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Heller Vollmondschein lag über den zerrissenen Gehängen des laufenden Berges und über den schiefen Wipfeln des Purtschellerwaldes. In der Tiefe der Erde gurgelte das versunkene Wasser, und zwischen den Bäumen ließ von Zeit zu Zeit ein Käuzl seinen klagenden Schrei vernehmen.
In dem schwarzen Schatten, den der Waldsaum warf, saß Schorschl an einen Baum gelehnt, die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen. Er blickte bald hinunter ins Tal, in dem der vom Mondschein beleuchtete Nebel sich ansah wie ein langgestreckter See; bald spähte er hinüber gegen die nahe Simmerau, von welcher noch immer der Hall der rastlosen Schläge herübertönte; dann wieder starrte er brütend vor sich nieder, nickte bedächtig mit dem Kopf und sagte sich laut und langsam die fünf Worte vor: »Schorschl! Du bist a Lump!« Diese Wahrheit hatte ihm das Geleit gegeben von der Simmerau bis hinauf zu den Felswänden und bis ins Latschendickicht, in dem der ›ausgemachte‹ Hirsch seinen ahnungslosen Mittagsschlummer hielt. Was der Daxenschmied auf diesen Wegen auch immer dachte und in Gedanken sich vorredete, alles lief auf diese kurze Weisheit hinaus: »Schorschl! Du bist a Lump!« Der Tritt seiner Schuhe, das Klirren des Bergstockes, das Rollen der Kiesel, die sein stolpernder Fuß in Bewegung brachte, alles hatte den Klang dieser fünf verflixten Worte. Und als er in seiner ›blinden Narretei‹ den sicheren Hirsch ›verpatzt‹ hatte und das aufgescheuchte Wild, statt den von Purtscheller besetzten Wildsteig anzunehmen, in rasender Flucht durch das Latschenfeld hinunterstürmte, klang es bei jedem Sprunge deutlich im Takt: »Schorschl – du bist – a Lump – a Lump!«
Nun saß er hier seit langen Stunden, immer auf dem gleichen Fleck, immer mit diesem Wort. Es hatte sich in seinen Gedanken festgeklammert, und dennoch wollte er diesen fünf verwünschten Silben nicht glauben. Er zählte sich an den Fingern seine guten Eigenschaften vor; suchte jeden tollen Streich zu entschuldigen, den er auf dem Gewissen hatte; machte alle äußerlichen Dinge, die den Leichtsinn in ihm genährt hatten, für seine ›Lüftigkeit‹ verantwortlich und redete sich ein, daß er doch eigentlich bis heut nicht die geringste Verpflichtung gehabt hätte, ein ordentlicher Mensch zu sein. Aber bei dieser schweißtreibenden Gedankenmühe kam er immer wieder zu dem gleichen Schluß: »Schorschl! Du bist a Lump!«
Ein Lump? Ja! »Aber gar so arg, wie sie's gmeint hat, kann's ja doch net sein!« Eine Weile noch brütete er vor sich hin; dann sprang er auf und bürstete mit dem Ärmel seinen Hut. »Es laßt mir kei' Ruh nimmer. Ich muß dös Madl heut noch fragen.«
Drunten im Tal schlug die Kirchenuhr die neunte Stunde, während Schorschl über die Wiesen rannte und mit hohen Sätzen alle Klüfte übersprang. Als er die Böschung beim Haus des Simmerauer erreichte, hielt er ratlos inne und zog sich scheu zurück, um nicht gesehen zu werden. Im Hofraum, über dem sich das Mondlicht mit dem zuckenden Schein zweier Kienfackeln mischte, standen Michel, Mathes und Vroni noch bei der Arbeit. Doch eben jetzt – die Fackeln waren schon zu kurzen Stümpfen niedergebrannt – ließ der Simmerauer die Säge ruhen. »Kommt's, Kinder«, sagte er, »endlich müssen wir doch Feierabend machen! D' Nacht hat der liebe Gott für'n Schlaf erschaffen. Den brauchen wir.«
Sie trugen ihre Werkzeuge zur Hausbank und gingen zum Brunnen, um den Schlamm von ihren Füßen zu waschen. Michel faßte den Schwengel, und schon nach wenigen Zügen plätscherte ein dicker Wasserstrahl in den Trog. »Schau nur, Mathes! Soviel Wasser! Kaum, daß ich zum Ziehen anfang! Es muß doch 's Wasser schon wieder gstiegen sein? Meinst net?«
»Ja, Vater! Und 's Brunnenwasser kommt von unt auf.«
»Ja! Von unt auf wann's käm, dös wär a Glück!« Der Simmerauer pumpte, bis der Trog überlief. Er konnte sich an dem vielen Wasser gar nicht satt sehen.
