Ludwig Ganghofer
Edelweißkönig
Ludwig Ganghofer

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4

Ein großer Raum mit weiß getünchten, niederen Wänden; rechts von der Tür der braun lackierte Geschirrschrank, links der eiserne Ofen, eine rings um die Wände sich ziehende Holzbank, in der Fensterecke das Kruzifix und darunter der lange Lärchentisch – das war die ›Ehhaltenstub‹ im Gesindehaus des Finkenhofes.

Eine trüb brennende Öllampe warf ihr mattes Licht über den Tisch, um den die Dienstboten bei der dampfenden Schüssel saßen. Emmerenz führte den Vorsitz. Neben ihr saßen Valtl und die alte Waben; dann machte Dori sich breit; ihm gegenüber saß die Stallmagd, die beim Essen fleißiger die Zähne zu rühren liebte als die Hände bei der Arbeit; der Schmied, die Hausmagd und der Holzknecht ergänzten die Runde. Niemand sprach; alle Augen hingen an der Schüssel; man hörte nur das Klappern der Löffel und das Geräusch der Zähne.

»Was is denn jetzt dös für an ewige Trampelei mit die Füß unterm Tisch da!« fuhr Emmerenz plötzlich auf und schoß einen wütenden Blick auf Valtl.

Der Knecht duckte das lächelnde Gesicht über den Teller; die alte Waben aber pfiff zwischen ihren Zahnlücken hervor: »Zieh halt deine Füß ein, wann s' der ander streckt. Er wird doch net krämpfig werden müssen wegen deiner Moräulidät! Heut muß dir ebbes net taugt haben, weil gar so heiklich bist.«

»No freilich«, stichelte Valtl, »a grüns Katzl is ihr übern Weg glaufen.«

Die Stallmagd kuderte laut, um zu beweisen, daß sie die Anspielung auf den Jäger gut verstanden hätte. Alle, die am Tisch saßen, guckten sie verwundert an, als wüßten sie über diese bei der Stallmagd seltene Beweglichkeit des Geistes nicht genug zu staunen. Emmerenz, der die Stirn wie Feuer brannte, richtete den zornfunkelnden Blick auf Valtl: »Du, gelt, nimm dich in acht! Dös Katzl hat springende Füß. Wann der Fuchs zur Nachtzeit heimlich aufs Mausen geht, dös vertragt's fein gar net! Kunnt ihm leicht amal auffifahrn auf'n Buckel.«

»Sorg dich net!« erwiderte Valtl. »So a Füchsl versteht sich aufs Abschütteln.«

»Mbäh!« Mit diesem blökenden Laut war Dori von der Bank aufgesprungen, daß der Tisch ins Wanken geriet und die alte Waben vor Schreck den Löffel fallen ließ. Einen kurzen Moment schwebte seine gezückte Gabel über allen Köpfen, dann fuhr sie hinunter in die Schüssel wie der Habicht in das Nest der Wildtaube, und bevor es die anderen sich versahen, hatte Dori mit staunenswertem Geschick den letzten Knödel aus der Suppe herausgestochen und hinter den Zähnen verschwinden lassen. Allgemeines Gelächter. Auch Emmerenz konnte nicht ernst bleiben, obwohl sie, ihrer Stellung als Fürmagd Rechnung tragend, auf den pamfenden Burschen losschalt: »Hättst den Knödel net in der Ordnung nehmen und essen können wie a manierlicher Mensch! Mußt denn allweil in d' Höh fahren wie a Heuschnickl, der damisch worden is!«

»Ah na, weißt«, erwiderte Dori, die Worte aus dem übervollen Mund herausquetschend, »mir geht's wie demselbigen Katzl, ich hab springende Füß!«

»Was! Mitreden willst auch noch!« zürnte Emmerenz. »No siehst es«, fügte sie in vorwurfsvoller Besorgnis bei, als Dori, vom Lachen der andern angesteckt, mit seinem Knödel ins Würgen kam, »da hast es jetzt, du Ruech, du wilder!«

Die alte Waben und die Hausmagd bearbeiteten mit ihren Fäusten den Rücken des Burschen, bis er nach einem hörbaren Schluck erleichtert aufatmete: »Jetzt is er drunt!«

Emmerenz erhob sich vom Tisch und begann das Geschirr zusammenzuräumen, während sich die anderen gemächlich aus den Bänken hervorschoben. »Du«, flüsterte Dori dem Holzknecht zu, »heut beim Heimfahren hab ich mir a neus Betsprüchl ausdenkt. Da paß auf!«

Emmerenz trug das Geschirr zum Schrank; als sie zurückkehrte und Dori, der als der jüngste Dienstbote nach jeder Mahlzeit das Dankgebet zu sprechen hatte, noch immer keine Miene machte, dieser Pflicht nachzukommen, mahnte sie ihn: »Was is denn, Dori? Fang's Beten an!«

Der Bursch schien auf die Aufforderung gewartet zu haben. Hurtig stellte er sich vor dem Tisch in Positur, schlug mit weit ausfahrendem Daumen das Kreuz, faltete die Hände und begann:

»Jetzt hab ich gessen,
Bin noch net satt,
Hätt gern noch was gessen,
Hab nix mehr ghabt.

Der Magen is weit gedehnt,
Der Schnabel ans Fressen gwöhnt,
Drum hungert's mich allezeit,
Jetzt und in Ewigkeit! A–«

›Amen‹, wollte er sagen; aber Enzis flink erhobene Hand sauste dem Dori übers Ohr. Das klatschte!

»Sakra nochamal!« stöhnte der Bub unter dem Gelächter der anderen und verzog den Mund, als möchte er sich überzeugen, ob ihm der Kinnbacken noch richtig im Gelenk säße.

»Hat's ausgeben? Dös is recht!« sagte Emmerenz befriedigt; dann faltete sie die Hände und sprach, die Augen zum Kreuz erhebend, mit ruhiger Stimme das übliche Tischgebet. Verdrießlich brummelte Dori vor sich hin; er mochte sich des glücklich verlaufenen Auftrittes mit dem Finkenbauer erinnern und daneben die Erfahrung halten, daß ein ›tachtelfreier‹ Tag nicht vor dem Abendessen zu loben wäre. Aus diesem Brüten weckte ihn die Stimme der Emmerenz.

