Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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12

Auf dem Heubett, auf dem eine Nacht zuvor das Veverl in wunderlichen Träumen geschlummert hatte, lag Luitpold ausgestreckt. Naß klebte ihm das Haar an Stirn und Schläfen, und die entblößte Brust, die zu atmen begann, war feucht und gerötet.

Der vor ihm kniete, warf die nassen Tücher fort und sprang hinüber zu jener Felsnische, in der das Kruzifix an der Steinwand hing. Er brachte ein zerknittertes Blatt. Das schob er auf den Holzstuhl, auf dem ein kleines Medaillon an goldenem Kettchen lag. Und nun verschwand er lautlos aus der Höhle.

Luitpold griff mit beiden Händen nach seiner Brust und öffnete die Augen. Da traf sein erster Blick die flackernde Helle der Fackel. »Feuer! Das Feuer!« stöhnte er schaudernd und fuhr in die Höhe. Als seine Füße den Felsboden berührten, gewann er das klare Bewußtsein der gefahrlosen Lage, in der er sich befand. Staunend betrachtete er seine seltsame Umgebung und sah in den Glanz der stillen Fackelflamme. Wieder schauerte er zusammen. Bei diesem Leuchten und Flackern tauchte die Erinnerung an jene fürchterlichen Minuten in ihm auf. Er fühlte sich wieder erwachen, hörte die eigene Stimme, mit der er den knurrenden Hund zur Ruhe verwies, hörte das Knistern, das er im wiederbeginnenden Halbschlaf für das Prasseln der Herdflamme gehalten hatte, und empfand aufs neue den stechenden Druck auf der Brust, mit dem er aus qualvollen Träumen aufgefahren war. Wieder hörte er das Winseln und Scharren des Hundes und erinnerte sich, wie er in die Kleider fuhr und durch die raucherfüllte Stube der Tür zustürzte. Alles lebte wieder in ihm auf: wie er vergebens nach dem Jäger schrie; wie er den Herd ohne Feuer und doch alle Räume erfüllt sah von erstickendem Qualm; wie er die Gefahr erkannte und die Tür von außen verschlossen fand, an allen Fenstern die Scheiben öffnete, die Läden aufstieß und an den starren Eisenstäben rüttelte, über die er die Flammen schon heraufzüngeln sah; und wie er, halb schon betäubt vom Rauch und umkreist von dem heulenden Hund, die Tür hinauszudrücken versuchte und in beginnender Besinnungslosigkeit zu taumeln begann.

Wer hatte ihn gerettet? Wer hatte ihn in diese bewohnte Höhle gebracht? Wer hatte ihn zurückgerufen ins Leben?

Da traf sein Blick den goldenen Schmuck auf dem Sessel. Wer hatte diese Kette von seinem Hals genommen? Hastig griff er danach, öffnete die goldene Kapsel und betrachtete das kleine Pastell, dieses schöne, zarte Mädchengesicht mit den dunklen, tiefen Augen.

Wieder blickte er um sich her. Und gewahrte das Blatt auf dem Sessel, erkannte die feinen, klaren Schriftzüge, mit denen es bedeckt war. »Ihre Schrift! Wie kommt dieses Blatt hierher?« Mit huschenden Augen begann er zu lesen: »Mein lieber Bruder! Ich weiß, Du hast Deine Johanna lieb, und Du wirst es ihr vergeben, wenn sie Dir Schmerz bereitet. Aber nun muß geschehen, was schon längst hätte geschehen sollen. Heute kommt die Mariann, und ich könnte ihr nicht mehr in die Augen sehen, wenn ich auch nicht glauben kann, daß es Sünde war, was ich beging. Ich habe geliebt. Mehr darf ich vom Leben nicht verlangen. Ich scheide mit Gedanken und Wünschen der Liebe für jenen, der mein alles war, dem auch Du von Herzen gut bist. Grüß mir die Mariann, grüße mir meinen Jörg, sag ihm, daß ich ihm danke für alle Güte. Es wird ihn tief ins Herz treffen, ich weiß es, aber ich kann nicht anders. Sag ihm, daß ich glücklich war. Und Dich, liebster Bruder, küsse ich tausendmal. Wir werden uns wiedersehen, dort, wo alle Menschen gleich sind. Nimm den letzten Gruß Deiner im Tode glücklichen Johanna!«

