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Mitte November hatte Cäcilia heimkommen sollen; und es war schon eine abgemachte Sache zwischen Fabian Skotte und Magnus Brandt, daß die Hochzeit gleich nach Neujahr stattfinden sollte. Länger wollte der verliebte Mann nicht mehr warten, und Brandt nahm an, daß alle Bedenken, die in einem unreifen Mädchenherzen entstehen konnten, bis dahin beseitigt sein würden. Es war dies zwischen den Männern zwar niemals zur Sprache gekommen. Aber in allem, was die beiden untereinander verhandelten, lag es wie etwas Selbstverständliches, worüber man nicht sprach, das aber nichtsdestoweniger ganz sicher und fest abgemacht war.
Mittlerweile wurden Hammer und Hof mit Fabian Skottes Geld und von ihm selbst mehr als von Magnus Brandt weitergeführt. Allerdings geschah dies so rücksichtsvoll und in solcher Form, daß der Herr von Skogaholm nicht das geringste Unbehagen zu empfinden brauchte über die Abhängigkeit, in die er geraten war. Aber das Geheimnis war doch nicht so gut bewahrt worden, daß man nicht im Inspektorflügel über die Verhältnisse gesprochen hätte, und die Leute auf dem Hofe fingen schon an, sich darüber zu verwundern, daß der Herr auf Elfshammar so oft kam, daß er Schmieden und Magazine besuchte und daß er in Scheune und Stall die Runde machte, ja sogar auf den Feldern bis zu den äußersten Grenzen des Besitztums zu sehen war.
Auch Karin fiel es auf, daß Fabian Skotte öfter als früher vorsprach, und ganz natürlich brachte sie es in Zusammenhang mit dem Anschlag, der gegen ihre Schwester Cäcilia gerichtet war.
Nicht einen Augenblick lang kam ihr der Gedanke, die Schwester könne zurückkommen, um mit dem Hüttenherrn Skotte auf Elfshammar Hochzeit zu halten. Dazu kam ihr der Bräutigam viel zu alt, Cäcilia zu jung und das Ganze infolgedessen viel zu unwirklich, wie ein Märchen vor.
Unter vielen Liebesworten für den Empfänger, aber unter vielen jugendlichen Ausbrüchen des Unwillens gegen diesen älteren Mann, der ein junges Mädchen gegen ihren Willen zwingen wollte, schrieb Karin von all dem in den Briefen, die sie jeden Monat heimlich absandte. Und innerlich zitterte sie beim Gedanken an den Tag, an dem der Vater entdecken würde, warum Cäcilia gereist war, und daß seine älteste Tochter nie daran gedacht hatte, sich in das Schicksal zu fügen, das andere ihr ausersehen hatten.
Schon war der Oktober vorüber, und der erste Schnee war gefallen. Ein Sturm mit heftigem Regen peitschte jedoch den Schnee wieder von Bäumen und Erde, und tagelang raste der Wind durch die nassen Wälder. Jetzt war es Mitte November, und bei jeder Post, die kam, durchsuchte Magnus Brandt ungeduldig die Posttasche in der Hoffnung, ein Wort von der Tochter und damit das Resultat dieser Reise zu finden, von der er sich soviel Gutes versprochen hatte.
Da langte eines Mittwochs im November ein dicker Brief mit der Post an. Magnus Brandt erkannte die Handschrift der Schwiegermutter. Lange wog er den Brief in der offenen Hand. Ihm deuchte, als bedeute es nichts Gutes, daß ein so ausführlicher Brief kam – gerade jetzt, da er die Tochter selbst schon erwartete.
Beim Schein der alten Öllampe mit dem Bronzefuß öffnete er dann behutsam das Kuvert. Als er den Inhalt herausgenommen hatte, hielt er zwei Briefe in der Hand. Der eine war von der Tochter. Magnus Brandt durchflog ihn hastig. Als er ihn zu Ende gelesen hatte, war sein Gesicht feuerrot, und mit einer Gebärde des Zornes und Schmerzes schleuderte er ihn von sich. In heftiger Erregung ging er im Zimmer auf und ab, um seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen.
Der zweite Brief trug die charakteristische Handschrift der Schwiegermutter. Nachdem er Cäcilias Brief gelesen hatte, mußte Magnus Brandt sich erst wieder etwas sammeln, ehe er den Mut fand, diese Fortsetzung, von der er sich des Schlimmsten versah, zu lesen. Schließlich ging er zu seinem Schreibtisch zurück, entfaltete den Brief und begann zu lesen:
Erzhütte, im November 18..
Lieber Tochtermann!
Viele Briefe haben wir zwei, Du und ich, nicht gewechselt, und es kann schon sein, daß der, den Du hier empfängst, Dich recht scharf dünkt, besonders da er von einem alten Weibe kommt wie mir. Jawohl, mein lieber Tochtermann! Glaub' Er nur nicht, ich wüßte nicht sehr wohl, was die Familie über mich sagt und denkt! Noch jetzt, wo ich schon mit einem Fuß im Grabe bin, will ich in meinem Hause herrschen und befehlen – sagt man. Aber das ist nun einmal seit langen Jahren so meine Gewohnheit gewesen. Und da Du ja doch zur Familie gehörst, mußt auch Du Dich eben in Dein Schicksal finden. Wenn es Dir jetzt beliebt, zu sagen, das beste wäre, der Teufel holte das alte Weib, so kannst Du das meinetwegen tun. Aber ich kann Dir sagen, wenn es auf der Welt mehr Männer gäbe, so wär' es für die Weiber nicht so leicht, die Herrschaft an sich zu reißen wie heutzutage. Das hab' ich mehr als einmal erfahren. Das glaub' Du mir!
