Ludwig Ganghofer
Der laufende Berg
Ludwig Ganghofer

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6

Weißer Reif schimmerte auf allen Wiesen des Berghanges, als Michel früh am Tag aus der Haustür trat, mit übernächtigen, müden Zügen. Beim Anblick der kleinen blinkenden Eisscheiben, die wie gläserne Augen aus dem erstarrten Schlamm hervorlugten, atmete er erleichtert auf. »Mathes!« rief er und klopfte an das Stubenfenster.

Hastig kam Mathes aus dem Flur gerannt. »Is ebbes passiert?«

»Na! Gfroren hat's in der Nacht! Da schau!«

Mathes bückte sich, drückte mit dem Finger eine der Eisscheiben ein und prüfte die Härte des Bodens. »Arg tief geht's net. Bloß oben hat's a bißl anzogen.« Er sah, wie es über das Gesicht des Vaters zuckte, und fügte mit raschen Worten bei: »Aber fester is der Boden doch wie gestern. Ja, ja, Vater, es wird kälter mit jeder Nacht. Ich mein', daß der richtige Frost bald einfallen sollt.«

»Kannst schon recht haben, Bub!« Nickend hob Michel die Augen zum Himmel. »Er hat mein Sprüchl halt doch verstanden!« Bei aller Hoffnung befiel ihn wieder eine neue Sorge. »Wann aber mit Gottes Willen der Boden gfriert und 's untrische Wasser möcht in d' Höh, so kann's ja nimmer durch, wann der Boden steinhart is? Und hast es doch ghört, daß die Kammissoni gsagt hat: 's untrische Wasser müßt wieder steigen, wann alles gut sein sollt?«

»Da tu dich net sorgen, Vater! Gfriert der Boden, so gfriert 's Wasser mit, und von die Wänd abi lauft kein neus Wasser nimmer zu.«

»Der liebe Gott soll's geben!« Schwer atmend strich der Simmerauer mit den Händen übers Haar. Im Flur wurden die beiden Kinder laut, und Vroni kam aus der Tür, mit dem Beil in der Hand. Ihr Gesicht hatte nicht die frischen Farben wie sonst, ein Schatten lag um ihre Augen. Aber sie nickte dem Vater lächelnd zu und deutete auf die gefrorenen Pfützen. »Gut, Vater, gut schaut's aus!« Sie ging zum Hackstock, um die Arbeit zu beginnen.

Der Simmerauer sah seine Tochter prüfend an; etwas an ihr schien ihm nicht zu gefallen. Doch ihn drückte noch was anderes, und das schien ihm wichtiger. »Komm«, sagte er zu Mathes, »speggalieren wir a bißl umanand, ob sich nix grührt hat in der Nacht.« Er ging seinem Buben voran in den Garten. An der Hausecke strich er zärtlich mit der Hand über die weiße Mauer und seufzte. Aufmerksam spähte er an den Wänden hinauf, dann über den Boden hin. Alles war unverändert. Nirgends in der Erde ein Riß oder eine Senkung. Der Balkenrost, den sie in angestrengter Arbeit am vergangenen Abend vollendet hatten, schien seine Schuldigkeit zu tun und den ganzen Grund um das Haus her fest zusammenzuhalten. Jetzt mußte nur der Verhau an der Böschung noch verstärkt und dichter verflochten werden. Am verwichenen Abend, während Vroni das Beil und den Spaten in die Schmiede getragen hatte, waren Michel und Mathes in den Wald gegangen, um die für das Flechtwerk nötigen Äste von den Bäumen zu schlagen; der ganze Haufen, den sie heimgebracht, lag im Hof, und Vroni putzte mit dem Beil die kleinen Zweige von den Ruten.