Lange schon hatte Luitpold gelesen. Noch immer hingen seine Augen an dem Blatt. »Das hat sie geschrieben, ihrem jüngeren Bruder, an jenem unglückseligen Morgen! Aber dieses Blatt? Wie kommt dieses Blatt hierher? Das ist wie eine Mahnung! Von wem kann sie kommen? Es kann nur einer noch von diesem Blatte wissen! Jener, an den es gerichtet war!« Vor sich hinstarrend, streifte er die zitternde Hand über die Stirn! »Ich bin krank! Mit gesunden Sinnen denkt man nicht, daß möglich wäre, was unmöglich ist. Die Toten stehen nicht wieder auf.«

Da sprang er vom Bett, mit erwürgtem Schrei, fiel wieder zurück und hing mit irrem Blick an diesem blassen Gesicht, aus dessen Augen Scheu und Vorwurf redeten.

»Du?«

»Ja, Luitpold! Ich, der Ferdl!«

»Und du? Du lebst?«

»Leben? Ja! Aber wie? Da frag lieber net!«

»Darf ich es glauben? Hat mich denn alle Welt belogen?«

»Keiner kann sagen, was er net weiß. Außer meim Jörgenbruder und der Mariann bist du der erste Mensch, der erfahrt, daß der Ferdl net im Höllbachgraben liegt.«

»Und du? Du warst es, der mich rettete?«

»Ja, Luitpold! Wann ich dös net anders sag als mit Freud, so mußt net glauben, daß ich mir ebbes einbild auf dös bißl Zugreifen im rechten Augenblick. Jeder andere hätt's grad so gmacht. Mich freut's, weil ich sagen kann: die heutige Nacht für den roten Tag in der Stadt! Jetzt sind wir wett mitanander, du und ich. Wann's unser Herrgott gelten laßt!«

»So sollst du nicht reden! Was an jenem unheilvollen Tag geschehen ist, das darfst du nicht auf dein Herz nehmen als eine Schuld!«

»Ich spür's halt so. Und dös hab ich gmerkt aus allem, was über mich kommen is als Buß und Straf. 's Leben is ebbes Liebs. Und 's Sterbenmüssen is net 's Ärgste. Aber leben und tot sein müssen? Keiner, der unterm Wasen liegt, hätt tauschen mögen mit mir. Und doch! Für ein', den 's Wasser schon niederreißt, is jeder Strohhalm a Trost. Allweil hab ich mir fürgredt: Dös is ebbes Fremds in deim Verstand gewesen, du hast nix gwußt von dir und nix von der Hand, die sich aufghoben hat gegen den, der mir allweil nach der Hanni und nach'm Jörg der liebste Mensch war auf der Welt! Wann ich dir sagen kunnt, was gwesen is in mir, wie ich d' Hanni so liegen hab sehen –«

»Wer sollte das besser verstehen als ich? Wer besser wissen, wie wert Johanna der Liebe war, mit der du an ihr gehangen! Es hätte ihres Todes nicht bedurft, um mich erkennen zu lassen, was sie mir galt und was ich an ihr verlor. Denkst du noch an unsere Knabenzeit? Schon damals war mir jeder Tag verhaßt, den ich nicht an ihrer Seite verbringen konnte. Ihr Bild ist mir nachgegangen auf allen Wegen. Und als ich wiederkam? Als ich Johanna vor mir stehen sah in ihrer blühenden Schönheit, fühlte ich beim ersten Blick in ihre Augen, daß mein Herz seine Heimat gefunden hatte. Aber ich dachte an meinen Vater. Bei aller Güte unterschied er streng zwischen Menschen und Menschen. Ich dachte meines eigenen Stolzes und habe gekämpft gegen dieses Gefühl, habe die Gefahr geflohen, weil ich mich zu schwach fühlte, um ihr zu widerstehen. Ich grollte mit meiner Mutter, als sie mir die Versuchung unter das eigene Dach führte. Versuchung? Nein! Wir gehörten zueinander. Das fühlten wir. Dennoch gingen wir aneinander vorüber mit steifer Höflichkeit – bis die Natur ihr verkümmertes Recht erzwang und uns zusammengab in einer Stunde der Leidenschaft.«

Luitpold schwieg. Von der Fackel fiel ein Funke auf den Steinboden und erlosch.