»Du Lalle, du unchristlicher!« brummte sie ihn an, als sie an ihm vorüberging.

»No ja«, grollte Dori, »deswegen muß man net gleich dreinschlagen wie der Metzger auf'n Hackstock.«

»Tu dich trösten, Dori«, kicherte eine von den Mägden, »d' Emmerenz hat's heut schon so in die Finger. Gelt, Valtl?«

Der Knecht hatte alle Ursache, diese Frage zu überhören. Um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, wandte er sich mit stichelnden Worten gegen Dori. Der wußte die Spottreden des Knechtes in einer Weise zu erwidern, durch die er die Lacher auf seine Seite brachte; und als ihm schließlich doch der Witz ausging, wehrte er sich mit gesunder Grobheit seiner Haut.

»Da schau!« spottete Valtl. »Wann den Lackel so grob daherreden hörst, möcht sich keiner net denken, wie schmalzig als er an andersmal säuseln kann!«

»Auf dö Stund müßt ich mich bsinnen, wo ich dir a liebs Wörtl hätt geben mögen!«

»Ja, aber gelt, bei der Veverl, da taugt's dir besser, die zuckerne Süßen?«

»Du!- fuhr Dori auf, während ihm brennende Röte in die Backenknochen fuhr. »Zu mir kannst reden, wie d' willst! Mich kannst heißen, was d' magst! Aber 's Veverl bringst mir net in d' Red!«

»Natürlich, von dir laß ich mir fürschreiben, was ich reden soll, du damischer Gispel du, du verliebter!«

»Valtl, ich sag dir's –«

»No also, sag mir's halt, wo der Veigerlbuschen hinkommen is, den im Kammerwinkel aus der Joppen zogen hast? Ich mein allweil, ich hab ihn an der Veverl ihrem Mieder gsehen?«

»Net wahr is! Net wahr is! Net wahr is!« schrie Dori, die Fäuste ballend. »D' Veverl nehmet schon gar keine Blümeln von mir!«

»Glauben möcht man's schier, daß ihr's Grausen ankommt, wann s' dich anschaut, du langohrete Mißgeburt!« fiel Valtl mit Lachen ein; und zu den anderen sich wendend, sagte er: »Gnommen hat s' den Buschen aber doch. Ich hab zugschaut aus'm Stallfenster. Angschmacht hat er 's Madl, wie wann der Mistgockel mit der Schwalben schnabelt.«

Fahle Blässe war dem Dori über das Gesicht geronnen. Mit vorgerecktem Kopf, die langen Arme schwingend, näherte er sich dem Knecht und schnellte sich plötzlich mit katzenartigem Sprung gegen Valtls Brust, der durch die Wucht dieses Stoßes zu Boden gerissen wurde, von Doris Händen gewürgt und gedrosselt. Da verging den anderen das Lachen. Kreischend sprangen sie herbei, um die beiden zu trennen. Emmerenz drängte sich mitten in den staubenden Knäuel, packte den Dori beim Kragen und riß ihn in die Höhe. Fluchend richtete Valtl sich von den Dielen auf und hob schon die Fäuste, um über Dori herzufallen; da öffnete sich die Tür.

Jörg stand auf der Schwelle. Und Emmerenz, als sie das blasse Gesicht und diese verstörten Augen sah, ließ erschrocken den Dori fahren und stotterte: »Um Gotts willen! Bauer! Wie schaust denn aus! Was hast denn?«

Jörg trat tiefer in die Stube. Seine Sprache war rauh, seine Zunge schwer: »Leut! 's Unglück is einkehrt in meim Haus! Mei' Schwester – d' Hanni is verstorben!«

»Jesus Maria!« schrien sie alle durcheinander. Nur Valtl blieb stumm. Die alte Waben hob die Schürze vor die Augen und tuschelte: »Schau, jetzt kommt's auf, wem 's Zügenglöckl golten hat.«

»Is denn dös zu glauben?« stammelte Emmerenz. »Kann denn so ebbes gschehen, so über Nacht? Heut am Abend noch hab ich mich gfreut auf dös liebe Gsichtl. Sag nur, Bauer, an was is s' denn gstorben?«

»Sie is verunglückt. Im Wasser.« Tonlos hatte Jörg diese Worte hervorgestoßen. Alle drängten sich um ihn, in der Erwartung, Näheres über das Unglück von ihm zu hören. Jörg schwieg. Als er sich gewaltsam aus seinem verstörten Brüten aufraffte, irrten seine Augen scheu über die Gesichter, während er hastig sagte: »Morgen in der Fruh, zwischen fünfe und sechse, kommt die Bäurin zruck aus der Stadt. Da muß der Sarg in der Station abgholt werden. Valtl! Du machst den großen Planwagen zum Fahren fertig und deckst ihn mit die schwarzen Tücher zu, die der Herr Pfarrer heut noch schickt. Um drei in der Fruh, da fahrst!«

»Was? Ich soll fahren?« brummte Valtl. »Als Totenfuhrmann hab ich mich net eindingt auf'm Finkenhof.«

Zornröte übergoß das Gesicht des Bauern: »Du!« fuhr er mit bebender Stimme auf. »Du kannst sitzen an mein Tisch und schlafen unter mein Dach? Und so ebbes kannst mir sagen? In so einer Stund?«

Schon wollte er mit geballter Faust auf den Knecht zutreten, als Dori sich ihm in den Weg stellte: »Tu dich net kränken, Bauer! Net wegen dem!« Dabei kugelten dem Buben die Tränen über die Backen. »Mich laß fahren! Ich bitt dich schön! Mir gilt's für an Ehr, Bauer!«

»Ja, Dori, fahr du!« erwiderte Jörg, ganz ruhig geworden. Die Hand über Doris Rotkopf streichelnd, fügte er bei: »Bist a guter Bursch!«

