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Einsam mit Magnus Brandt sah Karin den langen Winter verstreichen. Weihnachten kommt, aber es ist kein Weihnachten. Weiß liegt der Schnee, die Wintersonne funkelt darüber, auf der Landstraße klingen munter die Schlittenschellen, und auf der großen Schlittenbahn hinter dem Hüttenwerk spielen die Kinder.
Für Karin aber ist es, als ob nichts von all dem, was sie um sich her sieht, wirklich lebendig wäre. Der Tage, an denen sie singen und sich freuen kann wie einst, sind es so wenige jetzt, daß sie sie zählen, lange an sie zurückdenken kann; und sie besinnt sich oft vergeblich darauf, wie alles so anders hat werden können.
Einsam lebt sie dahin und wartet auf ihre Briefe. Aber wenn der Brief da ist, so liest sie ihn nicht mehr mit derselben Freude wie früher. Und wenn sie ihn beantworten soll, ist ihr zumute wie einem Diebe, der fürchtet, ertappt zu werden. Traurig ist alles, was sie schreibt; denn ihre eigenen Gedanken sind traurig geworden seit jenem Tage, da ihr heimliches Glück verraten ward; und wenn sie den Brief schließen und abschicken soll, wird ihr das Herz schwer, und sie weint. Sie sieht keinen Lichtschimmer mehr. So schwer wird es ihr, all das Geschehene einsam zu tragen; sie hat ja niemand, mit dem sie sprechen, niemand, der ihr ein Wort der Freude oder des Trostes sagen kann. Das Geheimnis, das sie mit sich herumträgt, ist ihr schwer wie eine Last geworden, und das Warten wird ihr lang, lang wie der Winter, lang wie jeder Tag voll Unruhe, Sehnsucht und neuer grausamer Qual.
Dann kommt ein Brief von Cäcilia, ruhig und frisch, voll Wehmut zwar, aber doch zugleich voll Kraft und Hoffnung.
Er schließt:
»Vater will mich noch nicht sehen. Ich habe ihm geschrieben und ihn gebeten, aber er will nicht. Großmutter ist sehr gut gegen mich, und ich darf hier bleiben, solange ich will. Ich kann nicht leben, wenn ich Tag für Tag fühlen muß, daß ich keinem Menschen zum Nutzen bin. Das hab' ich Großmutter gesagt, und sie hat mich verstanden.
So einen Menschen wie Großmutter hast Du noch nie gesehen! Zuerst glaubt man, sie will einen beißen, aber wenn man sie kennen lernt, merkt man, daß sie ein Herz von Gold hat.
Ein paar Meilen von hier, muß ich Dir erzählen, wohnt ein alter Kapitän Brandt mit seiner Frau. Du hast wahrscheinlich nie von ihnen gehört; aber sie sind weitläufig mit uns verwandt. Ich habe mit Großmutter darüber gesprochen, daß ich mir eine Stelle suchen möchte. Aber sie sagt, das passe sich nicht für ein Mädchen aus guter Familie. Aber zu denen darf ich. Da bin ich eben als Verwandte im Hause, sagt Großmutter, und kann mich trotzdem nützlich machen und helfen. Ich bin einmal auf Besuch dort gewesen und habe sie gesehen, und ich freue mich. Ich hätte nie gedacht, daß alte Leute so vergnügt sein können. Und doch ist die alte Tante nicht sehr kräftig. Darum ist es ihr auch recht, daß ich komme.
Ich bin sehr glücklich darüber. Es ist wunderlich bestellt in der Welt, daß es als eine Schande gelten soll, zu arbeiten, wenn man jung ist und es kann. Darum ist es recht gut, daß sich dieser Ausweg für mich findet. Sonst wäre ich vielleicht genötigt, Vater noch einmal Kummer zu machen, ohne daß ich es möchte.
In ein paar Tagen ziehe ich nun dorthin. Großmutter hat an Vater schon geschrieben darüber, und er hat nichts dagegen gehabt. Du mußt mir dorthin schreiben und mir von allem erzählen, von Vater und von Dir selbst. Er hat jetzt niemand als Dich; Du mußt ihm alles sein. Mich wird er ja doch nie verstehen. Es macht mich ganz weich, wenn ich daran denke. Aber das darf man nicht sein, sonst verliert man den Mut. Das hab' ich von Großmutter gelernt und noch vieles andere außerdem.
Leb' wohl jetzt, geliebtes Schwesterlein; schreib mir über alles, was Du willst. Wäre ich jetzt bei Dir – ich glaube, wir könnten einander jetzt soviel mehr sein als damals, als wir beide noch stumm nebeneinander dahinlebten und jeder das Seine verschwieg.
Deine Schwester Cäcilia.«
Als Karin den Brief gelesen hat und weiß, daß Cäcilia nicht zurückkommt, fühlt sie sich noch einsamer. Es gibt ihr viel zu denken; hauptsächlich denkt sie darüber nach, wie es wäre, wenn sie es machen könnte wie Cäcilia und von allem hier weggehen. Aber ihr schreiben und sich ihr anvertrauen, das kann sie nicht. Sie schreibt nur noch vom Vater und allem, was sich auf ihn bezieht, und nichts von sich selber. Nicht einmal Sigfrid kann sie von allem schreiben, was sie bedrückt. Wenn sie es täte, so würde sie ihm ja nur ihren Kummer aufladen, und helfen könnte er doch nicht. So unmöglich, so ganz unmöglich erscheint ihr alles! Aus dem, was Cäcilia schreibt, merkt Karin, daß der Vater über alles schweigt, und daß täglich Dinge geschehen, von denen sie nichts wissen soll. Früher ist ihr nie der Gedanke gekommen, daß der Vater über solche Sachen mit ihr sprechen könnte. Jetzt hat sie das Gefühl, als sei das nur so geworden, weil er sich über sie und über die Schwester grämt. Und als sie hört, daß der Vater der Schwester nicht verzeihen kann, die doch nichts getan hat als sich seinem Willen widersetzt, da erwacht in Karin ein neuer Schrecken. Nie wird Vater mir verzeihen, denkt sie. Er glaubt alles Schlimme von mir!
