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Ich hab einen Sommer lang den Stimmen vergangener Tage gelauscht. Eine Sage hab ich gehört von Menschen, die längst gestorben sind. Und während die Tage des Sommers entschwanden, hab ich gefühlt, wie die Sage lebendig ward und sich in Worte kleidete. Die Erinnerung alter Geschlechter lebt im Geschick der Menschen, die meine Fabel umspinnt, und auch in meinem Blute schäumt ein Widerhall von Geschlechtern, die längst vergangen sind.
In waldige Gegenden führt mich die Erinnerung, in Gegenden, wo die Männer der alten Geschlechter das Land urbar machten, wo ihre Weiber ihnen Söhne und Töchter gebaren, die das Land, das die Väter urbar gemacht, bebauen sollten. In Tannen- und Kiefernstriche, wo der Elch noch lebt, wo die Moosbeere im Sumpfe blüht, wo das Erz zu Eisen geschmiedet wird, führt mich die Erinnerung. Da reißt der Fluß durch den Tannenwald, da strecken sich die Wälder meilenweit, noch unberührt von der Hand des Landwirtes, da glühen die Meiler zum sternhellen Nachthimmel auf, tief liegt der Schnee im Winter, und im Sommer spielt der Birkhahn im Morgenglanz.
Du stille, starke, wundervolle Welt, in der meine Kindheit verrann! Im Lichte dessen, was ich damals sah, steigen Erinnerungen empor, Erinnerungen, nicht an Dinge, die ich selbst gesehen, sondern an Dinge, die ich erzählen hörte, einst, zur Zeit, da meine Schritte die schwarze Erde des Eisenwerkes, die Rasenhügel des Birkenhags oder die glatten, nadelbestreuten Pfade des Waldes traten. Und wenn ich daran denke, so deucht mich, als wäre meine eigene Kinderzeit näher den Menschen, von denen ich hier erzählen will, als sie mir selber ist.
Eben diese meine eigene Kindheitsperiode verknüpft, so deucht es mich, gewissermaßen die Zeiten, die schlummern, mit denen, deren Unruhe und Drang uns selber fast in Stücke sprengt und deren innerstes Streben zugleich das Geschlecht vorwärts reißt. Und wenn ich jetzt, wie in einem Traum, die Menschenschicksale vor mir sehe, die ich auf ein paar Papierblätter aufzeichnen will, die noch unbeschrieben vor mir liegen, da erscheinen mir der vergangenen Zeiten Weiber, ihre Jugend und ihre Männer stärker, vollkommener, glücklicher und besser als die der Gegenwart. Ich weiß, daß dem vielleicht nicht so ist, aber die Empfindung will mich nicht loslassen, und ich wundere mich bloß darüber, daß ich es so lange vergessen konnte, wie ich es vergessen habe.
Das erste, was ich in der Erinnerung sehe, ist der Hof, Skogaholms alter Herrenhof.
Auf der Krone des Hügels liegt er, und drunten am Hange kann man, wenn der See ruhig ist, das gebrochene Dach sich im klaren Wasser spiegeln sehen. Eigentümlich gebrochen ist es, dies Dach. Es sieht aus, als wäre es zweimal abgebrochen worden. Zwischen den beiden Dächern, die auf diese Art gebildet werden, ist gleichsam eine niedere Wand, auf der das oberste Dach ruht, und wo dieses sich vorschiebt, glänzt eine Reihe runder Fenster, die den dunklen Augen einer Kette von riesigen Tieren gleicht. Die Fassade ist weiß, vom Alter gegilbt. Durch das Laubwerk der großen Kastanien, die den Abschluß für das Rondell des Gartens bilden, blinkt sie hervor mit ihren vielen, großen Fenstern, der breiten Steintreppe und dem schweren Tor aus eisenbeschlagenem Eichenholz. Hinter den Kastanien beginnt die Linden- und Ahornallee, und hinter jedem der großen Bäume sieht man die beiden niederen Flügel liegen. Auch sie haben gebrochene Dächer. In dem einen wohnt jetzt, wie vor hundert Jahren schon, der Inspektor. Im anderen ist das Kornmagazin, und über dem Giebel erhebt sich das Glockengerüst, von dem die Vesperglocke zu Arbeit und Ruhe ruft.
An der Nordseite des Sees liegt das Hüttenwerk. Wo die Schmieden ihre rußigen Dächer erheben, sieht man den Fluß, der, eingedämmt und bezwungen von Menschenhand, sich zum See hindurchkämpft. Um zum Hammer zu gelangen, muß man über einen langen, schmalen Holzsteg gehen, der über den Sumpf führt, und während man darübergeht, hört man die Hämmer, die mit jedem Schritt dem Gehenden gleichsam näher zu kommen scheinen. Zuerst hört man den schmetternden Klang des Stifthammers, danach gellen die Stangenhämmer drein, daß man zu sehen glaubt, wie die Stangen herausgezogen, wie sie länger und länger werden im selben Maß, wie der Klang schärfer, schriller und kälter wird. Zuletzt kommt das dumpfe Geräusch des Schmelzhammers, der die glühende, weiche Masse in Empfang nimmt und sie langsam zu einem großen, feuerspritzenden Klumpen knetet, um den herum Männer in groben Hemden und mit Holzschuhen an den nackten Füßen, pustend vor Anstrengung, stehen, während der Schweiß ihnen in Strömen über die braune Haut rinnt.
Kommt man dann den Hügel hinauf, so ist man mitten im Lärm. Außen vor der Schmiede steht der Buchhalter, beschäftigt, die Eisenstangen zu besichtigen. Ringsum ist alles schwarz. Die Erde ist schwarz, niedergetreten von rußigen Füßen, mit Schlacke bestreut, die von den schweren Erzwagen zermalmt und von den Kohlenfuhren, die in langen Reihen darüberfahren und durch ihr undichtes Spangeflecht das Kohlengestübbe verstreuen, geschwärzt ist. Männer in weißen Hemden, deren Glieder gestählt sind durch die harte Arbeit am Ofen, sitzen vor den Schmieden und kühlen die rußigen, erhitzten Körper in der Sommersonne, die heiß herniederbrennt, oder auch sie kommen aus der Schmiede, auf wankenden Beinen die schweren Eisenstangen tragend, die zischend in den Wasserbehälter geworfen und kalt daraus emporgehoben werden.
Hinter den Schmieden liegen die Wohnstätten der rußigen Männer. Kreuz und quer sind sie gelegt, große, rote Häuser mit weißen Kanten, Häuser, die von ebener Erde bis unters Dach angefüllt sind mit Männern, Weibern und Kindern, die einen ganzen Stamm von Arbeitern in sich beherbergen, von Arbeitern, die sich angesammelt haben an diesem Ort, wo eine Familie seit Generationen als Herrscher sitzt.
Ohne zu reflektieren, blickt der Arbeiter auf zum Herrenhof und zu denen, die dort wohnen. Von ihnen erwartet er sich Lebensunterhalt und Stütze in der Not. Ohne sie wäre er nichts. Und die Menschen, die dort wohnen – ihr Schicksal ist zusammengewachsen mit der Arbeit in den rußigen Schmieden, mit den Männern, die da schaffen und schwitzen in ihrem Dienst. Die Schönheit der Natur, die Stille der großen Wälder, der spiegelklare See, der zwischen grünenden Hügeln und lichten Feldern lacht – all das gehört ihnen gemeinsam. Die Kirchenglocken läuten ihrer allsonntäglich viele zusammen, und die Kirche ist für sie alle, Herren wie Diener, das Haus, das Gottes genannt wird.
Der Abstand zwischen Herr und Knecht ist unermeßlich, und doch stehen sie einander vielleicht persönlich näher als in der Gärungszeit, in der wir jetzt leben. Nie fühlt man diesen Abstand stärker, als wenn man zur Kirche kommt, zu der weißen Kirche, die mitten im Kirchspiel liegt und sich vom Hintergrunde der großen Wälder hell abzeichnet. Auf dem stillen Platz, wo der Kirche stumpfer Turm sich über dem Pfarrhof und dem Ort erhebt, ist die Erde mit niederen Hügeln übersät, deren Namen keiner kennt. Auf manchen stehen einfache Holzkreuze; Wetter und Wind haben den Namen ausgemerzt, und das Kreuz selber fängt an nach und nach zu vermorschen und zu verfallen.
Zunächst der Kirche aber, östlich vom Chor, liegen die Gräber, die gepflegt werden. Hier schreiten alle voll Ehrfurcht vorüber, schwere Steine liegen hier in die Erde eingedrückt, einsame eiserne Kreuze erheben sich hinter den Steinen, daneben stehen stolze Monumente aus Granitblöcken, von Trauernden errichtet, die das Gedächtnis von Ahnen zu wahren haben. Mannes Tat und Weibes Andenken kann man hier von den Grabsteinen ablesen. Vergessen sind die meisten; einst verwittert auch der Stein und wird zu Schutt. Aber zwei Namen sind da, die miteinander verbunden sind, und an diese Namen knüpft sich die Geschichte des Waldortes.
Eins der Geschlechter, das älteste von denen, deren Grabsteine auf dem Friedhof zu Torsby versammelt sind, trägt den Namen Brandt; und gar mannigfaltig waren die Geschichten von den eigentümlichen Schicksalen seiner Angehörigen. Wenn ein Außenstehender von einem Brandt sprach, so geschah es mit einem eigentümlichen Gemisch von Interesse und Scheu; manchmal konnte man sogar etwas von Furcht in den Worten entdecken, in denen man von ihnen sprach. »Die Brandts sind eine Familie für sich,« hieß es. Damit wollte man all das andeuten, was man meinte und doch nicht so recht in Worte kleiden konnte.
