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VI.

Einem warmen, feuchten Frühling folgte ein bleischwerer Sommer.

Sankt Medardus, der bewährte Bischof der Tauben und des Regens, hatte in diesem Jahre einen klaren, heißen Himmel gebracht, und wenn schon kurz darauf, am Sonntage nach Fronleichnam, ein hitziges Gewitter über das Tal niederging, so wurde das Orakel des entscheidenden Lostages damit keineswegs Lügen gestraft.

Im Gegenteil, dieses Gewitter blieb für lange Wochen das letzte. Anfänglicher Kühlung und einigen flüchtigen Nachschauern folgte kräftige Hochsommerwärme, und als mit Sankt Peter und Paul die erste Mahd in der Hauptsache trocken geborgen war, steigerte sich die gesunde Hitze zu weißblendender Glut. Aus verhältnismäßig frischen Nächten gebaren sich südliche Morgen, und aus diesen stiegen brennende Mittage empor. Die Luft flammte, und die schönen Roßkastanienbäume am sauber eingemauerten Ufer des Sanktrainer Baches, die zwischen der Wiesnerschen Eisenhandlung und dem Gsellschen Barbierladen Grün und Schatten über den Marktplatz verbreiteten, ließen betrüblich ihre staubgrauen Blatthände hangen.

Die Wallfahrtskirche prangte im Schmucke neuer Vergoldungen und Farben. Zur Auffrischung der Bilder war eigens ein Künstler aus der Großstadt gekommen, der die alte, dunkle, zersprungene Leinwand der Gemälde so schonend verjüngt hatte, daß trotz erhöhter Farbenglut der goldbraune Edelfirnis des Weihrauchs und der Jahre keineswegs verloren gegangen war.

Die Orgel hatte der Herr Dechant von Herrn Doktor Benedikt Siebenschein durchprüfen und von einem gewiegten Meister ausbessern lassen.

Der Kalvarienweg, an dessen geschichtlich so wertvoller Galerie natürlich auch nicht eine Eisenzwinge verrückt werden durfte, zeigte sich wenigstens im Stolz blendendweißen, salzkornfeinen Gartenkieses.

Zimmerleute, Schreiner, Schmiede, Schlosser und Maurer arbeiteten schon seit mehreren Wochen an den großen Sieges- und Ehrenpforten, die sowohl die beiden Zugänge des Marktfleckens als auch den Beginn des Gnadenweges zieren sollten. Ein Architekt, dessen Entwürfe und Voranschläge unter vielen anderen den Beifall des Herrn Dechanten gefunden, leitete das Werk.

Herr Falzinger hatte neben verschiedenen Ansichtspostkarten auch eine nach Zehntausenden zählende Neuauflage der Lebensbeschreibung des Heiligen verlegt, und P. Sebaldus Weinzierl hatte zu eben diesem Zwecke den Text der früheren Ausgabe gründlich umgearbeitet, namhaft erweitert und mit manch einem frischen Legendenblümlein verziert.

Die Herren Stanzer und Gattlinger, von denen der erstere neben Sensenklingen, Spaten und Kuhketten auch Peitschenstiele, Kaffee, Petroleum, Wagenschmiere und Schnittwaren führte, während letzterer ausschließlich Garne, Loden, Samte, Knöpfe und Kattune vertrieb, hatten sich mit je etlichen hundert Metern Fahnentuch in den Reichs-, Landes- und päpstlichen Farben versorgt.

Angehend den Herrn Gattlinger, so hatte dieser mit weitem Blicke sich auch an Musselinen, Battisten, Spitzen und Weißwirkwaren auskömmlich gedeckt. Der Besuch des Kirchenfürsten galt ja nicht allein dem Grabe des großen Wundertäters, sondern auch – wenn schon in gewissem Abstande vom Hauptzweck – der heranreifenden Jugend von Sanktrain und Umgebung. Neben den Firmlinginnen, die unter so hohen Auspizien das Sakrament des heiligen Geistes zu empfangen sich glücklich schätzen durften, waren aber auch noch die Ehren- und Begrüßungsjungfrauen in die Spekulation einzustellen.

Aus der Mädchenblüte des Marktfleckens hatte man längst zwölf anmutige Blumen auserwählt, und es war nur der giftgrüne Neid der Zurückgewiesenen, der da mit mehr Leidenschaft als Sachlichkeit behauptete, die Wahl sei nicht so sehr von ästhetischen und sittlichen als von gesellschaftlichen und politischen Rücksichten beeinflußt worden.

Unter den Auserlesenen befand sich an erster Stelle Fräulein Hulda Herzl, die Einzige des Bürger- und Gerbermeisters, die von früher Schulzeit an schon immer einen Stich ins Poetische gezeigt und aus Anlaß einer gereimten Huldigungsansprache an den eröffnenden Statthalter noch eine wesentliche Vertiefung dieses Geburtsfehlers erfahren. Seitdem war Fräulein Hulda für die strengkleinbürgerliche Häuslichkeit ihres Vaters gänzlich verloren, sie wurde zu Herrn Falzingers lebhaftester Kundin, machte die waldige Umgebung ihrer Heimat mit blaßrosaroten Reclamheftchen unsicher und führte mit Herrn Paul Gattlinger, dem Septimaner und zukünftigen Philosophen, bedeutende Gespräche über Lebensinhalt und seelische Kultur. Auf Grund solcher Vorkenntnisse war der Vortrag des sechsstrophigen Begrüßungskarmens ohne langes Schwanken Fräulein Huldas bewährtem Gedächtnis und sicherem Geschmack anvertraut worden.

Angehend dieses Karmen, so hatte es keinen Geringeren als Herrn Dietrich Zeisinger, den Leiter der Bürgerschule, zum Verfasser. Es bewegte sich in stolzen Oktaven, welche Strophe Herr Zeisinger nach reiflicher Überlegung die würdigste, solchem Zwecke angemessenste und außerdem durch hohe Vorbilder am meisten ausgezeichnete erfunden. Die Notwendigkeit dreifacher Reimpaare bereitete dem Verfasser mehrerer von Schülern und sonstigen Dilettanten aufgeführter Festspiele wenig Sorge. Betreffend Herrn Zeisinger, so hieß er zwar und eigentlich Theodor; aber aus der jedem dichterisch veranlagten Schulmanne verzeihlichen Begeisterung für altgermanische Götter und Helden hatte er seinen hellenischen Namen beziehungsreich in Dietrich verteutscht.

Allein es erschöpften sich Herrn Bürgerschulleiters Zeisinger Beiträge zum Festprogramm keineswegs in jenen sechs achtzeiligen Strophen, sondern der Verfasser mehrerer von Schülern und sonstigen Dilettanten aufgeführter Spiele führte über diese achtundvierzig Verse hinaus Größeres im Schilde.

Unter Zugrundlegung der von Herrn Falzinger verlegten Lebensbeschreibung des Heiligen aus der Feder des Herrn P. Sebaldus Weinzierl war ein Weihe-, Gedächtnis-, Passions- und Andachtsspiel in fünf Bildern entstanden, die dramatisierte Biographie des Wundertäters, für die denn auch schon ein stattlicher Schauplatz aufgezimmert wurde, nachdem Plan wie Ausführung den lebhaften Beifall der Herrn Dechant Hetz und P. Sebaldus Weinzierl gefunden. Letzterer versprach sogar die Regie zu übernehmen, und bei der tiefen Gelehrsamkeit dieses gründlichen Forschers lag die Kostüm- wie Dekorationsfrage gewißlich in besten Händen.

Einige Schwierigkeiten bereitete die Wahl des Festspielplatzes.

Bequemlichkeitsgründe empfahlen es, die Schaubühne in erreichbarer Nähe, etwa auf dem geräumigen Hauptplatze selbst, aufzuschlagen. Allein solch erniedrigende Verjahrmarktung seines Werkes widersprach dem Geschmacke und den Absichten des Verfassers. Von beherrschender Höhe sollten die ungereimten, vierfüßigen, da und dort beziehungsreich allitterierenden Trochäen über das Tal hinrollen; auf erhabener Höhe, gleich der Wallfahrtskirche selbst, mitten in der freien Natur, in der Nachbarschaft des lauschigen Grün der ragenden Wälder, in die der Heilige sich voreinst geflüchtet, sollte das Sanktrainer Festspielhaus der Muse ein Sommerheim bieten.

Da fügte es sich gut, daß der Stern- und der Bärenwirt für ihre Darbietungen ganz ähnliche Kulissen suchten und den Abbau ihrer zeitgemäß erweiterten Kellerbestände gleichfalls durch geschmack- und stimmungsvolle, anregende und würdige Umgebung zu fördern trachteten. Auch sie legten Wert auf das lauschige Grün der ragenden Wälder und bauten die Sommertempel ihrer Götter ganz einfach in die herrliche Natur hinein: in bescheidener Nachbarschaft der Wallfahrtskirche, so daß zwischen dieser und ihren Gnadenstätten zwar nicht eben ein aufdringlicher Zusammenhang bestand, die Gesamtlage aber den durstigen Pilger doch auf eine gewisse organische Einheit der auf der Hügelkanzel befindlichen Baulichkeiten und auf den dieser Erscheinung zugrunde liegenden inneren Kausalnexus aufmerksam machen mußte.

Allerdings wurde durch diese Unternehmungen der sogenannte Heiligenwirt, der schon seit Menschengedenken auf dieser Höhe ein untergeordnetes doch schnellflüssiges Schankgewerbe betrieb, schwer gefährdet, und der Heiligenwirt verlegte sich sogar auf Widerstand gegen diesen Einbruch in seine uralten Rechte, maßen der Stern wie der Bär aus diesem Sommer ohnehin das meiste Licht und den fettesten Braten davontragen würden. Allein die Beschwerde brachte nicht den erwünschten Erfolg; Stern wie Bär setzten sich gegen den kleinen Mann durch und im befruchtenden Schatten der Wallfahrtskirche fest, und angehend Herrn Zeisinger, so sah sich dieser durch das gegebene Beispiel veranlaßt, den Anstich seines Weihfestspiels mit den Uraufführungen unterschiedlicher Münchener und Pilsener Kunstwerke in nützliche Wechselwirkung zu bringen, derart, daß seine Bühne zwischen den beiden Sanktrainer Traiteuren sozusagen vermittelte und der vom freien Himmel überdachte Zuschauerraum allen ein Absatzgebiet bot. So hallte die Höhe des Kanzelhügels, auf dem vor einem Jahrtausend der Sankt Einsiedel in seiner Zelle gehaust, wider von schnarchenden Sägen und zischenden Hobeln, und in den würzigen Kienduft der Wälder mischte sich der scharfe Ruch des neuzeitlichen Karbolineum.

Die Besetzung der Rollen hatte Herrn Zeisinger manche heiße Nacht bereitet. Da traf es sich gut, daß der Direktor der winterüber im benachbarten Städtel mimenden Truppe von der bevorstehenden Sanktrainer Aktion Witterung erhielt und noch vor Schluß der Spielzeit mit Herrn Zeisinger in Fühlung trat – als Ergebnis welcher Verhandlungen ein junger Histrione gegen mäßigen Entgelt seine Sommerzelte in Sanktrain aufschlug. Dieser hoffnungsvolle junge Mann, der in den Rollen des armen Jonathan und des Jaromir unter den Herzensbeständen des Städtels schon namhafte Verwüstungen angerichtet, sollte den Werdegang des großen Wundertäters von den Anfängen in der Klosterschule bis zu den seligen Verzückungen der Wildeinsamkeit tragieren, nebenher aber auch die Spielleitung versehen. Vorläufig bewohnte er ein Hinterstübchen im Gasthofe zum Bären und erregte durch seine Aufnahmefähigkeit berechtigtes Aufsehen.

Als Partnerin war ihm Fräulein Hulda Herzl zugedacht; sie hatte in mehreren Rollen aufzutreten, was ihr weniger Sorge als Stolz bereitete. Im ersten Bilde erschien sie als Mutter des vielversprechenden Knaben, als Gräfin von hochklingendem Namen, der unmittelbar die Vorstellung eines steil aufjachenden Burgfelsens und einsamer Strohwitwentage erwecken mußte. Im zweiten Bilde nahte sie sich dem zukünftigen Heiligen als Weib, das Weib schlechthin, die erste und einzige Liebe und Klippe, als Hindernis und gleichzeitig Ursache der großen Lebenswende. Im dritten Bilde schmeichelte sie sich dem Klausner als die Verführung an, als Geist der Welt, als Schlange des Paradieses, als Ischtar oder Thais, freilich ohne den von ihrem höllischen Herrn und Gebieter gewünschten Erfolg. Im vierten Bilde versinnbildlichte sie die himmlische Gnade, die Himmelskönigin selbst, die Genie der überirdischen Liebe, die dem sieghaften Helden zum Lohne seiner inbrünstigen Psalter und Balsam seiner Geißelwunden den Ölzweig überreicht. Im fünften Akte endlich erschien sie ihrem Schützling, ihn von der Qual des Erdenstaubes zu erlösen und seine Seele mit sich ins ewige Licht emporzuführen: da der Sankt Einsiedel auf seinem tief ausgeknieten steinernen Betstuhl vor Erschöpfung und Alter eingeschlafen, berührt sie ihn mit segnender Hand, und der Schlummer mündet ins Meer hinaus … Fräulein Hulda kannte ihre fünf widerspruchsvollen Rollen längst auswendig, bis in jeden Beistrich hinein; Herr Othmar Waldenburg, ihr Partner vom Beruf, kannte noch nicht einmal die Beistriche. Dies hinderte aber Fräulein Hulda Herzl nicht, mit Herrn Othmar Waldenburg bedeutende Gespräche über Lebensinhalt und heimatliches Unverständnis für höhere Kulturbedürfnisse zu führen, und als Herr Paul Gattlinger junior nach halb abgelegter Reifeprüfung in das Vaterhaus zurückkehrte und seinen Platz besetzt fand, geriet er in solchen Grimm, daß er die heißen Sommerwochen wirklich auf gründliche Vertiefung seiner als unzureichend befundenen Kenntnisse des Gay-Lussacschen Gesetzes und der Ampereschen Schwimmregel verwendete …

Dagegen wandelte Herr Bürgerschulleiter Zeisinger hocherhobenen Hauptes einher. Alles lag in den besten Händen; den Abt des Klosters, dem der zukünftige Sankt Einsiedel als hoffnungsvolles Wunderkind übergeben wird, hatte er selbst über die Bretter zu führen unternommen; in die Kostümfrage teilten sich die Herren P. Sebaldus Weinzierl und Gattlinger, so daß auch hier das schöne Wort von der Wechselwirkung zwischen Kunst und Handel sich bewahrheitete. Die Uraufführung würde über Seine Eminenz den Fürsterzbischof und die sonst erscheinenden Prälaten und Würdenträger sich entladen, und wohin dies alles noch führte, war völlig ungewiß. Vielleicht bis zum Vatikan, vielleicht bis zu einer Großstadtbühne: – Herr Zeisinger trug den Kopf im Nacken, die Hand im Rockschluß, und seine Schüler hatten in den letzten Lehrwochen gute Zeiten.

* * *

Soweit zeigte sich die Vorbilanz der Sanktrainer Tausendjahrfeier von allen Seiten im schönsten Licht.

Man durfte zufrieden sein. Alle Erwerbszweige trugen verheißungsvolle Knospen, die einen noch nicht dagewesenen Fruchtsegen versprachen.

Alle Stände und Berufe standen hier an der Schwelle eines Ereignisses, das für Sanktrain gleichsam eine neue Zeitrechnung eröffnen und über dieses Tal das Licht eines bethlehemitischen Kometen verbreiten würde.

Der Herr Apotheker erfand noch rasch einen Magenbitter und einen Bandwurmtrank, der den Heiligen in seiner vielbeanspruchten Wunderpraxis bescheiden unterstützen und zu seinem Ruhme beitragen mochte.

Herr Falzinger mauerte ganze Festungen von Ansichtskarten in seinen Magazinen auf und erweiterte sein bescheidenes Lager um das Zehnfache, in welchem Nachschub von den frommen Veröffentlichungen katholischer Verlagsanstalten bis zu den großen unfrommen Schlagern des letzten Jahrzehnts alle Literaturen vertreten waren, das »katholische Pfarrkind« neben Maupassant, Wilde und Peter Nansen neben der »Zionsharfe«. Denn der einzige Buchhändler am Platze durfte sich nicht auf ängstliches Spezialisieren verlegen.

Der Photograph aus dem Städtel nahm die Gelegenheit wahr und richtete sich in Sanktrain ein Sommeratelier ein.

Für die zweite Hälfte des Monats August, wenn der anfängliche Ernst der Feierwochen sich abgespannt haben würde und die Welt wieder anheben durfte, fröhlich zu sein, hatte der berühmte Zirkus Cavalieri mit seinen unerreichten sechzehn arabischen Schimmelhengsten, den weltbekannten three Simsons und der großen Pantomime, sowie auch die unüberbotene Menagerie Borodinsky ihr Eintreffen angekündigt – sehr zum Verdruß des Herrn Zeisinger, der von diesen Eindringlingen mit Recht eine Entweihung des Festes, eine Herabsetzung des hohen Anlasses, vor allem aber eine Verfinsterung des eigenen Rampenlichts befürchtete.

Nur mit Grimm und Ekel konnte er die Anschläge mit den scharlachgezäumten Schimmelhengsten und den schwarzrotgeflammten Tigern sehen. Diese häßlichen Plakate brannten schon jetzt an allen Straßenecken, und der bittere Groll, den der Schöpfer des mephistophelischen Pudels gegen den Hund des Herrn Aubry gehegt, wurde Herrn Zeisinger mit einem Male nah und verwandt.

Aber Cavalieri und Borodinsky würden bei ihrer Ankunft ebenbürtige Gesellschaft finden. Auf dem Viehmarktplatze wurden für mehrere Ringelspiele, zwei Schießbuden, einen Kinematographen, den größten Mann der Welt, zwei Meter dreiundzwanzig hoch, Miß Dinorah Lyttleton, die Dame ohne Füße und Hände, Mister Harald Lloyd, das Kopfweltwunder ohne Leib, zugleich Schnellrechner, Mundmaler und Bauchredner, endlich für den großen chaldäisch-syrisch-indisch-ägyptischen Chiromanten Dawuhd Behar Ben Zusan Stände belegt, ohne daß der Verfasser des trochäischen Festweihmysteriums dagegen hätte fruchtbare Opposition erheben können.

Denn was ihm zur Kränkung seiner heiligsten Gefühle, das gereichte anderen zur Bejahung ihrer heiligsten Rechte. Die beiden Herren vom Stern und Bär, insgleichen die Herren Fleischermeister Schlögl und Bäckermeister Krapf fanden an solchem Zuzug von Mägen und Kehlen nicht das mindeste auszusetzen, zumal sie weitere Schlünde heranzuziehen versprachen. Und die Herren von Bär und Stern und die Herren Schlögel und Krapf entscheiden allemal in Fragen menschlicher Kultur – nicht aber, wie er es sich meistens einbildet, der Herr Zeisinger mit seinen Oktaven und Trochäen.

So griffen alle Zahnräder harmonisch ineinander, und der Zeiger des Sanktrainer Uhrwerks rückte allmählich auf die ersehnte Stunde zu.

Auch die Presse bemühte sich in höchst dankenswerter Weise um das Gelingen der gewaltigen Veranstaltung. Die Biographie des Heiligen in ihrer neuen, erweiterten Fassung war von Herrn Falzinger in mehreren Dutzenden von Rezensionsexemplaren an verschiedene Schriftleitungen verschickt worden, und die Redakteure nahmen sich der äußerlich unscheinbaren Veröffentlichung in wahrhaft rührender Weise an. Die ergreifende Lebensgeschichte des Klausners wurde zum guten Zwecke feuilletonisiert oder wenigstens auszugsweise wiedergegeben, der Sankt Einsiedel feierte als aktueller Held der Saison aufsehenerregende Urständ, und die Macht des gedruckten Wortes, das zu vielen Tausenden von gebildeten Köpfen eingeht, um hier Vorstellung zu werden und weiter zu wirken, bewährte sich in dieser wichtigen Angelegenheit aufs beste. Einer der Redakteure sprach davon, daß der hoffentlich nicht mehr versiegende Fremdenzufluß für jene Täler gleichsam unter dem Zeichen einer Wallfahrt eröffnet werde; ein anderer benutzte den Anlaß, um seine historischen und geographischen Kenntnisse vorübergehend auf dieses Sondergebiet zu spezialisieren; ein dritter schrieb von Sanktrain wie von einer Stätte der Geheimnisse und verstieg sich zum kühnen Gleichnisse, daß man angesichts der einsetzenden Bewegung die Gnadenkirche geradezu als ein Symbol der Peterskirche, das Grab des Heiligen als ein Symbol des heiligen Grabes zu Jerusalem anzusehen habe. Die Herren Gattlinger und Krapf und Schlögel lasen all dies mit wachsendem Vergnügen und bilanzierten genüßlich an den zwischen den Zeilen stehenden Ziffern. Der Herr Krapf dachte dabei vorzugsweise an das gräfliche Gut in der entfernten Nachbarschaft, das ja doch über kurz oder lang zur Zwangsversteigerung gelangen müsse; der Herr Schlögel dachte an das nämliche Objekt und entwarf im Geiste schon die Pläne zum Rennstall, den er ohne Zweifel anlegen würde, denn mit Rössern hatte er seit jeher gern gehandelt. Herr Gattlinger träumte von einem ungeheuren Warenhaus in einer der großstädtischen, wogenden, blendenden Hauptstraßen, von einer kilometerlangen Fassade aus Spiegelscheiben, Cheviot, Seide und Samt; Herr Falzinger verlegte seinen Betrieb nach Leipzig und kalkulierte die Perzente vom broschierten Ladenpreis, die er als Autorenhonorar gewähren würde; der Bärenwirt richtete seine Wünsche zunächst auf eine ausgedehnte Hochwildjagd und ein dazugehöriges Luxusautomobil.