Jedenfalls wär' ich wohl diesmal schwerlich auf den Gedanken gekommen, mich in Deine Angelegenheiten zu mischen, wenn ich nicht sozusagen – sehr gegen meinen Willen, das kann ich Dich versichern – Wurzel und Ursprung des ganzen Übels gewesen wäre. So war das nicht gemeint, mein lieber Magnus, als Du in Deiner Not hier bei mir saßest und ich Dir den guten Rat gab, Fabian Skotte auf Elfshammar aufzusuchen und Dir bei ihm Hilfe zu holen. Besinn' Dich nur recht, mein lieber Tochtermann! Ich gab Dir den Rat nicht, Du solltest zu ihm gehen und zu ihm sagen: »Da hast du meine Tochter. Paßt sie dir? Nimm sie dir zur Frau und das Hüttenwerk mit all seinen Schulden und dem ganzen Wirrwarr dazu, dann ist mir geholfen!« Das tat ich nicht, Magnus Brandt. Sondern ich sagte Dir: Geh' zu Fabian Skotte und bewege ihn dazu, daß er Deinen Besitz pachtet; so kommt jeder zu seinem Recht, und Du brauchst nicht zu fürchten, Deine Leute könnten Not leiden, oder Deine Kinder könnten dereinst Bettler werden und der Familie zur Last fallen.
So war meine Meinung, und das weißt Du ebensogut wie ich. Aber in Dir steckte der Hochmutsteufel, mein guter Magnus, wie er – Gott helf' uns – in allen steckt, ehe des Lebens scharfe Beize ihn auswäscht. Und zu gleicher Zeit scheint ja auch in den Skotte die Liebe gefahren zu sein, so daß der alte Narr ein junges Mädchen heiraten will, das zu mir geflüchtet ist, weil sie keinen anderen Weg sah, ihn loszuwerden. Der Skotte ist ein alter Esel. Das kannst Du ihm von mir ausrichten. Ich hatte besser von ihm gedacht.
Es wird immer mehr, was ich Dir jetzt sagen muß, Magnus. Denn es scheint, daß Du von allem, was um Dich her vorgeht, sehr viel weniger weißt, als Du solltest. Vor allem sollst Du wissen, daß ich damals nur darum an Cäcilia geschrieben und sie gebeten habe zu kommen, weil das Mädchen zuvor an mich geschrieben und mir die ganze Geschichte erzählt hatte. Ich hab' es mir lange genug überlegt. Den ganzen Sommer über und bis in den Herbst hinein. Wär' es nicht darum gewesen, daß ich Dir den verwünschten Rat gegeben hatte, Du solltest zu Fabian Skotte gehen, so hätt' ich mich wahrscheinlich trotz allem nicht zwischen Baum und Rinde gedrängt. Das muß man bloß büßen. Aber so wie die Sache lag, hatt' ich ja auch meinen kleinen Anteil daran für den Fall, daß ein Unglück geschehen sollte. Und darum sagte ich mir: Es ist am besten, du siehst nach dem Mädchen. Du bist ja doch ihre Großmutter, und eine Mutter hat sie ja nie gehabt, das arme Ding.
Jetzt hab' ich mir Cäcilia angesehen, und jetzt kenne ich sie und weiß, wes Geistes Kind sie ist. Und das sag' ich Dir, Magnus Brandt: eine Sünde wär's vor unserem Herrgott, wenn man das Mädchen zwingen wollte, daß sie sich wegwirft. Sie ist arbeitsam und tüchtig, ehrlich und wohlerzogen, zu Deiner Ehre sei's gesagt, immer gleich guter, ruhiger Laune und rechtschaffenen, frommen Gemütes. Aber darum ist sie keine von denen, die nur so mit sich umspringen lassen; ein Mädchen wie die zwingt man nicht in so eine Sache hinein.
Ich gebe, mein lieber Tochtermann, weiß Gott, meinesteils nicht viel für das, was die Leute Liebe nennen, und wenn ich in Büchern so was lese, wird mir ganz übel. Ist auch schon eine gute Weile her, daß ich's probiert habe. Ein Gescherwenzel und Geküsse und Tränen und Pimpelei, solange die Jugend dauert – was weiter ist es selten, und es ist weislich eingerichtet von unserem Herrgott, daß es sich mit den Jahren, wenn die Menschen an anderes zu denken haben, meist gibt. Darum kann man meistenteils die Frauenzimmer ruhig heiraten lassen, ohne daß man es weiter sentimental nimmt, wenn sie im Anfang auch ein bischen flennen und sich zieren. Wie gesagt, das gibt sich meistens. Man muß sein Mitleid sparen, bis Not an Mann geht, und nicht so unnötig dünnhäutig sein. Aber wenn es einmal not tut, dann soll man auch seine zwei Augen aufsperren und wach sein. Und soll es verstehen, zur rechten Zeit Halt zu sagen, und soll wissen, daß das, was dem Peter taugt, nicht immer auch dem Paul taugt.
Für Cäcilia aber taugt die Heirat, in die Du sie hineintreiben willst, platterdings gar nicht. Und darum tust Du am gescheitesten daran, mein lieber Tochtermann, wenn Du Deine Pfeife in den Sack steckst und fünfe grad sein lässest. Denn dies Mädchen ist ganz das Weib dazu, noch im Brautstuhl nein zu sagen. Und zwingst Du sie hinein, so tut sie's auch. Du kannst es glauben, wenn ich es Dir sage. Ich versteh' mich auf das Mädchen, und hättest Du eine Mutter für sie gehabt, so hätt' ich mir nicht die Mühe zu machen brauchen, Dir das alles zu sagen. Solche Mädchen, wie sie, muß man behutsam nehmen und sie nicht Hals über Kopf zwingen wollen, wie es einem ja manchmal mit den gewöhnlichen Gänsen glückt.