Karin fürchtet den Vater; zugleich aber liebt sie ihn wie nie zuvor. Es ist, als ob sein Zorn, den sie über sich fühlt, ihre Liebe verstärkte. Sie tut alles, was sie kann, alles, was sie wagt zu tun, aber Magnus Brandt scheint gar nichts zu merken. Stumm verfließen die Mahlzeiten. Er geht selten aus jetzt. Ganze Tage fast bringt er auf seinem Zimmer zu; niemand weiß, was er da treibt. Aber wenn man an der Tür vorübergeht, hört man seine Schritte drinnen über den Boden stapfen, und vom Hofe aus kann man ihn sehen, wie er lange grübelnd am Fenster steht, wo das Thermometer hängt.
Nur wenn Fabian Skotte kommt, klärt sich seine Laune auf, und er wird wie früher. Aufrecht und sorgfältig gekleidet, mit schmuck geknotetem Halstuch, die Perücke in zierlichen Husarenlocken unter den Schläfen ins Gesicht gekämmt, sitzt er bei Tisch, und das Beste, was das Haus vermag, wird aufgetischt. Fabian Skotte ist liebenswürdig, als wäre nichts geschehen, und Karin wundert sich, daß er gar nicht um Cäcilia zu trauern scheint. Freundlich und gutlaunig kommt er; klug und heiter, als hätte kein Kummer ihn betroffen, fließt seine Rede, und Karin freut sich jedesmal über seinen Besuch, weil etwas von der Last, die Vater und Tochter in ihrer Einsamkeit bedrückt, dann wegfällt. Es ist, als brächte Fabian Skotte in seiner stetigen Selbstgewißheit und Raschheit des Handelns und Arbeitens ein Stück Sicherheit und Behagen mit.
Hauptsächlich aber freut sich Karin über diese Besuche, weil der Vater dann ein anderer wird. Denn kaum ist der Gast fort, so fällt Magnus Brandt wieder zusammen, und nie sieht Karin so scharf wie nach diesen Besuchen, wie alt der Vater geworden ist. Er geht gebückt, und es sieht aus, als tasteten seine Füße auf dem Boden nach einer Stütze. Seine Laune ist heftig und aufbrausend, die geringste Kleinigkeit genügt, um seinen Zorn hervorzurufen, und es gibt Tage, an denen niemand mit ihm zu reden wagt.
Am schlimmsten aber sind die Tage, an denen die Post erwartet wird. Sie kommt jetzt jede Woche, dank Fabian Skottes Fürsorge. Doppelt so oft als sonst wartet Magnus Brandt jetzt auf Briefe, die nie kommen, oder fürchtet sich vor denen, die kommen. Er kann den Tag, an dem Cäcilias und der Schwiegermutter Briefe kamen, nicht vergessen.
Karin hat das nach und nach verstehen gelernt. Aber dies Verstehen hilft ihr nicht, sondern drückt sie nur noch tiefer zu Boden. Das einzige, was ihr Befriedigung und Ruhe gewährt, ist die Arbeit, und sie fühlt sich nie glücklicher, als wenn sie totmüde zu Bett geht und gedankenlos einschläft.
Sie hat Cäcilias Stelle in der Haushaltung übernommen und ist ein kluges und gutes Hausmütterchen geworden. Sie kann viel, leistet viel, mehr, als sie selbst je geglaubt hätte. Die Leute haben sich daran gewöhnt, mit ihren Freuden und Kümmernissen immer zu ihr zu kommen. Und wo sie vermag, hilft sie mit Rat und Tat. Aber Glück findet sie auch darin nicht. Das, worauf sie wartet, kommt und kommt nicht. Schwer geht die Zeit. – –
Sie kann es kaum fassen, daß zwei Jahre so verflossen sind. Und doch ist es jetzt wieder August. Die Frucht beginnt zu reifen, und jede Nacht deckt der Gärtner die Dahlien in der langen Rabatte zu, um sie vor dem Frost, vor den »eisernen Nächten« der letzten Sommermonate zu schützen. Zweimal schon haben die Leute, die früh an die Arbeit gehen, einen weißen Schimmer auf dem Rasen gesehen. Kalt und klar scheint die Sonne über den rot und braun funkelnden Bäumen.
Der Herbst ist da.
Da geschah es eines Sonntagmorgens, daß Karin ins Wohnzimmer kam und durch die offene Tür sah, wie der Vater im Eßzimmer damit beschäftigt war, die alte Dalekarlier Uhr aufzuziehen. Er tat das jeden Sonntagmorgen, und als Karin es jetzt sah, fiel ihr plötzlich die Zeit wieder ein, da sie ein Kind gewesen war. Da war sie dem Vater oft von Stube zu Stube gefolgt und hatte zugesehen, wie er die Uhren im ganzen Hause aufzog und sie dabei genau nach seiner eigenen Repetieruhr stellte, die schlagen konnte, wenn man auf einen Knopf drückte.
Als sie daran dachte, kamen ihr unwillkürlich die Tränen in die Augen. Alles erschien ihr so anders jetzt gegen einst. Und sie wollte sich eben wieder hinausschleichen, damit der Vater ihre Tränen nicht sehen sollte, als sie seine Stimme hörte, die nach ihr rief.
»Karin!« sagte er. Nichts weiter. Aber in seiner Stimme lag etwas, vor dem Karin zusammenfuhr. Ihr war, als hätte sie schon gewußt, daß jetzt etwas kommen mußte, etwas, von dem ihr Wohl und Wehe abhing, etwas, vor dem sie fliehen wollte, aber nicht konnte.