So war ganz Sanktrain ein einziger Vorabend, erwartungsvoll geputzt und sehnsüchtig wie eine Braut. Und all das hatte man nächst dem wundertätigen Heiligen in erster Reihe doch der aufopfernden Tätigkeit und Umsicht des Herrn Dechanten zu verdanken.

Er war es ja auch, der das schwierige Wohnungsproblem in der glücklichsten Weise gelöst hatte.

Die Nachfrage war mit der Zeit zu schwindelnden Zifferhöhen angeschwollen, und wo all diese Pilger hoher und mittlerer Stände bequartiert werden sollten, schuf den Sanktrainern freudiges Kopfzerbrechen.

Denn im Dienste des hohen Zweckes, des seltenen Anlasses, des großen und würdigen Zieles war man natürlich zu jedem Opfer, zu jeder Einschränkung, zu jeder früher für ganz unmöglich gehaltenen Unbequemlichkeit bereit.

Man würde eben ein bißchen enger zusammenrücken – mein Gott, was lag denn da schließlich viel daran, und man tat es ja doch nicht ganz umsonst.

Aber für all die frommen Tausende, die an der Feier des Tausendjahrfestes und an der Erhebung der heiligen Gebeine teilnehmen wollten, wurde selbst durch den engsten Familienzusammenschluß noch nicht ausreichend Raum geschaffen.

Nun hatte aber der umsichtige Herr Dechant die andrängenden Massen der Wallfahrer zu teilen und zu verteilen verstanden, so daß mit dem Abzug des einen Schwarmes der nächste in die Front rückte, um nach einer Woche oder zehn Tagen wieder einem dritten Platz zu machen, und so fort vom Hochsommer bis in den tiefen Herbst hinein.

So lange würden auch die heiligen Gebeine ausgestellt bleiben und die Feste einander ablösen.

Einen recht namhaften Teil der Pilgerströme nahm allerdings das Städtel in seinen Mauern auf; das bedeutete für die Sanktrainer wohl einen kleinen Verlust, aber sie selbst waren ja doch außerstande, die ganze Fülle der gesegneten Überschwemmung zu fassen. Für kommende Zeiten würde man sich schon vorsehen. Der Sternwirt erwog eifrig einen Hotelbau im großen Stile; dieser Gasthof zum Heiligen würde natürlich auf der Höhe des Wallfahrtsberges stehen, angelehnt an den Schatten der Wälder und doch sonnig und gesund.

Auch persönlich trug der Herr Dechant zur Lösung der Wohnungsfrage bei; das Haus der weiland Witwe Kramer ermöglichte es ihm, verwöhnteren Gästen eine standesgemäße Unterkunft zu bieten. Die innewohnenden Parteien, darunter Herr Zeisinger, wurden durch einen entsprechenden Zinsnachlaß zu weitestgehender Einschränkung bewogen, ein Opfer, das sie um so lieber brachten, als der Aufenthalt der Sommerparteien manche Entschädigung verhieß und außerdem den Herrn Dechanten zu längst erwünschten Ausbesserungen und Neuerungen veranlaßte. Nur Herr Zeisinger, der Verfasser des Weihemysteriums, fügte sich murrend in solche Ausnahmezustände. Er machte geltend, daß er in der schwülen Enge familiären Zusammenlebens unmöglich schaffen und gestalten könne; er behauptete, zwischen dem läutenden Messingmörser und dem heiteren Hungerschrei des Wickeljüngsten nicht einmal seine eigenen Gedanken geschweige denn die Anzahl der Versfüße zu hören; er stellte endlich – und das gewiß nicht ohne Berechtigung – die Forderung auf, daß Künstler von solchen Umwälzungen der Daseinsbedingnisse unberührt bleiben, überhaupt heilig gehalten und grundsätzlich frei von Abgaben jedweder Art sein müßten. Allein er wurde von der weiblichen Mehrheit seines wirtschaftlichen Ich überstimmt und mußte seinen Musensitz bis auf weiteres in die unmittelbare Nachbarschaft der geräuschvollen Küche verlegen.

Nun brach aber die brennende Dürre über das Tal herein, eine Dürre, wie sie seit Jahrzehnten nicht war erlebt und erlitten worden. Den Herren von Stern und Bär und selbst dem Herrn Fleischermeister Schlögel kam diese von Sankt Medarden besorgte Konjunktur freilich zupaß. An Eis war in den Kellern kein Mangel, und der durch die gesteigerte Temperatur beschleunigte Stoffwechsel ließ das Bedürfnis nach raschem und ausgiebigem Ersatz erwarten. Und wenn die Witterung Herrn Schlögel nicht eben wesentlich höheren Konsum verbürgte, so setzte sie ihn doch wenigstens in das Recht, die durch sie geschaffene Lage in seine Preise hineinzukalkulieren. Auch darin hatte die langwierige Hitze ihre guten Seiten, daß sie aller Voraussicht nach die sommerliche Entvölkerung der großen Städte und den ländlichen Oxydationsprozeß des städtischen Geldes verschärfen würde. Aber auf die Gemüsegärten, die Obstanlagen und das Geflügel von Sanktrain und Umgebung übte das Wüstenwetter zunächst eine sehr betrübliche Wirkung aus. Kurzsichtige Leute ließen darob die Köpfe hangen gleich den durch die Glut bekümmerten Pflanzen, und nur die Weitblickenden erkannten auch darin den Finger Gottes, der den Sanktrainern auf solche Weise ganz deutlich den Quickborn des Pilgersäckels wies.

* * *

Trotz stechender Hitze nahmen die letzten Arbeiten rüstig ihren Fortgang, und die Wirkungen des großen Gnadensommers machten sich schon jetzt angenehm fühlbar.

Denn zur Bewältigung aller Aufgaben reichten die heimischen Kräfte nicht annähernd aus, so daß dem Zuzug der Festgäste eine monatelange Einwanderung von Meistern und Gesellen aller Zünfte vorangegangen war. Daß diese Innungsleute ohne kräftige Zehrung nicht leben konnten, fand in den Wochenbilanzen der Herren von Stern und Bär beredten Ausdruck.

In diese Vorfreuden mischte sich gelegentlich wohl auch ein unerwünschter Mißton.

Fräulein Rosi Krapf, die Älteste dieses hochangesehenen Hauses, auf die der Vater große und berechtigte Hoffnungen gesetzt und die von Anfang an zu den zwölf Erwählten gezählt hatte, mußte eines Julitages aus der Liste der Ehrenjungfrauen gestrichen werden, nachdem die sonst freudig begrüßten Wirkungen gewisser Ursachen nicht länger sich verhehlen ließen – eine Neuigkeit, die, von unbekannter Hand in Brand gesteckt, unaufhaltsam von Dach zu Dach sprang.

Als Urheber zeichnete ein hübscher Monteur, der auch sonst in Sanktrain verschiedene Kurzschlüsse angezettelt hatte und um dessentwillen manch ein zündender Haßfunke von Lunte zu Lunte sprühte, so daß selbst unter den elf übriggebliebenen Jungfrauen manch eine die nächste bezichtigte, ihr Öl nicht gespart zu haben.

Nicht nur hier, sondern auch an anderen Punkten der weiblichen Front von Sanktrain zeigte es sich, daß man den Hauptangriff nicht abgewartet, sondern schon von den Plänklern und Sappeuren sich schnöde hatte durchbrechen lassen. Die Drahtverhaue der weiblichen Zucht waren an manchen Stellen übel zerfetzt und aufgeknäult, wobei offenbar Verrat der Besatzung mitgespielt haben mußte. Mehr als ein Christbaum war vor der Stunde angesteckt und gründlich geplündert worden. Der Flickschuster Jutz kam auf diese Weise zu einem Schwiegersohn; andere Väter wurden für immer um ihre zukünftigen Schwiegersöhne betrogen. An der jungen Frau des ältlichen Schmiedemeisters Jost machte der Segen des Gnadenjahrs sich schon jetzt fühlbar. Anderseits kam es zwischen den siegreichen Eroberern zu Reibungen wegen der Beute. Es gab in Sanktrain ein kleines, ehrbares Haus, das von den Mitbürgern den schönen, beziehungsreichen Namen »zu den goldenen Schwestern« erhalten hatte. Es wohnten darin drei hübsche Fräulein, die tatsächlich Schwestern waren und tagsüber fleißig nähten, auch wohl in andere Häuser gingen, um gegen bescheidenen Lohn die Kunst ihrer Nadel in Dienst zu stellen. Der Wohlstand dieses kleinen stillen Hauses mehrte sich märchenhaft – kein Wunder, denn die Schwestern waren von Herzen freigebig und gut, und schon manch ein Sanktrainer hatte bei ihnen verschwiegenen Trost gefunden. Nun mehrten sich unter dem Druck der Geschäfte auch für die goldenen Schwestern die Aufgaben. Sie erfreuten sich eines lebhaftes Zuspruchs und mußten mit Überstunden arbeiten. Da kam es gerade wegen eines dieser Fräulein zu einer nächtlichen Straßenschlacht zwischen den Innungen der Maurer und Anstreicher. Ein junger Maurergesell hatte an der mittleren der goldenen Schwestern solches Gefallen gefunden, daß er sie zu seiner künftigen Meisterin zu erheben beschloß. Er teilte diese schöne Hoffnung einem neuen Freunde von der anderen Innung mit, und dieser Vergolder, statt die Freude durch Teilung zu verdoppeln, gedachte den Schmerz durch Teilung zu halbieren. Er gab dem Bräutigam fachkundige Aufklärung über die Vergoldung des Schwesternhauses: Aufklärungen, die dieser mit tätlicher Entrüstung zurückwies, da er sich in seinen heiligsten Gefühlen verletzt sah. Darob kam es zu hitzigen Herausforderungen, und eines Nachts entwickelte sich unter den rasch verlöschenden Fenstern der drei Fräulein ein erbitterter Kampf, dessen Ursache und Ergebnis Frau Falzinger ihrer Freundin Stanzer gegenüber in einem einzigen Hinweis zusammenfaßte: Sehens! Frau Stanzer aber gähnte, zog die Stricknadel aus dem Haar und fuhr mit der Spitze in die zackige Lücke zwischen Eck- und Schneidezahn. »Gehens!« schauderte sie, während sie noch am Nachgähnen kaute; »… dreie zwanzig und dreißig sein fünfzig und fünfzig sein viere und eins is fünfe und fünfe is zehn … Danke sehr, Fräulein Graff, danke bestens, ein andres Mal die Ehre … Also gehens!«

Aber angesichts der tatsächlich erzielten Leistungen vergaß man gerne dieser vorübergehenden Trübungen. Die Triumphpforten standen und gleißten im Schmuck ihrer jungen Vergoldungen; die beiden Bierhallen auf der Höhe des Kanzelhügels waren fast vollendet; der ganze Ort war zum Empfang der Gnade gerüstet und harrte seiner hohen Stunde.

Auch Fräulein Hulda Herzl wurde von diesen trüben Strömungen nicht gestreift. Sie trieb im Gefäll des Herrn Othmar Waldenburg, der eben jetzt, wenige Wochen vor der Entscheidung, auf seine Aufgabe sich besonnen hatte. Der durch die Verschiebung seiner Daseinsbedingungen und die sich verschärfende Spannung ohnehin schon gereizte Verfasser des Weihemysteriums war ob der Säumigkeit seines Helden bereits unruhig geworden. Aber Herr Othmar Waldenburg wußte ihn zu beschwichtigen. Er setzte Herrn Zeisinger auseinander, daß er sich durch längeren Aufenthalt in diesem Milieu erst hatte in die Stimmung eines Heiligen aus dem 9. oder 10. Jahrhundert versetzen müssen. Herr Zeisinger ließ sich vom tiefen Ernst solcher Auffassung gerne überzeugen, und als Herr Waldenburg mit der Tat bewies, daß er imstande sei, einige Dutzend vierfüßiger Trochäen mit einem einzigen Durchlesen gleichsam ins Gedächtnis hineinzuschlucken, da breiteten die Hoffnungen des Dichters ihre Fittiche noch weiter aus. Am kommenden Montage sollten die Proben beginnen.

* * *

Eine nicht unbedeutende Anzahl von Dauergästen der ersten Klasse war schon in der ersten Julihälfte eingetroffen.

Zunächst ein hoher Herr, der Minister sein mußte und den man daher nicht anders als Exzellenz ansprach. Mit einer umfänglichen Ausrüstung, einer Gattin und drei auffallenden Töchtern hatte er die besten Quartiere für sich beansprucht.

Dann ein anderer vornehmer Herr ohne Anhang, von dessen näheren Verhältnissen man nichts wußte und den man daher Exzellenz Herr Graf nannte, was zu seinem scharfen, rotgebeizten Gesichte gut stand und von ihm selbst freundlich geduldet wurde.

Ferner eine umfängliche Mutter mit zwei Söhnen des freßlustigsten Alters, die selbst unter den geordnetsten Sanktrainer Verhältnissen Verwirrung und unter den zahmsten Sanktrainer Katzen Panik verbreiteten, und einer hochgeratenen Tochter, die nach oben und unten aus den Kleidern ihrer Entwicklungsjahre herauswuchs.

Weiterhin ein anscheinend kinderloses Ehepaar, zusammengesetzt aus einem langgezogenen, sehr schweigsamen Gatten, von dem sich vermuten ließ, daß er Professor der Phrenologie oder Altertumskunde sei, während der Meldezettel ihn einfach als Kommerzialrat auswies, und einer sehr rührigen, forschungslustigen Gattin, die in den ersten Stunden bis in die Eingeweide des Sanktrainer Gemeindekörpers eingedrungen war und binnen Tagesfrist die geographischen, sozialen, kulturellen, kommerziellen und familiären Verhältnisse des Wallfahrtsfleckens souverän beherrschte.

Dann ein Herr mit weißem Kurzvollbart und wuchtigem Kopf, den die Sanktrainer zunächst auf einen Bankgouverneur schätzten, bis es sich herausstellte, daß man in diesem Gaste den berühmten Professor der Kirchengeschichte Geheimrat Professor Johannes Leyden zu begrüßen habe, einen Gelehrten, der schon durch sein vielbesuchtes Kolleg über die Politik Johanns XXII. und den Defensor pacis sowie durch sein bis zur ersten Hälfte des vierten Bandes gediehenes Werk über denselben Stoff eine nahe Beziehung zu Sanktrain und seinen kommenden Ruhmestagen dartat.

Ferner ein älteres heiteres Ehepaar unbestimmbaren Erwerbszweiges, das durch seine fremdartige Aussprache auffiel und mit seiner fernen rheinischen Herkunft die Anziehungskraft des Heiligenfestes besonders sinnfällig zum Ausdruck brachte.

Weiters eine alte, stille Gräfin, die außer einer englischen Gesellschafterin der Nimbus ungeheurer Reichtümer umgab, und von der man ebenso gerne erzählte wie glaubte, sie sei eigentlich gar keine gewöhnliche Gräfin, sondern die linkshändige Witwe nach einem ausländischen Herzog. Großherzog; das klang noch besser.

Schließlich einige jüngere, alleinstehende, recht aparte Damen, die den über alle Maßen verblüfften Sanktrainern schon die kommende Mode vortrugen und sich vorläufig über alle Maßen zu langweilen schienen.

Eine dieser Damen, deren kastanienrotes Haar einen vollen Tag lang die Zungenweide aller eingeborenen Geschlechtsgenossinnen bildete, rauchte auf offenem Marktplatz Zigaretten und raffte den enggewürgten Rock so hoch, daß vor den ungläubigen Augen aller ein goldenes Uhrstrumpfband zum Vorschein kam.

Die Zweite, eine üppige Blondine, mußte schon in den ersten Tagen aus dem Bären in den Stern übersiedeln, da der noch nicht über die besten Jahre hinausgealterte Bärenwirt seine getreue Frau Bärin durch allzu deutliches Interesse für das Wohlergehen seines Gastes betrübt hatte.

Die Dritte, eine südfremdländisch aussehende Brünette mit schmalen, hakigen Schultern, ungeheuer lärmenden Absatzhufen und verwilderten, vorbestraften Augen, trachtete sofort Herrn Paul Gattlinger junior sowie dem rotgebeizten Exzellenzgrafen gefährlich zu werden. Dies mußte ihr auch irgendwie gelungen sein, denn am Morgen des dritten Tages stattete der Herr Wachtmeister ihr einen Besuch ab und zauberte aus ihrem Koffer des Herrn Grafen goldene Uhr samt Kette sowie die bescheidene Brieftasche des jungen Herrn Gattlinger hervor, worauf sie mit fliegenden Nüstern erklärte, hier bleibe sie nicht länger. Der Herr Wachtmeister bekräftigte sie in ihrem Entschlusse und geleitete sie sicherheitshalber über den offenen Marktplatz nach seiner Kaserne. Wie schlechtes Gewissen bei Nacht und Nebel flüchtete sie an den Sanktrainer Spießrutenaugen vorbei und ward nicht mehr gesehen.

Am raschesten fand sich unter dieser verwirrenden Fülle von Titeln und Erscheinungen Herr Franz Gsell zurecht. Das hing ihm noch von seiner großstädtischen Lehrzeit her an, und wenn er jetzt im einschläfernd warmen Frühsonnenschein vor der Türe seines Barbierladens stand, die echte Solinger in der Schnupftuchtasche der weißen Leinenjoppe, daß gerade nur die Angel stählern hervorblitzte – dann kam er sich gar nicht mehr so provinzlerisch vor wie früher, da Herr Doktor oder Hochwürden die höchste vorkommende Anrede gewesen.

Der Früheste war regelmäßig der Exzellenzherr mit den weißen Bartpölsterchen, dem seidenen Sonnenschirm und dem hohen Strohhut in der Hand. In kurzen Pensionsschrittchen kam er durch die Morgenhitze herangeknarrt, stets in falber Rohseide und blühweißer Weste. Herr Gsell verbeugte sich, als habe er eben die Schaumserviette abgenommen und den Kamm in die Tasche versenkt.

»Morgen, Xlenz, die Ehre … Heiß, heiß … Schon jetzt zwanzig im Schatten.«

Der hohe Herr blieb gerne stehen. Mit dem seidenen Taschentuch wischte er sich die blanken Ströme von der Schädelkuppe.

»Ja, und das heißt Sommerfrische. Ist denn das hier bei euch immer so? Oder nur dem Heiligen zu Ehren?«

Meister Gsell sah kundig zum ehernen Hundstagshimmel empor.

»Also heut, da könnt's was geben …« Er sprach das letzte Wort mit schwebender, drohender Betonung aus. »Heut, da könnt schon was kommen.«

Der Exzellenzherr wurde vertraulich.

»Sie, sagens mir! Wer ist denn eigentlich die mit dem kupferroten, g'färbten Haar, die immer so auf ihre hohen Stöckeln herumsteigt wie ein kranker Pfau?«

Auch Herr Gsell wurde vertraulich.

»Die!? … Die is von einem kleinen Theater oder so was …« Er brach diskret ab. »Na ja. Xlenz verstehn ja. Geschäft is Geschäft. Muß auch das auf der Welt geben. Nachfrag is immer.«

Die seidene Exzellenz meckerte.

»Na freilich. Drum. Ich hab mir immer schon gedacht: wo hab ich die schon einmal g'sehn. Jetzt weiß ich, wo.«

Er sah sich um, denn Meister Gsell komplimentierte nach der anderen Seite der Gasse, die gerade hier über die gemauerte Brücke nach dem Marktplatz führte.

»Morgen, Xlenz Herr Graf, die Ehre.«

Der rotgebeizte Exzellenzgraf stöckelte herüber. Man begrüßte sich und stellte in wortreicher Übereinstimmung die Unerträglichkeit der Hitze fest. Dann trat der Exzellenzgraf in die kühle Tiefe des Barbierladens.

»Assieren, Kopfwäschen, Schnurrbartausziehen,« schnarrte der Meister. »Bitt schön. Korl, die Ssavietten. Mit Berum?«

Der seidene Exzellenzherr war auch mitgekommen und nahm unterm interessanten Blatt Platz.

»Sie. Sagens mir. Wer is denn die Blonde, die immer mit einem Büchel unterm Arm herumsteigt?«

Herr Gsell fuhr mit der Solinger klatschend auf dem Riemen hin und wider.

»Die? Das is das Fräulein Hulda. Die Tochter vom Herrn Bürgermeister. Die will ja jetzt zum Theater gehen. Die wird ja mitspielen in dem Stück vom Herrn Zeisinger.«

Die seidene Exzellenz meckerte.