Ich schicke Dir auch des Mädchens Brief, den ich so frei war zu lesen. Er ist so sanft und still und schön, wie des Mädchens ganze Art ist, und wenn Du ihn richtig liest, so geht es vielleicht auch Dir, trotzdem Du ein Mann und der Vater bist, auf, daß im stillsten Wasser oft die größten Fische sind. Du begreifst wohl auch, daß es im Anfang nicht gerade angenehm sein kann, weder für Dich noch für das Mädchen, wenn sie, wie beabsichtigt war, zu Weihnachten heimkommt und ihr dann beide mit sauren Mienen und queren Blicken umeinander herumlauft. Alles muß seine Zeit haben, und ich kann mir wohl denken, daß es Dir nicht leicht wird, die Geschichte zu verdauen. Darum behalte ich das Mädchen bei mir, und wenn Du später Deine Geschäfte mit Fabian Skotte geordnet hast und der Sturm sich gelegt hat, so kann sie heimkommen, wenn Du willst, oder auch kannst Du sie bei mir abholen. Ich sag' Dir, das Mädchen gefällt mir, und ich meine, das ist jetzt und auch für die Zukunft gar nicht so ohne.
Und hiermit sende ich Dir meinen mütterlichen Gruß, ob Du ihn nun magst oder nicht. Sieh ordentlich nach der kleinen Karin und grüße sie von Großmutter. Sie soll ein gar liebes Kind sein, sagt die Schwester. Und daß sie sich in den Fähnrich verliebt hat, der bei Dir krank lag und dann außer Landes fuhr, Gott weiß wohin, das hat sie hoffentlich längst überwunden.
Cäcilia hat alles gesehen und mir die ganze Geschichte erzählt. Sie macht sich jetzt Vorwürfe, daß sie nie ernsthaft mit der Schwester darüber gesprochen hat. Denn ein Jammer wär's ja, wenn das arme Ding ihr Leben an so einen Windbeutel wegwerfen sollte, der vielleicht nie wieder zurückkommt. Und Cäcilia meint, Du, mein lieber Magnus, seist blind und taub allem gegenüber, und wenn's vor Deinen eigenen Augen und Ohren geschieht. Das beweist, daß sie ein kluges Mädchen ist, die ein Paar Augen im Kopf hat und die Schwächen des lieben Vaters kennt.
Was dieser Brief kostet, wenn er auf die Post kommt, das weiß der liebe Gott. Es ist eine lange Auseinandersetzung geworden, und das mußte auch sein, wenn ich mit meinen großen Buchstaben für alles Platz haben wollte, was ich Dir gern gesagt hätte. Kleinigkeiten waren es ja wahrhaftig nicht, mit denen ich Dir diesmal gekommen bin. Und nun hoffe ich, daß alles schließlich gutgeht; das möge unser Herrgott geben.
Deine alte Schwiegermutter
Kathrine-Marie Bergenhuus
geb. Bang.
Diesen Abend war Magnus Brandt beim Nachtessen noch wortkarger als gewöhnlich, und als er Karin Gutenacht gesagt hatte und wie immer in die Halle hinausging, um selber die große Tür zu schließen, klangen seine Schritte auf dem Backsteinboden noch schwerer als sonst. Als er den schweren Schlagbaum aufhob, der allabendlich auf die krummen Haken zu beiden Seiten der dicken Eichenholztür gelegt wurde, zitterte sein Arm so, daß Karin es merkte, und als er sich dann umwandte und sah, daß die Tochter ihm gefolgt war, biß er die Lippen zusammen, und sein Gesicht ward düster.
Im nächsten Augenblick aber hatte er die Tür zugeschlagen und war verschwunden. Einsam stand Karin in dem großen, dunklen Raum, über den matt und unsicher der Schein der Öllampe in der Dachlaterne flackerte und gleichsam ein Spinngewebe von Schatten aus den Bleirahmen der Laterne über Wände und Fußboden warf.
In des Vaters ganzem Wesen und Auftreten lag eine unterdrückte Erregung, die Karin erschreckte. Seit sie und der Vater allein waren, war es ihr immer vorgekommen, als sei es ihre Pflicht, über dem alten Mann zu wachen; und sie trauerte oft darüber, daß er nur so selten und kurz mit ihr sprach.
Jedes ging seinen eigenen Weg in dem großen, öden Hause, das so leer schien, seit Cäcilia fort war. Was ist geschehen? fragte sie sich. Was kann es nur sein? Was hat die Post heute gebracht? Und warum kommt Cäcilia nicht?
Von einem unbestimmten Gefühl der Angst umhergetrieben, brachte Karin es nicht über sich, heute so früh wie sonst in ihre Stube zu gehen und sich zu Bett zu legen. Sie trug die Wohnzimmerlampe in das kleine Kabinett, wo sie sonst nur selten saß, und breitete auf der Mutter Nähtisch ihre große Tapisseriearbeit aus, an der sie schon seit Anfang Herbst arbeitete und die eine Weihnachtsüberraschung für den Vater werden sollte.