»Und fahren will ich, Bauer – merken müssen's d' Roß, was ich heimführ. Kein Stein soll den Wagen stößen, so will ich fahren!«

Jörg nickte, und immer schwerer wurde seine Hand, die auf Doris Scheitel ruhte. Dann sagte er: »So, und jetzt fangts zum Beten an, wie's Brauch is in eim christlichen Trauerhaus!«

Die Knechte und Mägde ließen sich auf die Knie nieder und stützten die Ellbogen auf die Holzbank, die sich an der Wand entlangzog. Emmerenz sprach mit lauter Stimme das Vaterunser und die Absätze der Totenlitanei, und wenn die Knechte und Mägde antwortend einfielen, hörte man die inbrünstige Stimme des Dori: »Herr, gib ihr die ewige Ruh!«

Regungslos stand Jörg eine Weile inmitten der Stube, die Hände unter dem Kinn verklammert. Als die Litanei zu Ende war und der Rosenkranz begann, schlug er ein Kreuz und ging zur Tür. Aufatmend trat er ins Freie. Da sah er den Valtl auf der Hausbank sitzen, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen. Weder dem Bauer noch den anderen war es aufgefallen, daß der Knecht sich bei Beginn des Gebetes aus der Stube geschlichen hatte. »Valtl!« fuhr es dem Bauer mit drohendem Laut heraus. Er zwang sich zur Ruhe. »Hörst net, daß d' Leut schon beten?«

»Ich bin fürs Arbeiten zahlt und net fürs Beten. Wann aber der Bauer anders glaubt, kann er's ja sagen.«

»Was ich glaub, wirst morgen hören von mir! Jetzt gehst in d' Stub eini!«

»Einischaffen kann mich der Bauer.« Valtl schob die Pfeife in die Tasche und erhob sich von der Bank. »Aber den möcht ich sehen, der mir mit Gwalt 's Maul aufreißt, wann ich's net rühren mag.«

»Halt!« Der Bauer vertrat dem Knecht den Weg zur Tür. »Jetzt laß ich dich gar nimmer eini in d' Stub. Schlafen kannst heut noch in der Kammer droben. Morgen in aller Fruh gehst aus'm Hof. Den Lohn bis Jakobi zahl ich dir aus. Nacher sind wir gschiedene Leut.«

»Is mir auch net zwider!« lachte Valtl. »A Knecht, wie ich einer bin, braucht sich um an neuen Dienst net sorgen. Der Leitenbauer nimmt mich auf der Stell.«

»Ja! Dös is der richtige Herr für dich. Der Schlingenleger!«

»Gelt, Bauer, nimm dich in acht! Es kunnt dir net lieb sein, wann ich hinging zum Leitner und saget ihm, was du ihn gheißen hast.«

»So geh! Er soll mich verklagen! Nacher will ich ihm beweisen, was ich gsehen hab mit eigene Augen.« Jörg wandte dem Knecht den Rücken und ging zum Wohnhaus hinüber, dessen ebenerdige Fenster erleuchtet waren. In der Stube war der Tisch gedeckt; Jörg sah es nicht; kaum vermochte er einen Sessel zu erreichen, so zitterten ihm die Knie; lautlos sank er hin und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Tür zum Nebenraum stand offen; es war das Schlafzimmer des Bauern und der Bäuerin; dann kam die Kinderstube.

Durch die beiden Türen klang ein leiser, schwermütiger Gesang. Veverl sang einen Nachtsegen, der die schlummernden Kinder vor bösem Zauber bewahren sollte. Eine Weile lauschte Jörg; dann sprang er auf; es drängte ihn, seine Kinder zu sehen. Als er die kleine Stube betrat, erhob sich Veverl, den Gesang unterbrechend. »Sing, Veverl, sing!« flüsterte Jörg; und während das Mädel die seltsame Weise von neuem begann, trat er vor das Bett des blonden Lieserls und strich die zitternde Hand über das Ärmchen des schlummernden Kindes; dann zog er sich einen Stuhl vor das Lager seines Buben; während er mit brennendem Blick an dem frischen Gesicht des Knaben hing, horchte er auf den Gesang des Mädels; der linde, innige Klang dieser Stimme tat ihm wohl. Als Veverl den Gesang beendet hatte, wollte sie sich lautlos entfernen; Jörg winkte ihr, das Licht mit fortzunehmen. Sie tat es, und nun saß er im Finstern mit seinen Tränen.

Nach einer Weile guckte das Veverl wieder zur Tür herein und flüsterte: »Jörgenvetter, geh, komm zum Essen, es wird alles kalt.«

Jörg trat in die Stube und setzte sich an den Tisch; doch er sagte: »Trag nur alles wieder aussi. Ich kann nix essen!«

In Sorge betrachtete Veverl den Bauer. »Jörgenvetter, schau, sollst mir doch sagen, was dir fehlt! Mein Vater hat mir viel verraten, was gut is für gache Leiden.«

Jörg schüttelte den Kopf. Brütend starrte er wieder vor sich hin.

Veverl begann den Tisch zu räumen; plötzlich ließ sie die Hände ruhen und hob lauschend den Kopf. »Jörgenvetter«, stammelte sie, »drüben im Ehhaltenhaus, da beten s'. Um Gotts willen, was is denn gschehen?«

Nun sagte er es ihr, fast mit den gleichen, zögernden Worten, mit denen er seinen Dienstboten das Unglück verkündet hatte.

Veverl erblaßte, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen; sie brachte kein Wort heraus.

Ein einziges Mal nur hatte sie die ›Hannibas‹ gesehen; das war im vergangenen Herbst gewesen; da war die Finkenbäuerin mit der Hanni für einen Tag im Waldhaus zugekehrt. Aber für Hanni hatte es keines ganzen Tages bedurft, da hätte eine Stunde genügt, um Veverls Herz zu gewinnen.

Wie hatte Veverl sich in den letzten Tagen auf Hannis Heimkehr gefreut! Und jetzt!