Das Geschlecht war nach Schluß des Dreißigjährigen Krieges nach Schweden gekommen. Ob der Stammvater Deutscher war oder Schotte oder möglicherweise auch einer der anderen Nationen angehörte, die sich unter dem Banner des Heldenkönigs sammelten, war unergründbar. Sein Porträt, in Koller und Bartzier, genau das Gustav Adolfs wiedergebend, war zu alt und verblaßt, um irgendwelchen Anhalt zu bieten. Genug – ein Ausländer war er, und die Anekdoten, die die Tradition von ihm überliefert hatte, beschränkten sich auf kleine Geschichten, die sich auf jeden beliebigen Kriegsmann, der sich in alten Zeiten mit dem Adel und einem Gut zur Ruhe gesetzt hatte, beziehen konnten.
Daneben aber hingen noch viele Porträts auf Skogaholm. Da war der Kriegsmann aus Karls X. Zeit, mit üppiger Perücke, vollem Gesicht und kleinem Schnurrbart, ein ernster Mann aus den Tagen Karls XI., ebenfalls in Perücke, jedoch an Stelle des Kriegerharnisches oder ‑rockes mit dem Mantel des Staatsmannes bekleidet, da war der Karolin, ein junges, kindliches Gesicht, gegen das der einfache blaue Rock und die Kollerhandschuhe seltsam abstachen. Dann kamen Herren in Perücken, in Samt- und Seidengewändern, in weißer Halskrause, mit steifen oder lebensvollen Gesichtern, je nachdem die Kunst des Malers zureichte oder nicht. Und dazwischen schauten Frauenköpfe heraus, feine, verträumte Typen, Seite an Seite mit blutvollen und sinnlichen oder mannhaften, barschen.
Sah man in all diese Gesichter, so brauchte man nicht lange zu suchen, um den Familienzug zu finden, der allen gemeinsam war. Es war etwas wie ein Übermaß von Sinnlichkeit und Kraft, das sich im Laufe der Generationen abgedämpft, verfeinert und abgeschliffen hatte. Der Blick, der scharf unter dichten Augenbrauen vorschoß, die Rundung des Kinns, die kräftige, gerade Form der Nase im Verein mit einer Art spöttischen Übermutes um schmalere oder vollere Lippen – all das waren Familienzüge, die stets wiederkehrten. Und was von diesen Männern berichtet wurde, waren Geschichten, die dartaten, daß in der Natur der Brandts das Bedürfnis steckte, etwas für sich zu sein, sein eigenes Leben zu leben, zu tun, was man selber für gut fand, ohne Rücksicht auf die Welt. Zugleich aber fand sich auch eine ruhige, gesammelte Kraft, die freie, unverbildete, starke Charaktere zu formen vermochte. Etwas von der Hingabe an Arbeit und Pflicht, die ihre Wurzel in der Religion hat, und die zusammenhängt mit der Fähigkeit, für andere und für eine Idee zu leben. Von Resignation war nicht viel vorhanden; doch bewahrte die Familienchronik auch diese Eigenschaft als Familienzug auf.
Die Familienchronik berichtete nämlich, daß Skogaholm der Platz war, der die Familie stets zusammengehalten hatte. Bei allen, die Brandt hießen, war der Familiensinn so entwickelt, daß dieser Brandtsche Familiensinn geradezu sprichwörtlich geworden war. Darum waren auch die alten Familienporträts auf Skogaholm gesammelt worden. Früher oder später kamen sie alle dahin, sowie auch alle Glieder der Familie stets anzuordnen pflegten, daß der Torsbyer Kirchhof dereinst ihre irdischen Überreste aufnehmen sollte.
Die Familienchronik berichtete ferner aber auch, daß es im Brandtschen Geschlecht von jeher zwei Sorten von Menschen gab. Die einen ließen sich von Ehrsucht, Abenteurerlust oder Genußgier hinaustreiben in die Welt. Als Kriegsleute hatten sie sich mit Lust und Gefahr herumgeschlagen, als Diplomaten hatten sie an den Höfen des Kontinents geweilt, als Beamte hatten sie Titel und Rang erlangt und hatten, Fremdlinge für die Heimat, aus der sie stammten, das jagende, verfeinerte Leben der Hauptstadt gelebt. Ihre Porträts waren es, die die Wände des alten Familiengutes schmückten und die Ehre und der Stolz der Familie waren. Männer und Frauen waren darunter, Männer, die die Welt mit ihren Talenten oder ihrem Mut geblendet, Frauen, die die Männer durch Schönheit mehr denn durch Tugend geblendet hatten.
Andere Glieder der Familie wiederum hatten die Vätererde nie verlassen. Aus Notzwang oder eigenem Geschmack waren sie daheim geblieben, hatten in dem alten Steinhause gelebt, geheiratet, Kinder heranwachsen sehen und waren endlich gestorben – innerhalb derselben Mauern, die sie hatten zur Welt kommen sehen. Diese Männer hatten das Land bebaut und die Wälder urbar gemacht. Sie hatten das Hüttenwerk erweitert, geleitet und vergrößert, hatten ein fleißiges Arbeitsleben geführt, und die Spuren dessen, was sie von den Genüssen des Lebens gekostet, fand man in der Bibliothek des Herrenhofes, wo sich seit mehr als einem Jahrhundert schwedische und ausländische Literatur angesammelt hatte, in dem gepflegten Garten, wo seltene Pflanzen und Obstbäume gediehen, in dem wohlversehenen Weinkeller, wo alte, spinnwebüberzogene Flaschen aus Bordeaux, vom Rhein, aus Oporto und Malaga aufbewahrt wurden zu den Festen, bei denen der Rausch weniger Stunden Jahre der Einsamkeit und beharrlichen Arbeit aufwiegen mußte. Diese Männer, die treulich daheim gesessen hatten, während ihre Brüder, Oheime und Vettern die Welt durchschwärmten, waren – dem Gerücht zufolge – auch diejenigen, die teuer bezahlen mußten für die Ehre, daß der Name Brandt Ruhm auf dem Schlachtfelde errungen oder am Hofe von Königen und Kaisern gestrahlt hatte. Ihre Porträts aber sah man nicht unter denen, die in Sälen und Prachtgemächern hingen. Vergessen gingen sie dahin, und nur die Steine auf dem Torsbyer Kirchhof gaben in kurzen Daten Andeutungen über ihr Leben und Wirken. Aber die Bebauung der Heimaterde war ihr Werk, und auf der Heimaterde lebte ihr Gedächtnis fort.
Der letzte Sproß des alten Geschlechtes hieß Magnus. Seine Geschichte war anders als die Geschichte derer, die zuvor auf Skogaholm gewohnt und geherrscht hatten.
Daß Magnus Brandt auf dem Familiengut blieb und sich nicht, wie es ihn verlangte, draußen seinen Weg suchte, das lag zunächst nicht an ihm selbst. Magnus Brandt war geboren gleich nachdem der Rausch über Gustav III. Staatsstreich sich gelegt hatte. Seine Jugend und sein frühestes Mannesalter fielen in die Blütezeit der Aufklärungsperiode, als Mann erlebte er Schwedens Ohnmacht und Schmach, Gustav IV. Absetzung, Finnlands Verlust und gleich darauf Bernadottes plötzliches Auftreten auf der Bühne und die Tage der großen Erwartungen. Mit Leib und Seele den Ideen ergeben, die in den Glanzjahren des achtzehnten Jahrhunderts aufbrachen, war er mehr ein Mann der Studien als der Tat. Als einziger Sohn eines reichen Vaters und alleiniger Erbe Skogaholms glaubte er ohne Schwierigkeit seinen Neigungen folgen zu können, die zunächst dahin gingen, in die Welt hinauszuziehen, zu lernen und zu schauen, um dann einstmals heimzukehren und sich in reifen Jahren die Laufbahn zu erwählen, die für ihn offenstehen könnte. Vielleicht verbarg er darunter die Neigung und Hoffnung, dereinst selbst Schriftsteller zu werden und seinen Namen neben denen Kollgrens und Thorilds, der beiden Antagonisten aus der Literatur seiner Jugend, nennen zu hören, der beiden, die Magnus Brandt, dessen Natur mehr geschmeidig als produktiv war, gleich hochschätzte, und die er infolge der Anschauung, die er sich selber gebildet hatte, als Heroen der Bildung in der schwedischen Belletristik ansah. Wenn dem so war, so kam er doch nie weiter als bis zum Aussprechen des Gedankens. Denn beim ersten Versuch, dem Vater einen so abenteuerlichen Plan vorzulegen, geriet dieser in eine solche Wut, daß der Sohn nie wieder auf den Gegenstand zurückzukommen wagte.
Der alte Ulrik Ferdinand Brandt war nämlich ein gar strenger Herr. Nichts war ihm fremder als Bücherweisheit und Literatur. Gustav III. und das Leben an seinem Hofe, von dem übertriebene Schilderungen in den abgelegenen Waldort drangen, haßte er mit der Kraft eines alten Schweden von spartanischem Schnitt, der in Rupfen gekleidet ging und seinen Bauern und Knechten mit dem Knüppel Zucht und Recht zu predigen pflegte. Diesem Vater gegenüber vermochte Magnus Brandt nichts, und als der Vater im Sterben lag, übergab er dem Sohn das Eigentum mit der strengen Vermahnung, seiner so zu warten, daß er es, wenn ihm dereinst ein Sohn geboren würde, mit Ehren diesem hinterlassen könnte.
