoben. Einerseits war sie selber über Lottes ewige Tollheiten ergrimmt, andererseits kränkte sie die Aussicht, daß Ella Recht behalten sollte. Denn soviel war klar, Lotte hatte wieder einen Unfug begangen und mußte nachher Katzenköpfe bekommen. Und sie schlug so ungern! Das Mädel hatte solch drollige freche Art. – – – aber nein, die Großen sollten nicht glauben, daß sie, die früher so strenge Rätin, allen Schneid verloren hatte! Es half ihr heute nichts, sie mußte 'ran – – armer geliebter, kleiner Racker!
»Höre mal, Bach, aber in allem Ernste!« – begann sie daher energisch und sah den erschrockenen Gatten durchdringend an, »du mußt strenger werden!« – – »Ich? Warum?« – – »Ja, du! Du verdirbst die Lotte in Grund und Boden! Ich bin überzeugt, dieses verflixte Ding ist sitzen geblieben und hat eine elende Zensur. Sie ist immer noch nicht aus der Schule zurück! – – – Ich verlange von dir aber in allem Ernst, daß du sie heute exemplarisch bestrafst und ihr nachdrücklich ins Gewissen redest, hörst du?«
»Na, liebe Frau, nimm mir nicht übel; aber das ist deine Sache!« versetzte der Rat unbehaglich. »Ich mische mich nicht in Mädchenerziehung. Die beiden Ältesten waren dein Werk und Musterkinder. Auf deren Konto laß unseren Wildfang nur ruhig sündigen! – – « »Aber, Bach!« jammerte die Rätin, »sie wird sitzen geblieben sein! Und denke nur den Triumph von Otto Janzen und Bella! Ihre Julie ist als erste versetzt! Die werden mich mit ihrem spitzen Bedauern töten!« – – »Na, höre mal, Alte, bist du denn nicht gescheit?« rief der Rat jetzt empört, »Janzens und die ganze werte Verwandtschaft sollen uns gewogen sein und ihre Sprößlinge in Aspic setzen. Nicht eine von den verhutzelten Krabben mit ihren eingedrillten Manieren hat den Schneid von unserer Lotte. Wer zuletzt lacht, lacht immer am besten! – – Aus der wird noch was – – das sage ich – – – ich!« – Er trat in das Zimmer und legte alles für seine Schreibereien zurecht. Dabei pfiff er wütend vor sich hin.
Die Rätin war ihm gefolgt: »Ich bitte dich, Mann! –« bat sie beschwörend, »das ist ja alles gut und schön! Aber um des Kindes willen thue mir den Gefallen, sei einmal streng. Zeige ihr die väterliche Autorität, und du wirst sehen, wie sie windelweich wird. Ein paar ordentliche Kläpse – – –«
»Pfui Deibel, ich danke! Eine Ermahnung wird es auch thun! Also ich verspreche, daß ich sie nachher ins Gebet nehmen werde! – – – Aber im übrigen thut mir nur das Schulgeld leid, das ich der Stadt in den Rachen werfe. Daß das Kind länger seine Jugend hat, bei uns bleibt, und ein halbes Jahr später Professor wird, ist mir äußerst angenehm. Basta!«
»Da fang ein Mensch was an!« jammerte Frau Bach, »dabei soll man erziehen, solche Unvernunft!« – – Der Rat legte seinen Arm um die behäbige Taille seiner Gattin und schmunzelte sie an: »Sei aufrichtig, vieledles Weib, wer ist verliebter in unsere Range, du oder ich? – – Na also, und nun, Ollechen, brumme nicht!« Sie wollte sich ihm unwillig entwinden, als Minna anklopfte und gleich darauf eintrat. – Das Mädchen sah rot und verlegen aus: »Gnetche Frau, bitte, eine Minute!« – »Was wollen Sie, Minna?« rief die eifrige Hausfrau und folgte der Voranschreitenden nach. Diese geleitete sie durch das Speisezimmer in den hinteren langen Korridor, die »Kegelbahn« genannt.
»Ach, gnetche Frau, Lotte und ein junges Medchen steh'n an die Hinterthür un wollen Ihn' sprechen. Seien Se man nich so strenk mit das Kind!« flüsterte sie flehend. Aber ihre Fürbitte verhallte ungehört. Frau Bach stürmte die Kegelbahn entlang, bis sie den Ausgang nach der zum Hofe führenden Treppe erreichte. Gegen die Wand gedrückt, standen dort ihre hoffnungsvolle Jüngste und eine gleichaltrige Gefährtin, sehr still und bedrückt.