»Es war in mir nicht der leiseste Gedanke an Schuld. Ich fühlte nur, daß ich das Glück meines Lebens gewonnen hatte. An jenem unheilvollen Morgen hab' ich mit meiner Mutter gesprochen. Mit Freuden hat sie ja gesagt. Johanna war ihr längst wie eine Tochter. Doch als ich Johanna suchte, um ihr diese Nachricht zu bringen, hatte sie das Haus verlassen. Angst befiel mich, als ich auf ihrem Tisch einen Brief mit meinem Namen fand. Ich las. Und alle Sorge war verschwunden. In zärtlichen Worten sprach sie zu mir. Sie hätte geliebt und Liebe gefunden. Mehr dürfe sie vom Leben nicht fordern. Und so wollte sie mir den Kampf zwischen Pflicht und Liebe ersparen. Kein Wort, das nur die leiseste Ahnung ihres fürchterlichen Entschlusses in mir hätte erwecken können. Wohl sprach sie von einem Abschied für immer. Aber ich dachte dabei nichts anderes, als daß sie heimgefahren wäre ins Dorf. Ich wollte ihr nachreisen, war schon auf der Schwelle meines Zimmers. Da standest du vor mir! Und als ich die Verstörtheit in deinen Augen sah, zuckte die entsetzliche Ahnung in mir auf. Ich war schon zu Tod getroffen, noch ehe deine Hand sich erhob.« Er grub das Gesicht in die Hände.

Schweigend saßen die beiden. Lange.

Mit zerdrückten Worten brach Ferdl das Schweigen. »Ich hätt's erraten müssen! Aber völlig blind hat's mich gmacht. Und schwer hab ich büßt! Die zwei Tag und Nächt, die ich braucht hab von der Stadt bis ins Dorf, die wünsch ich meim Todfeind net. Und daheim! Der Jörg! Dös anschaun müssen! Wie ich den Sprung übern Höllbach gwagt hab und wie's mich niedergerissen hat, da war mir's Sterben schier wie Erlösung. Den ersten Aufschlag hab ich noch gspürt, und wie's mich hin und her wirft von einer Platten zur andern. Nacher weiß ich nix mehr von mir bis zu dem Augenblick, wo ich aufwach und spür, daß ich auf festem Boden lieg, tropfnaß am ganzen Leib, und daß 's Wasser wegrauscht über meine Füß. Kaum hab ich mich aufheben können. So bin ich gsessen, Stund um Stund, unter mir der Höllbach, über mir a Gwänd, wo einer fliegen hätt müssen, wann er auffi hätt mögen in d' Höh. Da merk ich, daß an dem Platz, wo ich glegen bin, a Schlucht in'n Berg einigeht. Ich hab mich weitertappt, in die Finsternis, von eim Ghöhl bin ich ins ander kommen und hab kein' Ausweg gfunden. Und es muß doch einer sein! Überall hab ich frische Zugluft gspürt. Aber wer weiß, ob ich aussigfunden hätt, wann ich net im Felsgang a Fledermaus hätt fludern hören. Dös Tierl is mein Engel gwesen – was Schutzengel heißt, dös sieht oft gspaßig aus. Und da hab ich d' Lichten schimmern sehen. Und bin draußen gstanden unter der lieben Sonn, z'mittelst drin in die dicksten Latschen.«

In Erinnerung versunken nickte Ferdl vor sich hin.

»Was a Gstorbener denkt, wann er wieder lebendig wird? Da gibt's keine Wörtln dafür. Solang's Tag war, bin ich in die Latschen blieben. Bei der Nacht bin ich nunter ins Dorf. Und wie ich meim Jörgenbruder sei' Freud gsehen hab, da is mir 's Leben wieder ebbes wert gwesen. Ich hab ihm verzählt von dem Ghöhl, dös ich im Berg drin gfunden hab. Und da sagt er: ›Wo dich unser Herrgott hingführt hat, da bleibst!‹ Acht Tag is der Jörg heroben gwesen bei mir und hat mir gholfen, den Höhlboden von die Steiner säubern und den Zugang weiter machen, daß man leichter was beischaffen kunnt. Vorm Ausgang haben wir an Steinblock über Walzen glegt, daß er gangen is wie a Tür. Die ganze Sennhütten hat der Jörg ausgräumt, daß ich a leichteres Hausen hätt. Alles hat er mir zutragen, was ich braucht hab zum Leben und zum Zeitvertreib. Und so is der Tag mei' Nacht gwesen, und d' Nacht mein Tag. Dös gstorbene Leben is mir allweil härter ankommen. Wann ich auch um deintwegen a bißl leichter denkt hab, seit mir der Jörg hat sagen können, daß 's besser geht mit dir, so hat mich doch 's ander allweil schwerer druckt. Ich bin Soldat gwesen mit Leib und Seel. Mein' auch, ich hab's bewiesen, wie's golten hat in Frankreich. A Schwur is allweil ebbes Heiligs. Und für a Mannsbild sollt's kein Schwur net geben, der ihm so heilig is als wie der Soldatenschwur. Heimat und Volk und Reich – dös alles is aufbaut auf'm Soldatenschwur. So hab ich allweil denkt. Und ich, der ich so stolz gwesen bin auf mein Kreuzl – ich hab's gmacht wie einer, vor dem ich selber amal ausgspien hab!«

Ferdl preßte die Fäuste über die Augen.