Sie merkte, daß sie irgend etwas geantwortet haben mußte; denn der Vater ging, ohne etwas zu sagen, an ihr vorüber und setzte sich auf das Sofa.
»Ich habe dir etwas zu sagen,« begann er wieder. Aber die Worte schienen ihm nicht über die Lippen zu wollen. Zuletzt winkte er die Tochter zu sich her, sah ihr in die Augen und fuhr fort: »Ich sehe, daß du mich verstehst. Das ist ja auch nur natürlich. Du bist ein großes Mädchen jetzt und hast es ja merken müssen. Es handelt sich um Fabian Skotte.«
So begann dieser Sonntagmorgen im September. Was weiter geschah, das wußte Karin später nicht mehr.
Die Unterredung muß aber lange gedauert haben. Der Vormittag ist schon weit vorgeschritten; Karin ist, nachdem sie den Vater verlassen hat, gleich ausgegangen.
Ihr ist, als könne sie ihr ganzes Leben lang seine Stimme nicht vergessen, wie er »Karin« gerufen hat. Ihr ganzes Leben lang wird sie daran denken müssen, wie sein Gesicht bebte, als er Fabian Skottes und der Schwester Namen nannte. Sie muß irgend etwas geantwortet, irgend ein Versprechen gegeben haben. Denn sie sieht noch, wie sich das Gesicht des Vaters aufhellt, fühlt, wie seine Hand über ihr Haar streicht. Aber das Ganze ist ein schwerer Traum. Und als sie sich umsieht und langsam erwacht, merkt sie, daß sie mitten im Walde ist.
Sie kennt den Weg wohl. Er führt in den Urwald, wo die Tannen dicht stehen und die Steine mit tiefem, dunkelgrünem Moos bedeckt sind. Ohne daß sie überhaupt nachdenkt, wirkt die stille Ruhe des Waldes auf ihre Seele.
Sie kämpft nicht mehr.
Vorwärts geht sie, die kleine Karin, auf das zu, was kommen muß. Weder aufrührerisch noch schwankend fühlt sie sich. Nur weh tut es ihr, sehr weh. Aus ihr selbst ist es nicht gekommen, was da geschehen ist. Ohne daß sie etwas dazu oder davon tun konnte, ist es gekommen, und wie sie da unter den hohen Tannen dahingeht, wo das Sonnenlicht gedämpft hereinfällt und das Schweigen so ernst wird und so tief, da empfindet sie gar nicht so, als ob sie im Begriff stünde, ein Opfer zu bringen. Sie bringt auch keins. In ihr ist alles voll Unruhe und Angst. Sie ist wie eine, die in einem Traum befangen war. Der Traum ist so schön gewesen, daß sie nicht aufwachen will. Denn sobald sie erwacht, ist der Traum fort; sie möchte am liebsten wieder einschlafen, um den Traum wieder anzufangen. Aber sie muß erwachen, und als sie erwacht, ist auch der Traum weg, und alles, was sie geträumt hat, war ja nur ein Wahn.
Tiefer und tiefer geht Karin in den Wald. Als sie an den Berg kommt, geht sie nicht den Abhang hinauf, sondern geht rings um die zackigen Felsen. Dann setzt sie sich in das Moos am Fuße des Berges. Durch die Stille hört sie eine Glocke läuten. Die Herbstluft ist klar und blau . . .
Sachte geht Karin dann wieder heimwärts. Und wie sie so geht, merkt sie, daß in ihr eine große Veränderung vorgegangen ist. Ihre Unruhe ist fort; sie weiß, für sie gibt es nur einen Weg. Ohne daß sie sich darüber klar geworden wäre, hat sie ihren Willen freiwillig unter eine schwere Forderung gebeugt, und ihr deucht, ihr wäre noch nie so wohl zumute gewesen wie nun. So leicht ist alles in ihr geworden, so licht, so einfach und klar. Sie sieht von weitem das Hüttenwerk, die Schmieden, das Kohlenhaus, die Arbeiterwohnungen, und ihr ist, als wären die Menschen, die da arbeiten und wohnen, ihr näher gekommen. Sie geht über den Steg; da sieht sie den Hof mit seinem gebrochenen Dach durch die dunkelroten Blätter der Rüstern. Und sie weiß, hier wird sie leben und wirken. Hier ist sie daheim. Hier wird sie einmal sterben.
Und alles wird ihr auf einmal so groß und wunderbar.
Als hätte sie mit der Verrichtung einer heiligen Handlung begonnen, so ist ihr zumute. Jetzt verläßt sie die Bretter des Steges und hört den Sand der Gartenwege unter ihren Füßen knirschen. Leicht steigt sie die Steinstufen hinauf, die über die Terrasse auf den Hof führen. Als sie an des Vaters Fenster vorübergeht, steht Magnus Brandt da, als warte er auf die Tochter, und Karin sieht, daß er lächelt. Sie weiß, dieses Lächeln müßte sie glücklich machen. Aber es ist, als wäre sie noch nicht bereit, ihm entgegenzutreten. Eine kleine Weile braucht sie noch für sich, nur eine ganz kleine Weile.
Ernsthaft erwidert sie den Blick des Vaters, und als sie auf ihr Zimmer geht, ist ihr Herz voll von einem mit Glück gemischten Schmerz. Droben schließt sie die Tür hinter sich. Dann zieht sie aus ihrem Busen einen dünnen Goldreif mit blauem Stein, der an einem schmalen Bande um ihren Hals hängt. Sachte löst sie das Band. Auf der Kommode steht ein Schrein aus Rosenholz mit vielen Fächern und geheimen Verstecken. Den öffnet sie, und in dem kleinen Fach zu hinterst im Schrein birgt sie den Ring, den sie so treu getragen hat. Dann läßt sie das künstliche Schloß einschnappen, und als es geschehen ist, fühlt sie, daß sie frei ist.