Das Muster stellte einen Hirsch vor, der zur Hälfte in ein Dunkel von schwarzen, grauen und braunen Schattierungen versunken war, um die sich die schweren Kronen grüner Eichen erhoben. Das Schwarze, Graue und Braune sollte ein Moor vorstellen, und aus dem grünen Buschwerk rechts stürzten ein paar Jagdhunde, bereit, über den unglücklichen Hirsch herzufallen. Karin ahnte nicht, daß ein großes Kunstwerk sich in diesem steifen Muster darstellte, auf dem Ruijsdeals Dichtung vom Eichenwald kopiert war. Sie freute sich bloß an dem Bild, so wie es unter ihren fleißigen Händen erwuchs, und zählte jetzt eben gewissenhaft die feinen Stiche auf dem Stramin ab, damit das Braune und das Weiße am Kopfe des vordersten Hundes auch richtig zusammentreffen sollten.
So saß sie und nähte. Die kleine Pendüle auf dem Kranz des Kachelofens schlug schon elf klingende Schläge. Jetzt schlief das ganze Haus. Jetzt war Karin ganz allein. Ihr war nie so frei und wohl zumute wie in solchen Stunden. Alles war ihr so traut und wohlbekannt, und die großen Räume, die neben ihr im Dunkel lagen, schreckten sie nicht. Sie hatte es sich angewöhnt, so allein zu sitzen, seit die Schwester fort war, und so fühlte sie sich am glücklichsten mit ihren Erinnerungen und Hoffnungen. Die ganze kleine Welt, die sie in sich barg, schien ihr noch reicher als sonst, wenn alles um sie her so still war, und ward noch innerlicher und wärmer ihr eigen, als wenn das Tageslicht schien und die scheuen Schatten davonschreckte.
Vor dem Hause hörte Karin den dumpfen Schritt des Nachtwächters; durch die Fenster, die durch die ganze Wohnung hindurch im Dunkeln lagen, sah sie das Aufblitzen seiner Laterne, die vorüberschwebte und verschwand. Ganz so ruhig und wohl wie sonst war jedoch dem jungen Mädchen heute abend nicht zumute. Sie konnte, wie sie so einsam dasaß, den Vater nicht vergessen und den unterdrückten Zorn, der in seinem Blick geglüht hatte, als er an ihr vorüberging, und je weiter der Zeiger der Pendüle zum Zwölfuhrschlag vorrückte, desto mehr wuchs Karins Unruhe.
Zuletzt fühlte sie sich gar zu müde, um noch länger gebückt sitzen zu können. Sie erhob sich. Eine Weile betrachtete sie noch ihre Arbeit, besah prüfend das Fertige und rechnete rasch aus, wieviel noch zu tun blieb. Dann legte sie alles zusammen und wollte eben die Lampe auslöschen, als sie plötzlich zusammenschrak. Ein entfernter Laut wie von Schritten hatte ihr Ohr getroffen.
Sie stand still und lauschte und wußte erst gar nicht, was sie eigentlich gehört hatte. Dunkel lagen die Zimmer vor ihr, die Lampe, die auf dem Nähtisch brannte, sah so klein und machtlos aus, das Dunkel fing an zu wachsen, sie zu erschrecken. Es war ein ganz ungewohntes Gefühl, und aufs neue lauschte Karin auf den Laut, den sie soeben gehört hatte. Er wiederholte sich nicht, und das machte ihre Furcht nur noch größer.
Um sie zu bezwingen, nahm das junge Mädchen die Lampe in die Hand und ging durch die Zimmer. Im Eßzimmer stellte sie sie hin und blickte in die dunkle Halle hinaus. Da sah sie aus dem Spalt der Tür, die zu den beiden Stuben des Vaters führte, einen Lichtstreifen über den dunklen Boden fallen.
Karin wußte nicht, weshalb diese Entdeckung plötzlich in ihr eine Angst weckte, die noch heftiger und größer war als die Furcht vor der Dunkelheit, die sie noch eben empfunden hatte. Sie hatte schon von Ahnungen reden hören, hatte aber nie selber etwas derartiges erfahren. War das, was jetzt in ihr arbeitete, eine Ahnung? Und was konnte sie bedeuten?
Ehe sie sich noch vollkommen bewußt wurde, was sie eigentlich tat, hatte sie die Tür zu des Vaters Stube geöffnet und stand nun drinnen. Die Lampe brannte, und in dem Lehnsessel vor dem Schreibtisch saß Magnus Brandt, noch vollständig angekleidet, und blickte durch die Brille auf einen großen, engbeschriebenen Brief, der vor ihm auf dem schwarzen Lederportefeuille lag. Magnus Brandt hatte sich im Laufe der letzten Jahre eine Perücke zugelegt. Die hatte er jetzt abgenommen und sie an den Rasierspiegel hinter sich gehängt. Zum erstenmal sah Karin den Kopf des Vaters so kahl, wie er nach und nach geworden war, und eine schmerzliche Beklemmung überkam sie, als hätte sie gegen ihren Willen etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte.
Magnus Brandt schien nicht gehört zu haben, daß die Tochter eingetreten war. Nachdenklich saß er über den großen Brief gebückt, und als er endlich aufblickte, fuhr Karin vor Schrecken zusammen, so alt, abgezehrt, vergrämt war das Gesicht, das er der Tochter zuwandte. Magnus Brandt ging für gewöhnlich stets sorgfältig gekleidet. Schmuck saß das schwarze Halstuch, in einen doppelten Knoten geschlungen um den hohen Kragen, dessen weiße Ecken zu beiden Seiten des sorgfältig rasierten Kinns emporstanden. Der kurze Backenbart schloß sich zierlich an die kunstvoll gedrehten Husarenlocken des grauen Haares an, und aus diesem Rahmen schaute das von Falten durchfurchte Gesicht mit seiner frischen Farbe wie das eines Mannes, der seine Jahre mit Ehren trägt. Nie zuvor hatte Karin daran gedacht, daß der Vater alt war. Und jetzt saß er da, wie durch eine brutale Macht verändert, und die grauen Augen funkelten sie scharf an aus einem verfallenen Gesicht, das ihr fremd war und entsetzeneinflößend wie eine Maske.