Als Mathes und der Alte im Garten waren, sah Michel über die Schulter, wie in Sorge, daß Mutter Katherl oder Vroni ihnen nachgegangen wäre. Dann sagte er leis: »Mathes? Hast nix ghört in der Nacht?«

»Heut net. Ich bin steinmüd gwesen und hab gschlafen. Warum?«

»Heut nacht hat's mir gar net gfallen. Kein Stündl hab ich gschlafen vor Angst. Wann halt doch ebbes passieren tät? Ich glaub's net. Na! Aber es müßt halt doch einer da sein, der d' Mutter weckt und die Kinderln packt. Und die ganze Nacht hat's allweil bröckelt in der Mauer drin. Im Fundament muß's gwesen sein. A bißl hat's allweil ausgsetzt, aber gleich hat's wieder angfangt. Erst wie's Tag worden is, hat's aufghört.«

»Aber geh, Vater«, sagte Mathes ruhig, »da hast dich anführen lassen in der Angst. D' Mauer is fest. Ich denk mir halt, daß d' Mäus unter die Bretter grabelt haben.«

»D' Mäus?« Im Gesicht des Alten kämpfte Sorge mit dem Wunsch, zu glauben. »D' Mäus? Ja, ja! Dös hätt ich mir selber schon gern eingredt, aber –«

»Schau, es hat ja doch aufghört, wie's Tag worden is. Geh, sorg dich net! Es is schon so. D' Mäus sind's gwesen.«

»Ja, ja! Möglich kunnt's schon sein. D' Mäus? Dös wär kein schlechts Anzeichen net. Man sagt allweil: Eh a Haus fallt, ziehen d' Mäus aus. Ja, Mathes! Dös wär a Glück, wann d' Mäus noch allweil ihr Sicherheit haben. Da kann's doch so schlecht net stehn um unser Häusl?«

»Gott bewahr! Gut steht's, Vater! Komm, fangen wir 's Arbeiten wieder an!«

Während sie in den Hof zurückkehrten, spähte Mathes, der hinter dem Vater ging, mit Sorge über das Fundament der Mauer.

Vroni hatte schon einen Stoß geputzter Ruten neben sich aufgeschichtet.

»Brav, Vronerl!« sagte Michel. Er sah dem Mädel ins Gesicht. »Was is denn mit dir? So viel blasselen tust mir heut. Hast net schlafen können in der Nacht?«

»Aber ja!« Leichte Röte huschte über Vronis Wangen. »Fest hab ich gschlafen.«

»Oder wird dir d' Arbeit a bißl z'viel?«

»Mir? Na, Vater! So bald noch net.« Rascher schwang sie das Beil, wie um dem Vater zu beweisen, daß ihre Arme keine Spur von Müdigkeit empfänden.

Mathes, der dieses Gespräch gehört hatte, wandte sich ab und lächelte.

Mutter Katherl erschien unter der Haustür, und an ihr vorüber stürmten die beiden Kinder ins Freie. Trotz der ärmlichen Kleidung, die sie trugen, sahen sie proper aus. Dem Buben waren die feuchten Haare mit der Bürste glatt an den Kopf gestrichen, und dem Mädel stand ein kurzes fingerdickes Zöpfl steif vom Nacken weg. In den Händen hielten sie große Butterbrote, die zur Hälfte schon in den kleinen Schnäbeln verschwunden waren. Während der Bub sich auf die Erde kauerte, um eine der weißen Eisscheiben loszubrechen und als ›Zuckerl‹ auf das Butterbrot zu legen, hängte sich das Mädel an die blaue Leinwandhose des Großvaters. »Ahnvater! Heut nacht hat mir ebbes träumt!« Das Kind grub die kleinen weißen Zähne in das Brot.

Michel beugte sich nieder. »Was denn, Jetterl? Verzähl mir's!«

»Feiertag is gwesen, und a schöne Musi haben wir ghört.«

»Wo is denn dö Musi gwesen? Drunt im Wirtshaus, gelt?«

Jetterl schüttelte das blonde Köpfl. »Na!« sagte sie und schluckte. »Gsehen hab ich s' net, dö Musi. Allweil hab ich in d' Höh auffischauen müssen, weil s' in die Luft droben gwesen is, dö Musi.«

»Aber so was!« staunte Michel. »Du, Jetterl, du hast die lieben Engerln singen hören!«

Das Mädel machte ein ernstes Gesicht und besann sich. »Na! Gsungen haben 's net. Trumpeten haben s' blasen. Können denn die lieben Engerln Trumpeten blasen, sag?«

Beim Hackstock verstummten die Beilschläge, und Vroni blickte über die Schulter nach dem Kind.