»Schwöre mir,« sagte der Alte, »daß du deinen Leuten ein strenger und gütiger Herr sein und für sie sorgen wirst.« Magnus Brandt schwur den Eid. Und von Stund an saß er auf dem Besitz fest, und alles, was er an Ehrsucht, Abenteurerlust, Tatkraft oder Genußgier in sich barg, war für immer gebunden. Er ward seinen Leuten ein guter Herr. Aber ein Mann wie sein Vater ward er nie. Der Hammer ging unter ihm seinen Gang wie zur Zeit seines Vaters. Aber er selber liebte seine Bücher und die Träume im Studierzimmer der Bibliothek mehr als die praktische Arbeit, und Magnus Brandt ward auch fast vierzig Jahre alt, ehe er sich ein Weib nahm. Aber als dies geschah, da war es, als ob seine eingedämmte Jugend aufflammte. Das junge Mädchen war die Tochter der strengen Frau Bergenhuus auf Malmhütte, und Magnus Brandt wußte nur zu wohl, daß er kein Schwiegersohn nach der barschen alten Frau Herzen war. Aber einmal im Leben wollte er doch seinen Willen durchsetzen und erringen, was er erstrebte. Und so gewann er auf einem Ball die Liebe des schönen Mädchens. Vom Tanz berauscht, nahm er sie mit sich vom Ball, setzte sie in den Wurstschlitten und führte sie ohne Aufenthalt geradeswegs hinauf auf den Hof zu Malmhütte. Ihro Gnaden waren daheim geblieben, dieweil sie als einsame Witib mit Hof und Leuten anderes zu tun hatten, als junge Mädchen auf Bälle zu geleiten. Es hieß, sie habe in der ersten heftigen Aufwallung dem Freier eine tüchtige Ohrfeige und darauf ihr Jawort gegeben. Die Ohrfeige war ihr vom Herzen gekommen, die Tochter gab sie nur, um den Skandal von ihrem Hause fernzuhalten.
Mit der Frau, die er also errungen hatte, lebte Magnus Brandt in zwölfjähriger, glücklicher Ehe. Als sie dann plötzlich starb, zwei Töchter, aber keinen Sohn hinterlassend, da erlosch die Sonne in Magnus Brandts Leben, und lange deuchte ihm, er säße in Schatten und Dunkel, ehe sie wiederkam. Das Leben, das er führte, erschien ihm eng, und nicht einmal sich fortzusehnen war ihm gestattet. Das Gelübde vom Sterbebett des Vaters band ihn.
Und doch begann, ohne daß er es wußte, just da sein eigentliches Leben. Und hier beginnt auch die Geschichte von Karin Brandt, dem jüngsten Kinde Magnus' und der Frau, die er verloren hatte.
Nichts unterschied das Landleben der damaligen Zeit von dem Tage, den wir kennen, so stark wie der Mangel an Verkehrsmitteln. Der Telegraph trug damals noch nicht die Nachricht von Geschehnissen der großen Welt in die kleinsten Winkel, noch dampfte die Lokomotive nicht durch die Wälder, und die Post kam selten. Dahin, wo Magnus Brandt und seine zwei Töchter wohnten, kam die Posttasche alle vierzehn Tage, und man hielt dies zu jener Zeit für viel und genug. Sommers ruderte der Fischer-Anders sie über den Klefsee, winters trug man sie, wenn das Eis fest war, auf beschneitem, hart getretenem Pfad hinüber. Wenn das Eis weder brach noch trug, so kam die Post spät, auf Umwegen. Sie kam in die Kanzlei des Herrenhofes, von wo groß und klein aus nah und fern sich ihre Briefe abholten, und wo in den ersten Tagen nach dem Ereignis der Hüttenherr selber angestrengt an dem großen Schreibtisch saß, sich die Gänsekiele zurechtschnitt und über das verdammte Messer fluchte, das nie scharf genug war. Da kamen auch Pakete, die von fernher verschrieben waren, Seide und Garn, Knöpfe und Nadeln.
Vereinzelte Male kam auch ein Buch, das Botschaft brachte von der Welt draußen, in der Gedanken gedacht und Taten getan wurden, von denen ein spärlicher Teil auch zu dem Hof an dem schönen See hinter den meilenweiten Wäldern gelangte. Die Bibliothek war wohl versehen, und seit dem Tode seiner Frau kaufte Magnus Brandt selten neue Bücher. Er sparte die Lektüre für sich selbst auf; die Töchter mußten sich meist mit der Hausmannskost der Schulbücher begnügen. Wenn aber die Posttasche geleert und ihr Inhalt geordnet war, so rief der Hüttenherr seine Töchter feierlich herein und teilte unter sie aus, jeder das ihre. Das geschah stets unter vielen Vermahnungen, sparsam umzugehen mit dem Empfangenen, damit es lange vorhalte, und die Bücher nicht übergreifen zu lassen in die Zeit, die der Arbeit gehörte.
Schweigend und respektvoll wurde diese Rede, die sich jahraus, jahrein wiederholte, angehört. Waren die beiden Mädchen aber erst sicher draußen, so eilten sie die Treppe empor, liefen schneller und immer schneller, je mehr sie sich aus der Nähe der väterlichen Strenge entfernten, und wenn sie dann die Tür zu den zwei kleinen Stuben, die sie gemeinsam bewohnten, sicher hinter sich zugemacht hatten, so wurden die Schätze hervorgeholt, besichtigt und geprüft, und munter und frisch ging dazu das Plaudern. Es hatte sich ja etwas ereignet!
Gleich einem Atemzug aus einer größeren Welt war es gekommen und hatte die Sinne in Erregung gesetzt. Und während der ersten Tage lag auf Skogaholm die Freude in der Luft, junge, wißbegierige, traumhungrige Freude. Die Bücher, wenn solche ausnahmsweise dabei waren, wurden abwechselnd verschlungen, wieder und wieder hervorgeholt, aufs neue gelesen, bis die Mädchen sie auswendig konnten. Und wenn die Nacht kam, lagen die beiden wach und schwatzten von all dem, was ihre Gedanken und ihr Sehnen geweckt hatte. Das Licht mußte gelöscht sein. Denn weh ihnen, wenn nach zehn Uhr noch Licht brannte! Cäcilia, die ältere Schwester, war diejenige, die am meisten las. Karin, jung und kindlich, wie sie war, hörte am liebsten zu, wenn die Schwester las, oder auch sie las selbst, langsam und ungeduldig, um schließlich, im hellen Verdruß darüber, wie schwer der Autor schrieb, das Buch wegzulegen. Viele neue Bücher kamen, wie gesagt, auf diesem Wege nicht in die Hände der jungen Mädchen. Aber ein Hauch aus Walter Scotts Ritterwelt war doch nach dem Einsegnungsalter auch zu ihnen gedrungen. Mit bebenden Herzen hatten auch sie den Liebesworten Pauls und Virginies gelauscht, schaudernd hatten sie in sich den Eindruck der Schreckenswelt aufgenommen, die die Mystik in »Nôtre Dame de Paris« schuf, und einmal war ihnen sogar »Werthers Leiden« als verbotene Frucht in die Hände geraten. Karin fand das Buch hinter einem Regal in der Bibliothek, hinter das es gefallen war. Mit klopfendem Herzen verschlang sie es und gab es dann scheu der älteren Schwester. Nie war ein Buch ihr so schön erschienen, und sie konnte es nicht fassen, daß es der Schwester nicht zusagte. Alles derartige aber kam selten und in langen Zwischenräumen. Die Post kam nicht sehr oft, und die Zensur über die Bücher war streng.
Mit der Posttasche kamen auch Zeitungen nach Skogaholm. Die behielt der Hüttenherr jedoch für sich, und kein Bitten der Töchter vermochte ihn, sie von sich zu geben. Streng konservativ, wie er war, hielt Magnus Brandt natürlich nur Zeitungen nach seinem Geschmack. Aber Politik war etwas, womit sich seiner Meinung nach eine Frau niemals befassen sollte, und was die Zeitungen sonst enthielten, schien ihm zumeist derart, daß Frauen es besser erst als verheiratet kennen lernen sollten. Magnus Brandt selber las die Zeitungen nach einer eigenen, von ihm selbst erfundenen Methode. Um sich selbst die Illusion zu schaffen, daß er täglich Berichte aus der großen Welt entgegennähme, begann er nämlich jeden Posttag mit der Nummer, deren Datum am weitesten zurücklag, und gestattete sich nicht, mehr als eine Zeitung den Abend zu lesen. Solange die Zeitungen auf diese Weise reichten, war er auch zufrieden mit seinem Tag. Während der zwei oder drei Tage, da sie zu Ende und die neuen noch nicht angekommen waren, war er mißgestimmt. Er untersuchte auch in aller Heimlichkeit und mit größter Genauigkeit alle schon gelesenen Nummern, in der Hoffnung, irgend etwas von Interesse zu finden, das er beim ersten Durchlesen etwa übersehen hätte.
Nach dem Tode seiner Frau schloß Magnus Brandt sich mehr und mehr vom Umgang mit den Menschen ab. Das Leben auf Skogaholm war nicht mehr dasselbe wie zuvor. Die Prachtgemächer und Säle, wo die alten Porträts hingen, wurden geschlossen, und vor den Fenstern wurden die dichten Rouleaus niedergelassen. Obst und Beeren aus Gewächshaus und Garten prangten nicht mehr in Silberschalen bei heiteren Gastmahlen, und im Keller schlangen sich die Spinngewebe um die vergessenen Flaschen. Magnus Brandt begnügte sich mit den Alltagszimmern im Parterre mit ihren niedrigen Fenstern, mit ihrer einfachen Einrichtung. Sein größtes Behagen fand er in der Bibliothek, in die er sich zurückzog, um ungestört zu sein, und in die sich niemand sonst wagte.