»Hundertmal hab ich mir gsagt: Stell dich, frag net, was kommt! Aber wann ich dem Jörg in die traurigen Augen gschaut hab, war's wieder aus. Und nacher hab ich am Bleiben halten müssen, und er hat trieben, daß ich fort sollt über die Grenz. Ich hab gmerkt, was er im Sinn hat. Sein' Finkenhof will er verkaufen. Den Finkenhof! Wo schon seit hundert und hundert Jahr allweil nach'm Vater der Sohn ghaust hat! Und mir z'lieb will er's tun, daß er mit mir und mit seine Leut fort kunnt nach Amerika! Ah na! Ehnder ich so ebbes zulaß, lieber bleib ich mein Leben lang im Berg – wenngleich seit die letzten Täg ebbes kommen is, was mich wieder ins Licht und unter d' Menschen zieht.«

»Du wirst zurückkehren zu den Menschen, die dir lieb sind!« fiel Luitpold mit bewegten Worten ein. »Eines ist schon geschehen, um dir die Rückkehr zu erleichtern. Alle, die dich um meinetwegen anklagten, glauben heut –«

»Ich weiß. Heut in der Nacht is der Jörg bei mir gwesen. Dös därf ich net zulassen.«

»Auch nicht, wenn ich dein Schweigen fordern würde? Bei dem Andenken an unsere Johanna? Wo kein Kläger ist, wird auch kein Richter sein. Hast du nicht selbst gesagt, daß wir wett sind, wir beide? Es wäre auch nie so weit gekommen, wär' ich nicht durch Wochen krank gewesen, nicht durch die Wunde auf meiner Stirn, durch die Wunde in meinem Herzen. Als die Besserung begann, haben sie mir deinen vermeintlichen Tod verschwiegen, um meine Genesung nicht zu gefährden. Weil niemand kam, um eine Aussage von mir zu fordern, mußte ich denken, daß wir beide allein, nur du und ich, von jener Begegnung auf der Schwelle meines Zimmers wüßten. Man glaubt, was man hofft, selbst wenn sich die Hoffnung an den Widersinn klammert. Dann führte mich meine Mutter nach dem Süden. Erst vor wenigen Tagen bin ich zurückgekehrt. Es drängte mich, dich aufzusuchen. Ich ging zu deinem Regiment. Da starrten sie mich an wie einen Verrückten. Erst jetzt erfuhr ich, was alle in meinem Hause vor mir verschwiegen hatten. Mein erstes Gefühl hat mir die Worte herausgetrieben, die dich freisprachen von aller Schuld. Und jetzt –«

Er faßte die Hände des anderen und sah ihm in die Augen.

»Wie dank' ich es meinem Herzen, daß es mich hierhergetrieben, zu deinem Bruder, zum Grab meiner Johanna! Jetzt soll gut werden, was noch gutzumachen ist. Was du als Soldat getan hast? Da wirst du die Strafe auf dich nehmen müssen. Ich hoffe, sie wird keine allzu strenge sein. Die beste Fürsprach' hast du an der guten Erinnerung, in der du bei den Vorgesetzten deines Regiments stehst. Und jetzt führe mich! Es drängt mich, bald zu tun, was ich tun kann. Und du versprich mir, nicht von hier zu gehen, bevor ich dich nicht hole. Komm! Es drängt mich auch, den Gidi von der Sorge zu befreien –«

»Der Gidi war net in der Hütten?« schrie Ferdl in Freude.

»Nein. Die Tür war von außen verschlossen. Wohin er gegangen ist?« Ein Lächeln. »Kann's vermuten.«

»Na, na! Da is ebbes net in Ordnung!« stieß Ferdl in neuerwachender Sorge hervor. »Wann ich mich auf den Schuß bsinn, den ich ghört hab –«

»Ein Schuß?« fuhr Luitpold erschrocken auf. Kaum hörte er noch auf Ferdls Worte, der ihm einen Mantel und einen Hut aufzudrängen suchte, und war schon in der Mündung des Felsenganges verschwunden, ehe Ferdl die Fackel von der Wand zu reißen vermochte.