»Sie. Und wer is denn der glattrasierte, der immer mit ihr herumsteigt?«

Herr Gsell beugte sich über das angeschaumte Gesicht des Exzellenzgrafen.

»Das – das is –« Er hielt ein, als fürchte er mit seinen Worten den Takt der leise über die Haut hinrauschenden Züge zu stören. »Das is der Herr Othmar Waldenburg vom Wintertheater. Spielen recht gut beim Wintertheater. Is einmal in der Zeitung g'standen, daß die Ahnfrau in der Hofburg auch nit besser geben wird.«

Er strich die borstengespickte Seife sorgfältig und mit Schwung ab. »Nämlich – der Herr Waldenburg, der wird den Heiligen geben in dem Stück.«

Der Exzellenzherr meckerte noch vergnügter.

»Schöner Heiliger. Sie! Na.« Er rang nach Atem. »Vorgestern, wie ich da hinauf spazieren geh, in den Wald da hinten, wie heißt das g'schwind, nach, na, is alles eins – also, wie ich da spazieren geh …« Er zitterte vor Lachen. »Da seh ich auf einmal so ein Büchel im Moos liegen. Na, denk ich mir, wo schon so ein Büchel liegt, da muß auch wer sein, dem's g'hört … Waren aber zwei, wissen's, zwei!« Er hob die beiden Finger der Hand hoch. »Zwei. Und der eine war ein einer, und die andere war eine eine.« Er lachte Tränen. »Schöner Heiliger. Das glaub ich, daß die zum Theater gehn will.«

Jetzt wurde auch der Exzellenzgraf mitteilsam. Er lag peinlich gespannt unter der rauschenden Solingerklinge, aber Herr Gsell kam trotzdem um die Bewegungen des scharfen, gespaltenen Kinns und des mageren Kehlkopfes glatt herum.

»Ja, das erinnert mich an eine Geschichte,« begann der alte Herr; »das war im Jahre neunundsiebzig, mein Regiment war damals in … daß ich's nicht falsch sage, im Jahr achtzig war das …« Er wurde unterbrochen. Ein neuer Kunde trat ein.

»Morgen, Herr Hofrat, die Ehre!« Der Akzent kam wie ein scharfes Rufzeichen auf die erste, gewichtige Silbe der Titulatur … »Bitt schön, nur Platz zu nehmen, wir sind gleich fertig. Korl!« Er winkte mit den Augenbrauen.

Der Lehrling sprang, und der große Kenner Johannes' XXII. und des Defensor pacis lehnte sich hinter den mit trüben Flaschen aller Art bestandenen Spiegeltisch.

»Was Neues?« fragte er.

»Scharf einspritzen?« fragte Herr Gsell den frischrasierten Exzellenzgrafen.

»Sagens, Herr Hofrat,« begann der Minister; »kennens die Gräfin, die Alte, die mit der englischen Miß? Ist die wirklich eine morganatische Witwe?«

»Aber keine Spur!« wieherte der Graf unter der Puderquaste. »Die ist überhaupt keine Witwe. Gut apanagiert ist sie.«

»Also so!« dehnte die seidene Exzellenz. »Darum! Ich habe mir schon immer den Kopf zerbrochen: wo hab ich die schon einmal gesehen?«

»Wann geht denn die Geschichte eigentlich los?« fragte der Professor.

»Fixieren auch?« fragte Herr Gsell. »Ja, also am Montag in acht Tag, also in zehn Tagen, da kommt Seine Eminenz. Und am nächsten Tag ist das große Hochamt. Und die Firmung. Der Herr Doktor Siebenschein wird auf der Orgel spielen. Haben vielleicht schon von ihm gehört? Das ist so ein Virtuos. Und der Herr Pater Weinzierl wird predigen. Ist auch so ein Schriftsteller und Gelehrter. Ist dem Herrn Hofrat vielleicht bekannt. Hat so ein Büchel g'schrieben, über unseren Heiligen, ist wunderbar zum drin lesen.«

»Sagens, Herr Hofrat,« begann die weißbärtige Ministerexzellenz – »hat die alte Fratschlerin, die Kommerzialrätin, Sie auch schon so ausgefragt? Wo Sie Ihre Unterhosen waschen lassen?«

»Daß der Mann es neben der aushaltet!« sagte die Exzellenz mühsam durch die Bartbinde.

»Aber er ist ja schon ganz still,« meinte der Hofrat; »er schaut ja selber aus wie ein Fragezeichen, das einen Gedankenstrich verschluckt hat.«

»Morgen, Herr Merzialrat, die Ehre!« rief Gsell dem langgezogenen Spiegelbilde des Eintretenden zu. Ein scharfer und ehrfürchtig staunender Akzent wurde auf das erste a gefällt. »Bisserl brennen?« Die Brennschere klappte mit ihren Kiefern. »Korl!«

Der Lehrling sprang, und der lange Herr Handelsrat versank hinter seiner Zeitung.

»Sie, sagens,« begann der Exminister; »was ist denn dieser Herr Doktor eigentlich für ein Mensch?«

»Ist das der, der so viel von sich hat reden machen?« forschte der große Kirchenhistoriker.

»So, Xlenz, die Ehre, danke bestens, danke sehr … Korl!« Der Graf stand aus dem Fauteuil auf. »Ja, der Herr Doktor Werner Wendt. Das ist schon der, ja. Na, mein Gott, ja. Wenn ich bitten derf, Herr Hofrat. Stutzen? Korl! Haben gelesen davon? Na, mein Gott, ja. Dieselbe Fasson? … Das sind halt solche G'schichten.«

»Ich meine, wenn man einmal einen Doktor brauchen sollt – ist das ein verläßlicher Mensch?«

»Ah ja, ich glaub schon. Mit der Maschin verlaufen oder assieren? Aber da haben wir den Herrn Doktor Dreythaller drunten in der Stadt. Das ist eine Berühmtheit. Haben vielleicht schon gehört?«

»Sie; sagens! Die Geschicht, die man da in der Zeitung gelesen hat von dem Mädel! Das war doch nur so ein Schwindel, he?«

»Und was für einer! Die hat sich ja nacher aufg'hängt, die Alte. So recht? Korl!«

Der Lehrling sprang und brachte den kleinen Handspiegel, mit dem Herr Gsell den mächtigen sanktpeterbuschigen Hinterkopf des Kirchenhistorikers sorgfältig ableuchtete. –

Aber noch mehr Aufsehen als alle Hofräte und Exzellenzen erregte ein weniger hochgestellter Gast, Cesare Faleschini.

Cesare Faleschini war freilich nur ein welscher Maurergesell, aber in der kurzen Zeit seines Sanktrainer Aufenthaltes machte er sich wahrhaft volkstümlich.

Vor wenigen Tagen erst hatte er seinen Einstand genommen, und doch kannte ihn jedermann. Mit seinen prachtvollen lachenden Zähnen, seinen schwermütigen Schmachtaugen und seinem schwebenden Gang mußte er auffallen, um so mehr als er mit seinem goldroten Haar keineswegs seine Abkunft von den germanischen Romanen, den Patarenern und stolzen Verteidigern des Carroccio verleugnete.

Fast jeder Gast versuchte sich an ihm mit den übriggebliebenen Sprachfrüchten seiner Hochzeitsreise, und Cesare Faleschini hörte artig zu, ohne jemals durch ein noch so leises Lächeln sein inneres Vergnügen an diesen verkümmerten Zitronen zu verraten. Wenn er aber lachte, so zeigte er damit nur seine Freude am Wiedererkennen der verstümmelten Muttersprache an, und für arg zugerichtetes Bädekerwelsch gab er sein etwas spitziges, aber immer noch melodisches Menegin zurück.

Nach der Schicht aber, wenn seine Zunftgenossen sich beeilten, den grauen Mörtelstaub in Bier zu löschen, machte er sich seinen südlichen Feierabend.

Er fand sogleich den malerischesten Platz von Sanktrain, das Geländer der steinernen Brücke, die unweit des Gsellschen Barbierladens den Sanktrainer Bach überspannte.

Hier drapierte er sich scheinbar kunstlos und äußerst wirkungsvoll, mit jener anmutigen Würde, die dem Sohn alter Kulturen und sonnendurchschmolzener Völker eigen. Ein Bein untergeschlagen, das andere lässig schlenkernd, so skizzierte er mit ein paar Gebärdenstrichen den Süden, und zur geschmackvoll gedämpften Begleitung seiner Gitarre sang er mit leise zitterndem, etwas überschwänglichem Bariton ein ganzes Repertoire welscher, berückender Schwermutsarien.

Niemand beklagte sich über Störung, im Gegenteil, man ließ den Troubadour gerne gewähren, die Rheinländer fanden hier mit Entzücken, daß der Süden doch eigentlich hier schon beginne, und die anderen Festgäste verlangten immer noch neue Einlagen eigener Wahl. Dazwischen ließ Cesare seine unsäglich traurigen, versteckt heiteren schmelzblauen Rivieraaugen spielen, und jede der Vorübergehenden fühlte sich von Blick oder Lied schmerzhaft süß getroffen.

* * *

Die Orgel der Sanktrainer Gnadenkirche war ein nicht mehr ganz junges, aber recht gut erhaltenes Werk, dessen Schäden, weniger einer schlechten Behandlung als vielmehr zu sparsamer Verwendung entsprungen, ohne wesentliche Kosten und Mühen sich hatten beseitigen lassen.

Nach langem Wählen hatte Benedikt sich dafür entschieden, das große, von seinem hohen Gönner selbst zelebrierte Festamt mit je einer Fuge einzuleiten und zu beschließen. Zur Aufführung würde eine Messe in C gelangen. So war schon die Tonart gegeben, die Königin unter den Tonarten, die helle, hartgeschmiedete C-dur. Benedikt blätterte in seinen Heften. Endlich legte er seinen Beschluß fest. Die erste Fuge mußte etwas Präludierendes, die letzte etwas jubelnd Auflösendes haben. So fiel seine Entscheidung auf eine breitwuchtige, würdevolle Fuge von Adolph Hesse und die gewaltige, niederschmetternde Ewigkeitsfuge aus Brahms' deutschem Requiem; jene sollte den Introitus begleiten, diese den Exitus verklären. Siebenschein besaß das letztere Werk in der Schaabschen Bearbeitung; es war sehr schwierig, aber nachdem er es auf seinem schönen Pedalharmonium mehrmals durchgenommen, hielt er sich der Aufgabe gewachsen. Er erinnerte sich, daß sein fürstlicher Freund gerade von diesem unvergänglichen Werke des großen deutschen Meisters stets aufs neue erschüttert wurde. So hoffte er auch ihm, dem er alles verdankte, eine Huldigung zu bereiten.

Nun galt es, den schweren Satz auf der Orgel einzuarbeiten und mit dem verfügbaren Material von vierundzwanzig klingenden Stimmen möglichst wirksam zu instrumentieren.

An diesem schwülen Nachmittage wanderte Benedikt nach Sanktrain hinunter.

Die Arbeiten in und an der Gnadenkirche waren vorläufig beendet. Die Ausschmückung der Altäre sollte erst vor dem Feste selbst in Angriff genommen werden.

Benedikt holte den Schlüssel zum Spielpulte ab und warb die beiden Söhne des jetzigen Meßners zum Betriebe des Gebälges an.

Vorabendlich lag das berühmte Gotteshaus auf seiner Höhe. In der Ferne arbeiteten Leute an der Vollendung der Bierhallen. Der Platz vor der Kirche war noch nicht endgültig gesäubert. Da und dort erblickte man Spuren des Hobels und der Kelle. Der Weiser der alten Sonnenuhr fällte seinen Schattenstrich zwischen die fünfte und sechste Stunde.

Siebenschein trat ein. Die Kirche hallte steinern auf. Hinter den bunten Strahlenströmen der Vespersonne zitterte gralrot das ewige Licht. Benedikt beugte das Knie und netzte seine Stirne. Dann stieg er die gewundene Treppe zum Chore hinan, gefolgt von den beiden Kalkanten.

Erst versuchte er sich in verschiedenen kurzen Vorspielen und Registermischungen. Er ließ die sechzehnfüßigen Pedalbässe erdröhnen und präludierte frei über ihnen hin. Er löschte alle Stimmen bis auf den leisen Violonbaß des Pedals, eine Gambe des Unterwerkes und die Vox coelestis des Oberklavieres aus und spielte aus sicherem Gedächtnisse zu Bachs einfachem Präludium die süße, berückende Kantilene des französischen Meisters. Dann öffnete er das volle Werk und nahm die ehern prächtige Fuge des berühmten Breslauer Organisten durch. Die alte Gnadenkirche erzitterte unter den Donnern des sechzehnfüßigen Tubabasses, als sollten sich ihre Wunder und Gräber öffnen.

Benedikt spielte noch einige leichtere Sätze, bevor er an seine eigentliche Aufgabe ging. Er versuchte das sanfte Salcional des Oberwerkes, den Bourdon im Hauptklavier, die Gamben, den Dolcian, den schönen, kräftigen Geigenprinzipal. Eine Stimme freilich fehlte dieser Orgel und dieser Kirche: die vox humana.

Es war ihm aber doch ein tiefer Genuß, wieder einmal über dem hallenden Abgrund eines Gotteshauses zu thronen, umgrollt von den Wettern dunkler Bässe. Jener Abend kam ihm in den Sinn, da er mit dem grauen Meister die Geheimnisse der riesigen Domorgel aus ihren Dämmerungen erweckt, da die Schwerter der Erzengel aus brauenden Weihrauchdämpfen herunterzuckten und der schwere Donner eines Weltgerichts den Münster bis in seine Kreuzblume hinauf erschauern ließ. Wie lange war es dessen? Inzwischen waren in seiner inneren Orgel viele neue Stimmen erklungen, berührt von der unsichtbaren, allgegenwärtigen Hand des Lebens. Wie lange war es dessen? Ein breiter, reißender Strom rauschte zwischen diesem Ufer und jenem: der Strom des heiligen Christophorus. So schien es dem jungen Priester, der da oben in der berühmten Gnadenkirche, der Kathedrale der Wunder, auf der Höhe des Kalvarienberges inmitten eherner Posaunen und brausender Stürme saß, als sei ihm gegeben, den Sankt Einsiedel aus dem Frieden seiner kristallnen Gruft auferstehen zu machen.

Es wurde spät. Die bunten Sonnengespenster stiegen höher an den Wänden und Pfeilern hinan. Die steinerne Tiefe lag schon im Schatten.

Siebenschein legte die große Auferstehungsfuge vor sich hin auf das Pult.

Er verglich den Notentext mit den verfügbaren Registern.

Zum Festamte würde er nach kurzer Einleitung gleich mit dem Einsatz des jauchzenden Siegesthemas beginnen. Sich selbst zum Genusse wollte er jetzt aber auch das düster erhabene, erschütternde Präludium versuchen, diesen schweren, zypressendunklen Grabgesang, der mit seinem feierlich schleppenden Schritt und den mönchisch finsteren hohlen Übergängen ganz der Stimmung entsprach, die vom Gedächtnis des alten Heiligen ausging, unversieglich wie das Öl der Wunder und der Wundenmale.

Benedikt trug mit zartem Bleistift vorläufige Registernotierungen ein. Er wollte mit ganz dumpfen, unterirdischen Stimmen beginnen. Es sollte klingen wie ein Chor von Büßern, die in tiefer Nacht schwermütig zur Vigil ziehen, fern in hallenden, halbverfallenen Kreuzgängen, die Gesichter gespenstig überflackert vom Schein schaudernder Fackeln.

»Denn wir haben hie keine bleibende Statt – sondern die zukünftige suchen wir.«

Dann ein leise hervortretender, mystischer Baß:

»Siehe, ich sage euch ein Geheimnis …«

Hier mußten alle Register der Manuale ausgelöscht werden bis auf eine zarte Gambe und eine Hohlflöte. Nur die Violonbässe klagen auf und nieder wie Gräberwind an versunkenen Mauern, und ihnen antwortet von ferne das Weinen der Geister unter wolkenumschauertem Mond.

»Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden …«

Den Bourdon heranziehen, den Violoncellbaß einschalten …

… »und dasselbige plötzlich, in einem Augenblick …«

Die Prinzipale und Manualkoppel …

»… zur Zeit der letzten Posaune!«

Den Subbaß und achtfüßige Trompete.

»Dann, dann wird erfüllet werden das Wort, das geschrieben steht: der Tod ist verschlungen in den Sieg.«

Das geht wie Sturm durch unterirdische Hallen.

Immer mächtiger, immer heller und näher, als erwachten unter hereinschmetternden Feuern alle Toten der Erde. Als brächen von Takt zu Takt ganze Städte von Gräbern auf.

»Der Tod ist verschlungen in den Sieg, in den Sieg, Sieg …«

Die Welt birst, eine ungeheure Narbe, und aus ihrem Leibe quellen die Erlösten in lodernden Säulen himmelan, die ganze Menschheit eine zur Ewigkeit hinanbrausende Flamme, eine lohende, nackte Himmelfahrt:

»Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?«

Immer mehr in übertürmenden Stimmenwogen, Mixturen, volles Werk:

»Tod, Tod, wo ist dein Stachel? – Hölle, wo ist dein Sieg, ist dein Sieg, dein Sieg, Sieg, Sieg, Sieg!«

Aus all den starrenden Schlachtreihen der Pfeifen dieser eine Erzschrei: Sieg!

Und dazwischen der eiserne Galopp der Schreckensmähren, heulende Dämpfe aus versengten Meeren, blendende Wetterschläge, die das All bis in seine Grundfesten zerspalten, die letzten grellen Posaunen und Schalen über dunkel verglühendem Chaos:

Dann öffnen sich majestätisch die donnernden Pforten zur Fuge der Heerscharen, zum ewigen Credo des dritten Reiches:

»Herr, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft. Denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen haben sie ihr Wesen und sind geschaffen.«

Alles Höhe und Licht: in schimmerndem Aufstieg entzündet sich der schwellende Wechselgesang der Chöre zu den letzten Glorien und Triumphen der Heimkehr zu Gott.

Benedikt begann, nachdem er den gewaltigen Satz noch einmal mit der Seele durchgehört. Jetzt griff er in die Tasten. Die beiden geheimnisvollen schwarzen Akkorde der Vorahnung dröhnten bang durch die abendlich verlöschende Kirche.

Die Halle des Gotteshauses verschwand. Es wurde Nacht. Hinter gespenstigen Wolkenzügen schauerte ein klagender Mond. Lebensbäume regten sich im Geisterwind. Nun tauchte der Schein trüber Fackeln aus der Finsternis. Riesige, hagere Schatten wuchsen wechselnd über brandrot überflackerte Mauern hinan. Abgezehrte Gesichter, die Augen tief in kranken Höhlen, starrten bärtig in den schwelenden Glast. Voran schritten zwölfe in zwei schleppenden Zeilen: Büßer, die vor der mitternächtigen Vigil in harten Särgen schlafen, die Rücken aufgefleischt von den Wundenmalen scharfer Geißel. Dann folgten viere unter wuchtender Last. Die Toten trugen einen Lebendigen zu Grabe. Und sie sangen, die Augen nach innen gewandt, mit verzückten, hohlen Munden: »Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.«

Wie Benedikt weiterspielte, wurde es ihm zur Vision.

Da drunten in schrecklich hallender Tiefe lag einer aufgebahrt, ein Lebendiger. Ein Leib, ein Kadaver, dessen Seele droben im verdämmernden Chore unter den steilen Erzengeln der schimmernden Flöten saß, dem getöteten Fleische das Requiem zu halten.

Die zuckenden Lichter und flatternden Schatten der Mitternacht liefen über den jungen Leichnam.

Sein Scheitel trug die große Tonsur der Entsagung. Gebrochen lag er unterm schwarzen Tuch mit dem eingewebten Kreuz.

Ihm zu Häupten stand hoch und streng der Abt. An seiner Hand glomm der Ring; auf seinem Haupte funkelte die Inful.

Gestalten kamen und versanken.

Eine Frau in dichten Trauerschleiern beugte sich über seinen Leichnam und berührte zum letzten Male sein Haupt: die Mutter.

Eine andere wurde aus der Dämmerung. Im Fackelbrand erglühte der weinrote Saum um ihr Haar. Sie trat an den Toten heran, wie man an einen gefallenen Feind herantritt, behutsam und fast verächtlich. Sie raffte die Seide ihres fließenden Gewandes, daß sie nicht im Blute schleife.

Aber plötzlich war sie nackt bis zum goldgetriebenen Gürtel. Nur ein Hauch von Byssus verhüllte ihre schmalen, geilen Lenden. An ihren Zehen flammten seltene Edelsteine.

Sie zögerte schaudernd an den Leichnam hin, gierig und furchtsam wie die Raubkatze, die in der Wüstennacht den verdursteten Pilger findet. Sie schrak fauchend zurück. Durch ihren geschmeidigen Körper zuckte ein Schrei.

Jetzt schlich sie wieder heran. Lüstern und vorsichtig. Sie neigte sich über den Liegenden und betastete mit ringgeschmückten Händen seinen Leib.