In den vielen Jahren, während derer Magnus Brandt Witwer war, hatte niemand je auch nur das geringste davon vernommen, daß der Herr von Skogaholm an eine neue Ehe dachte. Im Anfang hatte er sich Gouvernanten im Hause gehalten, junge Damen und ältere Damen, mit Brille und ohne Brille. Alle waren sie nur ganz kurz geblieben. Denn wo es seine Töchter galt, war Magnus Brandt nicht leicht zufriedenzustellen. Er fühlte seine Verantwortung so stark, daß er gegen jede, der er sie anvertraute, argwöhnisch war. Sechs Jahre lang ging er in beständiger Angst umher. Entweder fürchtete er, daß die Mädchen schlecht behandelt würden und sich nicht zu beklagen wagten, oder auch, daß sie nichts lernten. Dann wieder, daß die Erzieherin zu schlapp war und die Kinder dadurch eigenmächtig würden. Schließlich jedoch glückte es Magnus Brandt, eine Frau nach seinem Sinn zu finden. Es war eine kleine, magere Dame mit strengem Gesichtsausdruck und wachsamen Augen. Ihre Art, sich zu kleiden, trug ein eigentümliches Gepräge von Schüchternheit, als kenne sie ihre Stellung und finde es unrecht, für mehr gelten zu wollen, und zeichnete sich doch zugleich durch eine gewisse Eleganz aus, die sie den Damen im Pfarrhof und der Frau des Kronvogtes gleichstellte.
Diese Dame fand Magnus Brandt gegenüber die richtige Behandlungsweise. Ihre Methode war eigentlich ganz einfach die, nie selbst eine Meinung auszusprechen, sondern durch kluges und vorsichtiges Setzen ihrer Worte in dem Hausherrn die Einbildung zu erwecken, daß ihre Meinungen seinem eigenen Gehirn entsprungen seien. Sie hieß Mamsell Hellner, wurde für gewöhnlich Mamsell Agda genannt und war die Tochter eines entfernt wohnenden Waldhüters, den sie selbst »meinen Vater, den Förster« nannte. Diese korrekte Dame, die alles sah, nie ein Urteil äußerte und so unbemerkt ihres Weges ging, als kümmere sie sich um nichts als um ihre Pflicht, blieb drei Jahre auf Skogaholm. Es glückte ihr im Verlauf dieser Zeit, Magnus Brandts Vertrauen vollständig zu gewinnen. Dies war um so merkwürdiger, als ihre Laune just nicht die gleichmäßigste war. Wenn sie Kopfschmerzen hatte, so durfte niemand mit ihr reden, und zu ihrer Erziehungsmethode gehörte strenge körperliche Züchtigung. Jugendlicher Frohsinn war ihr verhaßt, und noch nie war es auf Skogaholm so still gewesen, wie seit Mamsell Agda ihren Einzug gehalten hatte. In einer Nacht mußte man sie ohnmächtig vom Garten heraustragen, weil der Hausherr ihrer Meinung nach hart zu ihr gesprochen hatte. Als sie schließlich noch halb bewußtlos die Augen aufschlug, redete sie irre, wie wenn sie glaubte, sie befände sich unter Fischern.
Dies Geschehnis war nicht das einzige in seiner Art. Magnus Brandt verstand sich nicht auf sie; er fand aber doch, was er auch aussprach, daß sie große Verdienste habe, und da die Töchter sich nicht beklagten, ließ er fünfe grad sein und drückte vor dem, was er »Frauenzimmerschwächen« nannte, ein Auge zu. Jedenfalls nahm die Dame ihm seine Bekümmernis um die Töchter ab, und steif und fest glaubte er, sie hätten in Mamsell Hellner die mütterliche Freundin gefunden, deren sie bedurften. Und das freute ihn. Denn nach dem Tode seiner Frau liebte Brandt seine Töchter mehr als alles auf der Welt. So tief liebte er sie, daß er, der Mann in den besten Jahren, auch nicht einmal im Traum daran dachte, ihnen eine Stiefmutter zu geben. Eine Frau kann niemals die Kinder einer anderen Frau lieben, dachte Brandt. Für mich selber muß es eben gehen, wie es will. Aber das könnt' ich nie ertragen, daß meine Töchter zurückgesetzt würden oder ihr Verhältnis zu mir gestört würde. Als Pflichtmensch, der er war, fiel es ihm gar nicht ein, diesem Vorsatz untreu zu werden, nachdem er ihn einmal gefaßt hatte, und da er außerdem ein weicher und gefühlvoller Mann war, weit mehr, als er es der Welt zeigte, so fühlte er sich sogar glücklich in dem Opfer, das er brachte, und hoffte im stillen, seine Kinder würden ihm dereinst heimzahlen, was er in der Zeit ihrer Entwicklung durch sein Entsagen für sie getan hatte.
Denn es war wirklich ein Opfer, das Brandt einmal gebracht hatte, und das Opfer hatte wie ein Schwert durch seine Seele geschnitten. Die Entsagung, die er sich auferlegt, hatte ihm mehr gekostet, als irgend jemand wußte oder je wissen würde.
Auf dem Hüttenwerk Elfshammar, eine Meile waldeinwärts gelegen, wohnte Brandts Nachbar und Umgangsfreund, der viele Jahre jüngere Hüttenherr Fabian Skotte. Auch er war Witwer; doch ihm hatte seine Ehe keine Kinder geschenkt, und es hieß, daß dies, solange die Frau noch lebte, ein Quell langjährigen Unglücks gewesen sei. Jetzt war die Frau tot, und was zuvor ein Kummer gewesen, ward nun unverhofft eine Erleichterung.
Zu ihm kam eines Sommers Familienbesuch. Es waren Verwandte aus Upsala, eine ganze Professorenfamilie mit vier Kindern, und als Verwandte blieben sie, der Sitte jener Zeit gemäß, in der Reisen selten und langwierig waren, den ganzen Sommer über. Es ward dies ein belebter Sommer auf Elfshammar. Keine Woche verging, ohne daß die Equipagen der Nachbarhöfe an der großen Treppe vorrollten und angespannt beim Stall warteten, bis der Wald dunkel gegen den lichten Sommerhimmel stand.
Diesen Sommer fuhr auch Magnus Brandt oft nach Elfshammar. Manchmal nahm er seine Töchter und Mamsell Agda mit, öfter fuhr er allein. Ohne es sich selber klarzumachen, tat Magnus Brandt das, weil in des Professors Familie eine junge Tochter war. Ihretwillen waren diesen Sommer seine Besuche auf dem Nachbargute so zahlreich. Das junge Mädchen war fünfundzwanzig Jahre; sie hatte weiches, lichtbraunes Haar, das gescheitelt um einen schön geformten Kopf lag, den sie meist leise gesenkt trug. Ihr Blick, wenn sie aufsah, war rein und gut; auch lächelte sie gern. Was für eine Farbe ihre Augen hatten, das wußte Magnus Brandt nicht zu sagen. So seltsam schimmerten sie vor seinem Blick. Ebensowenig wußte er, ob sie eigentlich schön war. Es überraschte und beglückte ihn gleichzeitig, als er einmal ihre Schönheit als allgemein anerkannte Tatsache rühmen hörte. Ohne sich Rechenschaft abzulegen über die Ursache, genoß Magnus Brandt das Bewußtsein der Nähe des jungen Weibes; er fühlte sich dabei wieder jung und glücklich.
Alles, was er erlebt hatte, was so schwer auf ihm lag, und worüber er sich mit niemand je hatte aussprechen können, ward ihm gleichsam zu etwas, das in die Schatten zurückglitt, während er selber hinaustrat in das Sonnenlicht und sich von ihm wärmen ließ. Er sprach niemals viel mit ihr; aber wenn es geschah, so vergaß er, um was sich das Gespräch drehte, fühlte sich nur leicht und ruhig. Am liebsten saß er still und sah ihr zu, wenn sie in ihrem geblümten Musselinkleid und dem großen, gelben Strohhut mit dem schmalen Samtband darum über den Rasenplatz ging, oder wenn sie, barhaupt, mit leichten Schritten die breite Treppe heraufeilte, die von dem großen, offenen Vestibül zu den Gasträumen hinaufführte.
So, deuchte es Magnus Brandt, hatte er noch nie ein Weib gehen sehen. Ihr Gang wirkte auf ihn wie liebliche Musik. Und eines Abends, als er einsam heimwärts fuhr, dachte er: sie würde meinen Kindern eine gute Mutter werden. Um ihn war Stille, die Fahrt durch den Tannenwald währte lang, tief im Waldesdämmern gurrten die Tauben, und über dem Weg flimmerten bleich die Sterne. Wo der Wald sich lichtete, breitete sich spiegelklar der See. Man mußte einen großen Bogen fahren, um Skogaholm zu erreichen. Droben auf dem Hügel sah Magnus Brandt die dunkeln Schatten dichtgedrängter Häuser und Bäume, sah die wohlbekannten Umrisse mit einer Schärfe und mit einem Freudeschauer, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Da lag seine Heimat. Immer gedankenvoller ward Magnus Brandt, und immer rascher liefen die Pferde, die die Nähe des Stalles fühlten.
Zu Hause angekommen, ging Magnus Brandt in das große Wohnzimmer, befahl dem Mädchen, das auf ihn gewartet hatte, zu Bett zu gehen, zündete selbst Licht an und begann dann, die Hände auf dem Rücken, in dem milden Dämmer auf und ab zu gehen. Und die ganze Zeit über dachte er an seine Töchter, die in den kleinen Stuben eine Treppe hoch schliefen; und seine Unruhe war groß.