»Aber gwiß!« beteuerte der Simmerauer. »Alle Instrumenter können s'blasen. Und Harpfen zupfen und Zithern schlagen. Aber verzähl, wie is denn nacher weiter gwesen?«

»So viel schön is gwesen, Ahnlvater! Soooo viel schön! Und zur Kirchen hat man gläut, und der Xandi hat sein neus Hösl anziehen dürfen und ich mein Röckerl, mein rots. Und auf Mittag hat's Dampfnudeln geben, hat mir träumt. Gelt, Ahnlvater, so a schöner Traum muß eintreffen?«

»Ja, mein Herzerl! Sei nur schön brav! Da kunnt's schon möglich sein, daß am Sonntag a bißl was eintrifft«, lächelnd kniff der Simmerauer das Mädel ins runde Kinn, »mit die Dampfnudeln, ja! Und du, Xanderl, komm her! Jetzt spazierts mitanand schön ummi in Purtschellerwald!«

»In Wald ummi? Na!« fiel das Bürschl dem Großvater in die Rede und strich die fetten Fingerchen, aus denen das Butterbrot verschwunden war, ein paarmal über das Höschen hin und her. »In Wald ummi mag ich nimmer.«

»Warum denn net?«

»Weil er so grantig is.«

»Was? Grantig? Der Wald?« fragte Michel, den bei diesem Kinderwort eine dunkle Sorge zu beschleichen schien.

»Ja! Gestern hat er gschrien. Ganz laut hat er gschrien. Du! Da bin ich derschrocken.«

»Aber geh, du Dapperl!« Dem Alten versagte fast die Stimme. »Der Wald kann doch net schreien.«

»Aber ja! Ganz a groß Maul hat er aufgrissen im Boden drin. Und gschrien hat er. Den Wald, den mag ich nimmer, na!«

Michel wußte kein Wort zu sagen. Dieses Schweigen schien Jetterl als einen Zweifel zu deuten, denn sie bestätigte: »Ja, Ahnlvater! So hat er's gemacht!« Sie sperrte das rosige Mäulchen auf, so weit sie konnte. Dann lachte sie. »Aber ich hab mich gar net gforchten. Bloß der Xandi! Weißt, der tut sich noch fürchten, weil er so a kleins Büberl is.« Freilich, der Xandi war um ganze zehn Monate jünger als sie! »Ich hab mir halt denkt, daß er Hunger hat, der Wald, weil er sein' Schnabel so weit aufreißt.«

Der Simmerauer hatte die Arme um die beiden Blondköpfe gelegt und tauschte einen Blick mit Mutter Katherl, die leis zu ihm sagte: »Gelt! Allweil hab ich's schon gmeint: Der Wald is nimmer sicher. Laß mir die Kinder nimmer in Wald ummi!«

»Na! Kein Schrittl nimmer in Wald!«

»Ahnlvater?« fragte das Bürschl. »Dürfen wir net lieber die Zickizotterln hüten auf der Wiesen droben? So viel schön tut d' Sonn da droben scheinen.«

»Ja, mein Schatzerl, ja! Geh! Katherl, laß ihnen die Zickizotterln aus'm Stall! Ich muß zur Arbeit schauen.«

Mit lautem Jubel rannten die Kinder der Großmutter voran und verschwanden in der Stalltür. Kreischend kamen sie wieder zum Vorschein, jedes mit einer Ziege am Strickl, und das ging über den Hof und hulterdiwulter über die Wiese hinauf – bald zerrten die Kinder die beiden bockenden Ziegen hinter sich her, bald wieder schleiften die trippelnden Tiere ihre Hüter durch die Bodenfurchen, daß die zwei Knirpse unter Lachen einen Purzelbaum um den andern schlugen.

Der linde Sonnenschein kam über den Berghang heruntergeschlichen, schmolz den Reif von den welken Gräsern und ließ im auftauenden Schlamm die dünnen Eisscheiben langsam zerfließen.