»Bist du versetzt?« schrie die Mutter schon von weitem gespannt. – – »Ja, Mama!« klang es bescheiden zurück. – Die Rätin atmete auf. »Ah – ah!!« – Eine Bergeslast fiel von ihrem Herzen. Am liebsten hätte sie ihr Kind umarmt; aber die fortdauernde Stille verkündete ihr noch ein im Hinterhalt lauerndes Unheil. –
Alice Hutten, die Tochter eines bekannten Arztes, und Lottes neue Verschworene, knixte tief. »Guten Tag, Alice! Nun, mein Kind, was willst du von mir?« meinte Frau Bach freundlich. – Alice räusperte sich, knixte zum zweitenmale und wurde glühend rot. Dann bemerkte man deutlich, daß sie sich einen geheimen inneren Ruck gab. Endlich begann sie, erst schüchtern, dann fließender:
»Ich – – ich – – bin – – nur – – mitgekommen, – – Frau Rätin, – – weil – – nämlich – – – die – – – Lotte« – – – ein erneuter Ruck – »Lotte war wirklich im Sommer sehr artig und fleißig, das will ich im Namen der ganzen Klasse bezeugen.« – Der Redestrom floß jetzt glänzend. »Darum bin ich hier und will Ihnen sagen, daß die Zensur wirklich sehr ungerecht ist! Fräulein Jessen hat wahrhaftigen Gott schon immer eine Pieke auf Lotte, weil diese ihr die Culbänder abgeschnitten hat, als wir Handarbeitunterricht hatten. Aus Rache hat ihr nun das Ekel das Zeugnis verdorben; und die ungerechte Person, die Richtersche hat – – –«
»Liebes Kind, ich bin dir sehr dankbar, daß du deine Freundin so verteidigst!« unterbrach sie Frau Bach ernst, – »aber ich liebe nicht, wenn ihr so über eure Lehrer sprecht. Diese urteilen nach langem und wohlerwogenem Überlegen und sind durchaus nicht ungerecht, wenn ihr vernünftig seid. – Und nun, liebe Alice, empfiehl mich deinen werten Eltern und komme bald wieder!« – Alice verstand den Wink. Eine neue Verbeugung. Sie verschwand.
Die Mutter zog Lotte in die Wohnung und schloß die Thür. »Zeig her, du gräßliches Ding!« – herrschte sie. – »Nichts wie Schande und Kummer hat man von dir!« – Sie überflog die Zensur. – »Das ist ja reizend!« – knirschte sie. – »Dazu brauchst du noch eine Verteidigerin! – Diese Schande! Unser ganzes Haus wird ja durch dich kompromittiert. Na, komm du nur zu Papa vor! – Der schäumt schon! – – Da wird es was setzen! Du ungeratenes Geschöpf du!«
Sie hatte sich wirklich in Wut geredet. Das ungeratene Geschöpf bekam eine schallende Ohrfeige und einen so derben Kniff in einen gewissen Körperteil, daß ihr zwei Tage das Sitzen schwer wurde. »Himmel, hätte ich heute doch nur Wintersachen und zwei Röcke angehabt!« – ächzte Lotte in sich hinein, – »diese niederträchtigen dünnen Stoffe!« – Und sie rieb die brennende Stelle mit der linken Hand, die rechte zur Abwehr schützend hochgehoben. –
Die Rätin stürzte mit dem Zeugnis an ihr vorbei. – »Da hast du es, Bach!« schrie sie, – »deine Tochter! – Betragen: Ungenügend. L. ist unruhig und muß sich in der neuen Klasse bedeutend zusammennehmen, um nicht ihrer Führung wegen zurückversetzt zu werden.«
»Klassisches Deutsch!« – warf der Rat ein; aber seine Gattin fuhr unentwegt fort: »Fleiß: nicht genügend! – Ordnung: mangelhaft! – Aufmerksamkeit: nur in einzelnen Lehrfächern zufriedenstellend! – – – He, was sagst du nun?« – – Er nahm ihr das Blatt aus der Hand: »Aber, Mutterchen!« – besänftigte er sie, – »Deutsch, Französisch, Englisch: gut. – Geographie, Geschichte, Religion und Aufsatz: sehr gut. – Alles andere: im ganzen gut. – Sie ist in die untere erste Klasse versetzt! Ich, meinerseits, bin sehr zufrieden. Die Hauptsache sind mir die Fächer!«
Herr Regierungsrat Bach bekam einen wohlgezielten Rippenstoß, der seinen lächelnden Gesichtsausdruck in den einer schmerzlichen Überraschung verwandelte. »Nanu?« Sein Weib wies schon nach der Thür. – Dort stand seine Jüngste. Thränen sickerten über ihre Wangen. Aber in den weit aufgerissenen, erstaunten Augen flackerte bereits wieder neuer Lebensmut. Sie hatte seine ganze Rede mit angehört. – »Da hast du die Bescherung!« wütete Frau Bach, »es ist unerhört!« – Damit stürmte sie hinaus und warf hinter sich die Thüre zu. Bei ihren großen Mädeln, die sich diskret in ihr Zimmer zurückgezogen hatten, mußte sie Trost suchen und das Pech erzählen, das der Papa wieder angerichtet.
Vater und Tochter blieben allein.
»Es ist wirklich ungerecht. Papachen!« murmelte Lotte schmeichelnd. – »Alle finden es! Alice war sogar mit hier, um es zu bezeugen. Ich hatte mich schon viel mehr zusammengenommen; aber da habe ich der Jessen nach den Ferien die Bänder von der Tournüre abgeschnitten. Sie hat das Ding im Schulhof vor den Lehrern verloren, und darum hat sie mich bei den anderen so verketzert!« – – »Wie hast du denn das gemacht?« – fragte der Rat, innerlich begeistert.