Still steht sie dann am Fenster und blickt hinaus über den Garten, wo sich die Bäume unter dem Obst neigen und wo die Astern blühen.
Eine Weile später geht sie hinunter zum Mittagessen, zum Vater. Viele Worte werden nicht gewechselt zwischen den beiden. Aber Magnus Brandt hat das Gefühl, daß das Leben ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren läßt, und seine Dankbarkeit ist größer, als er zeigen kann. Karin hat eine Ahnung von des Vaters Gemütsstimmung, wenn sie sie auch noch nicht voll begreifen kann, und zum erstenmal an diesem Tage kommt ein Gefühl von Müdigkeit über sie, als habe sie eine zu schwere Last auf sich genommen und fürchte, sie könne sie nicht bis zum Ende tragen.
Den ganzen Nachmittag sitzt sie dann auf ihrem Zimmer und schreibt. Es geht langsam, und es wird Abend, ehe der Brief fertig ist. Immer wieder muß sie aufhören. Denn die Tränen wollen sich hervordrängen, und wie tapfer sie auch dagegen ankämpft – ganz zurückhalten kann sie sie nicht. Wieder und wieder muß sie auch das Geschriebene zerreißen. Die Worte, die sie niederschreibt, drücken das, was sie im Innersten fühlt, so schlecht aus. Aber mit fester Hand schreibt sie schließlich den Brief zu Ende, und dunkel ahnt sie, daß es das Opfer ist, was sie aufrechthält, das Opfer, das größer ist als Liebe und Leid.
»Ich wollte, ich hätte diesen Brief nie zu schreiben brauchen, Geliebter,« schreibt Karin, »und doch weiß ich, daß ich ihn jetzt schreiben muß. Aufschieben will ich es nicht. Denn ich bin vielleicht später nie mehr imstande dazu. Und dann wartest Du auf mich und glaubst, ich habe Dich vergessen und sei Dir nicht mehr treu. Und fremde Menschen würden Dir vielleicht einmal erzählen, daß ich verheiratet bin. Und Du würdest nichts verstehen und Dir nur harte und bittere Gedanken machen, wenn Du an mich denkst, oder vielleicht würdest Du mich auch vergessen und nicht mehr an mich denken mögen, weil Du glaubtest, ich hätte Dich verlassen.
Aber ich habe Dich nicht vergessen, Sigfrid, und ich werde Dich nie vergessen. Ich darf Dich nur nicht mehr lieben. Sonst stirbt Vater, und dann hätte ich keine frohe Stunde mehr. Wenn ich das jetzt schreibe, so merke ich, daß Du von all dem, was mir geschehen ist, nichts verstehen kannst. Und ich kann nichts als weinen, wenn ich daran denke, wie weit fort Du bist, und daß ich Dich nie mehr wiedersehe.
Du weißt nicht, wie alt und vergrämt Vater geworden ist, und auch nicht, daß er nur durch Kummer und Unglück so geworden ist. All das habe ich Dir nie schreiben können. Denn wenn ich an Dich schrieb, so vergaß ich alles, was nicht Dich und mich anging. Da dachte ich bloß daran, wie bleich und schön Du dalagst, als ich Dich das erstemal sehen durfte und so klein und dumm dasaß und Dir zuhörte. Ich denke an den Wald, in dem wir beide allein gingen, als die Sonne schien, und den Mondscheinabend im Park, als die Nacht voller Schatten und Licht war, und wo auf der ganzen Welt nichts war als Du und ich.
Ich weiß noch alles. An alles denke ich, von der Stunde an, als ich allein in Deinem Zimmer saß und weinte und nicht wußte warum und Du hereinkamst und mich in Deine Arme nahmst und mich zu Deinem Eigentum machtest, an alles, bis zu dem Tage, an dem alles vorbei war und ich Dir Lebewohl sagen mußte im Gewächshause, wo der Regen um uns her über die Glasfenster rann und ich Dich bloß vielmals, vielmals küssen konnte zum Abschied, so wie ich wünschte, ich könnt' es jetzt.
An all das muß ich denken. All das war unsere Welt, Sigfrid, unsere kleine Welt, in der ich so froh und so glücklich war, wie ich es nie mehr werden kann. Von dieser Welt habe ich Dir geschrieben; von anderen Dingen habe ich in meinen Briefen an Dich nie reden können. Denn in diese Welt hattest Du mich eingeschlossen, und wenn ich darin lebte, sah ich sonst niemand, wußte kaum, daß noch andere da waren. So getrennt war Deine und meine Welt von der der anderen, und so unmöglich war es, daß jemand anders hätte in das hineinblicken dürfen, was uns so heilig und schön war.
Darum hab' ich fast nichts von dem geschrieben, was in der Welt hier vor sich ging, und ich glaube, ich habe auch gar nicht verstanden, was da vor sich ging, bis jetzt.
Du mußt nun aber wissen, Cäcilia ist fort und ist schon lange fort. Ich glaube, es werden jetzt im Herbst zwei Jahre, daß sie gereist ist. Sie ging, weil Vater sie zwingen wollte, sich mit Fabian Skotte, der auf Elfshammar wohnt und unser Nachbar ist, zu verheiraten. Das weißt Du. Aber Du weißt nicht, daß Cäcilia zu Großmutter auf Erzhütte reiste, und daß Großmutter ihr half, daß sie frei wurde. Seither war ich mit Vater allein hier, und er hat Cäcilia nie vergeben wollen. Ich habe ihn ihren Namen nicht mehr nennen hören bis heute, wie er mit mir redete. Cäcilia schreibt mir manchmal; in ihrem letzten Briefe erzählt sie, daß sie verlobt ist und bald heiraten will, und daß Vater seine Einwilligung gegeben hat. Nicht einmal das hat Vater auch nur mit einem Worte mir gegenüber erwähnt. Und daraus verstehe ich, daß Vater sich so gegrämt hat, daß seine Töchter ihm bloß Kummer machen, daß er darüber alt geworden ist. Und ich begreife jetzt auch, daß es schwer für ihn gewesen ist, allein zu leben. Vielleicht hätte er auch einmal gern wieder eine Frau gehabt, er war ja noch jung, als Mutter starb; ich habe das oft gedacht, wenn ich auch nichts wußte.