Ihre Finger schmeichelten seinen Nacken. Sie umspannte das Haupt an den Schläfen und hob eine blutige Maske an ihre Lippen empor wie einen kostbaren Pokal voll edelsten syrischen Weines. So stand sie da im wolkigen Mondlicht, ganz allein mit der Nacht und ihrer Sünde.

Sie trank vom entstellten Munde die Myrrhen des Todes. Sie erbebte bis in den Schoß hinab und bog sich brünstig zurück. Sie schleuderte in plötzlich aufsträubender Angst den Kopf weit von sich, daß er über die Steinfliesen schmetterte.

Die Finsternis stürzte sich über sie wie ein eherner Schild.

Aber sie wurde nur verwandelt und gestaltete sich in eine andere.

Und eine Stimme sprach aus ihr:

»Warum bist du hinaufgegangen zu jenem blutflüssigen Weibe? Warum bist du nicht zu ihr gekommen, die meine Mutter hätte werden sollen? Sie hat auf dich gewartet mit Schmerzen und Sehnen, bis ihr der Tag verlosch. Der Weg war offen zu ihr. Alle Gärten haben dir geblüht. Aber du hast sie nicht ansehen wollen und hast sie nicht geküßt. So gehen wir alle zugrund, du Toter, und sie, die Gestorbene, und ich, das Ungeborene, und alle, die aus euren Freuden hätten sprießen sollen. Was hast du davon gehabt? Du hättest das Leben haben können, so aber hast du den Tod. Warum bist du hinaufgegangen zu jenem blutflüssigen Weibe?«

Da war es, als segnete sie ihn zum Abschied, und als sie sich auflöste, führte sie plötzlich einen fremden Knaben an der Hand.

Weihrauchdämpfe brauten auf. Hinter ihren Schleiern schwebten die Flammentropfen der Lichter wie goldene Herzen im Abgrund, und jedes war umkränzt mit einem Hof mattfarbener Ringe, wie gesehen durch den schillernden Flor von Tränen.

Da stand wieder der Abt in brokatner Hoheit, und zu seinen beiden Seiten umgaben in schauerlichem Halbkreis die singenden Brüder den Lebendiggestorbenen.

»Du hast die Wundenmale zeitlicher Entsagung auf dich genommen, daß du rein eingehest in die große Verwandlung.«

Der Amethyst an der erhobenen Hand glühte in mystischem Feuer.

»Aber, der du hier liegst auf deiner Bahre, der du dich befreit von Wunsch und Wahn der Welt, der du dich gebrochen, um ein Ganzer zu sein, der du dich hingegeben, um dich zu besitzen – du hast die Zeit gebrochen für die Ewigkeit, die Hütte hast du hingegeben, um die Königsburg zu gewinnen. Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.«

Jetzt tritt wie zum Wechselgesang einer der Mönche vor, ein Mann, dessen Augen wie Sterne blitzen oder wie Tore, durch die aus innerer Ferne das ewige Licht hervorbricht, und seine Stimme dröhnt aus der Unermeßlichkeit herauf: »Denn siehe, ich sage euch ein Geheimnis.«

Seine hagere Hand zieht einen feierlichen Bogen, als raffte sie einen Vorhang zurück.

»Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – und dasselbige plötzlich in einem Augenblick …«

Er deutet horchend in die Nacht der Wölbungen hinauf …

Vor heulendem Posaunenstoß bersten die Joche, die Pfeiler wuchten zusammen, der Himmel zerklafft mit ehernem Knall, ein Weltall von Flammen stürzt herab.

Die Erde kreist unter glühenden, bäumenden Wehen. Ein Meer von Leibern drängt hervor, Würmer, Tiere, Menschen. Brandungen von Auferstandenen.

»Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?«

Er selbst auf einmal mitten unter den auftürmenden Säulen, in der schlangenverknäulten Himmelfahrt.

Da und dort ein längstverstorbener Bruder, den er irgendwann vor seiner Zeit in innerem Wissen geschaut.

Ein Papst in starrem Gold, die Hände gefaltet, die dreifache Krone auf dem Haupte.

Ein bärtiger Mann, mit schmalem Lorbeer um die Schläfen.

Ein römischer Zenturio. Ein uralter König. Verhüllte Kaiserinnen.

Ein silberweißer Greis in härener Kutte, mit Stachelketten gegürtet, starrend von Wunden der Einsamkeit.

Ein Mädchen, das einen fremden Knaben an der Hand führt.

Marianne!

Blendende Strahlenflut, unabsehbare Heere, eine Ewigkeit von Erlösten.

In letzter Ferne, über diamantenen Kuppeln der Thron des Herrn, zur Rechten des Vaters.

Er steht auf, wie um die Seinen endlich zu begrüßen.

In seinen gespreiteten Händen glühen die Wundenmale; seine breite, starke Stirne trägt die scharfe Leidenskrone.

Himmel und Erde vergehen. Es erschallt die Stimme großer Wasser und starker Donner, die da spricht: Hallelujah, denn der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen.

Und sie ziehen in singenden Scharen um das Holz des Lebens, das mitten im Garten grünet und zwölfmal Früchte trägt. Und sie treten vor das Angesicht dessen, der das Alpha ist und das Omega, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte, der den Kranz der Sterne um sein Vaterhaupt trägt und alle Dinge geschaffen hat, daß sie Wesen haben durch seinen Willen …

Und es bleiben draußen die Hunde und Zauberer und die Hurer und die Totschläger und die Abgöttischen und alle, die liebhaben und tun die Lüge …

Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! … und hinter den jauchzenden Auserwählten schließen sich des Paradieses goldene Donnerpforten auf ewig. –

Es war sehr spät geworden. Aus der Kapelle der wundertätigen Muttergottes brach geheimnisvoller Schein.

Benedikt entlohnte die beiden Kalkanten. Dann verschloß er sorgfältig das Orgelpult und schritt wie in Träumen die enggewundene Chortreppe hinab.

An der Steinbrüstung vor der Kirche lehnte eine schwarze Frau. Als sie den jungen Priester kommen sah, wandte sie sich und schritt langsam den Kalvarienpfad hinab.

Benedikt stand noch lange auf der Hügelkanzel des alten Heiligen. Über den ruhenden Bergen ging der brandige Sommermond auf. Die Grillen schliffen, der Nachtwind kam aus den Wäldern herab.

Der Weg führte an der Kirchhofsmauer vorüber.

Ihm war, als sähe er den Lichtblitz einer verblendeten Laterne.

Aber es war vielleicht auch nur ein spätes Glühkäferchen gewesen, das da im Hügelgrase lag.

Doch jetzt vernahm er das geisterhafte Schürfen unsichtbarer Spaten. Eine Türe kreischte. Schritte schlurften in der Totenkammer. Etwas Großes rührte sich hohl und hölzern.

Da überlief ihn eisiges Grauen, und er schritt eilig weiter, als habe er seinen eigenen Sarg im selbstgeschaufelten Grabe versinken sehen.

* * *

Der Himmel ob Sanktrain hatte sich verdunkelt. Am Südwestrande des Tales standen tiefe Wolkenberge mit hochaufgekuppten Firnen und finsteren Abgründen, in denen das Gewitter kochte.

Die Höhen waren voll Dunst; die Sonne stach schwül durch dumpfe Luft.

Man erhoffte eine Abkühlung. Aber man fürchtete auch ein mißgünstiges Wetter. Wenn um diese Jahreszeit ein Regen sich in die Berge hängte, dann strähnte er ohne Unterlaß bis in den Herbst hinein.

Es ging seit einigen Tagen ein Gespenst in Sanktrain um.

Niemand hatte es gesehen. Allen war es erschienen.

Ein Schicksal, das, von allen geahnt und verschwiegen, seinen Schatten warf.

Man gab sich zwar unbefangen und freudig gespannt. Jeder sprach zu jedermann von nichts anderem als vom kommenden Feste. Jeder war ganz Vorbereitung und frohe Erwartung.

In den Zeitungen las man mit Vergnügen die Artikel, die immer wieder auf das große Ereignis aufmerksam machten.

Man nahm mit herzlicher Genugtuung davon Kenntnis, daß selbst Seine Heiligkeit der Papst den Herrn Dechanten in einem schönen lateinischen Briefe beglückwünscht und allen frommen Pilgern seinen apostolischen Segen entboten habe.

Man interessierte sich für die in immer dichteren Schwärmen eintreffenden Gäste. Man zeigte einander den vielgenannten Schriftsteller, den allmächtigen Redakteur, den kleinen, wißbegierigen Reporter. Man umgab den berühmten Maler mit ebensoviel Neugier wie den interessanten Dirigenten oder den von dunklen Sagen umwitterten Millionär. Man bestaunte den geistreichen Konvertiten, dessen Bekenntnisbuch so viel Aufsehens erregt; man begrüßte den verdienstvollen Führer der Partei; man besah sich mit Ehrfurcht den beredten, unerschrockenen Abgeordneten.

Aber das alles war nun mit einem Male Schein und Ausflucht. Man verbarg sich mit seinen Gedanken hinter andere Dinge. Die Gäste merkten nichts. Aber unter den Sanktrainern argwöhnte jeder vom anderen, daß er etwas ahne, und das Gespenst stand unheimlich wie die Wetterwolke hinter allem, was gesprochen wurde und verschwiegen.

Es war nicht faßbar und hatte gar keine Gestalt.

Es war nur ein Schauer, der manchmal durch die Gassen wehte.

Ein verborgenes Geschehen, das irgendwo sich erfüllte, unsichtbar und doch fühlbar wie der Hauch ungeheurer kalter Fittigschläge.

Ein geheimes Grauen, das ansteckte und lähmte, das schwer in der brütenden Luft lag und doch aus irgendeinem gewissen Verdachte heraufzusteigen schien.

Ein böses Gewissen, das auf den heiter lächelnden Stirnen stand.

Ein Geist, ein körperloses Gerücht.

Ein Drache, der irgendwo auf der Lauer lag, mit glimmenden Schwefelaugen und gifthauchendem Rachen.

Etwas Ungenanntes und Namenloses.

Ein schwarzer, geflügelter Engel. Ein Dämon, der Feind, die Gefahr.

Man wußte gar nichts. Man wußte alles. Es war überall.

Man hatte nicht davon gesprochen und doch sich verständigt, sich geeinigt und verschworen.

Es war wie Rauschen in der ehern glühenden Luft.

Eine Angst und Spannung, die wesenlos hinter allem dunkelte.

Ein Spuk, der irgendwo gesehen worden war, dessen Name niemand erwähnte und der doch auf alle Gesichter seine Zeichen geschrieben.

Vor mehreren Tagen war ein alter Bettler in Sanktrain erschienen, ein gebeugter, finsterer Greis, dem man schon mehrmals begegnet war. Aber niemand vermochte sich genau darauf zu besinnen, wo er diesen unheimlichen Alten zum ersten Male gesehen. Es war wie ein Bild aus einem früheren Leben. Oder wie die plötzliche Verkörperung einer oft empfundenen Ahnung, eines oft gedachten Gleichnisses.

Auf den Brüstungen steinerner Brücken, auf Radsteinen und im grauen Unkraut der Straßenränder war er sonst gesessen, weiß vom heißen Staube der Jahrmarktfahrer, manchmal blind, mit eintönig singendem Munde, manchmal lahm mit den Krücken im Schoß und der pechschwarzen Fidel in den Händen, manchmal mit Schorf und Blasen ekelhafter Krätze bedeckt. In Träumen oder Gesichten oder Dichtungen: kein Mensch wußte es. Man ahnte nur dunkel ein vorbedeutendes Wiedererkennen.

Wann war es noch gewesen, da jener Bettelgreis von Stadt zu Stadt zog, das schwarze Todeswetter im Rücken? Damals wanderte er aus den Niederungen des Ostens herauf an den großen Strömen, und wo sein Fuß hintrat, da standen die Münsterbauten still, wo sein Schatten hinfiel, da blieben alle Herzen und alle Uhren stehen, aus den Brunnen quoll vergiftetes Wasser, aus den Judenvierteln aber schoß die goldrote fegende Lohe gen Himmel, ein gräßliches Fanal von Ort zu Ort …

Wann war es gewesen, da er auf den vergrasten Trümmern der großen Stadt saß, umheult von den Wölfen, die in verfallenen Tempeln heckten, umflügelt von den fahlen Geiern, die in den Bogen verödeter Theater horsteten? …

Nun war er hier gewesen, die Kinder waren vor ihm schreiend hinter ihre Mütter geflüchtet, die Hunde hatten vor ihm die Schwänze gekniffen, selbst die beherzten Pferde hatten vor ihm gescheut. Langsam war er durch die weiße Glut des mittäglichen Marktplatzes geschlichen, er, der keinen sichtbaren Schatten warf. Man hatte den verdächtigen Alten ungespeist davongejagt; da hatte er verächtlich den Staub aus seinen Lumpen geschüttelt und war weiter gewandert, in den ehern flammenden Sommer hinaus.

Seither ging ein Gespenst um in den Gassen von Sanktrain.

Eine Spinne, die ihre grauen Garne über den Menschen zusammenspann.

Eine Kröte, die alles bekrochen und mit ihrem ätzenden Saft vergiftet hatte.

Man ruhte ja nicht. Man betrieb weiter die frohgemuten Zurüstungen.

Aber die Vergoldungen an den Triumphpforten schienen über Nacht erblindet zu sein; die roten Blumen in den geschmückten Fenstern wurden krank; auf allen Menschen lag Meltau.

Trotzdem strahlten die Mienen von heiterer Zuversicht. Man rieb sich zufrieden und herzlich die Hände. Man stellte die günstigsten Prognosen. Man pries den ahnungslos vorfreudigen Gästen das gesunde Klima von Sanktrain. Man vergaß, daß Cesare Faleschini schon seit einigen Tagen spurlos verschwunden war.

Ein Arbeiter, ein Heimatloser. Er war weitergezogen, unstetes Künstlerblut, vielleicht eine fatale Weibergeschichte …

Aber des Nachts, wenn die Menschen in erschöpftem Schlafe atmeten, brach das Gespenst auf aus seinem Versteck.

Eine riesige hagere Frau mit welken Brüsten und wildem, zerrissenem Gesicht.

Die zerfranste Schleppe ihres Hadernkleides schleifte im Staub. Die schwarzen Todesflügel brausten hohl wie ferner Hagelschlag an ihren Schultern.

So schritt der düstere Engel durch die schwülen Gäßchen, an den Schwellen der kleinen Bürger vorbei, hinaus auf den offenen Marktplatz, wo im Mondschein der helle Brunnen rauschte.

Und es folgten ihr Heerscharen winziger Diener. Staub im Staube, den ihr schleppendes Gewand aufwirbelte; Atem in ihrem Hauch; Dunst in der dumpfen Luft ihrer Bettelkleider. Ganze Schwaden, Völker, Wolken von Kriegern, gehorsam dem Befehl ihrer schwarzen Königin. Körperlos und doch wesenhaft; flüchtig und doch unvertilgbar. Der Anfang und das Ende aller Dinge. Ein Heerwurm von Nichts, daraus alles wird. Ein Zug von Riesen, die den Kosmos tragen. Ein Strom von Elend, Sorge und Tod.

Da und dort blieb die hagere Frau stehen und zeichnete dieses Haus und jenes. Sie sah durch die niedrigen Fenster in die Stuben, in denen die Menschen heiß atmeten und mit ihren Träumen rangen. Sie blies die Schwellen und Schlösser an, und in ihrem Hauch stürmten Myriaden von feinen Sporen durch die Fugen.

Dann ging sie weiter, und als sie am hellen Brunnen vorüberkam, hörte das Wasser auf zu fließen, als hielten die unterirdischen Quellen ihre Pulse an oder als stockte das Herz der Erde unter ihrem leisen Schritt.

Die Hunde heulten kläglich zum Monde hinauf. Sie witterten die riesige Frau mit den welken Brüsten, deren Schwingen rauschten wie eiserne Sensen oder fallendes Eis.

In ihrer Spur lagerte sich der Dunst, der von ihr ausging.

Als sie zum schönen alten Eckhause kam, in dessen Obergeschoß noch ein goldenes Licht wachte, blieb sie stehen. Lange starrte sie nach dem einsamen Wächterfenster hinauf; dann wandte sie sich und kehrte vor Hahnschrei nach ihrer Höhle zurück.

Dort, in einer stinkenden Kammer, lag auf verjauchtem Strohsack der, von dem sie gekommen war.

Sie neigte sich über ihn und löste sich in einen Schwaden wimmelnder Fäulnis auf.

* * *

Werner Wendt verspürte schon seit einigen Tagen eine seltsame Erregung.

Er wußte nichts, aber ihm schien, als warne tief unter seinem Bewußtsein eine unruhige Furcht.

Er ahnte sich auf einer Fährte, die er selbst noch nicht sah.

Es ging etwas vor. Aber er vermochte sich über seine Befürchtungen keine Rechenschaft zu geben.

Er spürte in den Gassen umher. Nichts verriet die Gefahr.

Er sog die Luft in argwöhnischen Zügen ein; es lag in der Luft, eine böse, unheilverkündende Witterung.

Es war ja auch möglich, daß er sich täuschte. Aber dabei wurde er nicht ruhig.

Die Sorge schlich immer wieder an ihn heran wie eine Schlange. Sobald er sich beschwichtigte, erhob sich ein warnender Schatten vor seinem inneren Blick.

Es verbarg sich etwas hinter diesen befriedigten Mienen, wie ein Kulissenbrand hinter dem bunten Vorhang sich verbirgt, bereit, mit glosendem Rachen sich über die ahnungslos wartende Menge zu stürzen.

Vielleicht war das alles nur Einbildung. Vielleicht stand er nur unter dem Eindrucke des seltsamen Buches, das er eben las: des Buches, das der Geisterer ihm geschenkt.

Aber sowie er schärfer über seinen Verdacht nachsann, verflochten sich alle Glieder zur lückenlosen Kette.

Ein paar ganz unbedeutende Ereignisse, die scheinbar in gar keiner Beziehung zueinander standen und doch, von einem Punkte aus gesehen, sich vollkommen deckten. In strahlgrader Linie nach einem bestimmten Ende wiesen.

Nur ein paar ganz belanglose Ereignisse:

Cesare Faleschini war mit einem Male verschwunden. Vielleicht auch schon andere vor ihm. Aber gerade sein Abgang mußte besonders auffallen.

Cesare Faleschini war auch ihm, dem Doktor, ein lieber, fast vertrauter Mensch geworden. Er trug Musik in sich, und Musik verbrüdert. In der Musik besitzen alle Söhne eine große innere Heimat, das Geheimnis einer Zusammengehörigkeit, die mit ihrer Sprache jeden Unterschied überbrückt.

Wenn Cesare nachlässig und malerisch auf seinem Brückengeländer saß und mit wenigen skizzierenden Gebärden den Süden in das neblige, dumpfheiße Bergland gleichsam hineinimprovisierte, dann blieb auch der Doktor stehen und lauschte lächelnd den mannigfaltigen Serenaden des Langobarden.

Allein eines Abends blieb Cesares goldene Kehle stumm. Mißmutig und armselig kauerte der blonde Welsche auf dem Brückengeländer, die Gitarre hing zwecklos in seinen Schoß hinab, teilnahmsvollen Fragen wurde der Bescheid, man fühle sich heute nicht disponiert. Auch der Doktor erkundigte sich nach der Ursache des Schweigens. Mal di testa, sagte Cesare traurig in seinem spitzigen Menegin; ün poco fioco, ün poco indisposto … In seinen Augen glänzte das Fieber. Der Doktor verschrieb ihm ein Pulver; aber am nächsten Abende fand sich Cesare überhaupt nicht mehr ein, und alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Er sei schon immer so unbeständig gewesen, sagte ein Friauler Polier; wahrscheinlich wieder eine Weibergeschichte … Er sei eben zu sehr Künstler … Das klang alles recht glaubwürdig; Cesare Faleschini kam nicht mehr zum Vorschein und war in wenigen Tagen vergessen. Das Fest rückte immer näher heran. Der Zuzug steigerte sich. Wer hatte da Zeit, dem Verschwinden eines leichtsinnigen Maurergesellen lange nachzugrübeln?

Aber der Doktor vergaß ihn nicht. Das bleiche Gesicht Cesares mit den fieberglänzenden Augen tauchte anklagend vor ihm auf. Lächerlich! Warum sollte ein welscher muradore nicht einmal eine Angina oder dergleichen haben? Aber warum war er aus Sanktrain verschwunden, wenn er sich unwohl fühlte? Warum war wenige Tage darauf der Dr. Dreythaller hier gesehen worden? Es konnte ihn ja einer der Sommergäste zu sich berufen haben. Aber warum schlug nun da und dort aus den Häusern der beißende Lysolgeruch auf?