»Na, »Vätachen, das geht doch so leicht!« – sagte Lotte. Sie wußte, ihr Spiel war gewonnen. – »Sieh' mal, die Jessen saß auf dem Katheder und beugte sich über mein Sticktuch. Dabei stand hinten ihre Taille etwas hoch. – Ich sah die Bänder und hatte die Schere in der Hand – – – da ich nun gerade neben der ollen Schreckschraube stand, habe ich zugeschnitten! Nicht, das kann man mir doch nicht verdenken?« – fügte sie dumm thuend hinzu.
»Aber sehr kann und thut man dies, liebes Kind!« – entgegnete Herr Bach und raffte sich zu gehörigem Nachdruck auf. – »Es ist ja entsetzlich, was du immer anrichtest! Mädel, wie kommst du nur auf diese Streiche alle?«
»Ich weiß nicht, Vätachen, aber ich brauche mir wahrhaftig keine Mühe zu geben. Sie kommen alle so von selbst! – Ehe ich mich versehe, ist's vorbei!«
Herr Bach wandte sich schnell um, kramte im Spindchen und entzündete sich sehr gemächlich eine Cigarre. Am liebsten hätte er laut gelacht; aber er schwieg. Und zerbrach sich den Kopf, wie er die Range am besten packen könnte! Endlich drehte er sich wieder um: »Lotte,« – fragte er tiefernst, – »wie alt bist du jetzt?« – »Vierzehn Jahre, Vätachen!« – »Rechne es genau aus!« – Sie überlegte scharf. »Ne, Donnersachsen, vierzehn Jahre und fast acht Wochen!«
»Menschenskind, da bist du ja ein Backfisch!« – »Ich???« – – »Natürlich, mit vierzehn Jahr, sieben Wochen, sieben Tage, sieben Stunden bist du ein Backfisch! Mädchen, bist du dir einmal klar geworden, was das ist?« – – »Pah, Fritz Haffner meint: Es war' nicht Fleisch, nicht Fisch. – Nicht Windbeutel und nicht Schlagsahne!«
»So kann ich dir sagen, daß Fritz das nicht weiß und sich irrt. Setz dich zu mir!« – Beide sanken auf das Sofa. Lottes Hand lag in der des Vaters. – »Ich sage dir stets die Wahrheit, Kind, das weißt du ja! Also höre: ein Backfisch ist eine beginnende Jungfrau, eine kommende Dame. Ein oder zwei Jahre weiter, und sie wird konfirmiert und in die Gemeinde aufgenommen. – Man erwartet daher durchaus noch nicht, daß ein Backfisch eine vollendete Dame ist, nein! Aber siehst du, all die Anmut, das Mädchenhafte einer solchen, die holde Bescheidenheit, die ruhigen Bewegungen erwartet und verlangt man von einem Backfisch! – – Nun?« –
»Mumpitz!«– entgegnete Lotte kaltblütig,– »zu dem dämlichen Zieren hat man noch mit siebzehn und achtzehn Zeit. Jetzt schon wäre langstiezig!«
»Du mißverstehst mich, Liebling! Zieren und erwachsen thun – – – pfui, das liebe ich auch nicht. Aber doch, Lotte, glaub mir, mit vierzehn darf man wohl noch ausgelassen und lustig sein; jedoch die Schimpfereien, die Keilereien, die wilden groben Streiche müssen aufhören. Wie lange noch, und du wirst Tanzstunden besuchen, Kränzchen mit deinen Freundinnen haben, und dann noch ein Weilchen, dann hat meine kleine Range sogar einen Verehrer!« – »Ph, ph, als ob das was wäre!« Sie nahm ihren schweren Zopf nach vorn und malträtierte ihn, um ihr Erröten zu verbergen. – »Nanu, Lotte, du wirst doch nicht etwa jetzt schon anfangen!« drohte der Vater amüsiert. – »Ne, Vätachen, bestimmt nicht! So'n dämlicher Bengel! Neulich hat er mich erst in der Tinte sitzen lassen! Weißt du, Willi Feller ist viel netter. Der hat nur Lackschuhe und einen Spazierstock mit silbernem Griff und ein seidenes Taschentuch, und zu Greten hat er gesagt: Lotte Bach wäre ein süßes Mädel! Fein – was?« – »Natürlich, Kind, trotzdem das sogar noch ein wenig Zeit hätte! Nun nimm aber einmal an, daß der Willi Feller – was ist er denn übrigens?« –
»Das weißt du nicht?« – gegenfragte sie höhnisch überlegen. – »So was! Primaner im Waltersgymnasium und wird Arzt!«
»Also schon ein fast erwachsener, junger Mann!« – lobte Herr Rat. – »Nun denk' nur, Lotte, der Willi hält dich für einen süßen Backfisch und möchte dich verehren. Da hört er von deinen Streichen oder sieht sie gar. Glaub mir, der schnappt ab! Besonders wenn er die Zensur liest!« – – »Meinst du?« zögerte sie hervor, dann seufzte sie. – »Na, denn hilft das nichts, dann muß ich langsam zum Tugendproppen werden!« – – »Warum Propfen!« – »Na, mit der dösigen Tugend verpropfe ich mir meine vergnügte Jugend!« – – »Ja, Lotte, den Anfang mußt du als Schülerin der ersten Klasse setzt machen. Du kannst ja noch zuweilen lustig und übermütig umhertoben; aber die Tollheiten hören auf. Versprich mir jetzt gleich, daß du dir fortan Mühe geben willst, vernünftiger zu sein!« – Beide sahen sich an und seufzten. – »Wie kann ich denn jetzt schon wissen, wie es kommen wird, Vätachen. Das kann keiner!« – »Nein, aber ich will dein Wort haben, daß du den festen Entschluß faßt, deine Pflichten ernst zu nehmen und in der Schule artig zu sein. Du bist ein Backfisch, Lotte, von dir verlange ich sogar ein Ehrenwort!« –