Nun verstand sie auch, warum sie den um das ›Willkommen‹ gewundenen Kranz in der Herdflamme hatte verkohlen sehen.

Stille Minuten verrannen. Immer noch stand Veverl regungslos vor dem Tisch, an dem der Bauer stumm in seinen Schmerz versunken war. Mit zitternden Händen räumte sie das Geschirr zusammen, um es in die Küche zu tragen. Als sie wieder in der Stube erschien, brachte sie ein schmales Brettchen und einen roten Wachsstock. Aus dem dünn gezogenen Wachse schnitt sie kleine Kerzen von verschiedener Größe, die sie der Reihe nach auf das Brettchen klebte, so daß die kürzeste den Anfang, die längste den Schluß bildete. Dabei sprach sie keine Silbe; doch immer bewegten sich ihre Lippen, und in ihren nassen Augen glomm ein schwärmerisch heiliger Ernst.

Jörg ließ sie gewähren, obwohl er den Sinn und Zweck ihres Gebarens nicht verstand. Er mochte sich wohl denken, daß sie wieder einmal einen jener seltsamen Bräuche übe, die der Vater im Waldhaus sie gelehrt hatte. Und was die Kerzen bedeuteten, meinte er aus ihrer Zahl erraten zu können – zwanzig – die Zahl von Hannis Jahren.

Veverl hob das Brettchen auf die schmale Brüstung des kleinen Hausaltars, der im Herrgottswinkel unter dem Kruzifix angebracht war, und während sie mit dem brennenden Wachsstock die Kerzen entzündete, sprach sie leise vor sich hin:

    »Licht is Gottes Gab,
Leben is Gottes Gnad –
Wie du 's Licht uns geben,
Wie du gschaffen das Leben,
Verlöschen Licht und Leben auch,
Herr Gott, vor deinem Hauch.
Aber du thronst in Allgütigkeit!
Und richten tust nach Grechtigkeit!
Herr Gott über Himmel und Höll,
Sei gnädig der armen Seel!«

Bei dem letzten Worte hatte sie die letzte Kerze entzündet. Mit sachtem Hauche löschte sie den Wachsstock, dann kniete sie nieder, in stillem Gebet die Hände faltend; keinen Blick ihrer schwärmerischen Augen wandte sie von den zuckenden Flämmchen. Es währte kaum eine Minute, da war das erste Kerzlein niedergebrannt, und als das bläuliche Licht in dem zerschmolzenen Wachse knisternd erlosch, sprach Veverl mit bewegter Stimme:

»Wie 's Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel, dein erstes Jahr.«

Wieder versank sie in stilles Gebet, und wieder sprach sie, als das zweite Licht erlosch:

  »Wie 's Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel, dein zweites Jahr.«

So brannte Kerze um Kerze nieder, und jedesmal beim Erlöschen eines Flämmchens wiederholte Veverl diesen Spruch mit steigender Zahl des Jahres. Je weniger der Kerzen wurden, desto heißer begannen ihr die Wangen zu glühen, der feuchte Glanz ihrer Augen wurde zum Leuchten, hastiger bewegten sich bei den stummen Gebeten ihre Lippen, ein leises Zittern kam ihr über die gefalteten Hände, und wenn sie ihr Sprüchlein sagte, war es nicht Trauer mehr, da war es fromme Freude, was aus dem Klang ihrer Stimme sprach.

Als die drittletzte Kerze erloschen war, schmiegte sie, keinen Blick von den zwei noch zuckenden Flämmchen wendend, die Wange an die Schulter des Bauern, der lange schon neben ihr auf den Dielen kniete, und flüsterte:

»Jörgenvetter, wie brav und fromm muß d' Hannibas gwesen sein!«

Der Bauer schwieg und starrte zu dem zitternden Lichtschein hinauf, während qualvolle Unruhe sich in seinen Zügen malte.

Anfangs hatte er gleichgültig, dann mit Staunen das Gebaren des Mädchens verfolgt. Die rührende Innigkeit, die aus Veverls Worten sprach, das Mystische des ganzen Vorganges, der Anblick der brennenden Kerzen, deren rötliche Flammen grelle Lichter und zuckende Schatten über das geschnitzte Kreuzbild warfen, das unter diesem Widerspiel von Licht und Schatten zu leben und sich zu bewegen schien – das alles hatte in seinem von Schmerz durchzitterten Gemüt eine Stimmung erweckt, die ihn an die Seite des Mädchens gezogen und niedergezwungen hatte auf die Knie.

Nun wieder erlosch ein Flämmchen, und Freude klang aus Veverls Worten:

        »Wie 's Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel, dein neunzehntes Jahr.«

Sie hatte das letzte Wort noch nicht gesprochen, als sich aus der Höhe des Herrgottswinkels ein leises Rascheln vernehmen ließ. Einer der geweihten Palmzweige, die den frommen Schmuck des Kruzifixes bildeten, hatte sich in der schwelenden Wärme losgelöst, glitt zwischen der Wand und dem Kreuzholz herunter und schlug mit der Spitze auf das Brettchen, die letzte noch brennende Kerze verlor ihren Halt, kollerte über die Brüstung des Altars, erlosch im Fallen und rollte qualmend über die Dielen.

Erblassend sprang das Mädel auf und stammelte, zitternd am ganzen Leib: »Heiliger Himmel! Jörgenvetter! D' Hannibas is net gstorben nach Gottes Rat und Willen! Da ist ebbes Unguts gschehen. Oder a Mensch is schuld an ihrem Tod!«

Jörg erhob sich mühsam. »Wie kannst du denn so ebbes sagen –«

»Sonst wär's letzte Kerzl niederbrennt grad wie die andern!«

»Ah, was, Dummheiten! Die Hitz von die vielen Lichter hat's verschuldet. Da hat sich halt d' Wieden glockert.«

»Um Gotts willen, Jörgenvetter, so mußt net reden!« flehte Veverl, mit Schreck und Angst in den Augen. »Dös Wachs is gweiht am Ostertag! Und 's Kerzengricht lügt net. Da wacht unser Herrgott drüber. Mein Vater hat's gsagt!«

Der Bauer gab keine Antwort.