Mutter Katherl schleppte die Ruten, die Vroni geputzt hatte, durch den Garten zum Verhau. Hier waren Michel und Mathes bei der Arbeit; der Alte hielt die hohen Pfosten fest, auf die der Bursche, der oben auf der Böschung stand, mit der Holzkeule losdrosch. Als die Balken eingeschlagen waren, kam Mathes herunter, und nun begannen sie, die Ruten durcheinanderzuflechten und die Hohlräume dahinter mit Steinen auszufüllen. Um den Vater abzulenken, begann Mathes über allerlei Dinge zu sprechen. Einmal, als er eine Weile geschwiegen hatte, fragte er unvermittelt: »Du? Vater? Neulich am Abend, wie ich beim Wagner unsere Axt stielen hab lassen, sind a paar Leut in der Werkstatt gwesen. Da haben s' so gredt mitanander. Vom Purtscheller.«

»Was denn?«

»Daß er schlecht wirtschaften tät und daß der Purtschellerhof nimmer stünd wie sonst. Is da ebbes dran, Vater?«

»Ah na! Weißt ja doch, wie d' Leut sind! Allweil reden s' mehr, wie s' verantwortigen können. So a gscheiter Mensch wie der Herr Purtscheller wird doch sein' Verstand beinand haben. Die unguten Leut sind ihm halt neidisch um sein Glück.« Michel bog eine Rute übers Knie, um sie geschmeidiger zu machen. »Aber ich vergunn's ihm. Schon der Linerl z'lieb!« Er begann die Rute einzuflechten. »Freilich, brauchen tut er viel. Aber ich kann mir doch net denken, daß a verstandsamer Mensch tiefer aus'm Hafen schöpft, als der Boden is. Oder es müßt einer so a narrischer Lüftikus sein wie der Daxen-Schorschl. So ebbes glaub ich net vom Herrn Purtscheller.« Michel griff nach einer neuen Rute. »Dem sein Haus und Hof steht fest. Unter dem lauft der Boden net davon. Eins, freilich, will mir net gfallen –«

»Was?«

»Daß er so gachzornig is, wie seine Dienstleut verzählen, und den ärgsten Unmut allweil an der Linerl auslaßt. Dös gfallt mir gar net. Hast ihn ja neulich reden hören. Krank, meint er, wär 's Linerl. Ja, mein! Kümmern tut sie sich halt! Dö hat so a Blümerlgmüt, so a feins, und vertragt halt söllene Schimpfereien net. Und allweil schlechter schaut s' aus. Tätst es schier gar nimmer kennen, ja!«

Mathes gab keine Antwort. Während er eine störrische Rute hinter den Pfosten preßte, fielen ihm ein paar rote Tropfen von der Hand.

Das gewahrte der Simmerauer. »Hast dich grissen?«

»A bißl. An der Ruten.« Mathes schleuderte das Blut von der Hand und arbeitete weiter.

Immer höher stieg die Sonne.

Um zehn Uhr ging Mutter Katherl ins Haus und holte den Milchkrug. Das erste Glas, das sie einschenkte, reichte sie der Tochter. »Warum bist denn so stad heut? Was hast denn?«

»Ich? Was soll ich denn haben?« Vroni leerte das Glas. »Vergelts Gott!« Lächelnd nickte sie der Mutter zu und nahm die Arbeit wieder auf.

Als Katherl in den Garten zu den Männern ging, fuhr mitten in dieser sonnigen Luftstille ein sausender Windstoß über die Simmerau. »Was is denn?« fragte Michel. »Wo kommt denn der Wind so gahlings her?« Alle blickten zum blauen Himmel auf. Nun hörten sie über die Wiesen her, aus der Gegend des Purtschellerwaldes, ein klapperndes Rauschen, als wäre irgendwo ein riesiger Haufen Schindeln auseinandergefallen. Im gleichen Augenblick tönten von der sonnigen Höhe herunter die schreienden Stimmen der Kinder: »Da schau! Der Wald! O jegerl! Der Wald lauft davon!« Mathes kletterte über den Verhau hinauf, Michel machte humpelnd einen Umweg, um die Böschung zu ersteigen, und Vroni kam aus dem Hof gerannt, während Mutter Katherl, die Milch verschüttend, ihrem Manne nachlief und im ersten Schreck das Gesicht bekreuzte.