Das Mädelchen fühlte sich nun doch recht geschmeichelt. Sie legte ihre Hand in die des geliebten Vaters: »Na, wenn es sein muß, da hast du mein Ehrenwort drauf. Aber Rückfälle können noch vorkommen!?« – »Lieber nicht; aber wenn es nicht anders geht, bin ich einverstanden. Vernünftiges Betragen Werktags, lustige kleine Dummheiten Sonntags!« – – »Bon! Wollen sehen, was sich thun läßt. Mühe will ich mir jedenfalls geben!« –
Er schloß sie in die Arme und küßte sie: »Ich vertraue dir! Und nun zur Mama, auch sie muß dir verzeihen und dein Versprechen empfangen!« – Sie schritten zusammen in die Hinterwohnung: »Quäle nie ein Tier zum Scherz; denn es könnt geladen sein!« citierte Lotte ihre Kernsprüche. – »Eigentlich haben Sie mich furchtbar reingelegt, Herr Regierungsrat!« fügte sie frech hinzu. »Schadet nichts, ein Berliner Backfisch hält trotzdem sein Wort!« –
Drei »sanfte« Ergüsse aus drei gebeugten Frauenherzen mußte Lotte Bach über sich ergehen lassen. Man hieb mit »sanften« moralischen Keulenschlägen auf sie ein, bis sie windelweich und in Thränen aufgelöst war. »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.« – Lottes Vorsätze waren so gute, daß sie sogar die Hütte des Cerberus damit hätte polstern können. Sie gelobte, versprach und nahm sich das beste vor.
Sie speiste ihr Mittagbrot mit vollendetem Appetit und verschwand danach singend und lachend im Garten. Dieser – ihr altes Eldorado – hatte in den letzten Jahren eine bedeutende Veränderung erfahren. Das Haus war in andern Besitz übergegangen. Herr Marker schlief den Schlaf aller Gerechten, und Herr Neuert, der jetzige Wirt, hatte der alten Lodderwirtschaft ein Ende gemacht. Die Kinder hatten ihren eigenen Turn- und Spielplatz, der übrige Teil des Gartens zeigte schöne Beete und kiesbestreute Wege. – Kühne, der Portier, hütete die neuen Anlagen wie ein Drache. Er schritt von frühem Morgen bis zur sinkenden Nacht sehr zufrieden mit Gartenschlauch, Harke und Schere umher und gärtnerte. Besonders das Beschneiden der Bäume und Sträucher war sein Sport. – Dazwischen brüllte er die Kinder an, verpetzte sie beim Wirt und stärkte sich in den »Budiken« und »Destillen« der Umgegend zu neuem Schaffen.
Lotte und ihre Gefährten hatten ihre Urteile über die Veränderung in ihrer »Residenz« dem Herrn Rat gegenüber laut werden lassen. Sie waren sich einig darüber: »Neuerts sind hochanständige Leute und schmeicheln sich sehr bei uns ein, damit wir ihnen nix ruinieren! Euch kann das so passen, ihr habt für eure Besucher jetzt was zu prahlen mit frischgestrichenen Treppen und Blumengarten! Aber für uns ist die Sache mau. Neuerts wohnen parterre und klötern den ganzen Tag in den Lauben 'rum, da soll nun ein anständiger Mensch Obst stibitzen oder sonst was aushecken. Jeder gute Einfall vergeht einem ja, wenn man schon beim Reinkommen tausend Knixe machen muß! – – – Na, und Kühne, der olle Schnapssack, hat jetzt Oberwasser; aber wenn der sich einbildet: er kann – – na, dann irrt er sich eben. Uns kann keiner an de Wimpern klimpern!« –
Andere Mieter waren eingezogen. Andere Kindergestalten im Garten aufgetaucht. Der Storch hatte oft auf dem Dache geklappert, so daß eine ganze Reihe Kinderwagen und Ammen den Tummelplatz unseres Quartetts, einst ihr unbeschränktes Reich, einengten: »Schrecklich bei uns, nich' wa – – –?« rief Lotte ihrer Busenfreundin Gretchen Thronick zu. – »Wo man hinspuckt, steht eine Jöhre! Und wenn man nett ist und ihnen ›kille – – kille‹ macht, quaken sie los, und man wird obendrein angeschnauzt! Mein Himmel, so 'ne kleinen Knöppe sind doch nich' von Wachs!« – – Trotz dieser nicht anzufechtenden Wahrheit hatten die Pflegerinnen der verschiedenen Babies stets eine gewisse Unruhe, wenn Lotte erschien. Sie schwärmte für die winzigen Erdenbürger und liebte es, sie so lange »abzuknutschen«, bis fürchterliches Geheul ihren Zärtlichkeiten ein Ende machte! Und doch waren gerade die Kinderwagen mit ihrem schlummernden Inhalt die einzigen Gegenstände in der Welt, welche Lotte Bach zu stundenlangem Stillsitzen bringen konnten. Geduldig harrte sie neben den Schlafenden aus, beobachtete das Spiel der Händchen, verscheuchte die Fliegen und philosophierte mit den Hüterinnen. –
Also: Lotte passierte den neuen Durchgang in dem jetzt eisernen Zaun und betrat den Garten. Sie knixte vor den Wirten, drückte sich aber an ihrem Tisch schleunigst vorüber und verschwand in der »Mädchenlaube«, rechts vom Spielplatz. Ein weißes Couvert lag auf der Erde. Neugierig hob sie es empor und schlitzte es mit einer Broschnadel auf. Ein Briefbogen, sorglich gefaltet, fiel ihr entgegen. Hastig las sie die kurze Epistel und warf sie mit einem unterdrückten Wutschrei zu Boden. – Mit kalligraphischer Handschrift stand nämlich da: »Wer dies aufhebt, ist und bleibt ein Esel!« – – –
»Max, wenn ich dich zu packen kriege!« – stöhnte die tief Beleidigte. Dann nahm sie einen Band der Märchen aus Tausend und eine Nacht vor und versenkte sich in Ali Babas Abenteuer. Aber sie hatte nicht lange gelesen, als Mäxchen Helm und Franz Haffner auf der Bildfläche erschienen.