Sie würde eine gute Mutter für meine Kinder werden, dachte er wieder. Im selben Augenblick ging durch seinen ganzen Körper ein schneidendes Schmerzgefühl, ein Liebeserzittern, so gewaltsam, wie es der Jüngling nie zu erfahren vermocht, ein Verlangen so brennend und stark, wie es nur der empfindet, der sich bewußt ist, daß er nur noch eine kurze Stunde Leben vor sich hat und dann nichts mehr.
Unschlüssig blieb er vor einem Frauenporträt in braunem Mahagonirahmen mit schwarzen Ecken stehen. Es war eine Bleistiftzeichnung und stellte ein junges Weib vor, ein Mädchen fast, mit Augen gleich denen eines Kindes und einem träumerischen Zug um den seelenvollen Mund.
In dieser Stunde sah Magnus Brandt sein ganzes vergangenes Leben. Er hörte Musik um sich, zarte Töne von dem feinen Spinett, das jetzt längst verschlossen stand. Er sah eine weiche Gestalt singend durch die Zimmer gehen. Um sie sah er zwei kleine Mädchen mit geflochtenen Haaren, munterem Lachen und kosenden Bewegungen. Seine Jugend stieg vor ihm auf, alles, was er verloren, alles, was er besessen hatte. Er entsann sich wieder, wie licht alles dereinst gewesen, wie plötzlich das Licht erloschen war. Ehe er wußte, wie es zugegangen war, saß er in einer Mitternacht neben einem Krankenbett, in dem sein Weib lag und mit dem Tode kämpfte. Unheimliche Laute kamen ihm jetzt ins Gedächtnis – damals hatten sie ihn nicht geschreckt. Er wußte nur noch, wie nah, wie lebendig nah ihm all das Wunderbare, das die Nähe des Todes mit sich bringt, kam. Jetzt aber ward ihm auf einmal alles so wirr und fremd. Er vermochte in seinen Gedanken nicht mehr das, was gewesen, mit dem, was jetzt war, zu verbinden. Alles ward unwirklich, unmöglich. Einsam ging er durchs Zimmer. Seine Frau war eben erst gestorben und hatte ihm zwei Kinder hinterlassen, zwei Weib-Kinder, für die er dereinst würde Rechenschaft ablegen müssen, er, der Mann.
Und mitten in all dem empfand er wieder das sehnende Verlangen, das ihm schon einmal zum Bewußtsein gekommen war. Hin und her wanderte er im Zimmer. Er sah alt aus, wie er da ging, älter, als er in Wirklichkeit war. Am Himmel begann die Morgendämmerung die Wolken zu färben, und die Kerzen in den Leuchtern brannten matt. Da blies Magnus Brandt die Lichter aus und fing an klar zu denken. Die Wirklichkeit zwang ihn wieder in ihre Gewalt, die Wirklichkeit, vor der der Weg, den er zu gehen hatte, klar lag. Er ging zu Bett und schlief bis sieben Uhr, eine ganze Stunde länger, als er sonst zu schlafen pflegte.
Am folgenden Tage hatte Magnus Brandt eine lange Unterredung mit seinem Verwalter, und am Nachmittag rief er Mamsell Agda zu sich auf die Kanzlei. In kurzen wohlüberdachten Worten offenbarte er ihr seine Pläne, schützte eine Geschäftsreise vor und gab seine Befehle, wie alles mit den Töchtern gehalten werden sollte. Mamsell Agda hörte respektvoll wie immer den Worten des Hausherrn zu. Aber ihre Augen spielten wacher als gewöhnlich, und sie blickte lange vor sich nieder, als bedrücke sie die Verantwortung. Am Abend fuhr Brandt nach Elfshammar, um Adieu zu sagen, und als er in der Nacht heimkehrte, war sein Gemüt leicht, wie nach Erfüllung einer schweren, aber unabweislichen Pflicht.
Zwei Tage darauf hielt vor der Steintreppe der zweispännige Wagen, und des Hüttenherrn Koffer und Hutfutteral wurden auf die dazu bestimmten Plätze gestellt. Drin in seinem Zimmer nahm Magnus Brandt Abschied von seinen Töchtern. Ihm deuchte, nie hätte er sie mehr geliebt als jetzt.
Magnus Brandt war drei Monate lang fort. Er sprach zu Hause nie davon, weshalb er gereist und wo er gewesen war. Den Töchtern brachte er kostbare Geschenke mit, Seidenstoffe, die für später aufbewahrt werden sollten, Schmuck, den sie tragen durften, wenn sie das Einsegnungsalter erreicht hatten. Für die Bibliothek kam eine ganze Kiste voll Bücher an, französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, in goldbraunes Leder mit goldgepreßten Rücken gebunden. Mamsell Agda erhielt eine silberne Uhr zum Dank für die Fürsorge, die sie in der Abwesenheit des Hüttenherrn dem Haushalt gewidmet hatte.
Als Magnus Brandt heimkehrte, war es schon Herbst, und die Arbeit im Hammer ging langsam. Die Wege waren schlecht, und man klagte, daß der Schnee nicht kommen wollte, der Schnee, der die Waldwege fahrbar machen würde, damit die Kohlenwagen Brennmaterial heim- und die Erzschlitten das Erz fortführen könnten. Im Dezember endlich kam der Schnee, über den Klefsee legte sich das Eis, auf allen Wegen klingelten die Schellen, und auf dem Hüttenwerk pochte der Schmelzhammer, und die Stangenhämmer schmetterten darein, daß die Dachbalken erzitterten und die Funken des glühenden Eisens in die Luft schwirrten.
In diesem Winter ward die älteste Tochter des Hüttenherrn, Cäcilia, eingesegnet. Sie war hochgewachsen, von einer eigenartig ernsten Schönheit. Als sie, schwarzgekleidet und zum erstenmal mit hochgekämmtem Haar, vor den Altar trat, da war in der ganzen Kirche keiner, der nicht auf die schöne Herrenhoftochter geblickt hätte. Demütig und doch mit einer gewissen Würde näherte sie sich dem Altar und beugte das Knie – links, ganz zu äußerst. Ein kleiner Zwischenraum entstand zwischen ihr und den Töchtern der Leute. Es kam ganz von selbst; denn keine hatte den Mut, so dicht neben dem Herrenhoffräulein Platz zu nehmen, und die Winke des Pastors, daß vor dem Tische des Herrn kein Unterschied sei zwischen hoch und niedrig, schien niemand zu beachten.
So kam der Pastor zuerst zu Cäcilia. Und während die Orgeltöne den Raum erfüllten, reichte er dem jungen Mädchen Brot und Wein, zugleich die heiligen Worte sprechend. Darauf machte er zwei Schritte nach links und ließ die anderen jungen Mädchen der Gemeinde des Sakramentes teilhaftig werden. Über dem ganzen Gottesdienst ruhte an diesem Tage eine feierliche Stimmung, die sich der ganzen Gemeinde mitteilte. Denn es war für alle ein großer Tag, der Tag, an dem Magnus Brandts älteste Tochter vor den Altar getreten war. Alle nahmen an diesem Ereignis teil, und als Cäcilia ruhig und mit leicht gesenktem Haupt zur Herrenhofbank zurückging, wo Vater, Schwester und Mamsell Agda auf sie warteten, da fiel es der ganzen Versammlung auf, daß unter den Jungen sie die einzige war, die nicht geweint hatte. Mehr gedankenvoll als erregt senkte sie das Haupt zum Gebet. Sie schien nicht zu hören, wie die Töchter der Gemeinde rings um sie her schluchzten.
Magnus Brandt war an diesem Tage tatsächlich aufgeregter als die Tochter. Als er auf den Kirchenhügel hinaustrat, hatte er alle Mühe, sich aufrechtzuhalten, während die Honoratioren der Umgegend sich um ihn und die Töchter drängten, um in üblicher Weise ihren diskreten Glückwunsch auszusprechen. Der Hüttenherr Fabian Skotte auf Elfshammar vermochte kaum seine Augen abzuwenden von dem jungen Weibe, das er zum erstenmal im Gewand einer erwachsenen Frau erblickte. Lächelnd, jugendlich stand er zwischen Vater und Tochter und suchte nach einem Vorwande, den Abschied zu verzögern. Aber Magnus Brandt winkte kurz seinem Kutscher, vorzufahren, und fuhr nach einem hastigen Abschied fort von der Kirche, im offenen Landauer, er selbst und Cäcilia im Vordersitz, Mamsell Agda und die jüngste Tochter im Rücksitz. Wo der Wagen vorbeifuhr, flogen die Hüte von den Köpfen und standen die Weiber knixend am Wegrande. Magnus Brandt beantwortete mechanisch die Grüße der Leute. Er dachte in diesem Augenblick bloß an das Große, daß nun die eine Hälfte seiner Pflicht erfüllt war. Jetzt war die eine seiner Töchter binnen kurzem heiratsfähig und würde die Heimat verlassen. Und binnen weniger Jahre würde auch die jüngste soweit sein. Und dann brauchte er nicht mehr länger die Verantwortung zu tragen, die seit Jahren auf ihm gelastet hatte. Er fühlte sich stark und zukunftssicher, wie er so dasaß, und in ernster Freude blickten seine Augen hinaus über die Felder, wo der Herbstroggen in einsamem Grün stand und die ersten Lerchen in der Luft zwitscherten.
