Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Erster Teil

Erstes Kapitel

Dieses ganze Buch ist ein Buch vom Tode, und doch handelt es, wie mir scheint, mehr von Glück als von Unglück. Denn Unglück heißt nicht, das verlieren, was einem teuer ist, das Unglück liegt darin, es zu beschmutzen, zu verderben oder zu entweihen. Und es gibt ein Geheimnis, ich mußte lange leben, bevor ich es lernte. Die Liebe steht niemals stille. Sie muß mit den Jahren entweder wachsen oder abnehmen. Und nicht nur im letzteren Fall kann sie Leiden verursachen. Der gewaltigste Eros ist der, der Leiden bringt, weil er immer stärker wird.

Aber ich will beim Anfange beginnen und all das, was in diesem Buch geschrieben ist, will ich so erzählen, wie man einen Traum erzählt. Und so seltsam es auch dem Leser klingen mag – all das zusammen ist nur das Buch, um das das kleine Brüderchen mich bat.

Habe ich geträumt, daß ich geliebt, geheiratet und Kinder bekommen habe? Habe ich geträumt, daß ich unsäglich glücklich und unsäglich unglücklich war? Habe ich geträumt? Oder habe ich wirklich all dies erlebt, das mich an nichts anderes von menschlichem Leben, das in meinen Gesichtskreis gekommen, zu erinnern scheint? Es kommt mir jetzt vor, als stünde ich in irgendeiner unfaßbaren Weise – nicht über, ach, alles andere eher als über – aber wohl ferne von all dem, und das einzige, das jetzt zu mir dringt, ist ein Ton der Andacht, so überschwänglich, daß nicht einmal Musik ihn fassen und in greifbarer Weise ausdrücken könnte. Ja, wenn ich einstmals das niedergeschrieben habe, was sich jetzt seinen Weg zu den unbeschriebenen Bogen sucht, die eines Tages vielleicht ein Buch bilden werden, glaube ich hoffen zu können, daß die Erzählung selbst mir den Leitfaden geben wird, um das Rätsel zu lösen, das mich jetzt quält und beunruhigt: was in meinem Leben Traum gewesen und was Wirklichkeit.

Es ist nämlich nicht nur der Kummer, der mich drückt. Es ist auch ein Wundern über das, was geschehen, dasselbe Wundern, das sich auf dem Grunde alles bewußten Lebens regt. – – –

Ich erinnere mich in diesem Augenblick, wie ich eines Abends in das Zimmer meiner Frau kam und sie grübelnd fand, mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich. Sie las nicht in dem Buche, und ihr Gesicht drückte Unzufriedenheit aus.

Ich beugte mich über ihre Schulter und sah, daß sie in der Bibel gelesen hatte. Das Buch lag beim ersten Buch Mosis aufgeschlagen, und auf meine Frage, was sie gelesen, wies sie bloß auf ein paar Zeilen, die ich noch zu unterst auf einer Seite lesen zu können vermeine. – Und ich las die Worte:

Verflucht sei die Erde um deinetwillen. . . . . Mit Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.

»Ist das nicht gräßlich?« sagte sie. »Ich erinnere mich nicht, ob ich mit Schmerzen geboren habe. Ich habe nie daran gedacht.«

Sie erhob sich und ging zu einem kleinen Bettchen, das quer hinter unseren eigenen Betten stand, und sie beugte sich hinab über ein rundes, blühendes, schlafendes Kindergesicht, dessen Lippen sich saugend regten, als läge der Knabe an der Mutterbrust.

»Habe ich dich in Schmerzen geboren?« sagte sie wie zu sich selbst. »Nein, in Glück habe ich dich geboren, in Glück und Jubel, ein Glück, so namenlos groß, daß ich es nie gewußt habe, bis jetzt.«

Sie zog mich hinab aufs Sofa und lehnte ihren Kopf an meine Schulter, schmiegte sich in meine Arme, als wollte sie dort Schutz vor allem Ungemach und Schmerz der Welt finden. Ohne ihre Stellung zu ändern, streckte sie die Hand aus und schlug das Buch zu.

»Das ist ein dummes Buch«, sagte sie. »Ich habe mich nie darauf verstanden.«

»Das ist es wohl nicht,« sagte ich lächelnd.

»Das hast du selbst gesagt«, sagte sie und richtete sich zur Hälfte auf.

»Ich? Nie!«

»Nun, dann hast du etwas anderes gesagt.«

Sie beugte sich wieder hinab.

»Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, daß ich denken will wie du, glauben wie du, sein wie du. Denn niemand ist wie du, niemand auf der Welt.«

Auf solche Worte kann kein Mann antworten. Man braucht sie nicht abzuwehren, denn sie sind nicht als Rauchopfer der Eitelkeit gedacht. Sie kommen wie eine Liebkosung, so wie wenn ein Mann seine Frau ansieht und sagt: »Es gibt für mich kein Weib außer dir.« Meine Frau fuhr auch nach einer Pause, so kurz, daß ich sie kaum gemerkt hatte, fort:

»Ich habe dir gewiß noch nie dafür gedankt, daß du mich gelehrt hast, zu glauben, wie du glaubst, aber ich bin so froh, daß du es getan. Du kannst es nicht so fühlen, wie ich es fühle. Du kannst es nie so fühlen. Jeder Tag, der vergeht, macht mich reicher. Jede Stunde scheint mir erfüllt von meinem Glück. Es ist so merkwürdig, mir jetzt zu denken, daß ich einmal, als ich um vieles jünger war, mich sehnte, zu sterben, um in den Himmel zu kommen. Was meinte ich da, und wonach sehnte ich mich? Ich glaube, ich habe es vergessen, als wäre es nie gewesen. Das einzige, was ich früher manchmal schwer empfand, war, daß ich niemals meinen Vater wiedersehen sollte, der tot ist. Aber jetzt kommt es mir vor, daß ich nichts anderes verlange, als mit dir und den Knaben zu leben. Ich würde nicht wünschen, daß es etwas anderes gäbe als das Leben, das du und ich leben durften. Ich will mit dir leben, bis die Knaben groß sind und hinausziehen. Dann wollen wir zusammen altern – du und ich – und etwas anderes kann ich mir nicht denken.«

»Glaubst du nicht an irgendeine Möglichkeit eines anderen Lebens?« fragte ich.