Eins nach dem anderen stellte die Füße auf den Trogrand und schöpfte Wasser mit der Hand. Mathes löschte die niedergebrannten Fackeln aus; vor der Haustür blieb er stehen und blickte über das mondbeglänzte Gehäng hinunter ins Tal; dort unten hatte sich der Nebel geteilt und war in die Seitentäler auseinandergeflossen, so daß man die höher liegenden Häuser des Dorfes matt unterscheiden konnte. »Die da drunt haben's gut«, sagte Mathes zu seiner Schwester, als sie vom Brunnen kam, »überall schlafen s' schon, und alle Häuser sind finster.« Nach einer stummen Weile fügte er mit versunkener Stimme bei: »Bloß im Purtschellerhof brennt noch a Lichtl.« Er blickte zu Vroni auf und fragte zögernd: »Meinst, ihr Kindl is krank?«
»Gott soll's verhüten!« Die Schwester legte ihm den Arm um die Schulter. »Aber denk an uns, Mathes! Denk net an andre!«
»Ja, hast recht!« Er strich mit der Hand über die Stirn und trat in den Flur. »Aber dir, Vronerl, kunnt ich heut auch ebbes sagen!«
»Was denn?«
»Seit der Schorschl dagwesen is, studierst mir z'viel!«
Sie sagte ruhig: »Da hast dich verschaut. An so ein' denken wie der Schorschl? Gott bewahr mich! Da laß ich mir's Elend von unserer armen Zenz zur Warnung sein.« Sie bekreuzte sich, als sie den Namen der verstorbenen Schwester nannte. »Aber schad is 's eigentlich um den Schorschl! So a lebfrischer Mensch, recht wie zur Arbeit gwachsen!«
Ein dumpfes Rollen, wie der schwache Widerhall eines fernen Donners, klang von der Höhe des Berges herunter. Die beiden sprangen vor die Tür hinaus und lauschten. Auch der Simmerauer, der noch beim Brunnen stand, richtete sich auf und spähte in die Höhe. Kein Laut mehr, alles war still dort oben. «Es wird halt wieder wo a Brocken niederbrochen sein!« sagte Michel; er kam zur Tür und schob seine Kinder ins Haus. »Gehn wir eini unter 's Dach! Der liebe Herrgott soll uns bhüten und soll uns dös bißl müden Schlaf vergunnen!«
Die Stube, die sie betraten, war so nieder, daß sie mit den Köpfen fast an die Decke stießen. Mutter Katherl trug schon die geblümte Nachtjacke und hatte das Schlaftuch um den Kopf gewickelt; sie stand am Tisch und zog mit einer Haarnadel den verkohlten Docht aus dem Schnabel der Öllampe, deren kleine Flamme ein mattes Zwielicht über das bescheidene Gerät der Stube warf.
Gegessen hatten sie bereits, vor ein paar Stunden schon, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Nur beten mußten sie noch. Michel und Mathes zur Rechten vom Herrgottswinkel, Mutter und Vroni zur Linken – genau so, wie Männer und Frauen in der Kirche ihre getrennten Plätze haben –, so knieten sie zu beiden Seiten des Tisches nieder. Mit lauter Stimme sprachen sie den Mariensegen und die Litanei zu allen Heiligen. Nach dem letzten Vaterunser, als die andern schon das Kreuz machen wollten, sagte Michel: »Bleibts noch a bißl, Kinder! In bsonderer Zeit muß der Christ ebbes Bsonderes haben für sein' guten Herrn. Geh, Katherl, hol mir dein Betbüchl.«
»Ja, Michel!« Mutter Katherl brachte ein abgegriffenes Buch.