»Bist du noch auf?« fragte Magnus Brandt. Es sah aus, als fiele es ihm schwer, die Worte hervorzustoßen. Er legte die Brille vor sich hin auf den großen Brief, der noch offen dalag, und lehnte sich, während er sprach, im Stuhl zurück.
»Ja,« antwortete Karin einsilbig.
In diesem Augenblick ward es ihr klar, was eine Ahnung war, und daß sie den Menschen nicht grundlos heimsucht.
»So setz' dich,« fuhr Brandt fort, ohne die Tochter anzusehen. »Da du nun gerade kommst, will ich auch mit dir sprechen. Einmal muß es ja doch sein.«
Mechanisch gehorchte Karin. Sie nahm auf einem Stuhl am Fenster Platz. Auf der anderen Seite des Schreibtisches sah sie des Vaters scharf markierte Züge, die Augen und die kahle Stirn, die im Dunkeln zu verschwinden schienen, und deren Anblick sie quälte.
»Ich habe mir erzählen lassen,« begann Magnus Brandt, »oder habe erfahren, einerlei wie oder von wem, daß du mein Vertrauen mißbraucht und mich hintergangen hast. Ist das wahr?«
Karin verstand zuerst nicht oder wollte nicht verstehen. Der Gedanke, daß sie selber vielleicht die Ursache zu des Vaters verändertem Aussehen und Wesen war, durchfuhr sie.
Aber sie hatte nicht Zeit, der Spur zu folgen, auf die dieser Gedanke sie führte. Denn ohne auf Antwort zu warten, fuhr der Vater mit leiser, scharfer Stimme fort: »Denke nach!«
In einem Nu verstand Karin; und das Ganze erschien ihr so grausam, daß sie kalt wurde gegen alles, was geschah oder geschehen konnte. Sie hörte nur in sich selbst eine Stimme, die unaufhörlich wiederholte: Wer ist so grausam gewesen? Wer hat mir das antun können? Laut antwortete sie: »Das habe ich nicht gewollt.«
»Nein,« sagte Magnus Brandt im selben Tone wie zuvor. »Du hast es nicht gewollt. Aber du hast es trotzdem getan. Es ist also wahr. Ohne dich mir anzuvertrauen, hast du dich in einen Liebeshandel mit einem fremden Abenteurer eingelassen, von dem du nichts weißt. Und alle wissen es. Alle außer mir.«
Karin sank unter diesen Worten zusammen; aber sie rührte sich nicht. Sie antwortete auch nicht. Sie fühlte bloß, wie das, was so warm und schön und süß gewesen war, plötzlich zu schmerzen begann. Schon einmal hatte sie das gefühlt, das wußte sie. Aber wann oder wo, das wußte sie nicht mehr. Es war ihr Innerstes, das entweiht wurde, ihr Heiligtum, in das Fremde eindrangen. Sie fand weder Worte noch Gedanken. Ihr Kopf brannte, und darin wirbelte etwas herum, als wollte es sie zersprengen, ihre Jugend vernichten, daß sie nie wieder glücklich und froh werden konnte wie zuvor.
Lange redete Magnus Brandt auf seine Tochter ein. Alle die Bitterkeit, die Cäcilias Weigerung und der scharfe Brief der Schwiegermutter in ihm erregt hatte, ergoß er in kurzen, scharfen Sätzen voll väterlichen Grimms und beleidigten Rechtsgefühles über die jüngste Tochter; sie war ihm erreichbar, die anderen waren weit fort. So hart war Magnus Brandt in dieser Stunde, daß er sich freute an dem Schmerz, den er der Tochter zufügte; und während er sie mit Worten strafte, rächte er sich für das Verfehlte in seinem eigenen Leben, über das er just in dem Augenblick, da die Tochter über seine Schwelle trat, nachgedacht hatte. Was hatte er nicht gelitten! Wie hatte er sich nicht geopfert, verzichtet! Das Glück der Liebe hatte er geflohen, weil er diese zwei Kinder liebte und für sie leben wollte. Und wie hatten sie es ihm gelohnt? Die eine hatte sich schlau und kalt seiner väterlichen Gewalt entzogen und seine Ehre preisgegeben. Die andere hatte in seinem eigenen Hause sein Vertrauen getäuscht und sich von einem Mann verlocken lassen, der die Gesetze der Gastfreundschaft verletzt und den Retter seines Lebens bestohlen hatte.
So sah Magnus Brandt das Geschehene an; aber kein Wort von all dem ließ er über seine Lippen kommen. Was er sprach, war die Sprache der Gerechtigkeit und der gekränkten Vaterwürde. Und als er nichts mehr zu sagen fand, befahl er der Tochter zu gehen.
»Geh' jetzt auf dein Zimmer,« sagte er. »Und schlafe, wenn du kannst. Wenn du es aber nicht kannst, so denke jetzt, wenn du es auch vorher nicht getan hast, an die Worte: ›Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden‹. Der Zusatz in diesem Gebot Gottes verdient, daß man einmal darüber nachdenkt.«
Es geschah höchst selten, daß Magnus Brandt Bibelworte zitierte. Darum trafen, als er es jetzt tat, seine Worte Karin fast, als ob Gott selbst sie durch des Vaters Mund gesprochen hatte.
