Ludwig Ganghofer
Das Kasermanndl
Ludwig Ganghofer

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Einmal aber zuckte ihr doch ein kalter Schreck durch alle Glieder. Sie hörte ein Schleichen und Rascheln im Wald, sah einen finstern Schatten gleiten und auf dem Weg erscheinen. »Alle guten Geister!« stammelte sie und riß die Laterne in die Höhe. Wenige Schritte vor ihr stand mitten auf dem Weg ein Reh und starrte in die Lichtschein der Laterne. Als Mali sich bewegte, machte das Tier ein paar flüchtende Sätze, blieb wieder stehen, blickte sich um, schüttelte die Lauscher und trollte über den Weg, in der Finsternis lautlos verschwindend.

»Da hat sich jetzt eins vor dem andern gforchten!« dachte Mali und atmete tief auf. Neuer Mut erwuchs ihr aus dem glücklich überstandenen Schreck. Sie war nicht allein in Nacht und Wald! Und die Rehe, Hirsche und Gemsen, wie könnten sie denn leben und hausen auf der Welt, wenn nicht jedes auf Schritt und Tritt seinen guten und starken Schützer hätte? Warum sollte der nicht auch ein Erbarmen haben mit ihrem unschuldigen Menschenleben? Und nun gar in dieser heiligen Nacht, in welcher Er den einzigen Sohn aus Liebe zu den Menschen auf die Welt geschickt!

Freilich, wenn sie an das Ziel ihres Weges dachte, kam ihr Mut wieder bedenklich ins Wanken. Aber hatte denn nicht der Senn gesagt: »Das Kasermanndl is ein ungefahrlicher Geist, der noch keinem was Übels nit antan hat?« Weshalb sollte er gerade ihr ein Leid zufügen? Und überhaupt, wer weiß? Vielleicht ist die Geschichte mit dem Kasermanndl gar nur eine 'fromme Red', eine Vermahnung für die Almleute, rechtschaffen und brav zu sein? Vielleicht hatte der Roß- mooser recht, als er sagte: »Wirst sehen, es is gar keiner nit droben, kein Geist nit!« Doch nein! Der Ahnl des Sennen hat das Kasermanndl gesehen! Aber vor sechzig Jahr! Was kann in sechzig Jahren nicht alles geschehen! Wär's denn nicht möglich, daß in dieser langen, langen Zeit ein frommes Menschenkind den armen, schwer gestraften Geist schon längst erlöst hätte? Dann müßte sie den Kaser leer und dunkel finden, dürfte nur den Muslöffel von der Wand nehmen und hätte die schöne Kuh verdient, so leicht 'wie im Gspiel'!

Dieser neue Gedanke nahm ihr einen schweren Stein vom Herzen und weckte eine ermutigende Hoffnung in ihrer Brust. Rascher stieg sie empor, aber mit dem Beten setzte sie nicht aus. Das wäre für alle Fälle, meinte sie.

Der Bergwald ging zu Ende, das offene Almenland begann, und nun kam für Mali ein hartes Stück Arbeit. Sie mußte sich empormühen durch tiefen, ungebahnten Schnee. Eine halbe Stunde plagte sie sich, daß ihr die Kräfte fast versagen wollten. Und dabei gewann sie nur eine Strecke von der Weite eines Steinwurfs. Erschöpft und keuchend hielt sie endlich inne und hob die Laterne, um zu sehen, ob in der Nähe aus dem Schnee nicht ein Felsblock hervorstünde, auf dem sie rasten könnte. Da gewahrte sie auf dem Schneegrund einen dunklen Streif. Hastig watete sie darauf zu und fand einen ausgetretenen Pfad. War es ein vielbegangener Gemswechset oder der Schneesteig eines Jägers? Aber das fragte sie sich nicht lange – sie war froh, den Pfad gefunden zu haben. Er führte über einen steilen, kahlen Hang empor; dort oben mußte sie ebenen Grund finden.

Sie stieg und stieg; kaum aber tauchte sie mit den Augen über die Höhe des Hügels empor, da stockte ihr der Herzschlag, und sie stand wie erstarrt vor eisigem Schreck. Der Bergstock entfiel ihrer Hand und kollerte lautlos über den Schnee.

Kaum hundert Schritte vor ihr, im ebenen Almfeld, stand der Kaser mit hellerleuchteten Fenstern und mit offener Tür, durch die ein roter Feuerschein einen grellen Lichtstreif herauswarf über den verschneiten Grund.

Jetzt war es richtig! Oder vielmehr: es war nicht richtig! Der Senn hatte recht behalten. Das Kasermanndl hauste auf der Waiz-Alm.

In Mali's Brust begann das Herz zu schlagen, daß ihr das jagende Blut die Pulse fast zersprengen wollte. In einem Augenblick war ihr, als stünde sie in Glut versunken, im andern brach ihr wieder der kalte Angstschweiß aus allen Poren. Sie wollte sich bekreuzen und konnte den Arm nicht rühren, wollte beten und konnte nur noch lallen.

Als sie fühlte, daß die Erstarrung ihrer Glieder sich löste, wandte sie sich zur Flucht und rannte hinunter über den steilen Schneehang. Hinter ihr versank der Kaser mit seinen roten Fenstern und seiner leuchtenden Tür. Als sie einen scheuen Blick über die Schulter zurückwarf, sah sie nur noch den nachtgrauen Schnee und den Himmel mit den funkelnden Sternen. Doch nein, noch etwas anderes sah sie: ein kleines, armseliges Stübl, an dessen Fenstern alle Scheiben gefroren waren, denn der Ofen hatte das bißchen Wärme längst verloren; im gebrechlichen Lehnstuhl saß eine alternde Frau mit kränklichem Gesicht und geduldigen Augen; sie war in dicke Kotzen gehüllt, und dennoch zitterte sie vor Kälte und Schwäche; ihr zu Füßen, auf einem Schemel, saß ein zwölfjähriger Bub und rieb mit seinen Fingern die kalten Hände der Mutter, damit sie sich erwärmen möchten; als er müde wurde, drückte er das Gesicht in den Schoß der alten Frau; zärtlich streichelte ihm die Mutter das Kraushaar und lispelte: »Wart nur, Hansi, wart nur ein bißl noch, es dauert nimmer lang, auf die Mali kann man sich verlassen!«

Das Bild zerrann in den Tränen, mit denen sich Malis Augen füllten. »Mein Gott, Mutterl, mein Gott, wär's nur nit gar so ein schiecher Gang!«

Aber sie floh nicht weiter. Sie stand und blickte in ratloser Angst über den Bergwald hinunter in das graue Tal. Wie ein schwarzes Flecklein lag der Hof im Roßmoos, und aus dem Schatten blinkten winzige Sterne: die erleuchteten Fenster.

»Leicht beten s' für mich?« dachte Mali. Sie atmete tief und wandte das Gesicht. Langsam, Schrittlein um Schrittlein, stieg sie über den Schneehang hinauf. Und wieder lag der Kaser vor ihr mit hellen Fenstern und roter Tür.

»Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« stammelte sie. Mit bebender Stimme begann sie das Vaterunser zu beten und ging dem Kaser zu. Schon hörte sie das Prasseln des Herdfeuers, das Klappern schwerer Tritte und das Geräusch einer Hantierung. Als sie sich der offenen Tür bis auf wenige Schritte genähert hatte, konnte sie in das Innere der Hütte blicken. Neben dem lodernden Feuer stand ein baumlanger Kerl, gekleidet wie ein Senn, mit schwarzem Haar und noch schwär- zerem Gesicht.


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