Sie spähten nach dem Gehölz hinüber, und während ein zweiter Windstoß ihnen das Haar und die Kleider zauste, sahen sie, daß ein großes Stück des Waldes in gleitender Bewegung war. Die grünen Wipfel schwankten durcheinander, als wären die hundert Bäume betrunken. Und plötzlich war die grüne, laufende Waldscholle verschwunden; an ihrer Stelle dehnte sich ein brauner Fleck, als hätte eine unsichtbare Riesenfaust dieses Stück Wald wie ein Spielzeug in eine braune Holzschachtel eingestrichen und den Deckel zugeklappt.

Wieder tönte jenes prasselnde Rauschen und endete mit einem dumpfen, nachdröhnenden Schlag, wie er beim Sturz einer schweren Lawine zu hören ist. Dann war Stille.

Die vier Menschen standen mit erblaßten Gesichtern. Ihre ersten Blicke galten dem Haus und zugleich den Kindern. Das kleine Haus lag ruhig in der Sonne, und die beiden Kinder standen sorglos auf der Wiese und schwatzten.

Michel sprach das erste Wort. »Den Wald hat er schreien lassen, die unschuldigen Kinder hat er gwarnt. Da soll mir noch einer sagen, daß er auf seine Leut net Obacht gibt, der da droben.« Er faßte die Hand seines zitternden Weibes. »Tu dich net sorgen, Mutter! Der da droben hilft. Komm, gehn wir wieder an d' Arbeit!« Hand in Hand stiegen die beiden Alten über die Böschung hinunter.

Mathes stand noch immer auf dem gleichen Fleck. »Vroni!« sagte er und deutete mit dem Rutenmesser, das er in der Hand hielt. »Da is a schöner Brocken Purtschellergut ins Wasser abigrutscht. Dös druckt ihr wieder an Kummer auf d' Seel.«

Vroni nickte. Und wortlos kehrten die Geschwister in den Hof zurück.

Seit Wochen war es immer so gewesen: Wenn irgendwo auf dem Hang des laufenden Berges ein großer Brocken in Bewegung geraten war, hatten sie es auch in der Simmerau zu spüren bekommen. Daran dachten sie, und deshalb verloren sie den Kopf nicht, als es kam. Im Innern der Erde ein matter plumpsender Hall. Dann rann ein Zittern durch den Grund, auf dem sie standen. »Mutter!« stammelte der Simmerauer, umklammerte den Arm seines Weibes und schrie: »Die Kuh is unter Dach!«

Vroni und Mathes warfen die Werkzeuge weg und rannten zur Stalltür: »Bleib draußen!« keuchte Mathes, stieß die Schwester mit der Faust von der Tür zurück und sprang in den matt erhellten Raum. Brüllend zerrte die Kuh an der Kette; Mathes konnte die Ringe nicht lösen. Von der niederen Decke fiel ihm Mörtel auf den Kopf, während er mit Anspannung aller Kraft den eisernen Bolzen, an dem die Kette hing, aus dem Futterbarren riß. Schnaubend, mit gestrecktem Schweif, die klirrende Kette schleifend, galoppierte das befreite Tier zum Stall hinaus und tollte in bockenden Sprüngen über die Wiese.

Mathes taumelte, als er über die Schwelle ins Freie sprang; wieder schwankte der Boden. Krachend zersplitterte ein Riegel des den Grund durchziehenden Balkenrostes, und während sich die beiden Stümpfe aus dem Boden hoben, kam die ganze Erde rings um das Haus und um die Scheune her in träge Bewegung. Ein paar schwere Steine rollten vom Schindeldach herunter, und gackernd flogen überall die Hühner auf.

»Zu mir her!« kreischte Michel mit bleichen Lippen. Als Mathes und Vroni bei ihm standen, wurde er ruhiger. In diesem Augenblick des Schweigens konnte man hören, daß die beiden Kleinen auf der Wiese droben lustig sangen.