Im Innersten ihrer Seele zerknirscht, ging sie durch das Dunkel hinauf in ihre Stube. Die ganze Zeit über klangen ihr die feierlichen Worte im Ohr, als könnte es ihr nie wieder gutgehen, als wäre sie nicht wert zu leben. Nie zuvor hatte sie geahnt, daß es ein solches Entsetzen geben könnte wie das, was sie jetzt erfüllte. So viel Böses hab' ich getan, dachte sie. So schlecht bin ich!
Ans Schlafen mochte sie nicht einmal denken. Es kam ihr fast so vor, als ob der Vater mit seinen Worten ihr gesagt hätte, sie dürfe nicht. Sie blieb noch lange auf, saß ganz still auf dem kleinen Stuhl vor dem weißen Bettvorhang und regte sich nur, um von Zeit zu Zeit mit einer Lichtschere den Docht des Talglichtes abzuschneiden, wenn er sich krümmte und die Flamme flackerte.
Gegen Morgen aber zog sie sich dann doch aus und ging zu Bett. Aber auch da wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Als das Licht gelöscht war, wurde sie nur noch heller wach, und ihre tränenlosen Augen schmerzten vor Müdigkeit. Ihr war zumute, wie wenn der Vater sie verflucht hätte und sie nie mehr Frieden finden könnte. Stunde um Stunde hörte sie die große Uhr, die im Eßzimmer auf dem Boden stand, mit ihrem lautklingenden Schlag, der in der Stille der Nacht durch die Decke herausdrang. Zwei, drei, vier Schläge. Zuletzt schlief sie ein und träumte, sie gehe durch eine Gegend, die sie noch nie gesehen hatte, und suche Sigfrid Björnram. Keinem Menschen begegnete sie, den sie hätte fragen können, und nirgends sah sie die Spur dessen, den sie suchte. Und doch wußte sie die ganze Zeit über, daß er gerade da, wo sie jetzt stand, vor kurzem gewesen war, und ihre Angst im Traum ward so groß, daß dicke Schweißtropfen auf ihrer Stirn perlten, als sie erwachte.
Wo bin ich? dachte Karin. Und was ist geschehen?
Langsam entwichen die Schatten des Traumes, und sie erkannte wieder alle die vertrauten Gegenstände ringsumher. Sara war noch nicht zum Wecken gekommen, das Zimmer war kalt, und kein Feuer flammte noch im Kachelofen. Durch das Fenster, an dem die Rouleaux nicht herabgelassen waren, sah sie die Luft voll weißer Flocken, die umherwirbelten und herniedersanken. Auf dem Sims lag schon ein fester, dichter Haufen weißen Schnees, der an den Fenstern emporstieg. Da fiel Karin alles wieder ein, was geschehen war, und sie fing an zu weinen.
Nachdem die Tochter ihn verlassen hatte, war auch Magnus Brandt noch lange einsam aufgeblieben. Bitter wie noch nie war ihm das Leben vorgekommen. An dem Bestehenden vermochte er nichts zu ändern. Dazu fehlte es ihm an Kraft. Und das, was einst gewesen war, stieg wie graue Gespenster um ihn auf. Ihm war, als habe er alles weggegeben und nichts dafür erhalten. Alles, was ein einsamer Mann zu geben vermag, hatte er seinen Töchtern gegeben. Und jetzt saß er da, verlassen und entblößt, und hatte nichts mehr, was ihm Freude machen konnte.
Mit Befriedigung dachte er bloß an eins, und das war – jetzt wie immer –, daß er seine Pflicht getan hatte. Dieser Gedanke durchdrang ihn mit der Stärke einer fixen Idee. Ruhig erwog er, was er seiner Tochter gesagt hatte, und freute sich, daß sie gekommen war und so – wenn auch spät – die Wahrheit gehört hatte, wie es für ihren jugendlichen Sinn gut war. Einen Augenblick war Magnus Brandt nahe daran gewesen, sich zu vergessen, das war, als er sah, wie seiner Tochter Antlitz in Schreck und Verzweiflung erstarrte, und als er ahnte, wie in dem Kind das Weibesherz litt. Es fehlte nicht viel, so hätte er sich vergessen und hätte sein eigenes Herz sprechen lassen. Aber im letzten Augenblick noch hatte er die Bewegung niedergerungen, die ihn beinahe übermannen wollte. Voll redlichen Ernstes hatte er die Versuchung bezwungen, und die Pflicht hatte auch diesmal schließlich gesiegt. In diesem Gedanken fand Magnus Brandt seinen Trost, und weil er ihn so vollständig beherrschte, schlief er auch ruhig und ohne Träume in dieser Nacht.
Am folgenden Tage aber brach das Unwetter über Skogaholm los. Gleich am Morgen begann es. Magnus Brandt ließ den Fischer-Anders rufen und nahm ihn in seiner eigenen Stube ins Verhör. Fischer-Anders stand mit übereinander gelegten Händen dicht neben der Tür auf der Binsenmatte und hörte die zornige Rede des Herrn an. Er stand in Socken da, die Stiefel hatte er vor der Tür ausgezogen und seine Pelzmütze und die Fausthandschuhe daneben gelegt. Das wollene Wams warf dicke Falten; kaum eine Minute lang konnte er die Füße stillhalten. Sein ganzer Körper arbeitete vor Entsetzen.
Der Herr redete von einem Briefe, der ohne seine Erlaubnis befördert worden war und den Fräulein Cäcilia geschrieben haben sollte. Fischer-Anders wunderte sich im stillen darüber, daß gar nicht von Fräulein Karins Briefen die Rede war, und das waren doch viel mehr gewesen. Aber da der Herr sich bloß bei dem einen aufhielt, so schwieg Fischer-Anders gutmütig, um das Übel nicht noch schlimmer zu machen.