Sie gewannen das Freie und stiegen am Höllbachgraben hinunter. Von der Stelle, auf der die Jagdhütte gestanden, schimmerte noch eine matte Röte. Als sie den Almsteig erreichten, löschte Ferdl die Fackel, weil sie Stimmen hörten. Es waren zwei Holzknechte. Von ihnen erfuhren sie, was mit Gidi geschehen war. »Jetzt liegt er droben in der Brünndlhütten, auf der Sennerin ihrem Kreister. Es is a harter Schuß, den er kriegt hat. Er wird dran z' beißen haben, wann er's durchreißen will.«

In hastigem Gange folgten Luitpold und Ferdl dem Steig. Als sie aus dem Wald auf die Almlichtung traten, sahen sie schon die blinkenden Fenster der Hütte und hörten die Leute reden, die vor der hellerleuchteten Türe standen, Sennerinnen der nächsten Alm und Schafhirten. Je näher sie der aufgeregten Gruppe kamen, desto deutlicher hörten sie eine Stimme aus den anderen heraus. »Der Dori!« flüsterte Ferdl und lauschte den Worten des Buben: »Ja, und so hat halt d' Enzi dem Gidi 's Leben grett! Dös is zum Neiden! So ebbes is a Glück! So a Glück hat halt an 'andrer net! Und wann er sich gleich d' Augen drum ausschaut. Und kunnt er 's Glück haben, so verschlaft er's! So a Hammel, so a gscherter, wie ich einer bin!«

Schon wurden die Leute auf die beiden aufmerksam, die sich näherten. Da reichte Luitpold seinem Gefährten schweigend die Hand. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Während Luitpold der Tür zuschritt, huschte Ferdl hinter die Hütte. Er kam an einem offenen, erleuchteten Fensterchen vorüber und verhielt den Schritt. Da drinnen sah er auf dem Kreister den Jäger liegen. Das blutleere Gesicht zeigte in der Umrahmung des schwarzen Bartes eine erschreckende Blässe; doch es war nicht entstellt, war ohne Schmerz. Ein Lächeln schmunzelte ruhig um Gidis Mund, während die glänzenden Augen an dem Gesicht des Mädels hingen, das mit zitternden Händen ein feuchtes Tuch über die entblößte Schulter des Jägers legte.

»Wie dös wohltut, Enzi!«

»Tu mir net reden! Ich bitt dich, so halt dich doch stad!«

»No ja! Aber gelt, jetzt hast mich halt doch in dei' Hütten gholt! So oder so!«

»Du? Bist denn narrisch?« fuhr Enzi auf. »Jetzt is er halbert hin! Und kann von söllene Dummheiten reden!«

»Ah, geh, dös bißl Blut! Ich muß dem Valtl noch a ›Vergelt's Gott‹ sagen. Sonst hätt ich lang warten müssen! Aber was ich sagen will – is keiner net da, der ummispringt zu mir in d' Hütten? Mein junger Herr Graf kunnt sich sorgen um mich, wann er aufwacht und ich bin net daheim.«

»Jesus, Maria! Dein Graf –«, hörte Ferdl die Enzi stammeln. Und sah mit dem gleichen Blick, daß Luitpold über die Schwelle der Hüttenstube trat. Da wandte er sich vom Fenster ab und schritt hinaus in die Nacht.

Er kam zum Eingang seiner Höhle, hob schon die Hand, um den Stein beiseite zu rollen, und ließ den Arm wieder sinken. »Luft muß ich haben! Und Stern muß ich sehen!« Er streckte sich hin auf das Gestein, verschlang die Hände unter dem Nacken und sah hinauf zu den funkelnden Augen des Himmels. Alle Erinnerungen der letzten Tage und Stunden zogen an ihm vorüber. Hoffnung und Unglaube kämpften in seinem Herzen.

Stunde um Stunde verrann. Zwischen den Kuppen der östlichen Berge tauchte schon, die Sterne löschend, eine fahle Blässe über den Himmel herauf, und drunten im Tale schieden sich die von Berg zu Berg gelagerten Nebel in mattem Grau vom tiefen Dunkel der steilgebauten Wälder.