Ich schreibe Dir das alles jetzt, damit Du weißt, wie einsam ich gewesen bin, und wie alles so geworden ist, wie es jetzt ist. Von den letzten Jahren weiß ich nicht viel. Ich weiß bloß, wie alt und traurig Vater geworden ist, und wie voll Angst ich war, wenn ich so allein war und ihn so sah. Die Zeit ist mir lang geworden in all den Jahren, und oft hab' ich mir nicht mehr zu helfen gewußt. Solche Angst hab' ich gehabt, daß Vater krank werden und sterben könnte, ehe er auch etwas anderes als nur Kummer von seinem Leben gehabt hatte. Arm ist er auch geworden. Ich weiß, wenn nicht Fabian Skotte ihm geholfen hätte, so hätten wir nicht hier bleiben können. Ich verstehe nichts davon. Aber ich weiß, daß es so ist, und nichts ist mir so schwer geworden, als wenn ich in der letzten Zeit Vater um Geld bitten mußte.
Und jetzt muß ich Dir auch das noch sagen, was jetzt kommt. Und das ist das Schwerste von allem. Denn dann wirst Du glauben, ich habe um Deinetwillen gelitten und habe es bereut, daß ich Dich geliebt habe und Deine kleine Braut gewesen bin, wie Du mich immer genannt hast, als ich bei Dir saß und glücklich war. Aber so ist es nicht, mein Sigfrid, glaub' das nicht. Ich kann es nie bereuen, daß ich so glücklich war, wie Du mich gemacht hast. Wenn ich das nicht gewesen wäre, so könnte ich das alles gar nicht tun, was ich jetzt kann.
Du mußt nun auch weiter noch wissen, daß Vater schon lange alles von Dir und mir weiß. In einer Nacht kam ich einmal zu ihm, und da hat er es mir gesagt. Noch nie ist er so böse auf mich gewesen, und er hat es mir mit so harten Worten gesagt, daß es mir noch wehe tut, wenn ich nur daran denke. Er hat seither nie wieder davon gesprochen, aber ich habe doch gemerkt, daß er es nicht vergessen hat. Es war, als hätte er mir seitdem nichts Gutes mehr zutrauen können. Und ich weiß auch, daß er mir nie so recht verziehen hat bis heute.
Jetzt habe ich Dir alles gesagt, was zu sagen ist, und jetzt verstehst Du auch, daß ich es nicht machen konnte wie Cäcilia und Vater allein lassen. Er hat ja niemand mehr als mich, und wenn ich ihn jetzt verlassen wollte, so könnte er nicht weiterleben. Wenn ich jetzt schließen soll, Sigfrid, da möcht' ich am liebsten bloß weinen. Nichts kann ich Dir weiter sagen, nichts kann ich Dir sein, nichts hab' ich Dir geben können, was den Kummer aufwiegen könnte, den ich Dir jetzt zufüge. Ich wollte, ich könnte neben Dir sitzen, wenn Du meinen Brief erhältst, und könnte Deine Hand halten und Dich so herzlich bitten: Traure nicht zu sehr um Deine kleine Braut! Denn das könnte ich nicht ertragen. Das ist das letztenmal, daß ich Dir schreibe; was ich Dir jetzt nicht sage, das kann ich Dir nie mehr sagen.
Ich habe nichts mehr als Deinen kleinen Ring. Den habe ich versteckt, so daß niemand außer mir weiß, wo er ist. Ich werd' ihn wohl nie herausnehmen und ansehen. Denn auch das darf ich nun nicht mehr; an Dich denken, nachdem ich mich einem anderen gegeben habe, das wäre eine Sünde. Aber ich freue mich doch, wenn ich weiß, daß er hat bei mir bleiben dürfen, und daß er nie mehr an den Finger einer anderen kommt, wenn er auch nicht an meinen hat kommen dürfen.
Aber mein Leben lang will ich Dir danken. Denn alles Schöne hab' ich von Dir.
Karin.«
Karin liest den Brief durch und schiebt ihn dann sachte ins Kuvert. Dann schreibt sie die Adresse und steckt ihn in die Tasche, um ihn bei sich zu haben, bis sich eine Gelegenheit bietet, ihn fortzuschicken. Wieviel heut' geschehen ist! denkt sie. Und wie neu alles geworden ist!
Es ist, als habe sie große Eile, als wünsche sie, alles möchte so rasch wie möglich gehen, sehne sich danach, daß die Welt sie bald und ganz erfassen möchte, damit sie keine Zeit zum Denken habe.
Ein Wagen fährt in diesem Augenblick drunten auf den Hof; Karin zuckt zusammen; aber sie ordnet ruhig ihren Anzug vor dem Spiegel und fühlt nach dem Briefe, der unter dem Taschentuch versteckt in ihrer Tasche liegt. Ihr ist, als trüge sie noch etwas mit sich herum, was ihrer alten Welt angehört, und von dem sie sich erst freimachen müßte, um für die neue Welt bereit zu sein, die sie erwartet. Als darum Sara kommt und ausrichtet, Fräulein möchte hinuntergehen, es sei Besuch da, nimmt Karin hastig ihren Brief, reicht ihn, ohne ein Wort zu sagen, Sara hin und bittet sie, ihn zu besorgen, ohne daß jemand davon erfährt.