»Biste versetzt?« – riefen sie schon von weitem.
»Und ob nich, erste Klasse!« – entgegnete sie stolz, die Freunde beaugend, ob die Wirkung auch zündend wäre? – – »Ja ja, dem Dummen kommt es im Schlaf!« – meinte Max frech. Er war plötzlich sehr gewachsen und überragte Lotte. Bei der letzten »Keilerei« hatte er sie sogar »bezwungen!« Seither war ihm der Kamm etwas geschwollen. – Jedoch Bachs Jüngste ließ sich nicht verblüffen, noch das Heft aus den Händen reißen. Sie trat dicht vor ihn hin und ballte vor seinem Gesichte ihre kräftige Faust: »Höre mal, du!« – – – sagte sie energisch. – »Mach mir keine Wippchen, du kennst mich doch, denk ich? – – – Wenn ich noch mal so 'n Liebesbrief finde, dann werde ich dir die – Fünf in die Zehne dividie – –« – In diesem Augenblicke fiel ihr das erst heute gegebene Ehrenwort ein. Sie hielt inne. Doch richtete sie sich gleich daraus wieder zu ihrer vollen Höhe auf: »Ph!« – fuhr sie verächtlich fort – »Du scheinst zu vergessen, daß ich jetzt ein Backfisch bin. Es ist überhaupt mehr als nett von mir; wenn ich mit Jungen spiele, die noch in den Flegeljahren sind! – – – Nich' mal den Stimmbruch hast du wie Franz! Der ist doch schon wenigstens was!« – – »Na, hab dich man nicht!« – versetzte der junge Helm, plötzlich mit gepreßt tiefer Stimme. Der Vorwurf saß. Er kränkte sich oft, daß seine Knabenstimme noch nicht nach oben krähte oder nach unten versagte. Auch imponierten ihm die vielen dunklen Haare oberhalb der Lippe, an denen Fritz Haffner beständig mit so ironisch überlegenem Lächeln drehte.
Lotte hatte sich wieder als Diplomatin erwiesen. Franz lächelte geschmeichelt. Mit überschnappenden Tönen sagte er ruhig: »Kinder ich meine wirklich, zu diesen kindischen Zänkereien sind wir denn doch zu alt! Laßt uns lieber was Vernünftiges besprechen!« – Sie setzten sich alle drei nieder und sannen vor sich hin: »Fritz muß in drei Tagen weg ins Kadettenhaus. Vater hat doch noch 'ne Vakanz mit Onkel Generals Protektion ausgeknobelt. Na, Lotte, dann legst du wohl Witwentrauer an?« – fragte Franz.