Ferdl erhob sich. Nun begann seine Nacht. Schon streckte er die Hand nach der steinernen Pforte. Da war es ihm, als hätte er ein Geräusch gehört. Lautlos huschte er durch das Gezweig, erreichte die offene Platte und hätte fast vor Freude laut aufgeschrien, als er die Mädchengestalt gewahrte, die sich mühsam emporarbeitete über den rauhen Grund.

Sie! Sie kam wieder zu ihm! Die vor ihm geflohen in Furcht und Grauen! Unbeweglich verhielt er sich am Rand des Gebüsches und hörte das Mädel mit erloschener Stimme beten: »Lieber Herrgott! Grad noch a bißl Kraft!« Sie quälte sich taumelnd über das Geröll, lehnte sich atemlos an einen Felsblock, hob einen Stein von der Erde und warf ihn hinaus über den Rand des Höllbachgrabens.

Da vermochte sich Ferdl nicht länger zu halten. »Veverl!« jubelte er auf. »Du! Du kommst zu mir!« Mit ausgestreckten Armen sprang er auf das Mädel zu.

»Jesus, Maria!« stammelte sie. »Jetzt is er schon da!«

»Du! Du kommst zu mir!« Ferdl umklammerte ihre eiskalten Hände. »So a Freud! Du! Du kommst zu mir! Wie soll ich dir dös vergelten, du Liebe, du Herzliebe du!«

»So mußt net reden! Net so freundlich und gut! Du hast mir bloß Liebs erwiesen, du hast mich bschützt vorm Wetter, hast mich pflegt und hast mir mein' Fuß wieder gsunden lassen! Und ich bin fort von dir, ohne ›Vergelt's Gott‹! Straf mich, wie d' magst! Aber ihm mußt helfen, für den ich bitten komm. Was liegt an mir! Und wann's um mein Leben geht! Aber er hat Weib und Kinder. Und unschuldig is er. Da leg ich mei' Hand ins Feuer. Du mußt es ja wissen, weil d' alles weißt. Fang mit mir an, was d' willst. Behalt mich bei dir im Berg, ich will net erschrecken und gern will ich's leiden. Aber sei' Unschuld mußt erweisen, daß er wieder heim kann zu seine Kinder, die sich d' Augen ausweinen –« Sie schlug die Hände vor das Gesicht, und ihre Worte erstickten in Schluchzen.

»Veverl! So red doch! Was is denn passiert? Es wird doch mit'm Jörg nix gschehen sein?«

»Ja! Den Jörgenvetter haben s' fort! D' Schandarm sind kommen in der Nacht und haben Haussuchung ghalten. Und a Schleicher wär er, haben s' gsagt. Und haben ihn fortgführt, eini aufs Amt! Und unschuldig is er! Dös war bloß a Bosheit vom Kommandanten. Gestern hat mir d' Mariann verzählt, daß er mich heiraten möcht –«

»Ah, den schau an!«

»Und daß ihm der Jörgenvetter gsagt hat, er soll sich nix einbilden! Dös muß der Vetter jetzt büßen! Heut in der Nacht um elfe is er heimkommen, a schwere Krax auf'm Buckel, und der Kommandant is bei ihm gwesen und der ander Schandarm. Auf der Straß haben s' ihn troffen. Und der Kommandant hat ebbes gsagt von eim Gred unter die Leut und vom Valtl, der auf d' Schandarm allweil spöttelt: ob s' net wüßten, wo der Finkenbauer schlaft, wenn er net daheim is in der Nacht? Der Jörgenvetter is käsweiß gwesen übers ganze Gsicht, und wie man die Kraxen aufrunden hat, sind lauter Schnitzersachen drin. Da sagt der Kommandant, wann der Vetter net ausweisen kunnt, daß die Sachen net einigschmuggelt sind von Tirol, so müßt er ihn fortführen aufs Amt. ›So führts mich fort!‹ sagt der Jörgenvetter. Aber d' Mariann hat gjammert: ›Jörg, Jörg, denk an deine Kinder! Jetzt mußt reden!‹ Kein Wörtl hat er gsagt und hat s' angschaut mit zwei Augen, daß d' Mariann zittert hat am ganzen Leib. Und hat ihm die Kinder gholt, in die Hemderln hat s' es bracht – und dös vergiß ich nimmer im Leben, wie s' ihn fortgführt haben! Und er hat doch gwiß nix Unrechts verübt! Du mußt es ja wissen! Und helfen mußt ihm, helfen!«

»Ja, Veverl! Wer kunnt besser helfen als ich! Aber sag mir, weiß die Mariann, daß du bei mir bist?«

»Um Gotts willen, na!« fuhr Veverl aus ihrer Freude erschrocken auf. »Ich weiß doch, daß bei so was 's Mitwissen von eim zweiten den guten Ausgang verdirbt. Es hat auch kei' Menschenseel erfahren, daß ich schon amal daheroben gwesen bin. Dei' Macht hat's gfügt, daß alle glaubt haben, ich wär auf der Wallfahrt gwesen. Und kein Sterbenswörtl hab ich gredt. Man därf net reden von so was, wenn man's erlebt hat. Sonst wär's aus und gar, und nie nimmer kunnt man –« Erschauernd bedeckte Veverl das Gesicht mit den Händen.