Die Alte steht und wiegt den Brief in der Hand. Noch ein Geheimnis kommt zu den vielen, die sie stets so wohl gehütet hat. Sara versteht alles, und mit Tränen in den Augen betrachtet sie das junge Mädchen, das da so schlank und zart, aber mit einem reifen Willen in dem jungen Gesichte vor ihr steht.
»Das ist recht, was du da tust,« sagt Sara. »Gott segne dich!«
Karin nickt ernst und geht.
Im Wohnzimmer erblickt sie Fabian Skotte, welcher sich erhebt, als sie eintritt. Aufrecht und stattlich steht er vor ihr, und sein kräftiges Gesicht mit der leicht gebogenen Nase und den lebhaften Augen hat einen Ausdruck demütiger Dankbarkeit, als wage er nicht zu glauben, daß das, was jetzt geschieht, wirklich wahr sei. Karin tritt auf ihn zu und legt ohne Zögern ihre Hand in die des Mannes, den ihr Vater für sie ausgewählt hat.
Magnus Brandt sagt etwas, das Karin nicht hört. Sie ist ganz erfüllt von dem demütig dankbaren Blick, der dem ihren entgegenkam, und sie zieht ihre Hand nicht aus der anderen, die die ihre festhält und behalten wird. Alles in Karin ist ruhig jetzt, ruhig und still.
Glücklich, wie sie sich seit langer Zeit nicht gefühlt hat, schlingt sie die Arme um den Hals des Vaters.
Sie weiß, zwischen ihnen beiden ist alles gut und wird so bleiben.
Fabian Skotte fährt früh wieder fort. Als sie allein sind, zieht Magnus Brandt seinen Rock an und geht aus. Karin begleitet ihn, und Arm in Arm gehen die beiden über die Terrassentreppe durch den Obstgarten in den alten Park, der sich bis zum See hinunter erstreckt. Gelb und warm leuchtet der Herbstmond über dem Park, die Schatten der Bäume zittern auf dem Rasen und den verschlungenen Pfaden. Lange gehen Vater und Tochter unter den alten Bäumen auf und ab, an denen der Sturm schon manches Blatt von den Zweigen geschüttelt hat.
Auf den Wegen unter ihren Füßen raschelt das Herbstlaub, das schon der Frost leise gehärtet hat, und als sie an den See hinunterkommen, liegt er hell im Mondenglanz da, die Ufer heben sich in dunklen Linien rings um die lichte Fläche, und über den Hügeln der Ufer stehen die dunkleren Umrisse des Tannenwaldes weich, im Mondschein.
Und Karin fühlt sich so voll Dank über alles, was geschehen ist – voll Dank, daß alles gerade diesen Abend so still und so schön geworden ist. Weich lehnt sie sich auf den Arm des Vaters und freut sich, als sie fühlt, daß sein Gang leichter geworden ist. Dann kehren sie miteinander nach dem alten Hause zurück, das im Dämmer zwischen den hohen Bäumen liegt. Als sie die Steintreppe hinaufgehen, wendet Magnus Brandt sich um und blickt hinaus über Hof und Landschaft, als wollte er mit einem einzigen Blick all das umfangen, was durch der Tochter Opfer aufs neue sein geworden ist. Er denkt an seinen Hof, an die Leute, die rundum schlafen oder in den Schmieden arbeiten, in denen die Hämmer an Sonntagabenden schon um sechs Uhr zu gehen anfangen. Kräftig tönt der Klang durch die Stille und Karin begreift, daß der Vater gerade darauf jetzt lauscht.
»Jetzt kann ich meine Augen in Frieden schließen und sterben, wenn meine Stunde kommt,« sagt Magnus Brandt.
Und damit geht er ins Haus und schließt selbst die Tür mit dem großen Schloß und legt den Riegel vor. Und Karin steht daneben und sieht ihn an; stark wie nie zuvor empfindet sie, daß sie eine Heimat hat, und daß es diese Heimat ist, für die sie lebt.
Gedankenvoll beugt sie sich nieder und küßt des Vaters Hand.
Ihr Traum ist zu Ende.
Mit wachen, klugen und guten Augen sieht sie dem Leben entgegen. Alles erscheint ihr so wehmütig und weich.
»Gute Nacht,« sagt Magnus Brandt, küßt die Tochter auf die Stirn und geht auf seine Stube.
Und Karin geht still die Treppe hinauf in die zwei kleinen Mädchenzimmer, die sie jetzt einsam bewohnt. – –
Das ist die Geschichte von Karin Brandt und ihrem Jugendtraum, und wie sie mit harten Händen aus dem Traum geweckt und eine andere ward, als sie gewesen, da Traum und Jugend sie noch beherrschten. Ich hörte die Geschichte einst, als ich selber noch so jung war, daß ich weder Liebe noch Leid geschmeckt hatte. Damals stieß ich mich an der Fortsetzung, die berichtet, daß Karin Brandt eine gute Gattin und die glückliche Mutter mehrerer Kinder ward, die sie zu tüchtigen Männern und Frauen erzog, daneben auch eine umsichtige Hausfrau, deren Hand kräftig und deren Sinn gerecht und streng, wenn auch mit großer Güte vermischt war. So, wie ich das Leben jetzt sehe, ist Karin Brandts Bild mir schön genug so, wie es in Wirklichkeit war. Nichts deucht mich oft eitler, als sich die Menschen anders zu wünschen, als wie das Leben sie gestaltet hat.