Weinend bückte sich das Mädel, hob die halbverbrannte Kerze vom Boden auf und legte sie mit zitternder Hand auf den Tisch.

Jörg, in scheuem Zögern, griff nach dem roten Wachs und drehte es hin und her zwischen seinen Fingern; dann warf er es in den Herrgottswinkel. Auf die Holzbank niedersinkend, preßte er das Gesicht in die Hände.

Veverl legte ihm die Hand auf die Schulter. »Jörgenvetter, geh, mußt net weinen«, bat sie, während ihr selbst die Tränen über die Wangen liefen, »so was verspürt die arme Seel, dös tut ihr weh.«

Jörg hob den Kopf. »Geh schlafen! Es ist schon spat. Morgen müssen wir fruhzeitig wieder auf sein.«

»Wie kunnt ich denn schlafen? Laß mich bleiben.«

»Na, liebs Madl! Leg dich schlafen! Und wann du mir gut bist, sagst über d' Hanni zu keim Menschen so a Wort wie grad zu mir! Versprich mir's, Veverl!«

»Ja, Jörgenvetter, ich versprich's!«

Veverl zündete den Wachsstock an, tauchte die Finger in das zinnerne Kesselchen neben der Tür, besprengte Stirn und Brust mit Weihwasser und verließ die Stube.

Lautlos stieg sie die Treppe hinauf und betrat ihre Kammer. Der kleine Glasschrein mit dem wächsernen Jesuskind, der von Goldleisten umrahmte Spiegel, die Schachteln und Schächtelchen und manch anderer Kram, womit die bunt bemalte Kommode bestellt war, verriet, daß ein Mädel die Kammer bewohnte, obwohl sie im übrigen durchaus nicht das Aussehen einer Mädchenstube zeigte. An der Wand hing eine Büchse mit einem Bergsack, und darüber eine Zither, ein Raupenhelm und ein kurzer Säbel. Soldatenphotographien in geschnitzten Rähmchen schmeckten die weißen Wände.

Als Veverl in der Kammer war, öffnete sie das Fenster, das gegen den Garten ging. Dämmeriger Mondschein lag auf dem Gehänge. Über die steilen Wiesen huschte etwas hin, das sich ansah wie ein vor dem Nachtwind treibender Nebelstreif. Veverl wußte das besser: Das war die Hulfrau, die zu nächtiger Zeit im grauen Nebelkleid über die Wiesen schwebt, aus ihrem Wunderkrügl den Tau ausgießend über die durstigen Gräser.

Veverl begann sich zu entkleiden. Schon wollte sie sich zur Ruhe legen, als sie erschrocken vor sich hin flüsterte: »Wie ich nur so was hab vergessen können!« Sie griff nach dem brennenden Wachsstock. Barfuß, in dem kurzen, dünnen Röckl, eilte sie aus der Kammer und hinunter in die Küche. Als sie wieder zurückkehrte, brachte sie eine Schale Milch und weißes Brot. Sie schritt an ihrer Kammer vorüber und öffnete eine Tür.

Leis trat sie in Hannis Stube. Matt erleuchtete das flackernde Wachslicht die mit Schnitzereien geschmückten Wände, den Schreibtisch mit seinem Bücherregal, das weiß verhangene Bett und das Klavier. Veverl stellte, was sie gebracht hatte, auf den Tisch und öffnete die beiden Fenster. Als sie zum Tisch zurückkehren wollte, war es ihr, als hätte aus der Luft heraus eine lispelnde Stimme ihren Namen gerufen. Lauschend stand sie, unter tiefen Atemzügen, und blickte hinaus in das dunkle Gezweig der Kastanie, die vor dem Fenster stand. Sie hörte nichts mehr; und die kühle Nachtluft strich mit sachtem Hauch in die Stube. »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« flüsterte Veverl, die Stirn bekreuzend. Ihre Augen leuchteten, während sie leise sprach:

»Arme Seel, tu dich speisen,
Arme Seel, tu dich tränken,
Dein Weg is lang,
Dein Weg is bang,
Unser Herrgott soll dich führen in Gnad
Und dir sein ewiges Leben schenken.«

Sie stellte die Schale mit der Milch und das weiße Brot auf das Gesims des Fensters, warf noch einen Blick hinaus in das schwarze Gezweig und verließ die Stube.

Als sie die Tür hinter sich abschloß, hörte sie raschen Hufschlag. Sie sprang an das Flurfenster und sah die dunkle Gestalt eines Reiters auf der Straße vorüberfliegen. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der Billwizschneider? Aber nein, der waizt nur um die Zeit der Kornreife, der reitet auch nicht auf einem Pferd, sondern auf einem schwarzem Bock, und es kann ihn nur jener erblicken, der einen grün überwachsenen Maulwurfshügel verkehrt auf dem Kopfe trägt.

Wer war dieser Reiter? Vielleicht der wilde Jäger? Aber nein, der treibt nur in den Freinächten seine gespenstige Hatz, und niemals allein, immer begleitet von seinem lärmenden Gejaid.

Wer war dieser Reiter? Lange noch, als Veverl schon in den Kissen lag, hielt diese Frage ihre Augen wach.

Als sie schlief, träumte sie, die arme Seele der Hannibas säße vor ihrem Bett, das Milchschüsselchen im Schoß, das weiße Brot in den durchsichtigen Händen; sie hatte traurige Augen und hatte sieben blutige Wundmale auf der Brust; als sie gegessen und getrunken, erhob sie sich und beugte sich über das Lager, um das Veverl zu küssen; ein eisiger Hauch entströmte ihren bleichen Totenlippen.

Veverl erwachte. Immer noch spürte sie jenen kalten Hauch auf ihren glühenden Wangen. Es war die Nachtluft, die durch das offene, vom Mondschein hell erleuchtete Fenster strich.