Schweigend stand Ferdl vor ihr. Trotz der Sorge um den Bruder spielte ein Lächeln um seinen Mund.

»Wie s' den Jörgenvetter fortgführt haben, is mein Denken allweil bei dir gwesen. Allweil hab ich mir gsagt: Ich weiß ein', der helfen kann! Und fort bin ich. Und du in deiner Güt, du hast mir's ja schon versprochen, daß d' helfen willst! Ich bitt dich um tausend Gotts willen, hilf! Und wann ich mich selber drum geben müßt.«

An allen Gliedern zitternd, die Hände gefaltet, mit sehnsüchtigen Augen, aus denen die Tränen über ihre blassen Wangen fielen, stand sie im Dämmerschein des ergrauenden Morgens. Da zog er sie an sich, sah ihr froh in die nassen Augen und strich ihr die braunen Zaushärchen aus der Stirn. Sie duldete es und rührte sich nicht.

»Komm, Veverl! Setz dich a bißl nieder! Ich bin gleich wieder da.« Zögernd gab er ihre Hände frei und sprang in die Stauden.

Als er wiederkam, führte er die Ziege an der Hand und hatte das Hansi auf der Schulter sitzen. »Da, Veverl, nimm!« Er reichte ihr den Vogel, nach dem sie unter stammelndem Dank mit beiden Händen griff. Dann schob er die Ziege von sich: »Geh, Zottin! Kennst dich ja aus daheroben! Jetzt kriegst a bessers Leben, als d' es bei mir hast haben können.« Mit feuchten Augen sah er dem gierig grasenden Tiere nach, das ihm durch Monate Geselle seiner Einsamkeit gewesen war. »Komm, Veverl!« Er griff nach ihrer Hand, die sie ihm willig reichte, während sie mit der anderen ihr Hansi an der Brust gefangenhielt. So schritten sie talwärts, dem Ufer des rauschenden Höllbachs folgend.

Die Goldflut der erwachten Sonne lag schon über den Bergen, als die beiden im Tal aus dem Wald hervortraten auf die von dünnem Nebel überzogenen Wiesen.

An einer Stelle, an der sich der Fußweg teilte, blieb Ferdl stehen. Erschrocken sah Veverl zu ihm auf. Ein seltsam bedrücktes Gefühl beschlich ihr Herz.

»Jetzt, Veverl, gehn unsre Weg ausanander!« Seine Stimme war unsicher. »Der deinige geht heim, der meinige geht, wohin der Herrgott will. Morgen soll der Jörg wieder daheim sein bei der Mariann. Und tu net erschrecken, wann d' erfahrst, daß Geister Menschen werden. Pfüet dich Gott!«

Mit beiden Händen hielt er ihre Hand umklammert. Nun wandte er sich und kehrte wieder zu ihr zurück. »Vevi!« brach es dürstend aus ihm heraus. Er riß sie an seine Brust, und seine stammelnden Lippen suchten ihren Mund.

Sie wußte nicht, wie ihr geschah, wußte nicht, daß sie den eigenen Arm um seinen Nacken schlang, hielt die Augen geschlossen und trank unter Schauer und Zittern die heiße Glut dieses Kusses in ihr Leben.

Wer weiß, wie lang die stumme, glühende Zwiesprach' dieser beiden Herzen gedauert hätte, wäre Hansi nicht zwischen Brust und Brust in drückende Gefangenschaft geraten. Mit ungemütlichem Krächzen zerstörte der boshafte Vogel den Zauber des Augenblicks.

Ferdl löste seine Arme, nahm Veverls Köpfl zwischen die Hände und sah sie an mit trunkenem Blick. »Jetzt, Vevi, soll kommen, was mag!« Er drückte noch einen herzhaften Kuß auf ihren Mund und sprang davon, im grauen Nebel verschwindend.