»Ich?« – meinte diese errötend – »da müßte ich 'nen Piep haben?«
»Na, thu man nich so! – – – Ihr seid doch einig?« – – »Wir? Ne, da bist du schief gewickelt!« – erwiderte Lotte; aber ihr Herz pochte – »Gott ja!« – sie strich ihre Haare glatt – »man kann sich ja gern haben! Man hat's vielleicht; aber – – – das siehst du doch ein, – – – die Geschichte wäre aussichtslos! – – Ich heirate bestimmt nich' über tausend Jahre, sondern spätestens zwischen sechszehn und siebzehn – – – Man will doch nicht alte Jungfer werden, nicht wa? – – – – Und wenn ich erst Tanzstunden habe, dann kommen die vielen Gesellschaften, – – – man will sich doch nicht ewig in den Ballsälen rumstoßen! Und nun, ehe Fritz Offizier wird? – – – Im übrigen bin ich so schon mehr für Studierte – – – Ärzte zum Beispiel! – – – Sagt' mal, kennt Ihr Willi Feller?«
»Willi Feller? Nee!« – – »Doch!« – rief Max, – »der schwimmt in Wilmersdorf. – Furchtbarer Schaute, der Kerl, trägt immer Handschuhe und hat ewig reine Nägel! Er soll sogar einen Nagelreiniger in der Westentasche haben! So ein – – Affenschwanz!«
»Oho!« – erhitzte sich Lotte, – »das sind gemeine Verleumdungen! Man beneidet Willin, weil er so fleißig ist und schwarze Locken und graue Augen hat. Er sieht so interessant aus wie aus Schillers Jungfrau ein Ritter! Bei uns schwärmen alle für ihn!« – – »Du auch, Lotteken! Dir bubbert schon dein Herz vor lauter Liebesschmerz!« höhnte Max. »Mir, ph, ich habe eben viele, die mir den Hof machen!« –
»Na, weißt du, mein Kind, mit Bütmann hast du doch bloß poussiert, weil sein Später ein Konfektgeschäft hatte. Er schenkte dir Abfallbonbon und alte Schokolade, sonst hättest du ihn doch nicht angesehen! Darum schwieg auch Fritz, sonst hätte er ihn fordern müssen!« – sagte Franz. »Fordern – – – richtiges Duell? Ach, himmlisch!« – begeisterte sich das Mädelchen. – »Hätte Fritz das gethan, so würde ich – – – würde ich – – mir sein Monogramm in den Arm geritzt haben! Das thut mächtig weh und ist jetzt neueste Mode! Aber natürlich, so was thut ihr man immer bloß mit dem Munde!« – – »Na, nimm mir nicht übel, du! Auf Jauersche Würstchen sich duellieren, verstehe ich; aber mit Säbel oder Pistole, – – – ich danke für Obst und Südfrüchte!«
»Ja, du, lieber Max, – – – allerdings! Doktor Hitschel hat ganz recht, gegen die alten Germanen seid ihr modernen Männer wirklich entartet!« –
Max hatte in seinen Hosentaschen gekramt und schüttete jetzt deren Inhalt auf den Tisch aus: drei schmutzige Taschentücher, zwei mächtige Bund Schlüssel, Pflaumenkerne, Bleistifte, ein Groschen, ein kleiner lateinischer »Schmuh« zum Cicero, ein Band Indianergeschichten und zwei Portemonnaies kamen zum Vorschein. Die anderen sahen ihm interessiert zu: »Wißt ihr,« – meinte er leise, weitere Ausgrabungen vornehmend – »ich hab 'ne Idee. Die alte Putz hat uns doch bei Herrn Neuert wegen der Rosen verklatscht, obgleich ich überzeugt bin, sie hat selbst die Knospen damals abgeschnitten. – – Wir wollen ihr doch einen Schabernack spielen, der alten Giftmorchel!« – – – Lottes Gesicht erstrahlt in hellstem Jubel: »Ich bin dabei!« – bekräftigte sie. – »Die Olle kann krank werden, wenn sie nur eine Katze in der Nähe ahnt. Unsere Minna ist mit ihrer Julie befreundet; durch die kann ich ihr Setzmanns Kater ins Schlafzimmer schmuggeln. Man sagt dann einfach, das Biest ist am Spalier lang geklettert!« – – – »Nein!« – unterbrach sie Franz abwehrend. – »Nachher wird sie richtig krank, wir sind ihre Mörder und können uns gratuliern! – Ich danke! – – – Aber wir können ja die Lampe auspusten, die sie sich immer auf das Treppenfenster setzen läßt, wenn sie nach zehn Uhr nach Haus kommt!« – – »Unsinn, die habe ich ihr erst gestern und vorgestern ausgeblasen!« – entgegnete Lotte. – »Die Eltern waren ausgebeten. Da habe ich mich aus dem Bett geschlichen und bin in Muttas Marktcape heimlich auf die Treppe gerannt. Kläre dachte, ich schliefe längst, und die Thür hätte so geknaxt. Sonst hätte sie mich noch ertappt!« –
»Na, nun haltet mal Euere geehrten Hmns und hört zu. Also die Putz hat heute abend Skatpartie,« – meinte Max nachdrücklich, – »um elf Uhr bringt sie selbst die Gäste runter. Fritz hat es oft gesehen. Wie wäre es also, wenn wir alle Fußdecken im Hause, alle alten Besen und Schrubber mit nassen Lappen umwickelt, gegen ihre Thür lehnten? Macht sie dann die Bude auf? – – – Klatsch, hat sie die Parade in der Visage. Kein Mensch kommt auf uns.« – – »Na, Jungeken, da irrst du dich gewaltig. Jeder wird sofort wissen, daß wir es waren. Aber um der was anzuthun, nehme ich selbst einen Neuertschen Wischer und Papas Katzenkopp in den Kauf!« – sagte Franz. »Lotte, du bist ein Backfisch und all die Keilereien müssen aufhören! Du mußt mädchenhafter werden. Ich vertraue dir und deinem Ehrenwort!« – tönte es in Lottes Ohren. Ihr Herz that ihr bitter weh; aber sie beschloß, ihr Gelübde zu halten, solange es ging. Heute ging's! – – »Jungen!« – meinte sie betrübt, – »ihr kennt mich, ich wäre gern dabei und bin auch nicht feige; aber diesmal thue ich nicht mit! – – – Fragt mich nicht noch mehr, denn mich bindet ein furchtbarer Eid!« –
Sie war ordentlich blaß geworden. Die Freunde betrachteten sie, halb scheu, halb erstaunt. Sie wagten in der That keine Frage weiter.