Schon wollte sie wieder die Augen schließen, als dicht unter ihrem Fenster der Hofhund heftig anschlug. Veverl meinte zu hören, wie eine leise Stimme den Namen des Hundes rief, und da wurde das laute Gebell zu freudigem Gewinsel. Sie wollte aufstehen, um aus dem Fenster zu schauen; plötzlich vernahm sie ein Geraschel, das über die Mauer heraufkam, und jetzt – das Mädel erstarrte vor Schreck – erschien im mondhellen Fenster eine Soldatenmütze, ein Kopf mit leichenblassem Gesicht. Schultern und Arme rückten nach, wie kleine Lichter blitzten die Knöpfe des Soldatenrockes, und lautlos zwängte sich der Mann durch das enge Fenster.

Veverl rang in ihrer Angst nach Atem und Worten, ihre Glieder versagten, und ein Gefühl hatte sie, als wäre ihr das Blut zu Eis geronnen. Als die Gestalt sich vom Fenster löste, sprang das Mädel unter gellendem Schrei aus dem Bett und streckte die nackten Arme wehrend vor sich hin.

Erschrocken fuhr der Bursch zusammen und stammelte: »Wer is denn da? Um Gottes willen, Madl, ich bitt dich, sei stad, sei stad!« Er machte einen raschen Sprung in das Dunkel der Kammer und haschte die Arme des Mädels, das unter schrillenden Hilferufen zur Tür flüchten wollte.

Veverls Schreie erstickten unter der Hand, die sich auf ihre Lippen preßte, und ihre ringenden Kräfte erlahmten unter dem Druck des Armes, mit dem der Bursch ihren zitternden Körper an seine Brust geschlungen hielt. Die Sinne drohten ihr zu vergehen, aber neu erwachten ihr die Kräfte, als sie die Schritte vernahm, die draußen über die Treppe heraufjagten. Es gelang ihr, das Gesicht zu befreien, und gellend schrie sie: »Jörgenvetter! Hilf! Hilf!«

An der Tür rasselte die Klinke, der Riegel brach, das Eisen klirrte auf die Dielen, und Jörg erschien auf der Schwelle im Schein des Kerzenlichtes, das draußen auf der Treppe stand.

Da gaben die Arme des Burschen das Mädel frei, das taumelnd in eine Ecke flüchtete, zitternd vor dem Kampf auf Leben und Tod, der zwischen den beiden nun beginnen mußte. Und sie wußte sich kaum zu fassen und meinte zu träumen, als sie gewahrte, was geschah.

»Jörg! Jörg!« stammelte der Bursche und sprang dem Bauern entgegen. Und Jörg umklammerte ihn mit beiden Armen: »Ferdl! Bub! Mein armer Bub!« Sie hielten sich stumm umschlungen.

Endlich richtete Jörg sich auf, mit der Faust die Augen trocknend. »Jesus Maria! Ferdl, komm!« Er zog den Bruder mit sich hinaus über die Schwelle, und hinter den beiden fiel die Tür zu.

»Jörg! Wer is denn in meiner Kammer?«

»'s Veverl, von der ich dir gschrieben hab, 's Bruderkind von der Mariann. Aber Ferdl, um Gottes willen, wie schaust du aus!«

»Wie ich halt ausschauen muß! An Tag und zwei Nächt auf solche Weg, daß mich kein Mensch net sehen hat können, gradaus über alle Berg! Jörg, Jörg, du weißt noch net alles, du weißt net –«

Die Stimme erlosch im Geräusch der Schritte, die über die Treppe hinunterstiegen.

Eine Tür noch hörte Veverl gehen, dann vernahm sie nichts mehr, nur noch das hämmernde Pochen ihres geängstigten Herzens.

Noch immer kauerte sie im Hemd auf den Dielen, zitternd und schaudernd. Wirre Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopf. Kein Räuber, kein Einbrecher war das gewesen, sondern der Bruder, der Stolz und die Freude des Jörgenvetter, der Ferdl, den sie in ihrem Leben noch nie gesehen, von dem sie aber seit ihrer Ankunft im Finkenhof täglich hatte sprechen hören, und immer in einer Weise, daß die Mariann oft in scherzender Eifersucht gesagt hatte: »Ja, der Ferdl! Wann der kommt, ist's aus mit'm Jörg, da gelten wir alle mitanander nix mehr!«

Weshalb nun war er nicht am Tag gekommen, auf offener Straße? Warum in der Nacht, durch das Fenster, wie ein Dieb? Oder wie ein Flüchtling? Was hatte er zu fürchten, daß er Wege gehen mußte, auf denen ihn kein Mensch erspähen sollte? Was konnte der Ferdl verbrochen haben, für den doch, wenn auf ihn im Finkenhof die Rede kam, das beste Wort nicht genug schien? Oder war dieses Unverständliche nur ein Ausfluß der Verstörtheit, die der Tod der geliebten Schwester über ihn gebracht haben mußte? Denn mit diesem jähen Tod, da war nicht alles in Ordnung. Das hatte das ›Kerzenlicht‹ verraten. Und vielleicht wußte der Ferdl um alles, was da nicht in Ordnung war?

Bei diesem Gedanken suchte Veverl sich auf die Züge des Burschen zu besinnen. Sie hatte nur eine verschwommene Erinnerung an das blasse Gesicht, dem die Stoppeln des dunklen Bartes ein verwildertes Aussehen gaben und das ihr in aller Angst, die sie ausgestanden, wie ein entsetzenerregendes Schreckbild erschienen war. In Wahrheit hatte der Ferdl doch gewiß ein gutes, freundliches Gesicht? Das konnte sie sich gar nicht anders denken. Wie töricht war ihre Angst gewesen! Er war wohl ebensosehr vor ihr erschrocken wie sie vor ihm. Er hatte nicht wissen können, wen er in der Kammer finden würde. In seiner Kammer! Und als er sie gehascht hatte, um sie in seinen Armen, an seiner Brust gefangenzuhalten – –

Bei diesem Gedanken, den sie nicht zu Ende dachte, durchzuckte ein wunderlicher Schreck ihre kindliche Seele. Jetzt erst kam sie zum Bewußtsein der verschärften Schwierigkeit, in die sie da geriet. So, wie sie aus dem Bett gesprungen, hatte sie vor den Augen des jungen Mannes –