»Steht net eins drin? Recht a guts und starks? So a Sprüchl, weißt, in Drangsal und Betrübnis?«
»Ja freilich, Michel!« Sie wußte auswendig, wo es stand, »Seite dreihundertvierazwanzg.«
»Geh? So weit hinten steht's? Sollt doch ganz am Anfang hindruckt sein, so a notwendigs Sprüchl!« Der Simmerauer rückte auf den Knien näher an die Lampe und blätterte in dem Buch. »Hab's schon!« Mit zitternder Stimme begann er zu buchstabieren: »Heiliger, gerechter, furchtbarer Gott –« Da stockte er schon und murmelte: »No, no, gar so furchtbar is er ja doch net!« Er trocknete mit der Faust die Lippen und buchstabierte wieder: »Der du erst alsdann die –« da kamen zwei schwere Worte, »züchti-gen-de Str-afrutte ergreiffest, wenn du gelindere Mittel, uns aus unserer Unbußferr-tigkeit zu erwecken, frrruchtlos findest: Tiefgebeugt erkennen und bekennen wir, daß unsere Gefühllos-sigkeit gegen deine Güte – Ja freilich is er gut! Arg gut is er, sag ich! – unser Undank gegen deine Wohltaten, unsere Lausigkeit – na, Lll-lauigkeit heißt's – Lauigkeit in deinem Dienste, unsere Sinnlichkeit und Weltliebe –« Michel verstummte und schüttelte den weißen Kopf; dann seufzte er und buchstabierte weiter: »Daß unsere Missetaten es sind, die deinen gerechten Zorn gegen uns herausgefordert haben. Oh, wir ungeratenen Kinder, welche sich mutwillig von ihrem gütigen Vater abgewendet und all seine Gnaden mißbraucht haben –« Schwer atmend blickte der Simmerauer zu seiner Frau hinüber, schüttelte wieder den Kopf und schloß das Buch. »Na, Katherl! Dös Sprüchl gfallt mir net. Da mach ich mir schon lieber selber eins.«
Er legte die Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und hob die Augen zu dem roh geschnitzten Kruzifix, das zwischen dürren Palmzweigen und kleinen Heiligenbildern im Herrgottswinkel hing. »Du lieber, gnädiger Vater droben, der sein' einzigen Sohn für uns hat bluten lassen, schau, ich tu dich bitten, denk a bißl an uns arme Leut und nimm unser Häusl in dein' festen Schutz! Bist ja so a guter Mann! 's unsinnige Vieh und alle Pflanzerin haltst in deiner sichern Hut. Schau, da kannst doch auch dein' alten Michl net ganz verlassen! Und weil ich schon den festen Glauben hab, daß a guter Christenmensch bei dir droben kein' Fehlspruch macht, so sag ich dir halt im voraus Vergelt's Gott für alles, ja! Im Namen Gott des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!«
»Amen!« sagten die andern.
Der alte Simmerauer erhob sich und streckte den gekrümmten Rücken. »So, Kinder, jetzt kann man sich schlafen legen in aller Ruh. Er hat mich schon verstanden, mein ich.«
Mathes ging zum Ofen, breitete eine Kotze über die Holzbank und ballte einen Wettermantel zum Kissen. Wie er war, legte er sich nieder.
Vroni hatte an der Öllampe einen Kienspan entzündet. »Gut Nacht!« sagte sie und verließ die Stube.
Mutter Katherl nahm ihr Gebetbuch vom Tisch, und da merkte der Simmerauer, daß sie über die üble Behandlung, die das Buch erfahren hatte, ein wenig verdrossen war. »Aber schau«, sagte er, »wie kann man denn söllene Sachen in a Betbüchl einidrucken! A Christenmensch, der mit seim Herrgott reden will, braucht sich doch net anstellen wie a Rauber und Mörder, der nix als Missetaten aufm Gwissen hat.«
»Sündigen tut jeder und muß sich der Straf fürchten.«
»Dös wohl! Aber der liebe Gott laßt doch wieder Gnad für Recht gelten und sagt sich, daß der beste Mensch a schwachs Rütl is. So eins biegt sich halt im Wind, da braucht's net grad an schlechten Willen haben.«
Katherl schien nicht völlig überzeugt, aber sie wollte aus der Sache keinen Streit machen und schwieg. Seufzend ging sie mit der Lampe zur Kammertür. Als sie hinter sich den Schritt ihres Mannes nicht hörte, blickte sie über die Schulter. »Michel? Warum kommst denn net?«
»Grad is mir gwesen, als hätt einer durchs Fenster eini gschaut.«
»Aber geh! Wer soll denn draußen sein?«
»Ja, du hast recht! Muß mich wohl der Mondschein täuscht haben.«
Sie traten in die Kammer.