Sie schüttelte mit einer energischen Gebärde den Kopf.

»Nein,« rief sie aus, »ich will nichts anderes als das, was ist. Ich will einmal in der Erde unter einem schönen Blumenhügel schlafen. Das ist alles für mich, und darum bitte ich Gott jeden Abend.«

Sie betete jeden Abend zu Gott, und sie glaubte nicht an ein unsterbliches Leben. Ich wußte es und fühlte aufs neue das Wunderbare in diesem, ihrem eigenen Rätsel, das für sie bloß natürliche Wirklichkeit war. Ich streichelte ihre Schulter, um sie wissen zu lassen, daß ich gehört und verstanden hatte, und mit einem plötzlichen Übergang fragte sie:

»Glaubst du an etwas anderes?«

»Ich glaube weder, noch glaube ich nicht.«

Sie wiederholte meine Worte ganz tonlos, obgleich sie sie schon mehrere Male zuvor gehört, wiederholte sie, als enthielten sie etwas ganz Unfaßbares, und rief plötzlich:

»Dann hast du dich verändert.«

»Das glaube ich nicht.«

»Ja, das hast du. Wie hätte ich sonst glauben können, daß das Leben mit dem Tode zu Ende sei? Du hast es mich gelehrt. Warum willst du jetzt nicht glauben wie ich?«

Bei ihren Worten flog eine Erinnerung durch meine Seele. Ich sah sie und mich auf einem schmalen Pfad unter den hellen Birken der Schären wandeln. Über uns funkelten des Himmels Sterne, und zu unseren Füßen zitterte im Grase der matte Lichtschein aus den Fenstern unseres ersten Sommerheims. Ich vermeinte noch die Worte hören zu können, die in der Stille des Abends zwischen uns geflüstert wurden, Worte vom Leben und vom Tode, von Gott und dem Kommenden, diese Worte, die von unserem ersten Liebesrausch Ernst und Glut empfingen. Ich erinnerte mich, daß sie es war, die fragte, und ich antwortete. Ich erinnerte mich, daß sie tief betrübt und stumm wurde, während sie über meine Antwort nachdachte, und als nun diese Erinnerung durch meine Seele zog, mit einer Deutlichkeit, die keine Worte wiederzugeben vermögen, war es mir, als müßte das, was ich damals gesagt, sie in ganz anderer Weise getroffen haben, als ich eigentlich gemeint, und ich fühlte einen Stich im Herzen, als hätte ich, ohne es zu wollen, ihr etwas zuleide getan.

Sie unterbrach mich, indem sie sagte:

»Ich kann das nicht fassen, das, weder zu glauben noch nicht zu glauben. Ich muß eines von beiden tun.«

Sie sprach diese Worte mit einem Ton aus, als bäte sie mich, ihr nicht zu widersprechen, und ich tat es auch nicht. Ich behielt bloß die Stimmung der lichten Insel unserer Jugend in mir und wunderte mich darüber, daß ich die ganze Zeit die Sterne durch das Laubwerk der Birken zu sehen meinte.

Meine Frau hatte sich, während wir sprachen, erhoben und stand wieder neben dem kleinen Bette. Mitten im Gespräche hatte sie gemerkt, daß der Kleine sich bewegte. Sie hob ihn empor, nahm ihn in ihre Arme in jener sicheren, beschützenden Art, wie nur Mütter es können, und legte ihn an die Brust. Ihr Gesicht strahlte, als sie sah und fühlte, wie er ihre Milch mit jener unbeschreiblichen Ruhe sog, die das Vorrecht des Kindes ist.

Wovon wir eben gesprochen und was ich jetzt sah, verschmolz in eigentümlicher Weise in meinem Gefühl zur Einheit, und ich erinnerte mich der Worte, die den Anfang des kurzen Gesprächs gebildet hatten. Lange saß ich und dachte an das, was ich sagen wollte. Ich dachte an die grausamen Worte: »Verflucht sei die Erde um deinetwillen« und an den Zusatz an die arme Erde: »Dornen und Disteln sollst du tragen.« Das Gefühl dessen, was ich besaß und was ich sah, überwältigte mich so sehr, daß ich fürchtete zu sprechen, um meine Bewegung nicht durch Tränen zu verraten, und gleichzeitig versuchte ich, meine eigenen Gedanken davor zurückzuhalten, die Form des Worts anzunehmen, um meiner Frau nicht pathetisch zu erscheinen.

Endlich nahm ich die Bibel in die Hand und legte sie weg.

»Du hast recht,« sagte ich, »und das harte Wort hat unrecht. Da sollte stehen: ›Gesegnet sei die Erde um deinetwillen. Trauben und Rosen soll sie tragen.‹«

Und nachdem ich dies gesagt, beugte ich das Knie und lehnte die Stirn zugleich an mein Weib und an mein Kind. Mit der Hand, die sie frei hatte, strich sie mir übers Haar.

»Ach! Wir waren jung damals, jung und sehr glücklich.«

 


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