Mutter Katherl klagte: »Jesus Maria! Jesus Maria!«

»Macht nix!« stammelte der Simmerauer. »Es is net 's erstemal. Nur net verzagen! Und auffischreien, daß er uns hören muß!« Er faltete die Hände, hob sie über den Kopf empor und schrie: »Allgütiger du im Himmel! Tu net auslassen!«

Ein zweiter Balken des Rostes sprang und bäumte sich knirschend. Aus dem Garten scholl ein schwerer dumpfer Klatsch; Schlamm und Wasser spritzten in dicken Strahlen von der Böschung über den Hofraum. Dann war alles wieder ruhig. Nur ein paar losgewordene Schindeln glitten mit leisem Rascheln über das Dach herunter.

»Allweil steht's noch, unser Häusl! Er hat schon wieder gholfen. Auf den is Verlaß!« sagte Michel und wischte sich den Schlamm ab, der ihm ins Gesicht gespritzt war. »Wenn unt drin a Loch is, freilich, da muß ebbes abifallen. Dös kann er selber net anders machen. Aber oben halt er fest. Da laßt er net aus.« Während Vroni die Mutter, der vor Schreck völlig übel war, zu einem Holzblock führte, wollte Mathes in den Garten, um bei der Böschung nachzusehen. Michel hielt ihn am Ärmel fest. »Z'erst a Vergelts Gott sagen, Mathes! Er hat's verdient um uns.« Mit lauten Stimmen sprachen sie ein Vaterunser und den Glauben an Gott. »So! Und jetzt speggalieren wir, wie's ausschaut! Viel is net passiert. Und du, Vronerl, sei so gut, lauf auffi und schau, was die kleinen Hascherln machen!«

»Dö singen ja, Vater!« sagte Vroni. Man merkte es an ihrer Stimme, daß ihr das Herz bis an den Hals herauf schlug. »Hörst es net?«

Der Simmerauer lauschte. Obwohl sein Gesicht so weiß wie Kalk war, glitt ihm doch ein Lächeln über den farblosen Mund. »Dö singen! Gott sei Dank! Dö haben wieder gar nix gmerkt.«

Während Michel mit Vroni und Mathes im Hof umherging, um den Schaden zu besehen, den der Erdrutsch angerichtet hatte, las Mutter Katherl die Scherben des Milchkruges auf, den sie im Schreck hatte fallen lassen. »Jetzt is der auch hin! Der schöne Krug!«

Das erregte Gackern der Hühner begann zu verstummen, und über dem Rand der Böschung erschien die Kuh mit der baumelnden Kette. Sie brummte ihren tiefsten Ton, sah mit großen Glotzaugen über Haus und Garten nieder und ließ in wiedergefundener Seelenruhe die zottige Schweifquaste pendeln.

Im Hofe fand der Simmerauer den halben Balkenrost aus den Fugen getrieben und verschoben; neben den zwei zersplitterten Balken waren ein paar andere krumm gebogen und fast geknickt. »Macht nix! Den Schaden haben wir in zwei, drei Tag wieder gutgmacht. Gelt, Kinder, helfen wir halt wieder ordentlich zamm!«

»Ja, Vater!« sagte Vroni, während Mathes schweigend nickte.

Nun gingen sie hinter das Haus und zur Böschung. Da sah es noch schlimmer aus. Ein Wust von Erde und Felsbrocken war über den Garten niedergebrochen und hatte den schweren Verhau zu Boden gedrückt wie ein Kartenblatt. »Müssen wir halt an andern machen! Zeit haben wir ja. Acht Tag, mein ich, gibt er jetzt wieder an Fried, der Berg.« Als Michel die Bruchstelle näher untersuchte, gewahrte er neben dem Haufen des niedergebrochenen Schuttes einen schmalen, frischen Erdstreif, der sich wie ein Band am Fuß der unversehrt gebliebenen Böschung entlang zog. Diese Entdeckung brachte den Alten aus seiner vertrauenden Ruhe. Mit den gespreizten Fingern maß er die Breite des Bandes und sagte: »An halben Schuh sitzen wir wieder tiefer drunt!« Schwer atmend richtete er sich auf und fuhr mit den Fingern ins Gesicht, als hätte er Haare vor den Augen. »Mathes! Da müssen wir uns tummeln, daß wir den Verhack wieder in d' Höh bringen. Sonst rutscht uns bald a fester Brocken über'n Garten eini. Fangen wir gleich an! Geh, Madl, hol mir d' Axt!«

Vroni lief gegen den Hof; mit ersticktem Schrei blieb sie stehen und starrte auf die Rückwand des Hauses.