Wendt ging in die Apotheke und gab selbst ein schwieriges Rezept ab. So fand sich ein Vorwand zu längerem Warten. Er habe Zeit, sagte er dem Pharmazeuten. Bald nach ihm trat eine Frau ein. Sie erschrak, als sie seiner ansichtig wurde. Sie hatte plötzlich das Rezept zu Hause vergessen – das gewisse alte Rezept, der Herr Provisor wisse schon, ja, aber natürlich, nicht wahr, Herr Doktor, ohne Rezept kriegt man nix, das wär eine schöne Wirtschaft, wann man so ohne Rezept mir nix dir nix die giftigen Sachen ausg'folgter krieget, Ordnung muß sein, aber zu dumm, nit, in die Apotheken gehn und die Hauptsach vergessen, das Rezept …«

Eine andere trat auf den Pharmazeuten zu und flüsterte geschämig: »Mein Gott, so ein Flascherl Lysol halt, der Herr Doktor weiß ja, wie man das immer braucht … Es ist doch ein rechter Segen, daß man jetzt solche Mitteln hat …«

Eine dritte prallte zurück und kaufte schließlich nach vielen lauten Worten ein Stück Seife; aber der Doktor sah im Spiegel die hastig verborgene Flasche mit der braunen Säure.

Er strich unruhig durch die Gassen.

Die Leute desinfizierten. Er lachte grimmig auf. Sie hatten ja das Wunderöl des tausendjährigen Heiligen. Wozu auf einmal in die Apotheken laufen und desinfizieren?

Es war nicht gerade auffällig. Ein minder Argwöhnischer würde gar nichts bemerken. Es war ja sehr löblich, daß das große Reinmachen vor dem Feste auf solche Weise betrieben wurde. Aber hinter diesen ungewöhnlichen Maßnahmen verbarg sich ein schlechtes Gewissen.

Schlechtes Gewissen: so sahen sie alle aus, die ihm begegneten. Man bog zur Seite, man trat ins nächste Haus, man starrte in die Luft oder zu Boden. Der Doktor kam sich vor wie ein gemiedener Verbrecher oder wie ein Gläubiger, der für ungeheure Schuld Genugtuung zu fordern hat.

Überall wurde geschwemmt, gekalkt, geklopft; ganz Sanktrain wurde gescheuert und ausgelaugt. Aus allen Toren der kleinen Handwerkerhäuser in den Hintergäßchen strömten die Schwalle trübbrauner Spülbrühe. Aus allen Fluren schlug der schwüle Warmbadgeruch feuchten Holzes. Durch diesen dumpfen Brodem stach aufdringlich der ätzendsüße Gestank von Lysol und Creolin hervor.

Wendt trat auf eine Frau zu, die eben mit triefenden Hadern die Schwelle striegelte. Sie hatte sein Kommen nicht bemerkt.

»Warum desinfizierens denn?«

Die Hafnerin ließ den braunen Lumpen fast aus der Hand fallen.

»Warum ich was tu?«

»Warum Sie desinfizieren? Ich riech doch das Zeug.«

»Ah so. Na, so. Weil's halt g'sünder ist.«

»Ich hab schon gemeint, es wär jemand krank bei Ihnen.«

»Ah nein, Gott sei Dank, unberufen. Bei uns is gar niemand krank. Schon drei Jahr nit.«

»Desto besser. Aber zu was nehmens dann Creolin?«

»Ah so, das meint der Herr Doktor. Das is halt wegen die Schaben. Die machen mir gar so viel Schaden. Wann man damit aufwascht, werns hin. Und die Schwaben auch. Die Schaben, das is nit zum sagen, was mir die Schaden machen.«

»Da ist Lysol noch besser,« lauerte der Doktor; »gegen diese Schaben ist Lysol das beste.«

»Ich hab schon immer das da,« sagte die Hafnerin gelassen.

»Ah so. Ich hab schon gemeint, das Lysol wär am End ausgegangen.«

»Davon is mir nix bekannt.«

»Oder Kampfer oder Naphtalin.«

»Das vertrag ich so schlecht. Da wird mir immer ganz schlecht auf der Brust.«

»Aber wissens, diese G'schicht stinkt auch verdammt.«

»Das verzieht sich schon.«

»Ich meine nur, daß die Fremden, die schon da sind, sich nicht am End etwas Falsches denken. Den Geruch kennens doch aus die Spitäler. Wär zuwider.«

»Was sollen sich die denken? Is doch besser, die Schaben umbringen.«

»Ah, freilich. Das ist ein rechtes Schabenjahr. Ich mein ja auch nur so. Geredet ist geschwind etwas, und dann laufens euch alle davon, die fremden Herrschaften.«

Der Doktor ging weiter. Der scharfe Spitalgeruch begleitete ihn auf seinen Wegen. Man wich ihm aus. Wer ihn kommen sah, bog unversehens in die nächste Türe. Andere gaben sich sichtlich Mühe, recht unbefangen und beschäftigt zu erscheinen.

Am Triumphbogen zu Füßen des Kalvarienberges arbeiteten noch immer einige Leute. Das fürsterzbischöfliche Wappen mit dem schnurgezierten Kardinalshut darüber wurde aufgesetzt. Der Dechant stand unter dem Bogen und sah zu. Als er den Doktor gewahrte, schlug er rasch den Gnadenpfad nach der Höhe ein.

* * *

Werner Wendt atmete inbrünstig und tief, als er endlich den Wald erreichte. Hier blieb jener beißend süße Hospitalgeruch zurück. Aber der Doktor verspürte noch immer den Hauch des Miasma, dieses ihm sonst so gewohnten Dunstes. Er wußte, es war nur der Eindruck, den er empfangen, der jetzt bohrend in ihm fortklang. Es war ein Nachwehen und nicht Wirklichkeit.

Jetzt trat er in den Bildschnitzerhof.

Der Marterl-Lukas saß wie gewöhnlich auf der Bank vor seinem Hause. Aber heute feierten die Schnitzklingen; ein unvollständiger Heiliger lehnte in hölzerner Starre zwischen dem müßigen Gerät. Dagegen schien der Lukas eifrig bemüht, ein Bild, das er wohl im Herzen trug, mit dem lebendigen Urbild an seiner Seite zu vergleichen. So eifrig sprach er in die Regula hinein, als gälte es, aus diesem jungen Stoffe die Gestalt zu erlösen, die darin gefangen gewesen und des Befreiers geharrt hatte – seine eigene Heilige.

Erst der Schatten des nahenden Besuchers schreckte die beiden jungen Leute auf. Der Lukas tastete nach seinem Stocke, die Regula stieß einen leisen Schrei aus und huschte ins Haus.

»Jesus, der Herr Doktor, die Freud! Und sieht der Herr Doktor das Neueste? Es geht schon so ein bisserl mit einem Stock.«

»Das Neueste seh ich schon,« lächelte der Arzt; »mir scheint, mir scheint, die Regula versteht sich besser aufs Gesundbeten wie die Alte?«

Der Lukas wurde verlegen.

»Daß der Herr Doktor immer grad so auf den Nagel schießt.«

»Wird schwer sein, wenn die Scheiben so nah hängt.«

Er setzte sich behaglich auf die besonnte Bank. Hier wehte eine reine, gesunde, helle Luft. Hier war wirklich Heimat und Liebe.

»Nämlich …« Der Bildschnitzer stockte und suchte. »Grad morgen hat die Regula hinuntergehen wollen zum Herrn Doktor.«

»So. Es fehlt wohl da auf der linken Seiten?«

»Der Herr Doktor is der reinste Herrgott.« Der Lukas kraute sich den dunkellockigen Kopf. »Nämlich, daß ich's grad sag, weil's sich schon so auftrifft, net? … Nämlich, ob der Herr Doktor sie wieder haben möcht.«

»Die Regula? Ganz haben, bei mir behalten?«

»Ah nein. Nur so. Für eine Zeit.«

Wendt strich sich den knisternden Bart.

»Lang wirst sie mir doch nicht lassen, wie ich dich jetzt kenn. Das werden wohl so eine drei Wochen sein, diese Zeit.«

Der Schnitzer lachte betreten und vergnügt.

»Dem Herrn Doktor braucht man ja gar nix zu sagen.«

»Freilich, wenn man gewisse Leut so reden hört, daß man ihnen die Bank unterm Sitz wegstehlen könnt. Aber warum lauft denn die Regula davon? Das war ja alles sehr in Ehren.«

Der Lukas kramte die Schnitzmesser zusammen.

»Ich wer's gleich rufen. Sie ist halt jetzt so g'schamig. Und was ich hab sagen wollen, am Sonntag wär halt das erste Aufgebot.«

»Ihr habts es ja stark eilig.«

»No ja,« sagte der Schnitzer; »wann einer eine schlechte Büxen hat, soll er lieber drucken, solang der Vogel in der Näh sitzt, net? Und wann er nimmer stad halten kann, schon gar.«

»Hast ganz recht, Lukas. Und was sagt die Vormundschaft und was alles dazug'hört?«

»Was sollen die sagen? Werd doch ein ehrlichen Menschen heiraten dürfen, net? Und das Häusel wird verkauft, mitsamt dem Grund. Das Häusel mag's nit behalten. Braucht's auch net. Was soll's anfangen damit? Und wo's noch umgehen tut in der Stuben.«

»Umgehen, was? Und da findet sich einer, der's kaufen mag?«

»Wann der Herr Doktor wisset, wer? Der Herr Dechant selber. Und ein nobles Stückel Geld gibt er dafür. Na, da wär die Regula doch dumm.«

»Was will denn der damit anfangen?«

»Was weiß ich? Kann ja den Teufel ausräuchern, der dorten umgeht. Hat ja den Weihwedel dazu. Wie halt die Leut reden, der Herr Doktor kennt's ja eh. Daß in einer Nacht auf einmal Licht war in der Stuben, und daß man den Ungut hat drin g'sehn umanandspüren. Daß die Emmrenz kein Ruh hat in der Erden, sagen die anderen. Alsdann ich geb nix auf solchene Sachen, ich schon nit.«

Der Doktor saß vornübergebeugt über seinen gespreizten Knien. Der breite Hut schlenkerte in seinen Händen.

»Kann schon sein, daß was umgeht da droben, Lukas. Kann sein, daß einer den eigenen Ungut gesehen hat hinter den Scheiben. Aber das mit dem Hinunterkommen zu mir, weißt, das hat einen Haken. Nicht daß ich die Regula nicht möcht. Aber da sind andere Sachen, kann's dir jetzt nicht sagen, wirst es vielleicht schon einmal erfahren. Ich werd dir in ein paar Tagen Post schicken oder ich komm selber, vielleicht kannst sie beim Herrn Lehrer in Unzing unterbringen. Der nimmt sie so gern wie ich. Und wenn das nicht geht, so schickst sie in meinem Namen auf die alte Wendt hinauf zum Winkler, da ist sie dir aufgehoben wie im Schachterl. Aber jetzt möcht ich sie doch einmal sehen.«

Das Mädchen kam, voll erblüht und rosenrot bis unter die haselbraunen Flechten.

»Also ist das wahr, kleines Fräulein, daß du willst unter die Klosterfrauen gehen? Und da soll schon wieder ich dran schuld sein … Ja, Lukas, mit deiner Kunst ist's jetzt gar und aus. Jetzt kannst deine alten Heiligen da begraben. Außer du machst nichts weiter als wie lauter Jungfrauen.«

Es half dem Doktor nichts, die glücklichen Brautleute bestanden auf seinem Bleiben, die bucklige Veronika, längst ausgesöhnt mit dem Umschwung der Dinge, mischte sich auch darein, und so mußte er zwischen ihnen hinter dem rasch gesäuberten Gartentische sitzen. Ein blühweißes Linnen ward darüber gespreitet, flaumiges Weißbrot zum braunen Kaffee – mit wenig Zickori, wie das Vronele eindringlich versicherte – aufgetragen.

Man sprach von fröhlichen Dingen, von Genesung und froher Erntehoffnung, vom nächsten Frühling, vom kommenden Feste, von der Erweiterung der kleinen Wirtschaft.

Der Doktor brach mit ihnen das liebe, heilige Brot und sein Blick wurde tief und weich.

»Und wem verdanken mir das alles,« sagte der Lukas; »niemand anderem als dem Herrn Doktor. Ohne den Herrn Doktor läg ich längst drunten hinterm Beinhäusel.«

Er hielt ein; die Regula saß ihm gegenüber zur Linken des Gastes. Er sah, wie ihre Augen hinter heiß aufschießendem Quell sich vertieften, und brach ab.

»… Ohne den Herrn Doktor wär halt überhaupts nix,« schloß er etwas unbehilflich und entscheidend.

Wendt legte die Hand auf seinen Arm.

»Erstens, das ist nicht wahr. Zweitens, es hätt bloß ein anderer müssen an meiner Stelle sein, dann wär's vielleicht genau dasselbe. Und dann, dazu hab ich dir die Regula ja nicht ins Haus gegeben, weißt. Also, die Hauptsach, die habt's ihr euch schon selber zu verdanken. Aber wenn ihr weinen wollt's, Leuteln, dann geh ich gleich, das kann ich wo anders auch haben.«

Tiefe Vesperweihe lag über dem Hof. Es war ein stiller, feierlicher Spätnachmittag. Die Bienen summten, im Fenster quirlte der Hansl, der schwarzweiße Peterl umschmeichelte die Beine des Gastes.

»Aber der Herr Doktor wird doch zur Hochzeit kommen?« fragte die Regula mit nasser Stimme.

»Nicht nur kommen. Wenn ich noch lebe, so geb ich die Hochzeit, das bitt ich mir aus. Nicht drunten bei mir, das geht nicht, da drunten ist's nicht gut. Hier oben bei dir, Lukas, wo der Frieden ist. Ihr sagt's ja, ich bin an allem schuld, so ist's nur gerecht.«

Der Bildschnitzer machte Einwände.

»Und wie der Herr Doktor daherredet. Wann der Herr Doktor noch am Leben ist! In vierundzwanzig Tag sein mir schon dorten.«

»Aber ich könnt verhindert sein, nicht? Der Mensch ist nie sein eigener Herr, ich schon gar nicht. Aber dann weißt du, daß ich im Geiste bei euch bin. Jetzt aber gute Nacht, drunten wird's schon dunkel, es wird spät. Ich muß gehn. Laß dich noch einmal anschauen, Regula. Erinnerst dich, wie du hast mit mir über den Steg gehen wollen? Ja, das war eine Nacht! Gut hast dich herausgepflegt, kannst dich bei der Vroni bedanken, verliebte Mannsleut denken an so was nicht. Na, das freut mich … Jetzt hast ihnen ja den neuen Herrgott hing'stellt, Lukas, hoffentlich brennt dem eine Latern, daß der Mensch dort in der Nacht eine Leuchten hat. Lebts wohl, Leuteln, vergeßts mich nicht in eurer Verliebtheit. Und wegen dem anderen – das werd ich dir schon zu wissen machen, Lukas.«

Er winkte noch einmal nach der abendlichen Höhe des Hofes zurück; dann verschwand er in der Dämmerung des nahen Waldes.

* * *

Werner Wendt hatte in dieser schwülen Sommernacht das schwere alte Buch des Geisterer geschlossen über seinen letzten Worten:

»Jetzt habe ich hier nichts mehr zu suchen und nichts mehr zu finden. Was ich gefunden, das ist Sucht und Furcht, Lüge aus Sucht und Lüge aus Furcht und alles zusammen ein schwindelnder Tanz von Betrunkenen, um ein Feuer, das sie einmal mit diesem, einmal mit einem anderen Namen Gott nennen und in dem sie zum Schlusse verbrennen.

»Ich gehe hinauf, so lange die Kraft noch ausreicht. Ich möchte nicht, daß die Erhaltung des Vergänglichen irgendwem zur Last fällt. Was mir selbst unvergänglich geworden ist, das habe ich zu erhalten versucht, in diesem Buche, das ich hiermit ende – Ulrich Werner Georg Krist von der Wendt, am Tage vor Sonnwend, eintausendneunhundertundzehn, in meinem dreiundneunzigsten Lebensjahr.«

Der Doktor wendete den Band um und schlug noch einmal die erste Seite auf:

»Ich heiße Ulrich Werner Georg Krist, zubenannt von der Wendt, und gehe jetzt, in meinem siebzigsten Lebensjahre, daran, die Taten, Fahrten und Erfahrungen meines Lebens in diesem Buche aufzuzeichnen.«

Welch ein Leben, welche Erfahrungen, welch ein Schluß!

Der Doktor strich liebkosend über das Blatt, das die feinen, starken, altertümlichen Schriftzüge trug. Er ergriff den ganzen Bund der Bogen und ließ die Blätter unter dem Daumen durchgleiten. Bis zum Ende hielt die Schrift des Alten gleichmäßig aus; dreiundzwanzig Jahre lang hatte er in seiner hohen Einsamkeit an diesem Buche geschrieben. Es war die Bibel eines Lebens; es war das Werden ganzer Geschlechter bis zu ihren letzten steilen ewigen Gipfeln hinauf, von den hoffenden Gefilden der Jugend bis zu den ernsten Wäldern der Manneszeit, bis zu den verklärten Höhen des Alters, bis zu den durch irdischen Dunst hindurchragenden Warten und Auflösungen der Greisenjahre. Ein großes, tief ergreifendes Lied, der Weg vom Alltag bis hinauf in die Ewigkeit.

Der Doktor verschloß das Buch sorgfältig im Schiebfache seines Schreibtisches, als gälte es ein kostbares, siebenfach versiegeltes Geheimnis zu behüten.

Dann trat er ans Fenster. Es war an der Stunde.

Er las noch einmal die drei Briefe durch, die er an diesem Morgen erhalten hatte: Briefe von Ungenannten, wie er sie nun schon sattsam kannte. Es würden wieder hinterhältige Drohungen und Schmähungen sein: das war ihm gewiß, als er den ersten Umschlag löste.

Allein dasmal hatte er sich getäuscht.

Das erste dieser anonymen Schreiben enthielt eine kurze aber deutliche Warnung. Es gehe in Sanktrain etwas vor, was seine, des Doktors, wachsame Beachtung verdiene. Er möge sich aber ja keine zeitraubende Mühe geben, mit Fragen und Erkundigungen werde er gar nichts erreichen, vor allen Zungen hingen sichere silberne und goldene Schlösser. Er möge lieber die eigenen Augen offen halten, zu einer Zeit, da andere sie schließen.

Der zweite Brief enthielt nur wenige Worte: was er denn für ein Doktor sei, er möge sich das Lehrgeld heimzahlen lassen.

Das dritte Schreiben endlich brachte die erwartete Drohung. Er solle sich ja nicht um Angelegenheiten bekümmern, die ihn nichts angingen, es würde ihm sehr schlecht bekommen. Er solle das Herumschnüffeln und Spionieren sein lassen, man sei sehr wohl über seine Absichten unterrichtet, er solle sich's doch ja nicht einfallen lassen, ehrlichen Leuten das Wasser zu trüben, wenn er sich da noch weiter unbeliebt mache, so werde ihm etwas widerfahren, worauf er sicher nicht gefaßt sei.

Dieser Brief zeigte wie die beiden anderen eine offenbar verstellte, dazu sehr ungelenke Handschrift. Aber er trug an seiner linken Ecke eine Marke, die den ganzen Aufwand an Mühe vergeblich machte, das Daumensiegel des Absenders. Der Doktor nahm den verräterischen Abdruck noch einmal unter das Vergrößerungsglas. Schräg durch das Netz der schmutzigen Spiralen lief ein deutlicher weißer Strich, wie eine helle Straße, die durch aufgefurchte Äcker führt.

Doktor Wendt legte auch die Briefe ins Schubfach; dann verließ er die Stube, ohne die brennende Lampe auszulöschen.

Die Häuser schliefen; fern über den ruhenden Dächern spielten die fahlen Blitze des Gewitters.

Wenn überhaupt, so vermochte er nur in tiefer Nacht die verwischte Fährte zu finden. Er wußte, daß man all seinen Bemühungen stumpfen Widerstand entgegensetzen würde. Es war ganz aussichtslos, ohne unwiderleglichen Beweis den Behörden zuzusetzen. Auf bloßen Verdacht hin, und war er noch so gegründet, würde nichts veranlaßt werden. Er hatte die tausendfältige Übermacht gegen sich und sein Gewissen. Er mußte das gefährliche Wild einfach ausspüren wie ein Hund oder Häscher. Wenn er nicht den Faden ergriff, an dem er das ganze Gewebe aufriß, so mußte er den vollen Ausbruch abwarten oder Verbrechen über Verbrechen geschehen lassen.

Die Nacht war bleiern schwer und doch unruhig. Man ahnte den Wetterwind. In den Kastanienbäumen raunten die Geister; der Bach rauschte stark.

Der Doktor strich in die kleinen Bürgergäßchen hinein. Dort irgendwo glomm der geheime Herd des schleichenden Brandes. Es war ihm schon gestern aufgefallen, daß hinter den rotverhangenen Fensterchen eines bestimmten Hauses bis spät nach Mitternacht Licht brannte. Dieses Haus gehörte dem Flickschuster Jutz, einem finsteren, grämlichen Menschen, dem er einmal einen bösen Ahlenschlitz durch den Polster des linken Daumes sauber ausgebadert hatte. Es gab in Sanktrain wohl nur einen Menschen mit solcher Narbe.

Auch heute glühte das kleine Fenster rot aus dem schwarzen Viereck des Hauses hervor.

Wendt blieb stehen und lauschte.

Hinter dem glühroten Vorhang bewegten sich Schatten.

In der verdichteten Schwüle lagerte schwer der ätzende Desinfektionsgeruch.

Der Doktor überlegte. Er mußte aufs Geratewohl zugreifen.

Er klopfte ans Fenster und trat sofort zur Seite.

Das Licht verlosch augenblicklich.