Von diesem Tage an begann Cäcilia in Küche und Milchkammer auf Skogaholm das Zepter zu führen, und Magnus Brandt freute sich, zu sehen, wie flink sie alles ausrichtete, und wie leicht und rasch die Haushaltmaschine unter ihren Händen arbeitete. Karin dagegen litt just in dieser Zeit darunter, daß sie die jüngste sein sollte. Jetzt mußte sie allein die langweiligen Grammatikaufgaben lernen und die schweren Zahlen ausrechnen, die sie doch niemals verstehen würde. Denn seit die Einsegnung das Kind in ein junges Weib verwandelt hatte, suchte Cäcilia in ihren freien Stunden sich selbst ihre Bildung, wo sie sie eben fand. Und sie benutzte ihre Freiheit zu mancherlei Lektüre, von der weder Vater noch Schwester wußten. Allem aber ging immer der Haushalt vor, und Magnus Brandt handelte darin nicht anders als die meisten seiner Stammesbrüder und Zeitgenossen.
Mamsell Agda war es in dieser Zeit nicht so leicht recht zu machen. Durch Cäcilias Erhöhung zur jungen Dame kam sie selber in zweite Reihe, und ihre Stellung im Hause wurde eine andere, als sie zuvor gewesen war. Freundlich war sie nie gewesen, und gerade Karin hatte sie stets mit der äußersten Strenge behandelt, teils weil das junge Mädchen in allem, was den Unterricht betraf, schwerer auffaßte als die Schwester, teils auch vielleicht aus anderen Ursachen. Nachdem Cäcilia die Zügel des Haushaltes in die Hand genommen hatte, ward Mamsell Agdas Laune reizbarer als je und kam nicht selten zu Ausbrüchen, über die im ganzen Hause einzig Magnus Brandt selber in Unkenntnis war. Er hatte sich so daran gewöhnt, in Einsamkeit dahinzuleben, daß niemand ihm die Augen zu öffnen wagte. Und wenn er selber vielleicht hier und da etwas argwöhnte, so schwieg er, aus purer Unlust, sich in dem einsamen Gedankenleben stören zu lassen, das er mehr und mehr führte.
So viel hatte Magnus Brandt geopfert, daß er hart geworden war gegen seine Umgebung, in gewisser Weise sogar gegen die, die ihm die Nächsten waren. So viel hatte er dahingegeben an Hoffnungen und Glück für seine eigene Person, daß ihm das Leben mehr und mehr wie eine strenge Schule erschien, die wir alle durchmachen müssen, ohne daß doch einer das Recht hätte, Freude davon zu erwarten. Noch brannte in ihm die Erinnerung an das schöne Frauenantlitz mit den offenen, guten Augen, für deren unergründliche Farbe er nie einen Namen hatte finden können. Aber wenn die Erinnerung daran über ihn kam, so beschwichtigte er sich selbst an seiner Pflicht. Daß er seine Pflicht erfüllt hatte, das wußte er. Und doch schenkte ihm dies Gefühl kein Glück. Das Bewußtsein war eher mit einem Beigeschmack von Bitterkeit untermischt, einer Bitterkeit, die sich just gegen die Kinder wandte, um derentwillen das Opfer gebracht worden war. Und so ward Magnus Brandt nach seiner langen Reise strenger gegen sich und die Seinen denn je zuvor.
Da geschah es an einem Frühlingstage, wenige Wochen nach Cäciliens Konfirmation, daß Magnus Brandt einsam über den Hofplatz kam und seinem Hühnerhund pfiff. Er wollte draußen auf dem Felde nach der Saat sehen. Er nahm den Weg am Kanzleiflügel vorbei, an dessen äußerem Ende die Webkammer lag. Da glaubte er von dorther Laute zu vernehmen, die ihm verdächtig vorkamen, und weil er wußte, daß gerade keine Webe im Gange war und also niemand dort etwas zu schaffen hatte, trat er leise an das Fenster, das von niederhängenden Zweigen zur Hälfte versteckt war, und blickte hinein. Zuerst mußte er ein paar Schritte rückwärts machen und dann eine Weile stillstehen, um Atem zu holen und die Herrschaft über sich selber wieder zu erlangen. Aber ohne daß er es wußte, schoß ihm das Blut ins Gesicht; zum zweitenmal trat er auf das Fenster zu und schlug mit der geballten Hand gegen die Scheibe.
Drinnen stand Mamsell Agda mit einer Haselgerte in der Hand und prügelte seine Tochter. Bei dem unerwarteten Geräusch und während es Magnus Brandt rot und schwarz vor den Augen flimmerte, fuhr Mamsell Agda zurück und hörte mit Schlagen auf. Ihr Gesicht ward kalt und zugleich verzerrt, ihr Mund stand offen.
»Das Kind!« murmelte Brandt. »Das Kind!« Wie ein Blitz durchfuhr es ihn, daß er durch sein übereiltes Tun das arme Mädchen erschreckt hatte, anstatt ihr ruhig zu helfen. So rasch seine Beine ihn tragen wollten, sprang der Hüttenherr um den Flügel herum und trat durch die Tür in die Webstube. Dann trat er auf Karin zu, legte mit ungewohnter Zärtlichkeit seinen Arm um ihre Schultern und sagte leise, ganz als ob sie beide allein wären: »Gehe auf deine Stube und sei ruhig. Dies hier geschieht nie wieder.«
Ganz erfüllt von einem ungewohnten, glücklichen Empfinden schlich sich die Tochter hinaus. Als sie fort war, wandte Magnus Brandt sich um und sagte in seinem schärfsten Hausherrnton, ohne sich auch nur umzublicken: »Sie kommen sofort auf mein Zimmer, Mamsell!«
Zitternd – unter einem Sturm von Gefühlen, die er sich selbst nicht klarzumachen vermochte – ging Magnus Brandt in seine Stube, deren Tür er offenstehen ließ. Mit weißem Gesicht, den Mund noch offen vor Schreck, folgte ihm Mamsell Agda.
»Machen Sie die Tür zu!« befahl Brandt.
Und Mamsell Agda gehorchte.
Magnus Brandt blickte auf die kleine Person mit den scharfen Zügen und den sonderbar schrägen Augen, und in ihm stieg ein Gefühl von Scham auf, daß er dies Gesicht nicht eher verstanden hatte.
»Warum schlagen Sie das Mädchen, Mamsell?« fragte er.
Sein Zorn wuchs noch unter diesem Gefühl der Demütigung, das ihn beherrschte, der Demütigung, daß drei Jahre hatten vergehen können, in denen er blind und taub gewesen war für das Weib, dem er in seinem eigenen Hause Macht eingeräumt hatte.
»Sie konnte ihre Aufgabe nicht,« antwortete Mamsell Agda leise.
»War das alles?
»Ich weiß nicht.«
Die Worte kamen leise, geheimnisvoll, unsicher. Jetzt war an Brandt die Reihe zu erschrecken – wie vor etwas Unheimlichem, das ihm unerklärlich war. Unwillkürlich trat er zwei Schritte zurück und stellte sich hinter den Schreibtisch.
»Sie verlassen das Haus natürlich morgen,« sagte er so ruhig wie möglich.
Da schlug Mamsell Agda beide Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Kein Laut war vernehmbar; aber ihr ganzer magerer Körper zitterte konvulsivisch. Und während er dies stumme Weinen mit ansah, erwachte in Magnus Brandt der Instinkt des Mannes. Auf eine ihm selbst unerklärliche Weise begriff er, daß dies Weinen ihm selber, seiner eigenen Person galt. Und mit einem Ton aufrichtigsten Abscheus rief er aus: »Gehen Sie! Ich will das nicht hören!«
Da nahm die kleine Person die Hände vom Gesicht, und Brandt sah, daß ihre Augen trocken waren. Anstatt zu gehen, blieb sie stehen und fing an zu sprechen. Mit monotoner Stimme sprach sie von allem, was sie gelitten hätte, wie sie seine Kinder geliebt und stets ihr Bestes getan, wie sie still und schweigend ihrer Wege gegangen und wie es stets ihr Los gewesen wäre, daß man sie verkannt und fortgejagt hätte.
Magnus Brandt stand und hörte Mamsell Agdas Worten zu; und sein Widerwille wuchs. Aus diesem ganzen Wortschwall erklang ein Flehen um Gnade, und in die Verteidigungsrede mischten sich Worte der Zärtlichkeit und Liebe für ihn selber, Worte, die er hörte, aber nicht verstehen wollte. Schließlich stand die kleine Person ganz still und wartete mit niedergeschlagenen Augen auf die Antwort.
Das Schweigen, das der langen Rede folgte, war wie etwas Häßliches, das nicht andauern durfte. Magnus Brandt wußte nicht, wie er die Reihe von Entdeckungen, die er plötzlich gemacht zu haben glaubte, erklären sollte. Er wußte nur eins – er wollte ein Ende machen mit der ganzen Geschichte. Er nahm noch einmal seinen schärfsten Ton zu Hilfe und brach los: »Wollen Sie jetzt gehen, Mamsell, oder nicht?«
Da machte Mamsell Agda zwei Schritte auf den Hüttenherrn zu, streckte ihm demütig die Hand entgegen und sagte: »Erlauben Sie mir, Ihnen noch für alle Güte zu danken.«
Magnus Brandt fluchte vor Erregung, packte die kleine Person an den Schultern, daß sie wie ein Kreisel herumfuhr, stampfte vor Zorn auf den Boden und brüllte: »Marsch!«
Und still und stumm ging Mamsell Agda zur Tür hinaus.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich im ganzen Hause die Neuigkeit, daß Mamsell Agda fort mußte. Das Hausmädchen brachte sie in die Küche, von der Küche kam sie in die Gesindestube, von der Gesindestube über das ganze Gut.