Michel und Mathes blickten auf. »Was is denn?«

»Vater! Da schau! Unser Haus!«

Die beiden kamen gelaufen und sahen, daß neben Vronis Kammerfenster ein im Zickzack verlaufender Riß die Mauer von der Erde bis über die Fensterhöhe durchzog. Mathes nickte wortlos vor sich hin. Während der Simmerauer die zitternden Hände nach der weißen Mauer streckte und an den Rändern des entzweigerissenen Mörtels umhertastete, sagte er: »Mathes! Da hast jetzt deine Maus!«

»Aber geh! Wegen dem bißl Riß! Deswegen brauchst dich net sorgen! So was passiert in alte Häuser oft, daß a Riß durch d' Mauer geht!«

»Net so laut«, fiel Vroni flüsternd ein, »damit's d' Mutter net hört!«

»Erfahren muß sie's alleweil!« sagte der Simmerauer; aber auch er dämpfte die Stimme. »Kannst ja heut in der Nacht nimmer schlafen in deiner Kammer. Mußt dich wohl in d' Stuben ummi legen. Dös kann net gschehen, ohne daß d' Mutter ebbes merkt davon.« Wieder starrte er die Mauer an, atmete schwer und fragte: »Was meinst, Mathes?«

»Daß der Riß kein neuer is! Der kann schon lang in der Mauer gsteckt sein und hat dem Häusl gar nix gschadt. Jetzt, freilich, bei dem bißl Rumpler hat halt auswendig der Mörtl auch nachgeben.« Mathes begann den Schaden genau zu untersuchen. »Es is schon so! An alter Riß! Vater, da kannst dich verlassen drauf! Als Maurer muß ich so ebbes verstehn!«

»Ja, ja! Da muß ich's glauben.« Michel wandte sich zu Vroni. »So a Glück, daß der Mathes d' Maurerei glernt hat! Jetzt kann er uns helfen. Meiner Seel, ich wüßt mir jetzt kein' Rat net. Und gschehen muß doch ebbes. So kann man doch dö arme Mauer net stehn lassen. Was meinst denn, Bub?«

Mathes hatte seine Meinung schon fertig: Der schlechte Mörtel wird abgeschlagen, mit eisernen Schlaudern wird der ›alte‹ Riß zusammengezogen, und über alles wird ein neuer Verputz gelegt. »Dös mach ich so fein, Vater, als ob in der Mauer nie a Schaden net gwesen wär.«

»Vergelts Gott, Bub!« nickte Michel. »Aber der Fleck, freilich, der bleibt! So schön und sauber schaut sich d' Mauer nimmer an wie sonst.«

»Aber na, Vater! Da tu ich die ganze Wandseiten überweißnen, und morgen, bis der Kalch auftrücknet, merkst kein Fleckl nimmer. Wie der Schnee muß sich d' Mauer anschauen!« Mathes zog den Maßstab hervor, den er in der Tasche trug, und nahm an der Mauer die Maße ab. »Vier eiserne Schlauderbänder brauchen wir, anderthalb Meter, und vier gsunde Schrauben dazu, jede an halben Meter lang, mit feste Muttern.«

»Mit feste Muttern, ja!« wiederholte der Simmerauer. »Was Mutter heißt, is allweil ebbes Guts. Fangen wir nur gleich an! 's Häusl is d' Hauptsach. Da muß der Hof und der Garten zruckstehn. Ich rühr derweil an Kalch ein. Du, Mathes packst d' Mauer an. Und 's Madl lauft zum Schmied abi und laßt die Schlaudern machen. Hast dir's Maß ordentlich gmerkt, Vronerl?«

»Genau, Vater!«

»So lauf, Madl, lauf, was d' laufen kannst!«

Vroni rannte; schon nach wenigen Sprüngen hielt sie wieder inne. Das Gesicht von heißer Röte übergossen, sah sie ratlos den Vater an.