Nicht das Mondlicht hatte den Simmerauer getäuscht; seine Augen hatten richtig gesehen. Draußen stand der Daxen-Schorschl an die Wand gedrückt. Als er sah, daß die Stube finster wurde, glitt er lautlos zum nächsten Fenster, das sich matt erhellte. Vorsichtig spähte er durch die Scheiben. Das war nicht das Stübl, das er suchte; es war die Kammer der beiden Alten, ein kleiner ärmlicher Raum, in dem zwei Betten nebeneinander standen; da mußten der Simmerauer und sein Weib ein unbequemes Liegen haben, denn zwischen ihren Plätzen war aus blauen Kissen ein Nest für die beiden Enkelkinder gerichtet, die eng aneinander gehuschelt in ruhigem Schlummer lagen, mit roten Wangen und zerzausten Haaren.
Mutter Katherl streifte die Pantoffeln von den Füßen und blies die Lampe aus. Ein mattes Ächzen der Bettstelle; dann war's still in der Kammer.
Schorschl trat zurück und sah, daß hinter dem Haus ein rötlicher Schimmer über das halb entlaubte Gezweig der Apfelbäume fiel. Hurtig sprang er um die Ecke und gewahrte ein kleines, erhelltes Fenster, über dessen roten Vorhang sich der Schattenriß eines Mädchenkopfes mit gelösten Zöpfen bewegte. »Jetzt stimmt's aber!« meinte Schorschl. Im gleichen Augenblick erlosch das Licht und schwarz lag das Fenster inmitten der vom Mond beschienenen Mauer. Lautlos huschte Schorschl gegen das Haus hin, bekreuzte sich, als hätte er den Kampf wider ein gefährliches Gespenst aufzunehmen, und pochte mit dem Fingerknöchel leis an die Scheibe. Ein paarmal mußte er dieses Pochen wiederholen, ehe sich im Stübl was vernehmen ließ. »Wer klopft denn da draußen?« fragte eine unwillige Stimme.
Schorschl drückte den Fensterrahmen ein bißchen aus den Fugen und flüsterte in den Spalt: »Geh, sei so gut, mach a bißl auf!«
»Was willst denn?«
»A bißl ebbes Wichtigs z'reden hätt ich mit dir!«
»Jetzt in der Nacht? Wer bist denn?«
»Wer soll ich denn sein? Ich bin's halt! Ich!«
Vroni mußte ihn an der Stimme erkannt haben. »Duuu?« Das klang wie ein ellenlanges Wort.
»Ja! Ich! Geh, mach auf!«
Eine Weile war's still in der Kammer, als ginge Vroni mit sich zu Rat, ob sie öffnen solle oder nicht. Dann hörte Schorschl den raschen Tritt eines nackten Fußes. Das kleine Fenster wurde aufgetan, kaum zur Hälfte und mit merkbarer Vorsicht. »Was willst?« Die Frage klang so wenig freundlich, daß dem Daxen-Schorschl im ersten Augenblick die Sprache versagte. Er guckte sich fast die Augen aus dem Kopf; doch zwischen den mondbeglänzten, innen vom roten Vorhang verhüllten Scheiben sah er durch die schmale Spalte nur ein finsteres Stück der Kammer; er versuchte, das Fenster ein wenig weiter aufzudrücken; drinnen stemmte sich eine kräftige Hand gegen den Rahmen, und Vroni schalt: »Sei net so keck, du! Sag, was d' willst! Aber flink!«
Schorschl seufzte: »Ich muß dich ebbes fragen.«
»Was?«
Nun kam die Frage, scheu und zögernd: »Is 's wahr, Vroni? Auf Ehr und Gwissen? Bin ich a Lump?«
»Ja! Und was für einer! Gut Nacht!« Das Fenster wurde zugeschlagen.
Schorschl rückte den Hut in die Stirn, richtete sich auf und hob die geballte Faust. »Wart, du! Dir will ich's zeigen, ob ich einer bin! Du sollst dich täuscht haben im Schorschl!«
Da klang hinter der Mauerecke, aus der Schlafstube der beiden Alten, die erregte Stimme des Simmerauer: »Um Herrgotts willen, was is denn da draußen?«
Schorschl hätte in seiner Wut mit dem Teufel gerauft. Aber Vronis Vater war für ihn eine stärkere Nummer. Erschrocken schwang er sich über die Böschung hinauf und rannte querein in die Wiesen. Erst in der Nähe des Gaßner-Häuschens, das mit seinen verschobenen Balken und Mauern traurig und verlassen dastand, hielt er inne, um sich zu verschnaufen.