Auf ihrem Zimmer saß Karin in tiefen Gedanken und sah, wie die Sonne durch die kleinen Scheiben auf dem Bett mit den weißen Vorhängen und auf den schmalen Läufern des Fußbodens spielte. Ihr Herz war voller Freude, als wäre das Leben plötzlich leicht geworden und alle Menschen gut. Das rotblonde, weiche Haar, das in einer langen, üppigen Flechte niederhing, umrahmte ihr schmales, feines Gesicht, in dem die Wangen nach dem heftigen Schreck und der Freude, die so plötzlich, so unfaßbar gekommen war, rot glühten. Und Karin saß und dachte, wie unsäglich sie doch ihren Vater liebte, und wie es auf der ganzen Welt niemand gab wie ihn. Sie war aufgeregt und glücklich, und die graublauen Augen, die sie sonst am liebsten versteckte, als wäre sie bange, andere ihre Gedanken lesen zu lassen, funkelten und leuchteten wie zwei Sonnenstrahlen.
In atemloser Spannung verging der Tag. Ein Gewitter lag über dem ganzen Hause, und niemand wußte, ob es ausbrechen oder stumm vorüberziehen würde. Magnus Brandt ging nach den Mahlzeiten grimmig auf seine Stube. Mit aller Gewalt mußte er vor sich selbst den Gedanken festhalten, in dem er ständig lebte: daß er ja nur seine Pflicht getan habe, wenn er den Mädchen keine Stiefmutter gegeben. Er konnte aber nicht damit fertig werden, daß eine streng erfüllte Pflicht so hart bestraft werden sollte. Ein Zweifel, ob er nicht vielleicht seine Pflicht mißverstanden haben könnte, lauerte in seinem Herzen, und der Hüttenherr mußte all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um den Dämon zu verscheuchen. Dennoch konnte er nicht verhindern, daß spät am Abend, als er allein auf seinem Zimmer saß, gerade die Erinnerung, die er fürchtete, ihn heimsuchte. Vielleicht habe ich mich geirrt, dachte er. Vielleicht hätten die Mädchen in ihr eine Mutter und eine Freundin gehabt.
So unerwartet kam ihm dieser Gedanke, daß er gar nicht faßte, wie ihm das nur überhaupt in den Sinn kommen konnte. Und während der Maimond über den Hügel fiel und weit über den stillen See einen Lichtweg zog, lachte Magnus Brandt sich selbst und seine törichten Gedanken aus und ging zu Bett, selbst erstaunt darüber, daß er vor lauter Mondscheinschwärmerei sogar seinen Zorn gegen Mamsell Agda vergessen hatte.
Droben in den Zimmern der Mädchen schien auch der Mond durchs Fenster. In ihren langen, weißen Nachthemden saßen die Schwestern engumschlungen auf Cäcilias Bett. Halblaut, damit kein Ton sie verraten sollte, redeten sie von allem, was geschehen war und wie es jetzt werden würde. Cäcilia hochgewachsen, voll, Karin klein und schlank, aber mit schon gewölbten Hüften und sich rundender Brust. Bis Mitternacht saßen die beiden so; und während die Stunden gingen, zog sich der Mondschein über die Schwelle, verschwand und blinkte schließlich vom Fußboden des inneren Zimmers heraus, wo Karins Bettvorhänge weiß im Mondlicht leuchteten. Da merkte Karin plötzlich, daß sie fror; sie küßte die Schwester zur Gutenacht, glitt leicht über die Schwelle und verkroch sich, vor Kälte zitternd, in ihr Bett. Bald schliefen beide Schwestern tief und ruhig. Und rings um das einsame Haus war nichts zu hören als der eintönige Klang der Hämmer und die schweren Schritte des Nachtwächters, der allstündlich um den Hof die Runde machte.
Die einzige, die nicht schlafen konnte, war Mamsell Agda. Voll Gram und Wut lag sie halbangekleidet auf ihrem Sofa und sah mit weit offenen Augen, wie die Dämmerung sich in Dunkel und das Dunkel in Licht wandelte. Als das Hausmädchen mit dem Kaffeebrett hereinkam, stand sie in ihren Reisekleidern fertig mitten im Zimmer und beantwortete den knappen Gruß des Mädchens mit ihrer freundlichsten Stimme. Auf dem Brette lag ein Briefumschlag, der des Hüttenherrn Handschrift trug; ein spöttisches Lächeln trat auf Mamsell Agdas Lippen, als sie es entdeckte. Der Umschlag enthielt ihren Lohn, ausgerechnet auf Monat, Woche und Tag. Nicht ein Heller darüber oder darunter. Keine geschriebene Zeile dabei.
Eine Weile später kam Mamsell Agda unbefangen die Steintreppe herunter. Als sie sah, daß der Kutscher mit dem Inspektorskabriolett, das nur mit einem Pferde bespannt war, auf sie wartete, biß sie die Zähne zusammen, um ihre Demütigung zu verbergen, verzog aber sonst keine Miene. Als das Schutzleder um sie geknöpft war, legte sie dem erstaunten Hausmädchen einen Zweierzettel in die geöffnete Hand.
So fuhr Mamsell Agda vom Hofe ab. Magnus Brandt stand vor seinem Rasierspiegel und hörte, wie das Geräusch des Wagens hinter der Biegung der Allee verklang. Er führte das Messer mit sicherer Hand; nur einen Augenblick mußte er innehalten, weil seine Lippen sich unwillkürlich zu einem zufriedenen Lächeln verzogen.
In bester Laune kam Magnus Brandt an diesem Morgen zum Frühstück, aß zwei Teller Roggenmehlgrütze, eine Portion Hering und Kartoffeln und trank dazu seinen Kaffee aus der großen, goldrandigen Tasse, die niemand als der Hüttenherr selber benutzen durfte. Er sprach wenig mit den Töchtern, saß nur da und sah zufrieden aus mit dem Dasein und freute sich im stillen, daß die Mädchen ihm nicht mit Fragen kamen.
Nach dem Frühstück machte er seine gewöhnliche Runde im Hüttenwerk und auf den Feldern und saß dann den ganzen Vormittag in seinem Arbeitszimmer. Die Kanzlei, die im Inspektorsflügel lag, mußte heute ohne ihn auskommen.
Am Nachmittag geschah etwas Ungewöhnliches: Magnus Brandt schickte nach seinen Töchtern und ließ ihnen sagen, er erwarte sie im Kabinett. Das Kabinett war ein kleiner Raum, der zwischen dem großen, jetzt nie mehr benutzten Schlafzimmer, dessen Tür verschlossen war, und dem Wohnzimmer oder, wie es meist genannt wurde, der guten Stube, lag. Das Wort Salon mochte der Hüttenherr nicht, weil es ausländisch klang. Die Salons, die im Hause waren, hatte er außerdem selbst abgeschlossen, und wenn je das Zimmer einmal als Salon dienen sollte, das Wort jedenfalls durfte in seinem Beisein nicht angewandt werden. Das Kabinett stand stets offen, und alles, was darin war, ward aufs pünktlichste gepflegt und geputzt. Aber wie in schweigendem Übereinkommen betrat es fast nie jemand, und wenn die Familie sich versammelte, saß man nie dort. Das war Mutters Zimmer, pflegten die Mädchen zueinander zu sagen. Da standen die geraden, zierlichen Empiremöbel, die Mutter so gern gehabt hatte, mit dem Sofa, das abgesägt war, weil es sonst nicht Platz gehabt hätte. Da stand der mit Perlmutter eingelegte Nähtisch der Verstorbenen und der rote Chagrinschrein, in dem sie ihre Nippsachen und die Briefe aus der Verlobungszeit aufbewahrte. Da standen die weißen Alabasterleuchter mit den neuen, reinen Wachskerzen darin, die nie angezündet wurden, und die Potpourrivasen aus chinesischem Porzellan und die schöne, weiße Pendüle. Von hier aus blickte man weit hinaus über den See, und hier, das wußten die Mädchen noch, hatte Mutter mit ihnen gespielt, ihnen vorgelesen und vorgesungen und Märchen erzählt. Und als der Vater sie da herein befahl, traten sie unwillkürlich leise, fast unhörbar auf. Drinnen saß Magnus Brandt ihnen ernsthaft gegenüber. Sein Gesichtsausdruck war milder als gewöhnlich.
»Ich habe nachgedacht über das, was geschehen ist,« begann er. »Und ich möchte gern wissen, wie alles war.«
Die Schwestern blickten einander an. Sie saßen jede auf ihrem Stuhl. Und Karins Herz fing heftig zu pochen an. Am liebsten wäre sie aufgestürzt und dem Vater um den Hals gefallen. Aber sie wagte es nicht.
»Ich meine,« fuhr Brandt kurz fort, »ist das, was ich gestern entdeckt habe, oft vorgekommen?«
»Ja!« brach Karin aus. »Sie haßte mich.«
Als fürchtete sie, zu harte Worte gesprochen zu haben, errötete sie und blickte zu Boden. Aber Magnus Brandt achtete in diesem Augenblick nicht auf einzelne Worte; in ihm war die Begier, die Wahrheit zu erfahren; darum zwang er die Töchter ruhig zum Erzählen. Nach und nach gelang ihm das auch in der Weise, daß Cäcilia ruhig begann und Karin nachhalf, wenn die Schwester ihrer Meinung nach zu wenig sagte. Und jetzt erfuhr Magnus Brandt die Wahrheit. Er hörte von Szenen, die sich in seinem eigenen Haus abgespielt hatten, und von denen er selbst nichts ahnte. Eine kleinliche Grausamkeit, die die Erziehung zur Tortur machte. Eine harte, unbeugsame Strenge, die alle Strafe mit Lust auszuteilen schien. Eine ganze lange Zeit der Qual, die ohne sein Wissen die Kindheit der Töchter niedergedrückt und sie in einer ständigen Furcht vor ihm selber gehalten hatte. Und dazwischendurch fielen Ausdrücke, bei denen sich der Vater zum erstenmal verwundert fragte, ob nicht seine Töchter, so sehr sie auch noch Kinder waren, mehr gesehen und verstanden hätten, als er für tauglich und nützlich hielt.