Fabian Skotte ward Karin ein guter Gatte; er gehörte zu denen, von denen man sagt, daß sie ihre Frauen auf Händen tragen. Ein bißchen Trockenheit, daneben auch ein peinlicher Ordnungssinn lag in seiner Natur; und es ward ihm nicht leicht, zu vergessen, daß seine Frau fast dreißig Jahre jünger war als er. Darum war er manchmal strenger in seinen Forderungen, als Frau Karin es sich gewünscht hätte. Aber er liebte sie mehr, als die meisten Männer ihre Frauen lieben, weil er so lange einsam gelebt und weil er, ehe Karin Brandt seine Gattin wurde, aufgehört hatte zu hoffen, daß noch ein anderes Glück als das der Arbeit auf seinem Wege blühen könnte. Als er ein Heim und eigene Kinder hatte, ward ihm die Mühe leicht und die Arbeit zur Freude.
Ehe Fabian Skotte sich verheiratete, verkaufte er sein Gut und übernahm das des Schwiegervaters. Dort wurde die Hochzeit gefeiert, und dort blieb er mit seiner Frau.
Frau Karin zog aus den zwei kleinen Mädchenzimmern im Giebel, in denen Sara sie zur Braut eingekleidet hatte, hinunter. Im Schlafzimmer, das seit dem Tage, da die Mutter starb, verschlossen gewesen war, ward ihr das Brautbett bereitet, und in dem kleinen Kabinett daneben mit den weißen Empiremöbeln und der Pendüle auf dem Fries des Kachelofens saß Karin Skotte, auf demselben Platz, auf dem einst Karin Brandt gesessen hatte, und derselbe lächelnde See, über den einst ihre Mädchenträume geflogen waren, grüßte ihre Augen, als sie ein reifes Weib und Mutter war. Solange Magnus Brandt lebte, wurde nichts geändert in dem alten Hause.
In den drei Stuben zur Linken in dem großen Hauptgebäude wohnte er wie zuvor. Ruhiger als früher ging er jetzt zwischen den Folianten seiner Bibliothek umher. Die Pflichten, die ihm zu schwer geworden waren, ruhten jetzt auf stärkeren Schultern als den seinen, und die Abendröte seines Lebens schien wolkenlos. Von Cäcilia sprach er selten, und wenn es geschah, so war es meist in einem Ton, als fürchte er, die Erinnerung an sie könnte der Tochter oder dem Schwiegersohn oder allen beiden unangenehm sein. Dann lächelte Fabian Skotte verstohlen und sagte zu seiner Frau: »Ich habe sieben Jahre um Lea gedient und habe Rahel bekommen. Mein Los war besser als das des Patriarchen. Manchmal kommt mich die Lust an, es dem Schwiegervater zu sagen; aber es ist möglich, daß er diesen Scherz nicht goutiert.«
Magnus Brandt starb und wurde auf dem Torsbyer Kirchhof neben seiner Frau begraben, auf dem Platze, der so lange leer gestanden hatte und mit dem die lange Reihe von Steinen, die den Namen Brandt trugen, schloß. Als es zu Ende ging, ließ er Frau Karin zu sich rufen und dankte ihr dafür, daß sie ihm eine gute Tochter gewesen war; und als der Todeskampf anfing, sprach er von einem Glück, das ihm versagt gewesen war, und von einer langen Reise, die er einmal gemacht, weil er seine Töchter über alles geliebt hatte.
Frau Karin Skotte ward Mutter vieler Kinder, und ihr Leben war voller Arbeit. Die Kinder waren ihr Glück, legten Beschlag auf sie, gaben ihren Gedanken Beschäftigung und machten ihr Dasein reich. Sie achtete und ehrte ihren Mann; aber ihre Kinder liebte sie; und sie war glücklich, weil sie sah, daß gerade so Fabian Skotte sie haben wollte. Je mehr Kinder Frau Karin bekam, desto mehr liebte sie sie, nicht nur alle miteinander, sondern jedes einzelne für sich. Durch die Kinder ward sie selbst in ihren eigenen Augen gleichsam ausgelöscht, war nur noch für sie da, ward ganz und gar Mutter und nichts als Mutter.
Eine Mutter war sie auch nicht nur für ihre Kinder, sondern für alle, die um sie her in den Wohnungen der Arbeiter oder in den kleinen Heimstätten in Feld und Wald lebten. Sie sah die alten Freunde ihrer Kindheit sterben, einem nach dem anderen verhalf sie zu einem ehrlichen Sterbehemd und einem anständigen Begräbnis. Nach ihnen kamen neue, und Karin Skotte reichte für alle aus. Noch im Alter empfand sie, wie schon als Kind, daß sie niemand so gut verstand, mit niemand so leicht reden konnte wie mit den Leuten auf dem Hofe, von denen nun die meisten, die sich noch an das kleine Fräulein Karin erinnerten, fort waren.
Schließlich starb auch Fabian Skotte, ihr Mann. Ruhig waltete Karin an seinem Bett, linderte seine Schmerzen und hielt seine Hand, als die letzte schwere Stunde kam.
Das Schlimmste waren dann die Kinder, die sich nicht trösten lassen wollten über Vaters Tod; weder Tag noch Nacht konnte die Mutter sie verlassen und allein sein mit den Gedanken, die sonst vielleicht gekommen wären.
Karin Skotte war dick geworden, sah kräftig und gesund aus, und ihre Laune war immer gleichmäßig. Als Fabian Skotte tot war, nahm sie die Verwaltung des Gutes in die Hand, und was der Mann nicht mehr hatte ausführen können, das tat die Frau.
Denn Frau Karin kannte alle seine Gedanken und Pläne. Sie war es, die das Walzwerk fertig ausbauen ließ und die Säge erweiterte. Sie war es auch, die die Wand in dem alten Wohnzimmer ausbrechen ließ, die große Veranda gegen den See hinunter baute und die mächtigen Fensterscheiben einsetzte, hinter denen Palmen, Rosen und Schlingpflanzen grünten, wenn in Garten, Park und Wiesen rings um den See der Schnee lag.