»Jetzt muß ich's glauben! Ja!«
Er stülpte den Joppenkragen auf und trollte über den Berghang hinunter. Auf halbem Wege merkte er, daß er irgendwo seinen Bergstock gelassen hatte. Einen Augenblick besann er sich, ob er umkehren sollte. »Ah was! Soll der auch noch hin sein!« Seufzend ging er weiter. »Aber der Stecken soll's letzte gwesen sein, was mir aus der Hand rinnt! Von jetzt an wird zughalten! Fest!« Er blickte über die Schulter. »Wart, du!« Und trollte weiter.
Als er das Dorf erreichte, schlug es elf Uhr. Der Heimweg führte ihn am Wirtshaus vorüber, an dem die beiden Fenster des Extrastübchens noch beleuchtet waren. Nach alter Gewohnheit wollte er eintreten. Vor der Tür blieb er stehen. »Nix da! Heut noch wird angfangt mit der Sollididätt!« Aber ihn hungerte, und die Kehle war ihm trocken; seit früh um drei Uhr, seit er sich aufgemacht hatte, um für den Purtscheller den starken Hirsch aufzuspüren, hatte er keinen Trunk und Bissen genossen. »Kein Lump nimmer! Ja! Aber verhungern und verdursten braucht man deswegen doch net!« Zögernd griff er in alle Taschen, als wüßte er nicht, daß er keinen blanken Knopf bei sich trug. »Gott sei Dank! Jetzt muß ich heim. Pumpen tun s' mir eh nimmer gern da drin.« Lachend, als hätte er seine Freude daran, daß die leeren Taschen seinen guten Vorsätzen so kameradschaftlich zu Hilfe kamen, wanderte er die Straße entlang. Da hörte er von einer heiser grölenden Stimme ein Schnaderhüpfl singen und erkannte den Bierbaß seines Gesellen. »Natürlich! Der hat schon wieder ein'!« Im Hof der Schmiede holte er den Betrunkenen ein, der ein Fenster für die Tür zu nehmen schien. »Da hat der Zimmermann 's Loch gmacht!« sagte Schorschl, stieß die Tür auf und versetzte dem Gesellen einen Puff, daß er in den Hausflur stolperte. »Du bist mir a schöner Tagdieb!«
»Ich mach's halt dir nach«, lallte der Betrunkene, »wie der Meister, so der Gsell.«
Schorschl hob die Hand, ließ sie wieder sinken und sagte ernst: »Vergelt's Gott, Steffel! Dös will ich mir merken.« Als er sah, daß der Gesell im Dunkel mit den Händen auf den Dielen umhertappte, fragte er: »Was suchst denn?«
»Mein' Hut.«
»Leg dich nieder und schlaf dein' Rausch aus! Morgen geht's an d' Arbeit! Den Hut such ich dir schon!« Schorschl suchte im Flur und suchte im Hof; der Hut wollte sich nicht finden lassen. Im Mondschein nach allen Seiten spähend, ging er die Straße zurück bis zum Wirtshaus. ›Wahrscheinlich hat er ihn drin liegen lassen?‹ dachte er, schüttelte aber gleich den Kopf. ›Na! Da geh ich net eini. Ich kenn mich. Da komm ich nimmer furt. Lieber schenk ich ihm von mir an Hut.‹ Mit diesem Entschluß wollte er den Heimweg antreten, aber da erwachte in ihm die Neugier. »Wissen möcht ich doch, wer so spät noch da drin hockt?« Er gab sich einen Schwung, bekam mit den Händen das eiserne Fenstergitter zu fassen und zog sich an der Mauer in die Höhe.