Veverl stand, als wäre sie eine Schicksalsgenossin der Frau Lot geworden. Es lag über ihr wie Rausch und Betäubung. Alles Denken war in ihr erloschen, Gefühl war alles, was in ihr lebte und zitterte: Gefühl des Glückes, Gefühl der Freude. Der Freude? Worüber? Doch wohl darüber, daß der Jörgenvetter wieder heimkehren sollte zu Weib und Kind? Das war beschworen, er hatte das versprochen. Er! Und da fing sie nun doch zu grübeln an. Ob es ihm leicht oder schwer werden würde, des Jörgenvetters Unschuld an den Tag zu bringen? Und welch ein Wort nur war das gewesen? Vom Menschwerden? Aber wie selbstverständlich war der Sinn dieses Wortes! Unter den Herren vom Gericht hatte doch keiner die Königsblume gefunden. Da mußte der Alf aus freien Stücken menschliche Gestalt annehmen, wenn er ihnen auseinandersetzen wollte, wie die Sache mit dem Jörgenvetter wäre. Und nichts, nichts, gar nichts hatte er von ihr zum Dank dafür verlangt. Im Gegenteil, er hatte sie noch mit ihrem Hansi beschenkt und hatte –

Sie schrak zusammen. Alles Blut schoß ihr zum Herzen. Er hatte sie geküßt! Und das wußte sie: Ein Geisterkuß tötet noch in der Stunde, in der man ihn empfangen. Sterben? Sie war so jung! Und die Welt ist so schön, die Berge, das Tal, der Wald, die Wiesen! Und sterben! Aber als sie in der Nacht davongesprungen war, dem Jörgenvetter zulieb? Hatte sie da nicht gleich gedacht, daß es ans Sterben ginge? Was lag an ihr! Der Jörgenvetter war gerettet. Und der Tod, der ihr bevorstand, konnte kein schmerzhafter sein. Das fühlte sie schon jetzt. Es war ihr, sie wußte nicht wie! Doch bevor er käme, dieser gute, leichte, süße Tod, sollte die Mariann noch ihren Trost haben. Da fing sie zu laufen an, daß ihre Zöpfe sich lösten, daß ihr Röckl flatterte und flog.

Im Finkenhof kamen ihr die Kinder entgegengestürmt. Um sich ihren Händen und Fragen zu entwinden, überließ sie ihnen den weißen Vogel. In der Stube traf sie die Mariann. Ganz verstört kam ihr die Bäuerin entgegen.

»Mariann!« jubelte das Veverl. »Mußt nimmer weinen! Es ist schon gholfen. Der Jörgenvetter kommt wieder heim. Morgen! Leicht heut noch am Abend!«

Weshalb lachte denn die Mariann nicht? Weshalb schlang sie nicht in Dank und Freude die Arme um Veverls Hals?

»Jesus, du dumms Madl, was hast denn jetzt angstellt!« klagte die Bäuerin. »Was wird der Jörg dazu sagen! Jetzt is alles umsonst gwesen, alles für nix und wieder nix!«

»Net umsonst, Mariann!« stammelte Veverl. »Einer hat gschworen, daß er helfen will! Der hat noch nie an Schwur brochen. Du kannst net wissen – du kannst dir net denken, wo ich gwesen bin!«

»Aber du Narrle, du! Wo wirst denn gwesen sein! Halt droben am Berg, im Höllbachgraben, beim Jörg seim Bruder, beim Ferdl droben!«

Mauerblaß, mit gläsernen Augen, sah Veverl die Bäuerin an, die des Jammers kein Ende fand: »Und alles umsonst! Dös Wunder, dös ihm gholfen hat aus'm Höllbach, dös traurige Leben im Berg, alles, was mein Jörg um seinetwegen durchgmacht hat, alles, alles umsonst! Und wann s' ihn erst haben, den Ferdl, sperren s' ihn ein, wer weiß, wie lang – daß er's Heimkommen nimmer erlebt! Jesus, Jesus, was wird mein Jörg – – Aber Veverl, um Gotts willen, was is dir denn?«

Veverl gab keine Antwort. Sie stand, die Hände auf die Brust gepreßt, mit weißem Gesicht und erloschenen Augen. Jetzt kam ein Schwanken über ihren Körper. Ehe Mariann die Ohnmächtige auffangen konnte, stürzte das Mädel mit schwerem Schlag zu Boden.

»No also!« stammelte die Bäuerin erschrocken. »Dös hat man von der Geisterei!«


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