Sie schauerte zusammen und fühlte, daß ihr bei allem Frösteln das brennende Blut in die Wangen schoß. Erschrocken wich sie in die dunkle Ecke zurück, um dem hellen Mondlicht auszuweichen, das ihr über die Dielen nachgeschlichen war. Sie hätte sich am liebsten vor sich selbst verstecken mögen. Zitternd schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach in Schluchzen aus. Es währte lange, bis ihre Tränen versiegten. Dann stand sie auf und begann sich anzukleiden; sie wußte kaum, daß sie es tat, noch warum sie es tat. Als sie angekleidet war, stand sie unbeweglich inmitten der Kammer. Aus der Stube herauf hörte sie die Stimmen der beiden Brüder. Sie wollte nicht lauschen, wollte die Tür schließen. Der Riegel war abgesprengt, und die Tür blieb nicht in den Fugen.

Veverl setzte sich auf den Rand ihres Bettes.

Drunten im Hof war immer das Heulen und Bellen des Hundes, der an der Haustür scharrte. Nun hörte Veverl, wie Jörg in den Flur trat, um das ungeduldige Tier einzulassen, das mit freudigem Gewinsel in die Stube sprang. Sie hörte, wie der Vetter das Haus verließ, und ein Geräusch verriet ihr, daß er vor den Stubenfenstern die Läden schloß. Eine stumme Weile verstrich, dann wieder ließen sich die Schritte des Bauern vernehmen, zwischen Stube und Küche. Jetzt schrak sie zusammen. Nein, das waren nicht die Schritte des anderen, es war der Schritt des Bauern, der über die Treppe heraufkam.

Jörg trat ein, ohne Licht. Veverl fühlte, wie die Hand zitterte, die sich schwer auf ihre Schulter legte. »Arms Dingl, bist arg erschrocken?« fragte er. Hätte Veverl den Jörgenvetter nicht genau gekannt, sie hätte glauben müssen, ein Fremder stünde vor ihr. So verändert und tonlos klang seine Stimme. »Aber gelt, Veverl, bei deiner Lieb zu deim seligen Vater, verrat keim Mensch was von dem, was d' erlebt hast heut in der Nacht. Du därfst den Ferdl net gsehen haben, mit keim Aug net! Gelt, du verstehst mich? Und mußt dir nix Args net denken. Unglück is alles.«

Der Kummer, der aus dieser zerbrochenen Stimme sprach, tat ihr in tiefster Seele weh. Sie konnte keine Antwort geben und nickte nur. Jörg riß einen der Schränke auf, die in der Kammer standen, belud seinen Arm mit Kleidungsstücken und eilte davon.

Veverl saß auf dem Bett. Es lag über ihr wie eine Lähmung. Ob es Minuten, ob es Stunden waren, die ihr so verstrichen, sie wußte es nicht; und da hörte sie plötzlich Tritte auf dem Kiesweg knirschen, der unter ihrem Fenster vorüberführte. Erschrocken sprang sie auf das Fenster zu, um die Scheiben zu schließen, und hörte im Garten eine flüsternde Stimme: »Er isch drin, er isch drin!«

Ein einziges Mal nur hatte sie diese Stimme gehört; dennoch wußte sie gleich, wer das war, und hatte dabei auf ihrer Wange ein warnendes Nachgefühl der kneifenden Weißwurstfinger. »Jesus!« stammelte sie und huschte aus der Kammer, hinunter über die Treppe. Atemlos, pochenden Herzens, blieb sie vor der Stubentür stehen, weil sie die Stimme hörte, die da drinnen redete:

»Und er grad! Er! Dem ich so gut war! Für den ich mein Leben hätt geben können! Aber im ersten Zorn, da hat's mich packt, daß ich nimmer gwußt hab, was ich tu! Und erst, wie er dagelegen is vor mir, und 's Blut is an ihm niedergronnen –«

Mit schaudernden Sinnen taumelte Veverl in die Stube.

Jörg stürzte ihr entgegen, als wollte er sie wieder zurückdrängen über die Schwelle, aber das verstörte Aussehen des Mädels mußte ihn vermuten lassen, daß etwas Unerwartetes geschehen wäre. »Madl? Um Gotts willen, was is denn?«

Veverl wagte die Augen nicht zu erheben; zitternd stand sie und sagte dem Jörgenvetter, was sie gehört hatte.

»Ferdl!« keuchte der Bauer. »Fort! Da is der Rucksack, alles is drin, Geld, Gwand und Essen! Verhalt dich an keim Platz net, morgen am Abend mußt du über der Grenz sein! Furt! In die hintere Stuben und durch d' Milchkammer aussi!«

Veverl brachte die Augen nicht von den Dielen los. Sie hörte nur, wie Ferdl hinter dem Tisch hervorsprang, wie er nahm, was der Bauer ihm reichte, und sich dem Bruder an den Hals warf.

»Fort, Bub! Fort!« Das war das einzige Wort, das Jörg noch über die Lippen brachte, während er den Bruder hinausriß über die Schwelle. Mit Gewinsel sprang der Hund den beiden nach in den finstern Flur.

Die Schritte verstummten; dann war es still im Haus.

Veverl, der die Knie versagten, wollte sich neben dem Fenster auf die Wandbank niederlassen. Aufkreischend fuhr sie zurück. Unter schweren Faustschlägen dröhnte der Fensterladen, die Stimme fast übertönend, die draußen im Hof den Namen des Bauern rief.

Angstvoll starrte das Mädel um sich her. Da sah es den Jörgenvetter unter der Tür erscheinen. Seine Augen brannten, und fahle Blässe bedeckte sein Gesicht. Er schien es nicht zu hören, als am Fensterladen die hallenden Schläge sich wiederholten. Den Kopf über die Schulter zurückgeneigt, lauschte er in die Tiefe des Hauses. Jetzt hob ein Atemzug seine Brust.

Zum drittenmal dröhnte der Fensterladen unter heftigen Schlägen.