In der von der Hängelampe erleuchteten und von dickem Zigarrenrauch erfüllten Wirtsstube saß Purtscheller beim Kartenspiel mit einem Holzhändler und einem Commis voyageur; hinter dem Toni stand der Wirt und sah ihm über die Schulter in das Spiel, während die Kellnerin in der Ofenecke ihr Schläfchen machte. Die Gesichter der drei Gäste waren von der Wirkung des Tirolers und von der Erregung des Hasardspiels, das sie trieben, heiß gerötet. Der Kommis, der die Bank hielt, und der Holzhändler waren mit schweigendem Ernst bei der Sache; Purtscheller räsonierte über den Gang des Spiels; dabei schien er zerstreut und mit seinen Gedanken woanders. Eben hatte er neue Blätter aufgenommen, aber erst die Bemerkung des Wirtes: »A nobls Blattl« machte ihn aufmerksam, daß die Karten diesmal gut für ihn gefallen waren.
Der Bankhalter fragte: »Wieviel?«
»Die Bank gilt's! Zwei König und an As in drei Farben hab ich.« Purtscheller warf die Karten offen auf den Tisch. »Da halt ich die Bank, und wann's um a Gschloß geht!«
Die Karte wurde umgeschlagen; Purtscheller hatte verloren.
»Jesus Maria!« stammelte der Wirt erschrocken.
Purtscheller erhob sich ruhig; kaum merklich vertiefte sich die Röte seines Gesichtes. »Jetzt mag ich nimmer. Heut hab ich kein Glück. Ich hätt eh schon lang heim sollen, Sei so gut, Wirt, und zahl aus, ich hab net so viel bei mir!« Sein Verlust überstieg dreihundert Mark; aber wer Purtscheller heißt, hat im Wirtshaus ein leichtes Borgen, und der Wirt sagt ihm noch ein Vergelt's Gott für die Ehre.
Die beiden Spieler saßen schweigend hinter dem Tisch und lächelten, während Purtscheller seinen Hut vom Nagel nahm. »Gut Nacht, meine Herrn!« Draußen auf der Haustreppe fragte er den Wirt, der ihn begleitet hatte: »Is der Rufel heut net da?«
»Der Jud?«
»Ja.«
»Heut net. Aber morgen oder übermorgen kommt er.«
»So sag ihm, er soll an Sprung zu mir ummi machen.«
»Haben S' was Alts für ihn?«
»Der Purtscheller? Und 's alte Gwand verkaufen? Na! So was verschenk ich! Bloß an Auskunft möcht ich.«
»So, so?« Der Wirt blickte zum mondhellen Himmel und streckte die Hand, wie um die Luft zu fühlen. »Frisch macht's. Mir scheint, es zieht a bißl an. Wär a Glück für dö da droben, wann der Frost bald einfallen möcht.«
»Ja! Wär a Glück! Gut Nacht, Wirt!«
»Gut Nacht, Herr Purtscheller! An andersmal die Ehr!«
Es schlug Mitternacht. Dann lag wieder Stille über dem schlummernden Dorf; nur das Bergwasser rauschte im tieferen Tal, und in einem der höher gelegenen Gehöfte brachte ein Hund dem Vollmond ein jammervolles Ständchen.
Je näher Purtscheller seinem Anwesen kam, desto rascher wurde sein Schritt. Manchmal seufzte er schwer und spähte dem Lichtschein entgegen, der im Oberstock seines Hauses aus einem Fenster fiel. Als er den Garten erreichte, blieb er stehen und sprach vor sich hin wie ein Held, der sich selbst überwunden: »Und wann ich zehnmal der Purtscheller bin! Dös muß ich ihr abbitten, ja! Dös is grob gwesen.« Lautlos öffnete er die Haustür, streifte im Flur die Schuhe von den Füßen und schlich auf den Socken über die Treppe hinauf, um sein Kind nicht aus dem Schlaf zu stören.
Im Wohnzimmer brannte noch die Hängelampe; Karlin saß hinter dem Tisch und hielt das Gesicht in den Armen vergraben. Als die Tür aufging, fuhr sie erschrocken auf.
»Grüß dich Gott, Linerl!« sagte Purtscheller leis und legte den Hut ab.
Hastig schob sich die junge Frau aus der Bank hervor; damit er nicht sehen möchte, wie verweint ihre Augen waren, stellte sie sich mit dem Rücken gegen die Lampe.