»Ja,« sagte Magnus Brandt. »So geht's, wenn man sich auf unrechte Dinge einläßt. Jetzt bist du das letztemal mit der Post gefahren, da gebe ich dir mein Wort drauf. Und jetzt hinaus mit dir! Und nimm dir eine Lehre an der Geschichte – das nächste Mal, wenn man dir etwas anvertraut!«
Gleich darauf stand Fischer-Anders in der Halle, und nachdem er lange mit seinen nassen Stiefeln gekämpft und sie schließlich wieder an seine Füße gebracht hatte, ging er mit seiner buckligen Haltung zur großen Haustür hinaus und die Treppe hinunter und sinnierte darüber, wie er die Sache wohl seiner Frau beibringen sollte. Der war's so wie so nicht leicht recht zu machen, und er fluchte im stillen dem Tabak und dem Schnaps, die ihn verführt hatten. Am meisten aber kränkte es ihn doch, daß man ihm nicht länger traute. Das war eine Schande, und das drückte ihn schwerer als der Kummer um den Verdienst, der den Weg alles Fleisches gegangen war, und die Furcht vor dem Zorn und den Tränen der Frau.
Nach Fischer-Anders kam die Reihe an Sara. Und obgleich Magnus Brandt der alten, treuen Dienerin gegenüber billigerweise mehr Rücksicht nahm als bei dem verabschiedeten Postboten, so nahm er auch da kein Blatt vor den Mund. So wütend war der Herr, daß Sara alle ihre Selbstbeherrschung aufbieten mußte, um die Vorwürfe über mangelnde Zuverlässigkeit und Wachsamkeit im Hause, die sie einstecken mußte, ruhig anzuhören.
Es gelang ihr aber schließlich doch. Stumm, mit zusammengepreßten Lippen, stand sie neben dem Schreibtisch und hörte auf die zornigen Worte und all die Kraftausdrücke, mit denen der Herr nicht sparte. Und erst als er sich müde gedonnert hatte, verteidigte sie sich. Sie hatte nichts gehört und nichts gesehen. Der Herr hatte ja selber befohlen, daß Fräulein Karin dem Fähnrich Gesellschaft leisten sollte. Und Sara hatte gehorcht, wie es sich ziemt für eine geringe Dienerin, die gelernt hatte, ohne weiteres zu gehorchen. Daß sie das Kuvert mit dem Ring gesehen hatte, das Karin an jenem Morgen nach der Abreise des Fähnrichs geholt hatte, das verschwieg die Alte wohlweislich. Dies Geheimnis barg sie, diesmal viel mehr um ihrer selbst willen, unter all den anderen ähnlichen und wohlaufgehobenen, die sie seit langer Zeit hinter ihren alten Lippen, die zur rechten Zeit reden und schweigen gelernt hatten, hegte. Und sie verstand ihre Worte so geschickt zu stellen, daß Magnus Brandt schließlich ganz beruhigt und sogar nahe daran war, sich bei der alten Dienerin, ehe sie ging, halb zu entschuldigen.
Mit geretteter Ehre und bedeutend leichteren Herzens, als sie gekommen war, kehrte die alte Sara nach dieser Unterredung zu ihrer Arbeit zurück. Die Neugierde, womit die übrige Dienerschaft vertrauliche Mitteilungen über den Verlauf des Gespräches aus ihr herauszulocken versuchte, die, wie alle wohl wußten, doch nie erfolgen würden, schien sie gar nicht zu bemerken. Aber daß die Unterredung auf jeden Fall zu Saras Gunsten abgelaufen war, das konnte jeder merken, und daraus machte die Alte auch nicht den geringsten Hehl.
Nach der Unterredung mit Sara blieb Magnus Brandt noch eine Pflicht zu erfüllen. Daß die Tochter sich in ein Liebesverhältnis eingelassen hatte, war an und für sich schon bedenklich genug. Nun wußte er aber auch, daß Liebende, die nicht zusammenkommen können, sich durch Briefe schadlos zu halten pflegen; und obgleich Magnus Brandt nur im äußersten Falle hätte glauben können, daß seine Tochter sich so weit vergessen hätte, so hielt er es doch für das klügste, sich auch über diesen Punkt Gewißheit zu verschaffen. Saras Behauptung, sie wisse nichts davon, beruhigte den bekümmerten Vater keineswegs; die Tochter direkt zu fragen, verboten ihm Zartgefühl und Überlegung. Nur nicht den schlafenden Löwen erst wecken! dachte er. Noch viel weniger kam es ihm in den Sinn, in einer so heiklen Sache, die die Ehre der Familie anging, sich dadurch Gewißheit zu verschaffen, daß er den Fischer-Anders ausfragte, was ja sonst nahe gelegen hätte. Eine derartige Vertraulichkeit konnte man sich der alten Sara gegenüber gestatten, die eine Ausnahmestellung im Hause einnahm, nicht aber sie noch tiefer auf eine Rangstufe hin ausdehnen, der zu jener Zeit so streng und genau ihr Platz angewiesen war.
Um seiner selbst, der Ehre der Familie und um der Tochter willen zog Magnus Brandt es vor, sich nur auf sich selbst zu verlassen und keine Fremden einzumischen. »Wenn eine Korrespondenz stattgehabt hat, so müssen Briefe da sein« – das war sein Schluß. Und darum ging er heimlich auf die Stube der Tochter und nahm eine förmliche Haussuchung vor, durchstöberte Garderobe, Fächer und Schiebladen, sogar die kleine Truhe aus Rosenholz, die auf der Kommode stand. Da er nichts fand, ging er beruhigt wieder hinab, nicht ohne sich selbst seines übertriebenen Mißtrauens zu schämen.