Weiter erzählt man von Karin Skotte, wenn sie von ihren Kindern geliebt, so sei sie von den Enkeln geradezu vergöttert worden. Denn je älter Karin Skotte ward, desto heitereren und leichteren Sinnes ward sie. Und nirgends ist es der Jugend so wohl, als im Schutz des Frohsinns der Alten; der Frohsinn der Alten ist es, der ihnen den Mut gibt, dem Leben entgegenzutreten.
Und weil Großmutter so heiter und vergnügt war, ward auch ihr Alter fröhlich, und die Enkel gingen lieber zur Großmutter als zu Vater und Mutter. Mit den Enkeln konnte sie ja auch leicht fröhlich sein. Denn für sie, dachte die Alte, brauchte sie ja nicht die Verantwortung zu haben; als die in ihr Leben kamen, hatte Karin Skotte die Mühsal anderen überlassen und saß selber in Ruhe in den neuen Zimmern, die eine Treppe hoch in dem alten Hause hergerichtet worden waren, just da, wo einst die Gastzimmer gelegen hatten, das ehemalige grüne und die übrigen.
Ja, Karin Skotte ward so alt, daß sie es noch erlebte, wie ihr ältester Enkel, der Großmutters Naturschwärmerei geerbt hatte, es sich erzwang, daß er nach Paris reisen durfte, wohin alle die Jungen, die sich in der Kunst vorwärts tasten, sich sehnen wie nach dem gelobten Lande.
Als er abreiste, nahm Großmutter ihn in ihre Stube, schrieb einen Namen auf eine Karte und bat ihn, sie wohl aufzubewahren und zu versuchen, den Fremden aufzufinden, wenn er noch am Leben wäre.
Ein Jahr darauf kam der Enkel heim.
Großmutter lag schwer krank, als er anlangte.
Der junge Mann ging hinauf in ihr Zimmer, und die Unterredung, die er und Großmutter miteinander hatten, war so geheimnisvoll und seltsam, daß Kinder und Enkel davon sprachen wie von einem Wunder.
Und ein Wunder war es auch. Denn in Paris hatte der zukünftige Maler einen alten Offizier getroffen, der in Tränen ausgebrochen war, als der junge Mann seinen Namen genannt hatte, und der nicht zufrieden war, wenn eine Woche verging, ohne daß Karin Skottes Enkel ihn besuchte. Der Offizier trug einen schwedischen Namen, man sagte von ihm, daß er bei Gravelotte geblutet hatte.
Und während Großmutter krank war, redeten Kinder und Enkel davon, daß ihn Großmutter einst geliebt hatte.
Und er hatte Großmutter so treu geliebt, daß er unverheiratet geblieben war. Man erzählte in Paris, daß er den Brief, der Großmutters Abschiedsgruß enthielt, bei einem großen Diner bekam. Und ehe noch jemand aus der Gesellschaft fragen konnte, was für ein Unglück ihn betroffen habe, lag der Mann ohnmächtig, den Brief neben sich, auf dem Boden.
So berichtete der Enkel von Großmutter und ihrer Jugendliebe; und die jüngsten Enkel wollten so etwas nicht glauben, weil Großmutter ja so alt war.
Es war ihnen allen, als ob alte Märchen um sie emporwüchsen; und die Märchen wurden auf seltsame Art zur Wirklichkeit. Die Narzissen blühten in den Beeten, die Birken grünten, und der Kuckuck rief im Wald.
Aber Großmutter liegt einsam droben in ihrem Zimmer; sie hat gesagt, daß niemand bei ihr sein soll. Der Enkel hat ihr ein Geschenk mitgebracht; es ist ein Porträt, das einen Mann von mittleren Jahren in Uniform darstellt. Es ist auf einem kleinen Panneau gemalt und trägt den Namen eines französischen Meisters in der Ecke.
Aber Großmutter hat keinen Sinn für den Maler jetzt; auch nicht für seine Kunst. Einsam liegt sie in ihrem Bett und hat die alten Hände über der Decke gefaltet. Die Stirn sieht sie an, die wehmütigen Augen, den Vollbart, der ergraut und in eine Spitze geschnitten ist, und der das Gesicht fremd macht.
Aber während sie es so ansieht, kommt alles ihr wieder so nah, und sie sinniert darüber nach, wie das Leben sie geführt hat. So schnell ist immer alles gegangen. So wunderlich schnell. Nie hat sie Zeit gehabt, stehen zu bleiben und sich umzusehen. Immer geradeaus ist sie gegangen, dahin, wo andere sie geführt haben. Jetzt liegt sie da und schaut und schaut. Und nichts von allem, was geschehen ist, kann sie ungeschehen wünschen. Denn die Kinder, die leben, sind ihre Kinder. Die Kindeskinder gehören ihr. Und nichts kann an dem, was ist, mehr geändert werden.
Aber glücklich fühlt Karin Skotte sich, daß dies gekommen ist. Wie ein Märchen wird ihr das Leben.
Als es zu dämmern beginnt und die Abendsonne schon vom Fenster verschwunden ist, klingelt sie.
Diesmal ist es nicht Sara, die kommt. Die alte Sara ist längst tot und fort. Es ist ein neues, junges Dienstmädchen, das nichts weiß von all dem Alten, das tot war und jetzt wieder lebendig geworden ist.
»Stell' das Porträt dorthin, daß ich es sehen kann!« sagt Karin Skotte.
So steht das Porträt da, Tag für Tag, Nacht um Nacht.
Als die Enkel schon um das Bett der Kranken versammelt sind und sie nicht mehr sprechen kann, suchen ihre Augen noch das Porträt, die Lippen murmeln unhörbare Worte, und sie ist weit weg von allen, die sie geboren und geliebt, auferzogen und froh gemacht hat.
Die Wirklichkeit läßt sie los, und der Traum umfängt sie wieder – Karin Brandts Traum.
Ende