Zögernd bot er ihr die Hand; dabei wurden ihm vor Rührung die Augen naß. »Linerl? Kannst mir verzeihen?«
Sie nickte und gab ihm die Hand. Da nahm er sie in seine Arme, zog sie zur Bank und auf seinen Schoß, streichelte ihr die Wangen und war so herzlich zu ihr, daß sie an den Ernst seiner Reue glauben mußte. Zitternd preßte sie sich an seine Brust und sagte mit erstickter Stimme: »Gelt, Toni, so was tust mir nimmer an? Dös kunnt mir 's Herz versteinern!«
»Aber geh, du Narrerl, du liebs! Es is ja bloß im Jähzorn gschehen. Gern hab ich dich ja doch! Weißt, d' Sorg hat mich halt so rebellisch gmacht. Der unglückselige Brief halt! Aber eigentlich is ja gar nix dran. Da, schau«, er zog das zerknüllte Blatt aus der Tasche, »so lies halt!«
Sie wehrte erschrocken den Brief von sich ab.
»Aber geh, so lies doch! Mann und Frau sollen nix gheim haben voranand.«
Während er unter unsicherem Lächeln ihr Haar streichelte, fing sie zu lesen an. Immer heftiger zitterten ihre Hände; nun ließ sie das Blatt sinken, mit entsetzten Augen. »Toni! Um Gotteswillen!« Sie konnte nicht weitersprechen.
»So geh, du Dschapperl! Über so ebbes brauchst dir doch kein' Schrecken z'machen!«
»Aber Toni! Es is ja 's erste Word, dös ich hör davon! Hypotheken aufm Purtschellerhof? Jesus Maria! Toni!«
Er wurde verlegen und schob sie von seinem Schoß auf die Bank. »No ja, 's Geld liegt halt noch am Hof von Vaters Zeiten her!«
»Da hättst mir doch schon lang was gsagt davon!«
Purtscheller zögerte mit der Antwort. »No mein, ich hätt dir halt gern dö Sorg erspart. Drum hab ich dir's verschwiegen.«
Scheu blickte Karlin zu ihm auf; eine angstvolle Frage schien auf ihren Lippen zu liegen; aber sie fürchtete seinen Jähzorn und hatte nicht den Mut, ihm das ins Gesicht zu sagen.
Er vermied ihren Blick. »Weißt, ich hab mir halt denkt, ich kunnt dö Gschicht schön langsam abzahlen. Aber die letzten Jahr her hab ich schlechte Zeiten ghabt. Von jetzt an pack ich's a bißl strammer an. Da bin ich in zwei, drei Jahr mit dem Bettel fertig.«
»Bettel? Toni? An die fufzigtausend Mark!«
»Und zweimalhunderttausend is er wert, mein Hof! Da wird's doch so weit net fehlen!« Purtscheller begann ungeduldig zu werden. Er stand auf und sagte: »Mein Wald droben muß gschlagen werden, bald der Winter einfallt. Sonst verschluckt ihn im Frühjahr der Berg. Da schlag ich meine vier-, fünftausend Klafter aussi wie nix. An Neujahr zahl ich dem Schloßbräu den Schmarren hin auf'n Tisch. Blank! Und bhalt noch was übrig für mich.« Er lachte im Vorgefühl der stolzen Genugtuung, die ihm dieses glatte, klingende Geschäft bereiten würde. »Der soll Augen machen! Er hat mir dö Hypothek eh nur aus Bosheit kündigt, weil er mir neidisch is um mein' Bräunl! Jetzt hat er sich zwei neue Traber einghandelt. Aber dö fürcht ich net. Dö fahr ich ihm nieder wie nix. Gleich morgen fang ich mit'm Bräunl 's Tränieren an. Der Schloßbräu soll Augen machen!« Er rieb sich die Hände, als wäre jede Sorge von ihm abgestreift.
Karlins Gesicht war so weiß wie die Wand.
Lachend trat Purtscheller auf sie zu und faßte ihr Kinn. »Geh, du Sorgenhaferl!« Er setzte sich an ihre Seite und umschlang sie. »Schau, lassen wir jetzt dö dumme Gschicht in Ruh und denken wir lieber dran, daß wir zwei wieder gut sind mitanand. Weil ich in der Hitz heut so grob gwesen bin und weil mir so schön verziehen hast, dös muß ich dir doch vergelten. Geh, Linerl, sag mir, mit was ich dir a Freud machen kunnt? Hast kein' Wunsch?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Aber so red doch! Machst mir selber a Freud damit!«
Da sah sie ernst zu ihm auf.