Magnus Brandt fühlte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach, und obgleich er die Antwort im voraus wußte, fragte er kurz: »Warum hat keine von euch mir das früher gesagt?«
»Wir trauten uns nicht,« antwortete Cäcilia. »Sie hat uns gedroht.«
Karin nickte eifrig. Ihre Augen leuchteten die ganze Zeit über.
»Es ist vorbei jetzt,« sagte Magnus Brandt bedächtig. »Und wir müssen froh sein, daß es so ein Ende genommen hat.«
Er sagte das so, als hätte er sich in letzter Minute bedacht, was er eigentlich sagen wollte. Und erst nach einer Pause fuhr er fort: »Ich will nicht, daß ihr noch einmal eine Gouvernante im Haus haben sollt. Ich habe genug von der Sorte. Ich will allein sein mit euch beiden. Lange dauert es ja doch nicht mehr.«
Er lächelte, als er das gesagt hatte, mit einer Miene, als wäre er mit einem Scherz so weit gegangen, als es vor den Ohren junger Mädchen nur irgend möglich und statthaft war.
»Ihr werdet ja doch früher oder später heiraten, eine um die andere; und da bleib' ich hier einsam. Nun ja, das ist mir ja auch recht so. Ich beklage mich nicht. Das Leben hat mir genug gegeben. Und das Beste, was ich mir jetzt denken kann, ist, daß ich in Ruhe und Frieden mit euch hier leben kann und niemand Fremdes brauche, der uns stört. Aber nun sollt ihr auch hören, wie ich will, daß alles eingerichtet wird. Ihr beide sollt den Haushalt führen; ich will mich auf euch verlassen können wie ihr euch auf mich. Du, Cäcilia, sollst deiner jüngeren Schwester helfen und sie lehren, was sie noch nicht weiß. Wenn es auch ein bißchen weniger Französisch und Geklimper wird – das ist einerlei – wenn sie nur einen Haushalt führen und sich in Zucht und Ehren ihrer Jugend freuen kann, so lang' sie währt, und der Arbeit, die ja doch schließlich das Beste ist, was uns das Leben geben kann. Du, Karin, sollst von deiner älteren Schwester lernen, sollst ihr helfen und ihr gehorchen, bis du einmal zum Tisch des Herrn gegangen bist und für dich selber einstehen kannst. Und beide sollt ihr mir gehorchen. Ich weiß, daß ihr das stets getan habt, und ich danke Gott dafür. Aber es kann einst der Tag kommen, daß ich über eure Zukunft bestimmen und euch euren Weg im Leben weisen muß, besser als ihr selbst es versteht. Und da will ich, daß ihr mir gehorchen und nach meinem Willen tun sollt. Denn niemand meint es besser mit euch als ich, und niemand hat euch so lieb. Das sollt ihr mir hier geloben, darum hab' ich euch hierher rufen lassen, wo eure Mutter, meine selige, verstorbene Frau, mit mir und mit euch gelebt hat, wie ihr noch klein wart. Versprecht ihr mir das, so kann ich ruhig leben, und wir können getrost der Zukunft entgegensehen.«
Die Töchter saßen stumm da. Keine von ihnen wagte aufzublicken.
Schließlich sagte Cäcilia, indem sie ihre ruhigen Augen auf den Vater richtete: »In allem, was ich kann und was mir möglich ist, gelobe ich, so zu tun.«
Magnus Brandt blickte die Tochter forschend an. Aber ehe er noch etwas sagen konnte, fühlte er Karins Arme um seinen Hals und ihre Wange an der seinen. »Alles, was Sie wollen, Vater, will ich tun, jetzt und allezeit. Nie will ich etwas anderes tun, nie auch nur etwas anderes wollen.«
Über ihrer Stimme, über ihrem ganzen Wesen lag eine Bewegung, so vibrierend stark, daß dem Vater die Tränen in die Augen traten. Er legte seinen Arm um die Tochter und, den Kopf an seine Brust gelehnt, weinte Karin. All dies war ja so feierlich, und in Mutters Stube geschah es, und Vater hatte ihr so viel gesagt, was sie nie vergessen konnte. So überströmend war ihr Empfinden, daß es ihr wie ein Glück erschien, daß sie sich opfern sollte für unbekannte Zwecke, daß sie alles geben sollte, ehe sie noch überhaupt wußte, was das Wort bedeutete. Magnus Brandt vergaß den Vorbehalt, der ihn in den Worten der ältesten Tochter verletzt hatte, und fand, er hätte alles erreicht, was er mit seinen Worten bezweckte. Sanft schob er seine Jüngste von sich, hustete, schneuzte sich und sagte mit einer Stimme, die er so trocken und alltäglich als möglich zu machen suchte: »Ich geh' jetzt für ein paar Stunden auf mein Zimmer. Morgen geht die Post.«
Den ganzen Nachmittag ging Karin in einer wunderlich erregten Gemütsverfassung umher. Daß sie so etwas Schönes hatte erleben können, daß sie so viel hatte, wofür sie leben konnte, und was sie mit Freude erfüllte, daß der Vater so gut sein konnte, und daß er sie so innig liebte – all das war mehr, als sie überhaupt glaubte fassen zu können! Als sie die Arme um des Vaters Hals geschlungen hatte, da hatte Magnus Brandt zu allem die Tochter auch noch auf die Wange geküßt. Nicht, wie er sie jeden Morgen und jeden Abend zum Gutenmorgen und zur Gutenacht auf die Stirn küßte. Sondern ganz anders. All das war so viel Freude auf einmal, daß es Karin nicht im Hause litt. Einsam wanderte sie hinaus, auf dem Wege, der durch die kleine Hecke auf dem Gartenhügel ins Birkenwäldchen führte. Dort ging sie weit hinaus, bis sie nichts mehr sah als die weißen Stämme der Birken, die aufbrechenden Knospen an den weichen Zweigen, die moosigen Steine und den Spiegel des Sees, der im Lenzwind sich kräuselte. Und dann setzte sie sich auf einen Stein und folgte mit den Blicken den weißen Wolken, die über den klarblauen Himmel segelten.
Ganz still saß sie da und träumte davon, wie schön doch das Leben war. Als sie heimkam, konnte sie gar nicht begreifen, daß alles so war wie immer. An der Treppe blieb sie stehen und sah sich um, als erwartete sie in der überquellenden Glückseligkeit des Augenblicks etwas ganz Neues und wäre enttäuscht, daß da nichts Neues war . . . Erst als sie abends dem Vater Gutenacht sagte und seine Lippen auf ihrer Stirn fühlte, war sie wieder ruhig und froh und ganz erfüllt von dem wunderbaren Weihegefühl, das sie den ganzen Tag über begleitet hatte.
Frühzeitig ging sie in ihre Stube, nur um allein zu sein. Ihr war, als ob die Nähe der anderen sie störe und alles, was sie groß empfand, gleichsam kleiner machte. Sie stand am offenen Fenster und sah gedankenvoll hinaus in die Dämmerung. Als sie die Schwester kommen hörte, wandte sie sich nicht um, sondern blieb an ihrem Platz am Fenster stehen; alles lag ihr so fern außer dem einen neuen Gefühl, das sie so ganz und gar beherrschte.
Cäcilia störte die Schwester auch durch nichts. Auch in ihrer Stube ward es still, so still, daß das Schweigen Karin endlich zum Aushorchen brachte. Sie wandte sich zum Zimmer der Schwester und sagte: »Was hast du denn damit gemeint, wie du zu Vater gesagt hast: in allem, was ich kann und was mir möglich ist?«
»Mehr kann kein Mensch versprechen,« antwortete Cäcilia ausweichend.
»Das versteh' ich nicht,« antwortete Karin. »Weniger als alles kann man doch nicht versprechen oder geben.«
Wieder wandte sie sich ab und sah zum Fenster hinaus. Die Worte der Schwester schnarrten ihr im Ohr wie etwas Leeres, Kleines, das alles, was sie selber so warm empfand, gleichsam abkühlte. Eine Wolke glitt über den Frühlingshimmel, eine lichte Wolke, die von den Zweigen der alten Rüster vor ihr zerspalten ward. Und wie Karin so dastand, deuchte ihr, als habe die Stimme der Schwester, da sie eben geantwortet hatte, wunderlich hart und bitter geklungen; und wieder zur Wirklichkeit erwachend, wandte sie sich um und ging langsam in die Stube der Schwester.
Da sah sie, daß auch Cäcilia an ihrem Fenster saß. Aber sie sah nicht hinaus. Zusammengekauert saß sie in der Dämmerung. Und als Karin näher trat, merkte sie, daß die Schwester weinte. Erstaunt rief sie: »Du weinst? Heute?«
Da stand Cäcilia auf, wischte die Tränen aus den Augen und antwortete in ihrer gewohnten ruhigen Stimme: »Es ist nichts. Es geht gleich vorüber. Du bist ein Kind und verstehst nichts.«
Verletzt ging Karin wieder in ihre Stube und begann sich auszuziehen. Tatsächlich verstand sie der Schwester Worte nicht. Sie hatten nur die Wirkung auf sie, daß sie sich zum zweitenmal enttäuscht fühlte an diesem Tag, an dem ihr sonst alles schön war und feierlich wie ein Fest. Warum konnte nicht alles, was sie geträumt und empfunden, so schön sein und so ungestört wie zuvor?