»Menschenskinder, thut mir einen Gefallen, und sinnt was Harmloses aus, wo ich mitthun darf; wenn ich hier schon zurückstehen muß!« – flehte sie. – »Wozu hast du denn eigentlich zwei Portemonnaies, Max?« – – »Eins gehört mir, das große Muttern! Sie hat es mir geschenkt, weil es ihr selbst zu schlecht ist, um damit auf den Markt zu gehen. Ich werde es auch bald wegschmeißen!«
Lotte hatte das schäbige Ding ergriffen und beaugte es von allen Seiten. Sie hatte sich tief vornübergebeugt und versank in brütende Gedanken. Endlich schnellte sie empor: »Hurra!« – rief sie erlöst. – »Ich hab's! Kommt mal ganz dicht ran!« – Sie steckten alle die Köpfe zusammen und tuschelten, nachdem der »neue Backfisch« seinen Plan entwickelt. Er schlug durch; aber seine Ausführung scheute das Tageslicht und wurde um ein paar Stündchen verschoben.
Die Jungen turnten am Barren und Reck. – Lotte beendete ihr Märchen in einer der neuen Lauben des Vordergartens. Sie saß nicht lange, so erschien Fritz. – Er war jetzt siebzehn Jahr alt, ein lang aufgeschossener und bildhübscher Mensch. Seine Haltung, das gescheitelte Haar und die wenigen mühsam gewichsten Schnurrhärchen verrieten den Offizier in der Knospe. Selbst über den bei diesen Werdewesen üblichen Schnetterettengton verfügte er schon. – Jetzt trat er in die weinumsponnene Laube und drückte sich in seine Ecke, wobei er die Beine lang ausstreckte und die Arme lümmelnd auf die Lehne der Bank legte. Dann gähnte er ungeniert und reckte seinen jugendschlanken Körper, dabei das Mädchen fest im Auge behaltend. –
Ein Zug des Mißmutes, ja der Verachtung glitt über ihr Gesicht. Sie rümpfte die Nase: »Du bist doch ein gräßlicher Lulatsch!« – sagte sie entrüstet. »Und du ein niedlicher Frechdachs, dick – – rot – – blond – – und gesund – – – zum – – –«
»Quatsch nicht!« rief sie. – »Erst flegelst du dich rum, sagst nicht guten Tag, und dann redste Kohl.« »Na, das weißt du doch, daß du hübsch bist und meine kleine Zukünftige?« – – »Ich danke für solchen Schlenkerfritzen, der nicht weiß, wie er sich Damen gegenüber zu benehmen hat!« – – »Ach, Lottchen«, oben muß ich immer höflich sein und im Kadettenhaus auch; aber hier soll ich mich auch noch zusammennehmen? Das kannst du nicht verlangen! Du bist ja auch, Gott sei Dank, noch keine Dame!« – – »Aber ein Backfisch!« – – »Pfui!« – er schüttelte sich, – »Backfisch ist dasselbe wie eine unreife Pflaume: grün und sauer! Du aber bist ein süßer Fratz!« – – »Das haben mir schon viele gesagt!« – trumpfte sie geschmeichelt.
Er richtete sich mit einemmale auf und blickte sie drohend an: »Du! Das möchte ich mir doch dringend verbitten, besonders jetzt, wo ich fortgehe. Ich mag das nicht!« – Lotte fühlte sich bei diesem Eifersuchtsausbruch sehr gehoben. Fritz verdarb aber mit seinem Nachsatz alles. »In den letzten Tagen ist so ein blasser Laffe auf dem Schulwege hinter dir und deinen Freundinnen hergerannt. Auch hier vor dem Hause ist er aufgetaucht und hat zu euch raufgeglotzt! – So ein schäbiger Civilist – – – sicher ein Heringsbändiger – – –«
»Was?« – kreischte Lotte krebsrot. – – »Ein Heringsbändiger? – – Willi Feller? – – – Da hört doch die Gemütlichkeit auf! – – – Dieser bildschöne Mensch! – – – Dir rappeltst! – – – Aber ich lasse mich noch lange nicht von dir tyrannisieren, du – – – du – – – Ekel! Im kleinen Finger ist mir der lieber als du. Hast du seidene Taschentücher – – – he? – – Hast du – – – Lackstiefel oder silberne – – – hahaha – – o nein, lieber Fritz, wir beide sind fertig miteinander – – – für ewig! – – – Gott sei Dank, daß du fortkommst! – Und bilde dir nicht mehr ein, daß ich mit dir verlobt bin – – – pfui, äx!«
Sie stürzte, weißglühend vor Wut, aus der Laube und zerriß mit diesem Ausbruch das erste zarte Liebesband ihrer hoffnungsvollen Jugend. Fritz blieb perplex sitzen, wirbelte den kommenden Bart und ging endlich hinauf in sein Zimmer. Dort schrieb er in sein Tagebuch ein: »L. ist eine Unwürdige; vor allem sie ist noch zu sehr Kind! Wie könnte sie die Gefühle einer Jünglingsbrust verstehen? – – Vorbei! Rase aus, du Schmerz! F., sei stark!«
Es war gegen halb sieben Uhr und schon stockdunkel. Lotte saß in ihrem Puppenwinkel neben dem Wäscheschrank. Sie hielt ihre beiden Lieblingspuppen Iwan und Feodora fest an sich gedrückt und versuchte, traurig zu sein. Lieber Himmel, schließlich war eine Entlobung keine Kleinigkeit! Und wer weiß, ob sich Fritz nicht totschoß? Aber so eine Frechheit! Willi – – ein Heringsbändiger? – – – Nein, sie hatte recht gethan. – – »Lotteken!« – schrie Minna draußen, öffnete die Thür und stolperte herein – »nanu, diese Dusternis? Warum haste nich anjestochen? Oder fehlt dich was?«
»Nee, ich druselte man bloß!« entgegnete Lotte.