»No also? Was soll ich dir geben?«
»D' Erlaubnis, daß ich in der Wirtschaft d' Arbeit überschau und zugreif, wo's nötig is.«
»No ja, meintwegen – wann ich net daheim bin.«
»Und wann's was z'reden gibt, so hör mich an in Geduld und Ruh! Ich rat dir doch gwiß in nix zum Schlechten.«
»Ja, ja, ja, dös weiß ich schon! Aber jetzt mußt mir noch was anders sagen! Was dir Freud macht. Magst a seidens Kleid? Oder an Armband mit Hirschgranln? Meine schönsten gib ich her dazu. Oder magst an altdeutsches Kupfergschirr in dein Kucherl?« Weil Karlin zu allem den Kopf schüttelte, wurde er unwillig. »Linerl! Wann mir jetzt net auf der Stell ebbes sagst, mit was ich dir a Freud machen kann, meiner Seel, so bin ich dir bös!«
Da nahm sie seine Hand. »Toni?« Matte Röte glitt über ihre Wangen. »Darf ich mir alles wünschen?«
»Alles!«
»Und nimmst mir an offens Wörtl net übel?«
»Auf Ehr und Seligkeit, alles kannst sagen!«
»So tu mir den Gfallen, net mir, dir selber tu den Gfallen und schick die Zäzil fort!«
»Wie kommst mir denn jetzt mit so was!« Geärgert sprang er auf. »Traust mir vielleicht net?«
»Ja, Toni, ich trau dir blind!« sagte Karlin ruhig und erhob sich. »Schau, du machst halt so deine Spassetteln mit die Dienstboten, und ich weiß, du denkst dir nix dabei. Aber d' Leut haben Ohren. Sie reden schon drüber. Dir ins Gsicht sagt's freilich keiner. Aber mir tragt man's zu, in aller Freundschaft. Und dös ungschickte Madl, statt daß sie sich wehren tät dagegen, hat ihr Freud an dem Gred und lacht, sooft s' an mir vorbeigeht.«
In Unbehagen bewegte Purtscheller die Schultern unter dem Samtflaus und brummte verdrossen: »No also, meinetwegen, damit ich an Fried hab! Morgen sag ich der Zäzil auf. Und du geh schlafen! Gut Nacht! Schon wieder halb eins vorbei. In keiner Nacht kommt man zu seiner Ruh.« Er ging auf das Ledersofa zu und warf sich nieder, daß das Möbel in allen Fugen krachte.
Karlin stand am Tisch, als müßte sie noch ein freundliches Wort von ihrem Mann zu hören bekommen. Sie wartete vergebens. »Gut Nacht, Toni!« sagte sie leis und ging zur Tür. Auf der Schwelle wandte sie das Gesicht. »Gelt, bleib nimmer z'lang! Den ganzen Tag am Berg droben, dös muß dich ja müd gmacht haben!«
»In Ruh laß mich!« murrte er und drehte das Gesicht gegen die Wand. »Ich geh schlafen, wann's mir paßt.«
Karlin verließ die Stube.
Eine Weile lag Purtscheller, ohne sich zu regen. Dann stieß er mit dem Ellbogen den Polster zurück. »So verdirbt s' mir jedesmal den besten Hamur! Um den Finger hätt s' mich wickeln können, wie ich heimkommen bin. Und jetzt!« Er streckte sich bequemer und blickte verdrossen zur Stubendecke auf. Die unmutigen Gedanken, die ihn erfüllten, schienen nicht lange anzuhalten. Er begann zu lächeln. Im Geiste malte er sich das Bild des nächsten Trabrennens aus: ein milder, schöner Tag im Vorfrühling; die Rennbahn trocken und gut; ringsum Tausende von Menschen, Kopf an Kopf gedrängt; sie schreien ›Hoch‹ und ›Bravo‹, und ihre Blicke folgen dem Ersten, der keck und flott auf dem leicht dahinfliegenden Gig schaukelt und den mit Schaum bedeckten Braunen sicher durch das Ziel führt, während der Schloßbräu mit seinem amerikanischen Halbblut weit hinter ihm zurückbleibt.
Bei diesem wohligen Gedanken überkam den Purtscheller, ohne daß er es merkte, ein gesunder Schlaf. Er schnarchte mit offenem Mund.
Gleichmäßig zählte die Wanduhr mit ihrem Ticktackschlag die fliehenden Sekunden, und in der Hängelampe begann der Docht zu rußen.