Es schien, als werde die kleine Gardine behutsam zurückgeschoben. Wendt vernahm das leise Knirschen der Messingringe an der eisernen Stange. Jemand horchte hinter den Scheiben. Das währte minutenlang. Der Mensch am Fenster hatte ein schlechtes Gewissen. Jetzt drückte der Doktor sich wieder aus seinem Versteck hervor. Das Gewitter kam näher. Ein Blitz sprühte auf und zeigte, daß der Vorhang sorgfältig ausgespannt worden war. Wendt pochte zum zweiten Male und trat in den niederen Torbogen.

Drinnen ging eine Türe. Jetzt stand jemand im Flur. Eine Hand rührte leise am Schloß. Eine Stimme flüsterte: »Wer is?«

Der Doktor antwortete nicht.

Die Frage wurde wiederholt.

Wendt pochte nur ganz leicht an das Tor.

»Wer is denn?«

Erneutes, gedämpftes Klopfen antwortete.

Der Mann im Flur schien neugierig zu werden. Ein Lichtblitz drang durch eine Fuge, ein Streichholz zischte.

Dann schnarrte der Schlüssel. Ein ganz schmaler Spalt tat sich auf.

In diesem Augenblicke stieß der Doktor den Torflügel mit voller Wucht auf. Der Mann im Flur strauchelte zurück; fast hätte er die kleine Küchenlampe fallen lassen.

»Was soll denn das heißen, die Leut mitten bei der Nacht aufrebellen? Wer sein denn Sie?«

»Der Doktor,« sagte Wendt gelassen.

»Was wollen's denn von mir? …« Dann besann sich der Flickschuster. »Der Herr Doktor entschuldigt schon. Ich hab mich so erschrocken. Ich hab gemeint, es will einer einbrechen.«

»Schon gut. Sie haben mir ja geschrieben, Jutz, daß ich nicht herumspionieren soll. So spionier ich lieber nicht, komm gleich zu Ihnen.«

Der Schuster wurde bleich; die pechigen Schwarzfalten in seinem Gesicht sprangen grell hervor.

»Ich? … Ich soll dem Herrn Doktor geschrieben haben?«

»Ja ja. Machen Sie nur keine Umständ, Jutz. Die Narbe an Ihrem Finger da kenn ich zu gut. Erinner mich noch dran, wie ich den Schlitz kuriert hab. Tun Sie sich nur nicht stellen, Jutz. Ich weiß alles. In Ihrem Haus ist jemand krank.«

»In meinem Haus?« … Der Schuster lachte gezwungen auf; Wendt drückte das Tor hinter sich ins Schloß. »Da weiß der Herr Doktor mehr wie ich selber.«

»Redens nicht so laut, Jutz. Nicht notwendig, daß die ganze Gassen es hört. Wenn's auch die ganze Gassen längst weiß. Nur ich hätt's um nichts nicht erfahren dürfen, geltens. Also nur still. Schon wegen dem Kranken da drinnen.«

Er wies auf die Türe zur Rechten. Der Schuster stellte sich absperrend davor.

»Dahier drin is gar niemand krank. Gar niemand. Und überhaupts, was soll denn das heißen, so mir nix dir nix in ein Haus hineinbrechen. Da hat gar niemand das Recht dazu. Das möcht ich doch sehn, ob da jemand das Recht dazu haben tut.«

»Spielens mir nichts vor, Meister,« sagte der Doktor gelassen; »bei mir verfangt das nicht. Sie haben mich gestern in der Nacht gesehen durch die Gassen gehen und Ihr Haus beobachten. Sie haben ein ganz schlechtes Gewissen. Darum haben Sie mir den Drohbrief geschrieben. Und Sie glauben am End, ich hab Furcht vor Ihnen. Das wär so was. Also jetzt vorwärts marsch, damit ich seh, wieviel's g'schlagen hat.«

»Ich hab gar keinen Brief nit g'schrieben,« trotzte der Jutz. »Und das wird sich schon aufweisen, ob ich jemand hineinlassen muß, wann ich nit mag.«

»Wenn Sie ein gutes Gewissen haben, machens auf, damit ich seh, ob das wahr ist, was Sie sagen. Sonst komm ich mit den Gendarmen zurück.«

Der Schuster zuckte höhnisch die Achseln.

»Mit die Gendarmen …« Er hielt ein. »Dadrin hab ich meine Schusterei, sonst gar nix.«

»Erzählens mir nur nicht, daß Sie in der Nacht arbeiten, mein Lieber.«

»Wer wohl noch arbeiten derfen, wann i will.«

»O ja. Also gehn wir Ihre Werkstatt anschauen. Dann werden wir ja sehen, wer Maß nimmt. Sie oder ich.«

»Das gibt's nit. Dahinein kommt niemand, wann ich nit mag. Das geht niemand was an, was ich da drin machen tu.«

Wendt trat auf ihn zu. »Sie!« Er flammte den Schuster an, daß dieser ordentlich zurückgeschmettert wurde. »Wissens, was Sie sind? Ein ganz gemeiner Verbrecher, der zehn Jahr Zuchthaus verdient und noch was dazu. Haben denn Sie gar kein Gewissen? Mit dem Brief, den Sie mir geschrieben haben, hättens können drei, vier, zwanzig Leut anstecken! Nur daß das Geschäft gesund weitergeht, was? Ob ein paar Menschen sterben oder für immer verschandelt werden, das ist ganz alleseins, was? Weil das Sterben so schon gewiß ist, nicht wahr, ein bissel früher oder später, da liegt nichts dran, nur daß das dreckige Geld euch ja nicht davonlauft. Jetzt machens gutwillig auf, sonst komm ich mit den Gendarmen, und wenn die nicht wollen, komm ich mit Militär. Ich werd doch sehen, ob ich da eine Ordnung hineinbring in euren Saukotter.«

Der Schuster scheelte den Doktor aus weißen Augenwinkeln an. Aber er fand kein Wort der Gegenwehr.

»Also vorwärts jetzt, marsch!«

Der Jutz stand noch immer wie angeschmolzen vor der Türe.

»Das kann mir gar niemand befehlen, wen Fremden hineinzulassen. Ich bin Ihnen nit holen gangen.«

»Darum bin ich selber kommen. Sie! Ich rat Ihnen im guten. Machens keine Umständ mehr. Jetzt, wo wir schon so weit sind.«

Der Schuster senkte die Stirne.

»Ich bin ja nit schuld dran.«

»Das werden wir schon sehen, wer schuld ist.«

»Ich hätt ja den Herrn Doktor selber gerufen, wenn's hätt sein dürfen.«

»Wer hat's denn verboten?«

Der Schuster zuckte die Achseln.

»Es is halt wegen der ganzen G'schicht.«

»Weil der Heilige da droben eure Sauerei so schön aufputzen möcht, was?«

»Bei mir hat's ja nit ang'fangt,« versicherte der Schuster.

»Wo denn?«

Der Jutz sah zu Boden.

»Es sollen schon mehrere Fäll gewesen sein.«

»So. Das ist ja wunderschön. Ihr seid's ja recht liebe Leut. Den Fremden das Geld aus der Taschen ziehen und dafür eine ansteckende Krankheit zurückgeben. Weil's der Herr Heilige so gut kurieren möcht, was? Saubanda.«

Der Schuster machte noch einen Versuch.

»Wann der Herr Doktor vielleicht nit sagen möcht, daß durch mich herauskommen is. Ich hätt ja selber den Herrn Doktor g'holt. Wann's nit grad deswegen wär, wegen dem Herauskommen.«

»Ah so. Sie bilden sich am End noch ein, ich werd das verheimlichen. Den Gefallen werd ich euch Sanktrainern grad erweisen. Eure Schlechtigkeit noch schön vertuschen und eigenen Dreck drüberschmieren. Glaubts, weil ihr keine Pflicht kennts und kein Gewissen, muß ein anderer grad so sein.«

Der Schuster knirschte.

»Wann die Leut erfahren, das bei mir herauskommen is, sie erschlagen mich. Herrgott, was bin ich so dumm g'wesen und hab aufg'macht.«

»Nicht wahr. G'scheiter, Sie hätten Ihre Frau oder wer da krank ist, und noch ein paar Dutzend andere ruhig draufgehen lassen. Jetzt ist aber genug geredet. Jetzt kommens, wir werden sehen.«

Der Jutz zögerte noch.

»Ich möcht's den Leuten grad früher sagen, daß der Herr Doktor da is. Damit sie sich nit verschrecken. Und daß ich dem Herrn Doktor die Wahrheit sag. Mir wohnen jetzt halt ein bisserl eng beisammen, wegen der G'schicht, man möcht doch auch was verdienen. Und da schlafen die Mädeln im gleichen Zimmer und die Kinder und der Schwiegersohn, und da möcht ich's Ihnen doch früher sagen.«

Dem Doktor blähten sich mit einem Male die Schläfenadern. Er loderte auf den Schuster los.

»Das auch noch! Sie – –!« Er erstickte den gerechten Schimpf. »Wer ist denn also krank?«

»Die Frau,« gestand der Jutz verschüchtert.

»Die Frau! Und da habens gewartet. Das habens ruhig mitangeschaut?«

»Ich hab halt gemeint, vielleicht gibt's sich's so. Von selber.«

»Mörder seids ihr. Ganz gemeine Mörder. Alle zusammen. Und die Fräulein Töchter haben das auch mitangeschaut. Eine Mördergruben, dieses Sanktrain, mit Pech und Schwefel sollt man's ausbrennen, das Nest.«

»Ich hab ja eh g'sagt, es is nit recht, aber wann die anderen sagen, nix reden, nix erzählen, was willst da machen.«

»Was da zu machen ist. Ehrlich sein, ein Mensch sein, ein Mitmensch sein, ein Christ sein, das ist da zu machen.«

»Wann's dann nur nit heißt, durch mich is herauskommen.«

»Das wird's bestimmt nicht heißen. Es wird heißen, daß Sie es grad so verheimlicht haben wie alle anderen. Das ist die Wahrheit. Und das ist Ihnen, scheint's, lieber, als daß es heißen könnt: der Flickschuster Jutz ist der einzige anständige Mensch in Sanktrain, er hat seine Pflicht getan.«

»Deswegen hab ich ja den Brief geschrieben!« warf der Schuster schnell ein. »Damit daß der Herr Doktor was merkt.«

»Ah so, darum. Das habens jedenfalls sehr gut gemacht. Und diesen lieben Brief hat der Postbot zweimal in der Hand gehabt, und die Fräulein auf der Post auch, und zwischen anderen Briefen ist er gelegen. Da werden vielleicht andere auch etwas merken. So. Jetzt gebens mir die Lampe her.«

Er nahm dem willenlos gewordenen Manne die Leuchte aus der Hand und trat an ihm vorüber in das schwüle, übelriechende Quartier ein.

* * *

Mitten in der tiefsten Nacht gellte die Torglocke durch die Dechantei.

Dechant Hetz war noch an der Arbeit.

Er gönnte sich keine Ruhe.

Die Nachricht vom rätselhaften Ende des Geisterer hatte ihn zwar aus furchtbarer Spannung erlöst, und der Rückschlag der Befreiung war so heftig gewesen, daß er ihn fast aufs Krankenlager geworfen hätte. Das elend zusammengepreßte Herz dehnte sich mit jäher Wucht wieder aus; blendende, schwindelerregende Freude schoß auf den heimgesuchten Mann herein. Er fühlte sich von einer gnädigen Woge gegen die Küste geschmettert; die Rettung betäubte ihn, aber er fühlte doch wieder festes Land unter den Füßen.

So raffte er sich mit verjüngten und doch überanstrengten Kräften wieder auf und ging seines Weges weiter, auf das Ziel zu, das ihn von Tat zu Tat gelockt, Macht und Genuß.

Nun aber tauchte ein anderes Gespenst auf. Es war ein verzweifelter Fall, eine schreckliche Entscheidung. Die Folgen mußten um jeden Preis unterdrückt werden. Hier stand alles auf dem Spiele. In diesem Augenblicke war jede Erörterung kleiner lästiger Gewissensfragen höchst unerwünscht. Außerdem hatte man ihn zu spät verständigt. In ihrer begreiflichen Angst hatten die guten Leute jene erschreckenden Tatsachen selbst ihm verheimlicht. Wäre er rechtzeitig unterrichtet worden, so hätte man die ganze Angelegenheit vielleicht auf dem vorschriftsmäßigen geraden Wege erledigen können. Nun war es zu spät. Nun blieb nur mehr ein Mittel: das Verschweigen.

Die Sanktrainer hatten ja selbst alles Interesse an den Wirkungen ihres Schweigens. Gegen vorlaute Zungen konnte ja immer noch die offizielle Ableugnung versucht werden. In dieser Beziehung war alles bis auf den letzten Punkt vorbereitet. Es hatte schwere Opfer und heftige Erregungen gekostet: aber der Preis war des Aufwandes wert. Mit einem anderen Doktor hätte man ein vernünftiges Wort sprechen können. Diesem Menschen aber, diesem Werner Wendt war es natürlich ein gefundener Handel, die Sanktrainer Ehrentage nach Kräften zu trüben, und das obendrein unter dem Schutze des Gesetzes! Er war der gefährlichste Feind, der einzige. Er hätte unbedenklich die ganze Ernte mit einem einzigen Schnitte vernichtet. Auf die geleistete Arbeit, auf den unausbleiblichen Sturz der Sanktrainer Kurse hätte er gewiß nicht die mindeste Rücksicht genommen.

Auch die Werkleute waren in mehr als einer Beziehung verdächtig. Ihnen lag schließlich nicht viel daran, ob ihr Werk auch seinem Zwecke diente oder nicht. Ihnen mußte der Verrat in der Kehle erstickt werden, und zwar mit Gold. Sie waren keine Sanktrainer; einmal ausgezahlt, hatten sie keinen Anteil mehr am Feste.

Was überhaupt hatte getan werden können, war in Eile getan worden. Die ersten Opfer hatte man still beiseite gebracht. Darin waren ja doch alle Sanktrainer einig, daß man dem Feste zuliebe alles wagen müsse. Die Einsätze waren zu hoch; die Veranstaltungen waren zu weit gediehen. Sanktrain hatte sich auf die Tausendjahrfeier vorbereitet wie auf einen Krieg oder auf eine große Konjunktur. Ganz Sanktrain war eine Aktiengesellschaft; man haftete einander für das Gelingen des entscheidenden Schlages. So sah sich auch der Hauptaktionär einigermaßen geschützt: er selbst, und in ihm sein Stand, die Sache seines Standes, die Sache seiner Partei. Aber die unterdrückte Flamme konnte jeden Augenblick mit einem Knall hervorbersten; das verhehlte Dechant Hetz sich nicht. Die kleinste Unvorsichtigkeit konnte den Einsturz veranlassen, und dann wurde er selbst unter den Trümmern von Sanktrain begraben.

Er schrak zusammen, als die Hausglocke ehern aufgellte.

Es hatte sich erfüllt.

Er überlegte sekundenlang. Es war eine Ewigkeit für sein stockendes Blut.

Dann entschloß er sich. Er öffnete das Fenster und spähte am Hause herab. Drunten am Tore stand ein Schatten. Aus dem Südwesten zog das nächtliche Gewitter herauf. Eine phosphorblaue Blitzader stand einen Herzschlag lang still im schweren, schluchtigen Gewölk. Die Häuser sprangen gespenstig aus fahlem Himmel hervor; dann schlug flimmernde Finsternis über den Dächern zusammen.

»Wer ist da?« flüsterte Hetz.

»Ich,« antwortete der Mann am Tore; »Siebenschein.«

Der Dechant verspürte wieder das grelle Einschießen warmen Blutes. Er atmete dankbar auf; in diesem Augenblicke war der verhaßte Renitenzkaplan ihm der liebste Mensch auf der Welt.

»Sie, Herr Doktor? Was bringt Sie her? Ach so, Sie waren vielleicht in Heiligenzell? Sie brauchen gewiß meinen Wagen. Natürlich, sonst erreichen Sie Unzing nicht mehr trocken. Das Gewitter zieht schnell herauf. Ich kann Ihnen gleich anspannen lassen. Oder Sie können auch bei mir nächtigen.«

Er fuhr zurück; wieder grellte ein violetter Blitzstrom steil herunter. Man vernahm schon das hohle Atmen des Sturmes. Es roch bitter nach Elektrizität. Aber das Wetter konnte noch eine Meile weit stehen.

»Ich komme von Unzing,« antwortete Siebenschein aus dem geblendeten Dunkel herauf; »es ist eine sehr dringende Angelegenheit.«

»Jetzt, in der Nacht, sind Sie heruntergelaufen?«

»Ich habe keinen Wagen bekommen können. Die Sache duldet keinen Aufschub. Ich kann es hier nicht sagen.«

Der Dechant stutzte.

Fern wuchtete der Donner.

»Warten Sie. Ich will Ihnen selbst aufmachen.«

Er führte Benedikt die Treppe herauf. Das Licht fackelte in seiner Hand.

Siebenschein war heiß und staubig. Seine Augen glänzten.

»Ja, also, lieber Freund. Was ist denn los, um Gotteswillen? Aber so nehmen Sie doch Platz. Sie sehen ja ganz verstört aus.«

Benedikt nickte nur mehrmals. Das Sprechen fiel ihm schwer. Er rang mit dem Anfang. Seine zarten Nüstern flogen.

»Nämlich – das heißt …«

Er würgte etwas herunter und drehte seinen Hut zwischen den Händen.

Dann begann er ruhiger.

»Ich war heute abend in der Kirche. So vor dem Gebetläuten. Ich habe die Sachen für das Festamt auch auf unserer Orgel versuchen wollen.«

Der Dechant verneigte sich wohlwollend.

Aber Siebenschein hielt den schmalen Kopf gesenkt.

»Da kommt auf einmal der Meßner. Unser Meßner, der Christoph Licht. Ich soll mit dem Sakrament zu einer Sterbenden gehen. Ich frage natürlich, zu wem. Da sagt er: zur Frau vom Stegmüller. Es ist eine noch junge Frau. Ich habe gedacht: ein Unglück. Ich frage den Meßner, was ihr fehlt. Er sagt: er weiß nichts. Aber er hat nur nichts sagen wollen. Vor der Kirche hat schon der Stegmüller auf mich gewartet. Der Herr Dechant kennt ihn wahrscheinlich.«

Hetz nickte.

»Natürlich kenn ich ihn. Ein fleißiger und ruhiger Mensch.«

Siebenschein kam langsam in volleren Fluß. Er legte den Hut auf den Tisch.

»Der Stegmüller hat mir gleich alles gesagt. Er hat gesagt, wenn es mir sehr unangenehm ist, soll ich mich selbst mit einer Krankheit ausreden, dann holt er einen anderen Herrn. Er ist schon so, der Stegmüller. Ich bin natürlich gleich hingegangen. Ich habe es gar nicht glauben wollen. Es war so unwahrscheinlich. Aber dann habe ich mich selbst überzeugt.«

Der Dechant stand auf und trat aus dem Lichtschein der Lampe.

»Die Frau hat nämlich die schwarzen Blattern, Herr Dechant,« sagte Siebenschein klar und hart.

»Die schwarzen Blattern?« fragte der Dechant zurück. Auf seiner Stimme lag plötzlich erstickende Asche. »Die schwarzen Blattern? Sind Sie gewiß? Die schwarzen Blattern?« Er nahm sich zusammen und klopfte Benedikt beschwichtigend auf die Schulter. »Sie haben ganz recht, wenn Sie das für unwahrscheinlich halten. Es ist auch unwahrscheinlich. Es ist ganz unmöglich. Es werden Windpocken sein. Oder etwas Ähnliches. Natürlich, die Leute glauben und reden immer gleich das Ärgste.«

»Es sind aber die schwarzen Blattern, Herr Dechant!« wiederholte Benedikt unerbittlich.

»Wo sollte die Frau die herhaben? Die schwarzen Blattern! Aus der Luft kommt das nicht heruntergeregnet. Sie müßte sich also irgendwo angesteckt haben. Wenn es eben wirklich die schwarzen Blattern sind.«

Benedikt schüttelte den Kopf.

»Da gibt es leider keine Täuschung, Herr Dechant. Die Frau hat wirklich die schwarzen Blattern. Sie ist eben angesteckt. Und der Stegmüller weiß auch, woher. Der Herd befindet sich hier, in Sanktrain. Sanktrain ist verseucht.«

Der Dechant lachte heiser auf.

»Da sehen Sie, wie die Leute reden. Selbst dieser Stegmüller, den ich für einen ruhigen Menschen gehalten habe. So eine Dummheit. Das müßte doch ich am ersten wissen!«

Siebenschein zuckte die Achseln. Es wurde still zwischen den beiden Priestern. Das Gewitter zog breit herauf. Die schweren Donner schlugen zermalmend von Wolke zu Wolke.