Diese Haussuchung hatte leicht und unbemerkt vor sich gehen können, denn Karin war am Vormittag gar nicht daheim. Niemand wußte, wohin sie gegangen war. Sie hatte nämlich am Morgen den Fischer-Anders getroffen, als er von seiner Unterredung mit dem Hüttenherrn kam und hatte von ihm gehört, was ihm geschehen war, weil er dumm und gutmütig gewesen war und unerlaubte Botendienste verrichtet hatte. Karin kämpfte mit dem Weinen, weil sie soviel Böses angerichtet hatte; zugleich aber dachte sie auch an ihre geliebten Briefe. Wie ein Geschenk des Himmels kam es ihr vor, daß der Vater nach ihnen nicht gefragt hatte.
Als sie dann in die Halle kam, hörte sie die laute, zornige Stimme des Vaters, der die alte Sara verhörte, und, außer sich vor Angst, lief sie hinauf in ihre Stube, nahm alle ihre Briefe, Stück für Stück, zählte sie genau und steckte sie dann in ihre Kleidertasche, die ganz dick und schwer wurde. Wie es auch ging und was geschehen mochte – die Briefe mußte sie retten. Es war ja das einzige, was sie hatte, ihre einzige Freude, ihr einziger Trost.
So ging sie mit den Briefen in der Tasche aus, aufs Geratewohl. Sie wußte sich keinen Rat. Schließlich kam sie in den Wald, und plötzlich beschleunigte sie ihre Schritte. Der Pfad war kaum zu sehen, der Schnee fiel und fiel, und unter den Tannen schimmerten die Flocken weiß gegen die grünen Nadeln, die langsam verschwanden. Aber Karin war gewohnt, im Walde zu gehen, und es dauerte nicht lange, bis die Lichtung mit dem kleinen roten Häuschen, aus dessen Schornstein der Rauch stieg, vor ihr lag.
Drin saß der alte Svedin und malte an einer roten Tulpe, die außen auf einer Hochzeitstruhe prangen sollte. An ihn wandte sich Karin in ihrer Not und bat ihn, ob sie ihre Briefe bei ihm verstecken dürfe, bis sie sie einmal wieder holen könne. Sie wählte ihre Worte klug, und ihre klaren Augen blickten so lebhaft und ausdrucksvoll, daß sie den Alten betörten.
Im Anfang freilich wollte er nicht viel davon wissen. »Ich danke!« sagte er. »Ich danke! Soll ich mich etwa auf meine alten Tage noch in heimliche Schliche und Kniffe einlassen?«
Aber schließlich gab er doch nach. Er konnte gar nicht anders. Karin sah so unglücklich aus und bat so schön. Wenn sie ihm mit der Stimme kam, da ward der alte Svedin weich und versprach alles, was sie wollte.
»Leg' die Briefe in den Wandschrank,« sagte er. »Da kommt keiner daran.« Dabei spuckte er heftig aus und klapperte mit seinem hölzernen Bein wie immer, wenn er erregt war. Und der borstige Schnurrbart zitterte auf der Oberlippe. Ehe Karin ging, hatte er ihr noch mehr versprochen. Er hatte ihr versprochen, daß sie die Briefe, die der Postbote nicht befördern durfte, zu ihm bringen dürfe. Bei ihm, wo immer Leute ab und zu gingen, fand sich auch immer eine Gelegenheit, die Briefe weiterzubefördern. Und wenn ein Brief kam, so sollte er ihn für sie aufbewahren. Seine Adresse würde auf dem Briefe stehen; und sie würde ihn sich dann holen. Mehr wollte er nicht wissen; und irgendwelche Verantwortung übernahm er nicht.
Durch den Schnee, der immer dichter fiel, ging Karin endlich heimwärts; sie war froh und zufrieden, froh über das, was sie getan hatte. Es war alles so hastig gekommen und wie von selbst so geworden, so daß sie das Geschehene noch kaum faßte. Aber während sie nach Hause ging, klangen ihr des Vaters strenge Worte wieder im Ohr, und sie fühlte sich sündig und schuldbeladen wie noch nie. Wenn sie sterben müßte, so würde sie gewiß nicht in den Himmel kommen. War das möglich? Aber wenn sie lange am Leben blieb und in allem anderen immer nur das Rechte und Gute tat – würde ihr Gott dann nicht vergeben, wenigstens dereinst, wenn sie recht alt war?
Es war lange bis dahin, so lange, daß Karin es sich gar nicht ausdenken konnte. Aber wie lange es auch sein würde – sie wollte gern warten und aller Sünde Last tragen, wenn sie nur ihre Hoffnung behalten durfte und ihre Liebe, die sie jetzt mehr schmerzte und drückte als alles andere.
Inzwischen quälte das einmal erwachte Mißtrauen Magnus Brandt den ganzen Tag, und obschon er nichts mehr wünschte, als es loszuwerden, konnte er es doch nicht unterlassen, später am Abend Karin in gleichgültigem Tone zu fragen, ob zwischen ihr und dem jungen Fähnrich keine Briefe gewechselt worden seien.
»Nein,« antwortete Karin und erschrak dann, daß es ihr so leicht geworden war, ihre erste Lüge auszusprechen. Und noch mehr erschrak sie über ihre Freude, als sie merkte, daß der Vater sich fest auf ihr Wort verließ.