Jörg richtete sich auf und trat in die Mitte der Stube. »Was gibt's da draußen? Wer will was von mir? jetzt in der Nacht?«

Vor dem Fenster wurde ein kurzes Wispern hörbar, dann ließ eine fremde, scharf klingende Stimme sich vernehmen: »Georg Fink! Im Namen des Gesetzes! Öffnen Sie die Türe!«

Jörg nahm die Lampe vom Tisch. Ihre gläserne Glocke klirrte, so heftig zitterte seine Hand, als er die Stube verließ.

In der Finsternis tastete Veverl nach der Bank. Es brachen ihr die Knie. Draußen rasselte der Riegel, die Tür knarrte, und Veverl hörte den Jörgenvetter sagen: »Die Tür is offen! Aber eh wer an Fuß zu mir ins Haus setzt, möcht ich wissen, was dös alles zu bedeuten hat? Was will a Schandarm in der Nacht bei mir im Haus?«

»Nix für ungut, Finkebauer, nix für ungut!« klang die sprudelnde Stimme des Kommandanten. »'s ischt wägerle für mich selber das Allerärgste, was mir hätt passiere könne! Aber gegen die eidesgeschworene Berufspflicht kann die Freundschaft älleweil net aufkomme. Das ist eine verfluchte Geschichte! Da, sehe Sie selber, da ischt dieser Herr reitende Schandarm, der mir den allerstrengsten Befehl überbracht hat – und dessetwegen – es wäre am beschte, wenn sich der Finkebauer net sträube möcht. Die Haussuchung wird in aller Still und Ordentlichkeit vorgenomme werde. Ich bin überzeugt, daß net das geringste z'finde sein wird. Der Finkebauer ischt überall und älleweil bekannt als e rechtlicher Mann!«

»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, wurde Herr Wimmer von jener fremden, scharf und ungeduldig klingenden Stimme unterbrochen. »Georg Fink, ich fordere Sie auf, mir anzugeben, was Ihnen über den gegenwärtigen Aufenthalt des Unteroffiziers Ferdinand Fink bekannt ist, der sich vor zwei Tagen widerrechtlich von seinem Regiment entfernt hat und im Verdacht steht –«

Die Stimme verstummte. Heiser klaffendes Gebell scholl von der Gartenseite des Hauses. Jetzt erlosch das Gebell mit einem kurzen Heulen. Dann kamen hastige Schritte um die Hausecke.

»Herr Kommandant, ich muß melden, drin is er gwesen, drin im Haus, und durch 'n Garten hat er fort wollen. Ich hab ihn gleich erkannt, an der Uniform, an der ich die Knöpf hab blitzen sehen. Aber wie ich ihm nach will, fallt dös Hundsvieh über mich her. Und natürlich, bis ich mir Luft geschafft hab –«

Ein dumpfer Schlag, dem ein schmetterndes Klirren folgte, übertönte die Stimmen und die davoneilenden Schritte der Gendarmen.

Jammernd stürzte Veverl in den Flur und sah den Jörgenvetter neben der zerschellten Lampe wie leblos hingestreckt auf den Steinen liegen. Während sie sich an seiner Seite niederwarf, füllte sich schon die Tür mit den schreienden Mägden und Knechten. Emmerenz erschien mit einem Licht. Allen anderen voraus drängte sich Dori: »Veverl! Um aller Heiligen willen! Veverl! Dir wird doch nix geschehen sein?«

»Hilf, Dori, hilf, hilf!« schluchzte das Mädel. »Da schau, der Jörgenvetter!«

Draußen vor der Tür ließ sich Valtls Stimme vernehmen: »Sauber! Schandari und Haussuchung! Und a Spitzbub unterm Dach. Da kann sich der Finkenbauer sein' Kampel scheren lassen. Goldfink? Ja, schön, ›beim Mistfink‹ sollt man's heißen auf dem Haus.«

Emmerenz war in die Küche gerannt, um Wasser zu holen. Ehe sie zurückkehrte, schlug Jörg die Augen auf. Wie ein Irrsinniger blickte er um sich; Dori und Veverl stützten ihn, als er sich aufrichtete; wortlos winkte er den Knechten und Mägden zu, daß sie sich entfernen möchten, duldete aber, daß ihn der Dori in die Stube führte. Als Veverl den beiden folgte, sah sie die Tür des Nebenzimmers offen; auf der Schwelle stand Pepperl im Hemd und rieb sich mit den kleinen Fäusten die verschlafenen Augen. Sie brachte den Knaben in seine Kammer zurück; eine Weile redete das schlaftrunkene Bürschl vom ›Haßl‹, der gebellt hätte, und von einem ›fürchtigen Kracher‹, dann drückte er gähnend das Köpfl in die Kissen und schloß die Augen.

Schon wollte Veverl die Kammer verlassen, da rief ein schüchternes Stimmchen ihren Namen. Veverl ging zum Bett des kleinen Liesei und sah das Kind mit offenen Augen liegen. »Schatzerl, warum schlafst denn net?« stammelte Veverl und kniete vor dem Bett auf den Boden hin.

Das Kind schlug die Ärmchen um Veverls Hals. »Du, Veverl, jetzt hat mir grad vom Edelweißkönig träumt. Ich hätt sein Königsblüml gfunden, hat mir träumt. Und nacher is er kommen, ja, und grad so blaue Augen hat er ghabt und braune Haar, als wie der Ferdl hat. Und so viel gut und freundlich is er gwesen, gar net zum Fürchten. Aber Veverl, was hast denn? Weswegen weinst denn jetzt?«

Die herzliche Frage blieb ohne Antwort. Veverl drückte das Gesicht in die Kissen, um das Schluchzen zu ersticken, unter dem ihr Körper zuckte. Da fing auch das Kind zu weinen an, und so hörten die beiden nicht, wie draußen in der Stube die Tür ging und Dori mit erloschener Stimme berichtete:

»Kei' Menschenseel is zum Derschauen! Hint im Garten liegt der Haßl im Gras. Den haben s' mit'n Bankanett derstochen.«


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