»Der Stegmüller behauptet, er habe die Seuche selbst von Sanktrain nach Unzing verschleppt,« sagte Benedikt endlich. »Er war vor sieben oder acht Tagen hier und hat sich in einem Stall einen Pferdekotzen ausgeliehen. Mit diesem Kotzen ist er dann nach Unzing gekommen. Die Frau hat den Kotzen selbst in die Sonne ausgespreitet und dann zusammengelegt, damit er sauber zurückkommt. Drei Tage darauf oder noch früher war sie unwohl, vorgestern hat sie sich legen müssen. Der Stegmüller hat sich nichts Schlimmes dabei gedacht, er hat noch nichts geahnt. Er hat gemeint, es sei irgendein kleiner Ausschlag. Heute vormittag hat er den Kotzen zurückgebracht. Da hat jemand, den er nicht nennen will, ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, daß die schwarzen Blattern in Sanktrain grassieren und daß die Anzeige unterdrückt worden ist. Nun hat er Bescheid gewußt. Wie er nach Hause kommt, findet er die Frau in hohem Fieber. Da war ihm alles klar.«

Der Dechant räusperte sich.

»Das klingt ja alles ganz plausibel. Aber: warum ist da gerade die Stegmüllerin angesteckt worden, warum nicht er selbst. Er war doch der Gefahr in erster Linie ausgesetzt.«

»Er meint, er neige nicht zu solchen Krankheiten. Ich habe ihn ja natürlich das Gleiche gefragt. Er sagt, er sei bei seiner letzten Dienstübung geimpft worden, weil damals Blatternverdacht herrschte. Es ist ja nicht ausgeschlossen, daß er auch noch an die Reihe kommt. Nachdem er aber gerade in den letzten beiden Wochen nirgends war als in Sanktrain, auf keinem Markte oder dergleichen, so fällt der Verdacht eben mit Gewißheit auf Sanktrain. Und dann hat ja dieser andere Mensch, den er nicht nennen will, ihm alles verraten.«

»Verraten! Da gibt es gar nichts zu verraten. Was soll da verraten werden? Ich werde Ihnen etwas sagen, mein Lieber: der Herr Stegmüller hat sich diese ganze schöne Geschichte einfach erfunden!«

»Das glaube ich nicht, Herr Dechant. Der Stegmüller ist nicht ein solcher.«

»Wozu hat er denn diesen Pferdekotzen gebraucht?«

»Er hat hier ein Paar Schweine gekauft. Da hat er den Verschlag ein wenig zudecken wollen.«

Der Dechant schlug lärmend auf die Tischplatte.

»Da haben wir's! Verseuchte Schweine hat er gekauft! Sehen Sie, mein Lieber, man muß nur fragen und nachdenken. Die arme Frau hat durch die Decke irgendeine ansteckende Schweinekrankheit erwischt. Glauben Sie, so was springt nicht auf den Menschen über?«

Siebenschein schüttelte wieder den Kopf.

»Das wird nicht stimmen, Herr Dechant.«

»Warum sollte das nicht möglich sein? So etwas sieht leicht wie Blattern aus.«

»Es wird doch nicht stimmen, Herr Dechant. Ich glaube kaum, daß es eine Schweineseuche gibt, die derart ansteckt. Und woher sollte dann der Stegmüller die Geschichte von den Blattern haben?«

»Eben. Das sage ich ja. Das hat er sich so zusammengereimt. Es hat jemand ein Wort fallen gelassen – die Frau hat vielleicht die Blattern, oder so ähnlich, Sie wissen doch, wie die Leute das Blau vom Himmel reden … Das wächst sich dann gleich in so einem Kopf zu voller Gewißheit aus. So entstehen Gerüchte. Sie – daß der Stegmüller ja nicht sich's einfallen läßt und hergeht und die Geschichte herumtrompetet! Das könnt man grad brauchen.«

»Es wird sich aber doch nicht gut verheimlichen lassen. Wenn es wirklich die Blattern sind, woran ich nicht zweifle.«

»Sie werden sehen, daß Sie sich irren. Sind Sie ein Arzt – oder der Stegmüller? Also! Von schwarzen Blattern ist unter gar keinen Umständen die Rede!«

Der Dechant sagte es schroff und befehlend. Er schliff diese kalten Worte zur schweren Klinge, die jede andere Meinung endgültig abschneiden sollte.

Siebenschein blieb ruhig. Aber seine Lippen waren blutlos, an seinen Schläfen schlugen die Adern.

»Ich bin freilich kein Arzt, Herr Dechant. Aber so viel verstehe ich doch auch. Und übrigens wird ja der Arzt selbst entscheiden. Er wird vielleicht zu spät kommen. Aber die Diagnose wird er trotzdem fällen können. Ich war schon beim Doktor, aber ich habe ihn nicht daheim angetroffen.«

»Bei welchem Doktor?«

»Bei Doktor Wendt.«

Der Dechant loderte erschrocken auf.

»Zu dem werden Sie nicht gehen.«

»Warum nicht?«

»Darum nicht. Ich verbiete es Ihnen, verstanden.«

»Der Stegmüller hat mich gebeten, ihn zu verständigen.«

»Was geht mich der Stegmüller an. Sind Sie der Knecht vom Stegmüller? Sie sind jetzt Pfarrverweser von Unzing und müssen wissen, was Sie zu tun haben.«

»Das weiß ich eben sehr gut.«

»Der Stegmüller soll doch den Bezirksarzt rufen. Wenn er schon glaubt, daß es Blattern sind.«

»Warum den Bezirksarzt, Herr Dechant? Jeder Arzt hat die Pflicht, den Fall zur Anzeige zu bringen.«

»Mensch!« brüllte der Dechant auf; »sehen Sie denn nicht, was Sie anstellen?«

»Und doch bleibt nichts anderes übrig, Herr Dechant. Der Stegmüller will sogar wissen, daß die Seuche schon zwei oder drei Opfer gefordert hat. Hier in Sanktrain.«

»Das ist eine niederträchtige Lüge.«

»Das wird sich ja herausstellen, Herr Dechant.«

Hetz ging schweratmend auf und ab. Der Wetterwind stieß dumpf gegen die Scheiben. Der weite Marktplatz grellte in raschen Schlägen weißblau auf. Geblendet starrten die schlafenden Häuser ins krasse Licht. Die Donner rissen ganze Wolkenhalden mit und schmetterten sie gegen die erdröhnende Erde.

»Und wenn es die Blattern sind!« Der Dechant blieb stehen. »Ein vereinzelter Fall ist noch lange keine Epidemie. Wegen eines vereinzelten Falles können wir unmöglich das Fest verschieben. Aufschieben heißt in diesem Falle aufheben … Sehen Sie denn das nicht ein? Diese unersetzlichen Verluste! … Wissen Sie, was das heißt: die Sache dem Doktor da hintertragen? Das heißt Hunderte von Existenzen mit einem Schlage zugrunderichten. Können Sie das mit Ihrem Gewissen verantworten?«

»Unbedingt!« sagte Siebenschein entschlossen; »es gibt gar keine Wahl!«

»Da gibt es sehr wohl eine Wahl! … Da sind noch ganz andere Sachen verschwiegen und unterdrückt worden, wenn's grad notwendig war. Wenn sich's ums Wohl des Ganzen gehandelt hat! Nicht Blattern, sondern Cholera und andere Katastrophen! Da gibt es sehr wohl eine Wahl.«

»Für mich als katholischen Priester und Menschen keine!«

»Für Sie als katholischen Priester! Sie sehen doch, daß die Sache des Katholizismus, der Kirche auf dem Spiele steht!«

»Allerdings, Herr Dechant. Sie steht auf dem Spiele, wenn wir die Angelegenheit verschweigen oder gar unterdrücken.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß ich vielleicht hingehen soll und mit einer Anzeige das ganze Fest verderben? Für nichts und wieder nichts!«

Hetz schlug sich zornig vor die Stirne.

»Genau das will ich sagen, Herr Dechant. Ich für mein Teil werde es jedenfalls tun. Ich werde den Fall zur Kenntnis bringen, sobald der Doktor die Diagnose gefällt hat. Oder er wird es tun. Ich werde gewiß nicht ruhig zusehen, wie aus einigen Fällen eine ganze verheerende Epidemie sich entwickelt.«

»Epidemie! Nur nicht gleich so große Worte. Von einer Epidemie sind wir noch recht weit entfernt.«

Siebenschein wuchs mit jedem Widerspruch.

»Das wird sich ja herausstellen. Ich gehe jetzt. Der Doktor wird nach Hause gekommen sein. Wenn nicht, so werde ich auf ihn warten.«

Der Dechant schrie förmlich auf.

»Halt! Sie bleiben!«

Benedikt wandte sich um.

»Ich glaube nicht, daß Sie mir das befehlen dürfen, Herr Dechant.«

Hetz trat dicht an ihn heran.

»Mensch! Überlegen Sie doch ein wenig, was Sie tun! Haben Sie denn eine Ahnung? Wissen Sie nicht, was von dem Feste alles abhängt? Dieses Fest aufschieben heißt eine nie wiederkehrende Gelegenheit versäumen! Wenn Sie jetzt hinlaufen und Lärm schlagen, so bedeutet das Punktum, Streusand drauf. Die Gäste kommen uns nie wieder. Die klatschen die Geschichte herum, und wir sind bis auf die Knochen blamiert.«

»Also man soll die Frau vom Stegmüller ohne ärztliche Hilfe lassen? Ruhig sterben lassen – um des sogenannten Ganzen willen? Und wenn die Sache schließlich doch herauskommt? Wenn es nicht mehr zu verheimlichen ist? Was dann?«

»Die Krankheit wird nicht um sich greifen,« sagte der Dechant zuversichtlich; »es sind alle Vorkehrungen getroffen.«

Benedikts Lippen zuckten in bitterer Erregung.

»Sie wissen also, daß Sanktrain verseucht ist?«

»Verseucht ist zu viel gesagt. Viel zu viel. Mein Gott, ein paar Fälle eben – soll ich vielleicht eine große Tafel aushängen oder ein Plakat: hier grassieren die Blattern …?«

Siebenscheins Stimme verlosch.

»Es war Ihnen also doch bekannt!«

Hetz legte ihm die gepflegte Hand auf die Schulter.

»Wer wird denn so ein Aufhebens davon machen? Sehen Sie, das sind solche Konflikte. Es gibt Fälle, die von der Pflicht der Anzeige entbinden. Die das Schweigen zur Pflicht machen. Versetzen Sie sich ein wenig in meine Lage. Stellen Sie sich einmal vor: in einer großen Hauptstadt wird ein Krönungsfest oder eine Ausstellung veranstaltet. Alles ist schon darauf eingerichtet, alles ist bis aufs letzte geordnet, Extrazüge sind bestellt, die Leute haben sich ungeheure Auslagen gemacht, ein ganzes Jahr ist über den Vorarbeiten vergangen – da bricht auf einmal eine kleine Epidemie aus, vielleicht in einer Vorstadt, vielleicht nur in einer einzelnen Straße. Glauben Sie, man wird das Fest deshalb aufschieben … Sehen Sie, mein Lieber, in solchen Fällen gibt's eben nur eines: Maul halten und sein möglichstes tun. Das habe auch ich getan. Etwas anderes ist mir gar nicht übriggeblieben. Zudem noch die Schwierigkeiten, mit denen unsere Partei zu kämpfen hat! So etwas wäre unseren Feinden doch ein gefundener Handel! Also.«

»Und wenn der Skandal jetzt öffentlich wird, werden die Feinde erst recht triumphieren. Sie werden eine starke Waffe gegen uns finden. Es wird heißen, daß katholische Priester sich zu Fälschern, Hehlern, Brunnenvergiftern hergeben. Zu Dieben und Mördern.«

Der junge Geistliche brannte in strengem Zorn.

Der Dechant maß ihn vom Scheitel bis zu den staubigen Schuhen.

»Möchten Sie sich nicht vielleicht ein wenig mäßigen, Herr Doktor Siebenschein?«

Aber Benedikt stand hoch und strafend wie ein Erzengel.

»Nein, Herr Dechant. In dieser Angelegenheit werde ich nicht schweigen. Das wäre gegen die Würde und die Pflichten des katholischen Priesters. Wenn Sie die Würde mit Füßen treten und die Pflichten Ihres Standes so weit vergessen, daß Sie die Gesundheit von Hunderten dem Geschäft oder der Politik zum Opfer bringen – ich werde mich nicht dazu erniedrigen.«

Hetz trat zurück und stemmte die Arme in die Seiten.

»Ja, Sie! … Sind denn Sie eigentlich dahergekommen, mir Vorschriften oder Vorhaltungen zu machen?«

»Nein, Herr Dechant. Ich habe dazu leider nicht die Macht. Sonst würde ich Ihnen befehlen, die Anzeige selbst zu erstatten, und zwar sofort. Schon um das Ansehen unseres Standes zu wahren.«

»Sie überspannter Narr!« sprühte Hetz zurück. »Was nehmen Sie sich heraus? Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?«

Der junge Priester sah seinem Vorgesetzten furchtlos ins Gesicht.

»Das weiß ich nur zu genau, Herr Dechant. Einen Mörder!«

Der Dechant strauchelte.

»Sie! Sind Sie denn ganz – –?« Er wurde mit einem Male ruhig. »Aber was reg ich mich denn auf?« Er lachte krächzend. »Ihren heiligen Eifer in Ehren, Herr Doktor Siebenschein.« Er sprach, wie man zu einem gefährlichen Narren oder zu einem kranken Kinde spricht. »Aber wir wollen die Sache doch nicht gleich so übertreiben …«

Er brach ab; der Blick des anderen wurde ihm unheimlich.

»Ich rede jetzt auch nicht nur von dieser Schuld, Herr Dechant.«

Heiße zischende Flammen betäubten den trübgelben Lampenschein. Ihnen nach prasselten die trockenen Steinhagel der Donner. Der Regen platzte in schwerem Schwall herunter.

»Sühnen Sie die andere, indem Sie sich zu dieser bekennen, Herr Dechant. Gehen Sie hin und erstatten Sie selbst die Anzeige. Kommen Sie dem Doktor zuvor! Es ist vielleicht noch nicht zu spät. Wenn Sie die Wahrheit bisher haben unterdrücken können, so werden Sie vielleicht auch für Ihre Unterlassung entschuldigende Gründe finden. Ich weiß ja nicht, wie die zuständigen Behörden denken. Sie sind schon mehr als einer Abrechnung entronnen. Wahrscheinlich wird es Ihnen auch diesmal gelingen.«

Hetz stand gelähmt.

»Ja, Sie! … Verstehen wir uns recht! … Sind Sie eigens heruntergekommen, um mich, Ihren Vorgesetzten, zu disziplinieren – oder was? Sind Sie mein Beichtvater oder Galgenpater? Bei Ihnen ist etwas nicht richtig dahier! Glauben Sie, ich weiß nicht, was ich tu?«

»Ich glaube ganz im Gegenteil, daß Sie das sehr genau wissen, Herr Dechant. Und Sie wissen jedenfalls auch, was Sie schon alles getan haben. Sie haben das sicherlich noch nicht vergessen. Ich kenne Sie. An Ihr Wohlwollen glaube ich schon längst nicht mehr. Einen Menschen wie Sie kann ich nicht als meinen Vorgesetzten anerkennen. Und das will ich vor jedem kanonischen Gericht verantworten.«

Die Stimme des jungen Geistlichen bebte.

»Sie wären imstande, die ganze Last auf den Doktor zu schieben … Sie haben ja Helfershelfer … Sie haben ihren ganzen Sprengel mit Lügen vergiftet … Jawohl, das haben Sie getan … Noch im vorigen Jahre hätte ich Ihnen das nicht zugemutet … Ich habe damals aufrichtige Verehrung für Sie empfunden, Herr Dechant … Ich habe zu Ihnen aufgeblickt wie zu einem vorbildlichen Priester … Ich wollte mich enger an Sie anschließen … Ich habe geglaubt, daß Ihre Abneigung gegen den Doktor auf bissigem Klatsch beruht … Ich habe mir trotzdem vorgenommen, Ihren Rat oder Ihre Weisung vorläufig zu befolgen … Ich habe dann den Verkehr mit dem Doktor gemieden … Ich habe immer gehofft, Frieden stiften zu können … Ich habe in Ihnen nicht nur den Vorgesetzten gesehen, sondern den älteren, erfahrenen, gerechten, gewissenhaften Amtsbruder …«

Benedikt sprach in kurzen, heftigen Stößen. Er zitterte am ganzen Leibe. Seine Stirne brannte.

Der Dechant hatte das Falzbein vom Tische gelangt und klatschte mit der breiten Klinge in seine gespannte Hand.

»Nun, und? … Und? … Das ist ja alles ungemein schmeichelhaft, Herr Doktor Siebenschein … Ungeheuer schmeichelhaft … Aber?«

»Aber das alles ist mit einem Schlage vernichtet worden, Herr Dechant. Heute traue ich Ihnen jede Niedrigkeit zu.«

»Das ist ja schön, daß ich das weiß. Sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Doktor Siebenschein. Wirklich. Solch eine Offenheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Und darf man nach der Ursache dieser beklagenswerten Gesinnungsänderung fragen?«

Benedikt hielt etwas zurück.

»Ich will Sie damit noch verschonen, Herr Dechant.«

»Verschonen? Was soll das heißen? Verschonen?«

»Ja, verschonen …« Er änderte die Stimme zu einem letzten Versuch. »Herr Dechant, ich spreche im Namen meines, Ihres, unseres Standes. Im Namen unserer Sache, im Namen Seiner Eminenz, im Namen unserer Religion! Es gibt nichts, was nicht gesühnt werden könnte. Auf Ihnen liegt schwere Schuld. Gehen Sie hin und zertreten Sie die niederträchtige Lüge des Schweigens. Es ist Ihre heilige Pflicht gegen Ihre Mitmenschen, gegen Ihre Mitchristen – aber auch gegen unseren Stand und sein Ansehen. Wenn wir Priester solche Schuld auf uns laden, die Gefährdung von Hunderten – was sollen dann die tun, denen wir ein Beispiel zu geben berufen sind.«

»Aber, mein Lieber, das ist ja ganz egal. Hier handelt es sich einfach um die Verhütung eines ungeheuren Verlustes. Wenn Sie in Ihrer einfältigen Schwärmerei, Sie entschuldigen schon, das nicht einsehen – dann bedaure ich lebhaft.«

»Gegen diesen Verlust steht ein anderer, Herr Dechant.«

»Behalten Sie Ihre hochweisen und unbegehrten Erwägungen gefälligst für sich. Mit dieser Frage haben sich gescheitere Leute wie Sie beschäftigt. Das kann ich versichern.«

»Das bezweifle ich gar nicht. Also Sie wollen Hunderte von Ahnungslosen der Gefahr preisgeben?«

»Von Gefahr ist längst nicht mehr die Rede.«

»Und Sie wollen die Würde und die Pflicht des katholischen Priestertums einfach verleugnen?«

»Ich glaube, Ihres geistlichen Rates nicht zu bedürfen, Herr Doktor. Was verstehen Sie vom katholischen Priestertum und seinen Pflichten. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Ruf, das wird gescheiter sein.«

Das innere Feuer schlug Benedikt rot in die Stirne.

»Gut, Herr Dechant. Ich werde Seine Eminenz von allem verständigen. Auch davon, daß Sie Seine Eminenz selbst in solche Gefahr bringen wollen.«

Der Dechant biß sich auf die Lippen. Dann zuckte er kalt und gelassen die Schultern.

»Versuchen Sie es, bitte. Seine Eminenz sind viel zu erfahren, um nicht zu verstehen, daß in einem solchen Falle die kleine Pflicht gegen die größere zurücksteht.«

»Nein, Herr Dechant. Seine Eminenz werden es nie billigen, daß an Stelle der Menschen- und Christenpflicht das Verbrechen tritt.«

»Seine Mitmenschen mit Hintansetzung des eigenen Ansehens aus einer peinlichen Verlegenheit retten – das nennen Sie ein Verbrechen?«

»Ja, Herr Dechant. Denn was Sie tun, tun Sie nicht um Ihrer Mitmenschen willen, sondern aus Eigennutz. Das weiß ich längst. Ich weiß alles, Herr Dechant, und jetzt will ich alles sagen. An Ihnen und durch Sie sind meine Ideale zugrunde gegangen … In Ihnen habe ich fast alles verloren, was ich in meinen Beruf mitgebracht habe … Ich bin so weit gekommen, daß ich Ihnen, einem Priester, der mein Vorgesetzter und mein Vorbild sein sollte, alles zutraue, jedes Verbrechen, jede Lüge und Niedertracht … Glauben Sie, es ist mir leicht gefallen, zu dieser Einsicht zu gelangen …?«

Der Dechant klatschte noch immer mit dem Falzbein in seine offene Hand.

»Ich habe keine Lust, Ihre Beichten anzuhören. Suchen Sie sich einen anderen aus.«

»Ich will nicht beichten, sondern anklagen …« Siebenschein zitterte wie ein gereiztes Tier vor dem Sprung. »Sie haben den Doktor verleumdet … Ich habe heute, wie ich hergekommen bin, gleich gewußt, daß Sie die unangenehme Sache wegleugnen wollen … Sie haben die Gesundbeterin zum Betruge abgerichtet … Sie haben gefälscht und verführt …«

Hetz legte das Falzbein weg. Stark und böse trat er auf Siebenschein zu.