»Na, des is man gut, Putteken! Du, hör' mal. Maxe Helm is auf de Treppe. Se warten auf dir, du wüßt' schon Bescheid und sollst Strippe mitbringen!« – – »Ei, fein« – jubelte das Mädchen und sprang auf – »weiß schon!« – – Sie legte ihre Kinder im Dunkeln nieder und stürmte an der Küchenfee vorbei in die Küche. Nachdem sie dort aus dem Bindfadenkasten das dünnste und längste Schnürchen hervorgewühlt, hastete sie ohne weitere Erklärungen fort. –
In dem dunkelsten Teile des Hofes wurden die Vorbereitungen getroffen. Darauf begaben sich die Verschworenen auf die Straße und hielten Umschau. Im Keller, bei Frau Grünkramhändler Günter, waren sie stets gern gesehene Gäste und rannten ungeniert bei ihr hin und her, aus und ein. Hinter den hohen Blumenstöcken vor dem kleinen Fenster verbargen sich die Knaben. Lotte blieb vor dem Gitter des Vorgärtchens und fing geschickt ein Paketchen auf, welches ihr an besagtem Bindfädchen zugeschleudert wurde. – Sie legte es mitten auf den Bürgersteig, der von zwei Laternen, die rechts und links in einiger Entfernung standen, schwach erhellt wurde.
Als sie dieses gethan, schlüpfte sie auf die andere Straße, jenseits des Dammes. – Zu dieser Zeit kam gerade der Regierungsrat Bach aus dem Bureau heim. Er beobachtete erstaunt die merkwürdigen Bewegungen seines Töchterleins, ohne daraus klug zu werden. Um das Ende der Dinge abzuwarten, blieb er im Schatten der Litfaßsäule und paßte auf. – Das rätselhafte schwarze Etwas lag ruhig auf dem Wege. –
Eine elegante Dame mit Theatermantel und Kopftuch schritt vorüber. Sie hatte wohl mit dem Fuße darangestoßen. Sie blieb stehen, schaute scharf herunter, schien sich bücken zu wollen, eilte aber weiter. – – Zwei Herren gingen daran vorüber, ohne es zu bemerken. – – Dann zeigte sich eine Frau aus dem Volke mit Korb und Umschlageshawl. Sie stürzte wie ein Habicht darauf zu, hob es empor und warf es wütend zu Boden. Die Befestigung war ihr entgangen. Nachdem sie entschwunden, raste Lotte vor, legte »das Schwarze« wieder zurecht und begab sich lachend wieder auf die Lauer. – Jetzt zeigte sich ein neues Opfer in der Gestalt eines Zeitungsjungen. Er tauchte gierig herab, um »es« zu greifen; aber der Gegenstand hopste vor ihm hin und her. Anfangs stand er bestürzt. Alsdann aber schimpfte er mordsmäßig und verschwand erst, als keine Antwort erschallte.
Jetzt kam aber Herr Rat zum Vorschein. Er sah, wie Lotte sich vor Lachen bog und hörte ein noch, ausgelasseneres Gelächter aus dem Gärtchen hervordringen. – Hastig und geschickt packte er den Gegenstand und riß ihn los. Es war ein altes, mit Papier vollgestopftes Portemonnaie. – Lotte eilte quietschend herbei: »Is das nicht ein göttlicher Einfall, Vätachen? – – – Jeder hat doch gedacht, es wäre ein gefülltes Portemonnaie, und er hätte Gott weiß was gefunden. Ja woll, Kuchen! Wenn du denkst du hast 'n, springt er aus dem Kasten!« – – Sie tanzte und jauchzte. –
Ihr Vater konnte sich das Lachen nicht verbeißen: »Lotte, um Himmels willen, wer hat das wieder ausgeheckt?« – – »Ich, wer sonst?« – – – »Aber Mädel, du bist doch jetzt ein Backfisch! Du hast mir doch versprochen – – –« »Na, Vätachen, das ist doch nur ein ganz kleiner Rückfall und nichts Böses weiter?« – bettelte sie. – »Heute war ich schon sehr enthaltsam, mehr kannst du nicht verlangen! Wenn du wüßtest, was für 'ne schöne Sache ich mir habe entgehen lassen, es ist ein Jammer!« –
»Na, Range, bezwinge nur deinen Gram! Du wirst noch manches vollführen. Aber nicht wahr, ein Berliner Backfisch hält Wort, du wirst – – –« – – »Ja, ja, alles! Nur hör' mit dem Backfisch auf, Vätachen!« – unterbrach sie ihn ungeduldig. – »Man könnte wahaftig verzweifeln, daß man nicht ewig 'ne Range bleiben kann – – –«
Herr Rat lachte und zog sie mit in das Haus hinein: »Ja, ja, Kind, es ist nun einmal nicht anders: Hoffart will Zwang leiden, und Noblesse oblige!«