Der Simmerauer meinte diesen Blick zu verstehen. »Grad hab ich mir's selber denkt. A starks Madl bist freilich. Aber so viel Eisen kannst net auffischleppen über den ganzen Berg.«

Vroni senkte die Augen. Da sagte Mathes: »Ja, Vater, laß mich abi!« Als er an Vroni vorüberging, legte er die Hand auf ihre Schulter und flüsterte: »Hast recht! Denk an unser Schwester!« Vroni schien ein trotziges Wort auf der Zunge zu haben; doch als ihre Augen dem ernsten Blick des Bruders begegneten, nickte sie und schwieg.

Ohne Hut und Joppe, barfuß, eilte Mathes davon, während ihm der Vater nachrief: »Vergiß net: recht feste Muttern! Wann d' Mutter net gut is, taugt die ganze Schrauben nix!« Nach dieser Mahnung fiel dem Alten eine neue Sorge aufs Herz. »Mar' und Josef! Zu so was ghört a richtiger Schmied. Auf so an Lüftikus wie der Daxen-Schorschl is kein Verlaß.«

»Sorg dich net, Vater!« sagte Vroni erregt. »So viel hab ich gestern gmerkt: Sei' Sach versteht er, der Schorschl, wann er mag.« Dann richtete sie sich auf. »Weis mir d' Arbeit zu! Wo fangen wir denn an?«

»Komm, hilf mir die Kalkgrub aufdecken!«

Als sie durch den Hof gingen, blickte Michel über das Gehäng hinunter. »Schau nur! Den halben Berg is er schon drunt!« Der väterliche Stolz hauchte dem Alten ein bißchen Farbe über das erschöpfte Gesicht. »Ja, mein Mathes! Der is gut schicken, wann's pressiert. Auf den is Verlaß.«

Wer gemächlich ging, hatte von der Simmerau bis ins Dorf hinunter eine halbe Stunde zu marschieren. Der Mathes brauchte keine zehn Minuten. Freilich, als er aus dem letzten Wäldchen auf die Talwiesen heraustrat, war er so atemlos, daß er ein paar Augenblicke rasten mußte. Gerade gegenüber, auf dem anderen Ufer des Baches, lag der stolze Purtschellerhof, an dem die Dorfstraße vorüberführte. Mathes hing, solang er rastete, mit spähenden Augen an dem stattlichen Haus. Dann trocknete er mit dem Handrücken die nasse Stirn und wandte sich ab. Er folgte der Straße nicht, obwohl sie der nächste Weg zur Schmiede gewesen wäre, sondern schwang sich über die Gartenzäune und eilte hinter den Häusern an den Hecken entlang. Schließlich fand er einen Fußpfad, der in der Nähe der Schmiede auf den Marktplatz mündete. Schon wollte er auf die Straße treten. Erschrocken fuhr er zurück und verbarg sich hinter den halbentlaubten Büschen.

Draußen auf der Straße ging die Purtschellerin vorüber, mit ihrem Bübchen plaudernd, das sie auf den Armen trug.

Mathes regte sich nicht. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Als läge ein drückender Stein auf seiner Brust, so beklommen atmete er.

Nun war sie vorüber.

Hastig trat Mathes auf die Straße hinaus. »Karlin!« rief er mit heiserer Stimme, und erblaßte, als sie das Gesicht wandte.

Sie war schon an die fünfzig Schritte von ihm entfernt.

Dennoch erkannte sie ihn gleich. »Mathes! Du! Grüß dich Gott!« Sie wollte zurückkommen.

Da rief er: »Ich hab net Zeit! Bloß sagen will ich dir, daß der Purtscheller im Wald droben nachschauen soll. Der Berg hat a bißl ebbes umgworfen. Dös hab ich dir sagen müssen! Pfüet dich Gott wieder! Pfüet dich Gott, Linerl!«

»Aber Mathes! Mathes!«

Er hörte nicht.

Karlin schüttelte verwundert den Kopf, und während sie ihm nachblickte, schien sie gar nicht zu fühlen, daß ihr das Kind mit zausenden Händen die Zöpfe fast von der Stirne riß.

 


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