»Vielleicht noch etwas?«

»Ja, noch etwas. Noch vieles … Sie haben die Gesundbeterin ermordet, Herr Dechant … Ich habe gegen diesen Verdacht gekämpft bis heute … Bis zu dieser Stunde … Ich habe es nicht für möglich gehalten … Ich habe gedacht, Sie hätten sich inzwischen gebessert … Aber ein Mann, der Hunderte einer Seuche preisgibt und andere dazu verführt, der ist auch zu solch einer Gewalttat fähig … Sie haben die Gesundbeterin beiseitegeschafft … Sie hat sich nicht erhängt … Sie ist von Ihnen stumm gemacht worden … In der Nacht von April auf Mai … Das sage ich Ihnen ins Gesicht … Wie damals der alte Geisterer … Ich habe sogar geglaubt, daß Sie den auch beseitigt haben … Soll mit mir geschehen, was will: aber das sage ich Ihnen in die Stirn hinein … Ich habe den Geisterer damals genau verstanden … Und Sie haben ihn auch verstanden … Ich habe es Ihnen angesehen …«

Dechant Hetz stand starr. Erstickt in Wut und Furcht … Seine Augen hinter den glitzenden Brillengläsern zogen sich verdächtig zusammen. Er sah um sich, wie nach einer Waffe oder nach einem Halt …

»Und das ist noch immer nicht alles … Sonst wäre ich nie dazu gekommen. Sie solcher Dinge fähig zu halten … Nie … Da war schon etwas anderes gewesen, was mir Ihr Bild zerbrochen hat … Sie wissen nicht, was das für einen jungen Priester bedeutet: in seiner Gesinnung so erschüttert werden … Herr Dechant: Erinnern Sie sich noch an den alten Meßner? … Im Vorjahre ist er gestorben … Gestorben unter entsetzlichen Gewissensqualen … Also dieser Mann, Herr Dechant – dieser Mann hat mir wenige Wochen vor seinem Tode gebeichtet … Jetzt wissen Sie's.«

Benedikt atmete erschöpft auf. Er brach fast zusammen unter der Last dieser Stunde.

Ein schmetternder Fahlblaublitz zerriß die Nacht bis in ihre letzten Tiefen. Die Regensträhne verbrannten in einem Funkenmeer, der triefende Himmel zerbrach mit einem Knall.

Jetzt in betäubenden Flammen, jetzt in schwüler Lampendämmerung, so standen die beiden Priester einander gegenüber.

»Herr Dechant, mir liegt gar nichts mehr dran … Mein ganzes Priestertum ist an dieser Erschütterung zugrundegegangen. Ich bin irre geworden an allem … Und wenn's mich meine priesterliche Ehre kostet: ich werde reden … Ein Mörder … Ein Würger … Ich werde Mittel und Wege finden … Mir ist schon alles gleich … Wenn Sie Ihren Mitmenschen nicht das Opfer der Wahrheit bringen wollen, so werde ich es tun … Und wenn ich alle Siegel brechen müßte … Und wenn ich exkommuniziert werde … Es ist mir schon alles gleich … Es ist mir sowieso schon alles verloren gegangen … In Ihnen und durch Sie ist mir der Begriff der Kirche vergiftet worden … Ich bin voll guter Vorsätze in meinen Stand eingetreten … Ich habe eine reine Auffassung mitgebracht … Ich bin mit guten Absichten in mein Amt eingegangen … Und statt Priestern, wie ich sie gesucht, habe ich lauter Prasser und Wucherer gefunden … Sie waren mir eine Ausnahme, gerade Sie, Herr Dechant … Ich habe geglaubt, daß Sie hoch über den anderen stehen … Und dann ist mir auch das vernichtet worden … Da ist mir der Vorhang von oben bis unten zerrissen … Da habe ich erkannt, daß im Innersten der Kirche, die außen das Kreuz trägt, das Symbol des Christentums, nicht das Kreuz steht, sondern ein Götze … Da habe ich den Halt verloren, immer mehr mit jeder Enttäuschung … Und so wird es vielen anderen ergehen … Nicht nur mir allein! … Ich habe nach Entschuldigungen gesucht … Ich habe mich bemüht, alles das zu begreifen … Aus den eigenen Sünden her zu verstehen … Aber Mord und Fälschung, das kann ich nicht verzeihen … Für solche Verbrechen gibt es keine Entschuldigung … Um unseres Standes willen, um der katholischen Ehre willen werde ich das Siegel brechen … Und wenn ich mein Leben lang dafür büßen muß … Solche Wölfe dürfen nicht Hirten sein … Hirten über junge Seelsorger und untergebene Kuraten … Solche Würger müssen unschädlich gemacht werden … Damit nicht andere an ihnen Ärgernis und Beispiel nehmen … Damit die katholische Kirche nicht von innen heraus verseucht wird. Ich hätte geschwiegen, wenn Sie wenigstens heute Ihre Pflicht erfüllt hätten … Ich werde nicht länger schweigen, denn Schweigen heißt hier Verrat am Christentum.«

Der junge Priester sprach wie im Rausch. Es brach aus ihm hervor wie ein Gletscherbach; als habe der Föhn des heiligen Zornes ihn bis in seine innersten Spalten hinein aufgetaut und erweckt. Er vermochte dem wilden Puls seiner eigenen Worte nicht zu widerstehen. Es riß ihn fort von Satz zu Satz, von einer Anklage zur anderen. Alles, was ertötend über die jungen Triften seiner Höhen gefallen war, alles, was sich da angesammelt, eingegletschert und festgefirnt hatte an Groll, Qual und Erbitterung: das löste sich nun unter dem Druck heißer Unterquellen in wütenden Strom auf und schoß durch spannende Engen vernichtend in die Tiefe. In die Tiefe, aus der die Eiswolken aufgestiegen waren …

Es war eine Erlösung; es war ein Frühling; es war eine Entscheidung und Lebenswende.

Dechant Hetz lehnte starr am Schreibtisch. Er hatte die auf ihn hereinbrandende Flut mehrmals zu brechen versucht. Aber so leise Siebenschein trotz seiner Erregung sprach, der Fluß war in seinem scharfen Gefäll nicht mehr aufzuhalten, und jede Entgegnung ertrank unter hartnäckig darüber hinschwemmenden Wogen.

Nun blieb es still. Die Donner versanken aufwuchtend in den hallenden Tiefen der Wolken. Der schwere Regen rauschte.

Siebenschein griff nach seinem Hute.

»Ich gehe jetzt. Es ist Ihre Schuld, Herr Dechant, daß es soweit hat kommen müssen. Ich habe mich lange und oft zurückgehalten. Es ist mir nicht leicht gefallen. Aber diese Stunde hat entschieden … Ich werde es nicht mit ansehen, wie Hunderte, Tausende von unschuldigen Menschen in eine Falle hineingehen … Arme Pilger, die zum verpesteten Grabe eines Heiligen wallfahrten … Einen solchen Verrat werde ich nicht unterstützen … Wenn Sie, ein katholischer Priester, kein Christ sind – ich bin einer, und der Doktor drüben ist auch einer, ein tausendmal besserer und echterer als Sie!«

Benedikt wandte sich verächtlich ab und schritt nach der Türe. Ein röchelnder, tierisch wilder Laut hielt ihn noch einmal zurück. Er sah sich nach dem Dechanten um. Der hatte einen stählern blitzenden Gegenstand vom Schreibtisch gerissen. Siebenschein vernahm das eiserne Schnappen der großen Papierschere.

Es war ein widerlicher Anblick. Der Dechant griff mit beiden Händen in die Luft, als wolle er seinem Widersacher die Finger um den Hals krallen. Siebenschein stand gebannt inmitten der Stube. Eine furchtbare Angst sträubte ihm zum Nacken hinauf. Das Gesicht des anderen war verzerrt und fahl, der Mund schwärzlich. Er zuckte und riß und rang gegen einen unsichtbaren Feind, der ihn mit dunkler Gewalt erstickend eng umklammert hielt. Aber er kam nicht von der Stelle. Seine Lippen öffneten sich – aber nur ein tierisches Knurren und Lallen brach aus finsterer Tiefe hervor … Er ließ die Schere fallen und fuhr sich unter den Kollarkragen, sprengte ihn mit einem wilden Griff … Sein Gesicht wurde schmutzigbleich und bedeckte sich mit Schweiß … Jetzt schnappte er mit gespreizten Krallen wieder in die Luft … Seine purpurschwarzen Lippen schrien, aber die Worte wurden vom Gespenste hinter ihm erwürgt … Er zerrte und holte zum Sprunge aus; aber er blieb an die Stelle geschmiedet … Er versank in einem unsichtbaren Morast und schlug mit brüllenden Händen verzweifelt ins Leere … Seine Stirn spiegelte, seine Augen glotzten weit aus den Höhlen … Mit jeder Anstrengung verwühlte er sich tiefer in den schwarzen Schlamm … Blasen stiegen auf; die Nacht kam über ihn mit ihren grauen Wölfen und blauen Irrlichtern … Seine Züge verfielen. Sein Antlitz wurde fremd und häßlich … Endlich, nach schrecklichem Würgen und Schluchzen, preßte der verzogene Mund einen Laut hervor …

»W – Wa – – Wald!«

Siebenschein stand eisstarr.

Der andere sah ihn flehend an; aus dem Abgrund einer entsetzlichen Angst herauf.

»B – Brechen Sie mich z – zum F – Felsen.«

Benedikt überwand sein Grauen. Sein Ekel zerschmolz in heißem Mitleid. Er trat auf den Mann zu, den der Blitz des Herrn gestreift hatte.

Die Hälfte seines Gesichtes war eingefallen und wie zerstört. Das Lid fiel schwer über das Auge, der Mundwinkel hing schlaff herab, die Zunge gurgelte hinter den Zähnen.

»W – Wange … L – Lust …«

Fremde, verwilderte Worte.

Siebenschein wollte zugreifen, um den Kranken nach dem Sofa zu geleiten. Da zuckte dieser mit dem gelähmten Arm, als wollte er seinen eigenen Kopf auffangen. Der Arm versagte den Dienst. Ein Blitzstrahl schlug durch den starken Körper. Der Dechant wankte, röchelte, erzitterte wie ein Baum unter den letzten Axthieben … Siebenschein versuchte ihn aufzuhalten, aber der schwere Mann entglitt seinen Händen, brach dumpf zu Boden und blieb regungslos liegen.

* * *

Der verregnete Marktplatz kocht in stechender Sonnenglut.

Dem schweren Nachtgewitter ist ein schwüler Regenmorgen gefolgt. Dann hat das triefende Gewölk sich zerlaufen. Aber unter den scharfen Strahlen beginnen die Nebel alsbald wieder aufzusieden.

Überall in den Bergwäldern hängt finsterer Dampf.

Es ist unerträglich heiß. Die braunen Pfützen blenden wie Erz. Die Luft brodelt. Feuchter Brühqualm liegt in schweren Schwaden auf den Höhen.

Ganz Sanktrain kocht wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm.

Man weiß noch nichts Bestimmtes. Aber die diesige Luft ist voll Gerücht und banger Unsicherheit. Etwas ist geschehen. Man steht in verstörten Gruppen und rät. Wenn einer der Sommergäste sich zeigt, löst man sich wieder in zuversichtliche Heiterkeit auf. Die Fremden ahnen noch nichts. Vielleicht wird alles wieder gut. Und wenn ein Neugieriger nach der Ursache der allgemeinen Erregung forscht, so befriedigt man ihn mit der erstbesten Lüge. Ein Attentat. Ein Grubenunglück. Ein allerhöchster Gast, der sein Erscheinen angesagt. Alles besser wie die Wahrheit. Und man weiß ja noch keine Einzelheiten.

Den Herrn Dechanten soll der Schlag gerührt haben. Er lebt noch, aber es besteht wenig Hoffnung. Gar keine auf vollkommene Genesung. Der Herr Kooperator von Unzing war zufällig bei ihm, Herr Doktor Siebenschein, der Orgelkünstler. Sonst wäre der Herr Dechant vielleicht schon tot. Überanstrengung. Aufregungen. Ein alter Herzfehler. Man hat ihm das nicht angesehen. So blühend und rüstig war er. Doch man erinnert sich: damals, der Anfall bei der Einweihung des neuen Stoderkreuzes! … Damals hat er sich's geholt. Und es stimmt genau. Seit damals ist der Herr Dechant nicht mehr der Alte gewesen. Seit damals hat er schlecht ausgesehen. Dem Fräulein Sefi hat er oft über Schlaflosigkeit geklagt. Der Herr Kaplan Gfrörer kann es bestätigen, daß er fast die ganzen Nächte hindurch wachte und arbeitete. Das verträgt die stärkste Natur auf die Dauer nicht; darüber ist man sich vollkommen einig. Immer hat er alles allein machen wollen, der Herr Dechant. Auf keinen Menschen hat er sich verlassen. So pflichttreu war er. Aber zu viel Pflichttreue ist eben auch nicht bekömmlich. Die Sefi hat ihm so oft zugeredet, er soll sich doch ein wenig Ruhe gönnen. Genützt hat es nie. Ein Opfer seines Berufes, kann man wohl sagen – so formuliert Herr Franz Gsell den erschütternden Zwischenfall.

Aber dann blitzen andere Gerüchte auf. Der Doktor ist seit Mitternacht unterwegs. Was kann denn da geschehen sein? Das Haus des Flickschusters Jutz ist fest verriegelt – ein Verbrechen? Man spricht davon, daß schrecklich viele Telegramme aufgegeben worden sind. So viele wie noch nie. Die zwei Fräulein auf der Post tun schon seit acht Uhr in der Früh nichts wie klappern. Der Herr Doktor Siebenschein war mit dem Arzt oben in Unzing und ist dann gleich zurückgekommen. Er sitzt mit dem Herrn Kaplan Gfrörer auf der Post und gibt eine Depesche nach der anderen auf.

Es heißt auf einmal, der Herr Gendarmeriewachtmeister hat sich erschießen wollen. Dann in anderer Lesart: nicht der Herr Gendarmeriewachtmeister – der Herr Bürgermeister hat sich umbringen wollen; in einem Lohtank ersäufen. Dann wieder: das Fräulein Hulda hat sich ein Leids antun wollen, sie hat gesagt, sie geht ins Wasser. Aber man erfährt mit Enttäuschung, daß sie noch lebt und nur in Tränen ertrinkt. Immer neue Zusammenhänge, immer neue Funkenschläge durch erschreckende Tiefen.

Um das alte Fräulein Graff klumpen sich ganze Schwärme fest wie um einen Weisel. Sie weiß doch von gar nichts. Die würdige kleine Dame sprüht ordentlich. Damals, wie der gute Herr Doktor denselbigen totkranken Schreiber, den Lumpen, wie hat er schon geheißen, ist ja alles eins, aus lauter christlicher Barmherzigkeit zu sich genommen hat und in sein eigenes Bett gelegt, damit er ruhig stirbt, da hat man gleich geschrien, daß der könnt eine ansteckende Krankheit hereinverschleppen, die Blattern oder den Aussatz oder die Cholera. Und jetzt …

Die Stanzer fröstelt sich enger in ihr graues Tuch trotz der stechenden Dampfschwüle … Gehens! … Und kaut an ihrem gähnenden, ein wenig schadenfrohen Erstaunen. Denn wenn das wahr ist, was man so hört, so bleibt dem Gattlinger jetzt der ganze Haufen sitzen. Ja, ja, die Firma Stanzer hat nicht so drauflosspekuliert, diese neumodischen Kaufleute, die zur Großstadt gerochen haben … Nur schön langsam und gleichmäßig weiter mit bewährten Artikeln, nur keine großen Spekulationen und keine Extraigkeiten, das hat einen goldenen Boden … Das Gattlingerische Lager wird jetzt billig zu kaufen sein. Das Haus vielleicht auch. So fangt immer die Krida an … Gehens!

Aber die Falzinger spitzt sich zu vor Zorn. »Sehens!« Die schönen neuen Ansichtskarten, der Zukunftsverlag in Leipzig, die eigene Druckerei, die eigene Zeitung, alles weggeschwemmt von einer einzigen Woge. »Sehens! Ich hab schon immer gesagt, da geschieht noch einmal etwas. Ein schöner Doktor, der so gut aufpaßt.«

Gegen Mittag schlägt die Flamme durch; das Feuer hat Zug gekriegt. Eine Welle von entrüstetem Erstaunen, empörtes Aufwallen, niederschmetternder Zusammenbruch. Man hat es bisher doch nur für so ein Gerücht gehalten. Man hat doch nie im Ernste daran geglaubt. Nicht schlecht! Blattern sollen herrschen, Blattern! Woher denn das auf einmal? Das wäre ja schrecklich. Aber daß man früher davon so gar nichts geahnt hat! Sonst wird doch immer gemunkelt, auch wenn's nicht notwendig ist. Doch wohl nur ein vereinzelter und zweifelhafter Fall, tröstet man sich gegenseitig. Aber auch die fremden Herrschaften haben irgendwie etwas erfahren. Der Sturm bricht los. Weiß Gott, wer das wieder ausgetratscht hat. Ich schon nicht, versichert ein jeder, mich kennens ja, ich bin still wie das Grab.

Am lautesten wütet die Gattin des Kommerzialrates. Jeder Mensch auf dem Platze bekommt den Schimpf von Sanktrain ausführlich zu hören. Das sei eine Wirtschaft, das sei eine Gesundheitspolizei, das seien Zustände … Der guten Dame kommen die gründlichen Kenntnisse der Lokalverhältnisse jetzt sehr zustatten. So vermag sie jede ihrer Anklagen mit unwidersprechlichen Argumenten zu belegen. Ja, wie die Kinder, so die Bürger. Ein Herr Bürgermeister, der nicht einmal auf die eigene Tochter aufpaßt … Ein Herr Dechant, der sich erst jetzt entschlossen hat, in seinem Mietshause Wasserspülungen einzurichten … Die Dame atmet in schweren Wogen, aber der Passat ihrer Leidenschaft treibt nur die Flotten ihrer Angriffe, statt sie zurückzuhalten. Der lange Herr Handelsrat steht daneben wie der Zeiger einer Sonnenuhr, und sein noch immer sehr gestreckter Meridianschatten fällt über die Wahlstatt.

Auch beim Gsellschen Barbierladen entsteht eine Stauung. Ein Auflauf wie bei einer Finanzpanik. Der seidene Exzellenzherr wischt sich den Schweiß in blanken Strähnen von der glitzernden Schädelkuppe. »Sie! Sagens! Ihr Sanktrainer, ihr seids mir eine schöne G'sellschaft.« Der Exzellenzgraf wettert schon schärfer. »Ja, das muß man sagen. Das ist zum Aufschreiben. Das nennt man gesundes Klima. Da bedank ich mich.« Aber er findet eine mildernde Ablenkung. »Das erinnert mich an eine Geschichte. Das war im Jahre sechsundsiebzig, wir sind damals in Chlumetz stationiert gewesen, aber was sag ich denn, im Jahr vierundsiebzig muß das gewesen sein, oder fünfundsiebzig, wartens einmal, das war damals wie …« Der Kirchenhistoriker: »Das ist geradezu wie im finstersten Mittelalter. Und da darf man wegen so einer Schlamperei noch eine Quarantäne aushalten. Die Rechnung werde ich mir vom Herrn Bürgermeister begleichen lassen. Da war's im Mittelalter noch ordentlicher.« Am vernehmlichsten ein rasselnder Herr aus dem tiefsten Preußen: »Da hört sich denn schon alles auf, bei uns gibt's so was einfach nicht, verstehense, gibt's einfach nicht, bei uns gibt's einfach keine Pocken, ganz ausgeschlossen, sonne Krankheiten und Zustände sind bloß bei euch in Asien möglich.« Herr Franz Gsell sieht sich hilflos und umringt. »Na; bei Ihnen werde ich mir nochmal den Bart abnehmen lassen, mit sonnem Pockenmesser, ich danke ergebenst.« »Bitte, bei mir wird alles desinfiziert.« »Nana, das kennt man schon, was ihr da in Asien so desinfizieren nennt, bei uns kommt überhaupt jedes Messer in Schwefelsäure, verstanden!« »Selber schwefelsauer!« brummt die seidene Exzellenz in altangestammter Gegnerschaft.

»Also, es muß rein daherein verschleppt worden sein, die G'schicht,« formuliert Herr Gsell den Fall; »es ist ja jetzt überhaupt so viel Krankheit in der Welt, Xlenz haben vielleicht gelesen, die Pest da in der Mandschurei, na, und in Venedig habens so auch die Cholera. Das muß rein wer dahereinverschleppt haben, anders kann man sich's gar nicht denken.« Diese Erklärung befriedigt die ruhigeren Herren, und man findet sich vorläufig in einem gewissen erwartungsvollen Behagen zusammen. Denn es wird eine große Kompromittasch geben, verrät Herr Gsell zum Troste: und dergleichen ist immer anregend.

Vor den Gasthöfen zum Bären und zum Stern türmen sich ganze Schanzen reisefertiger Koffer, ganze Wälle von ungeordneter Panik. Die umfangreiche Mutter gellt dem schon an und für sich schwer erschütterten Bärenwirt die Ohren voll. Die ausgewachsene Tochter steht kurz berockt daneben, die beiden Söhne machen inzwischen eine Abschiedsjagd auf die bejahrte bunte Lieblingskatze der Bärenwirtin. Der Bärenwirt zuckt verzweifelt die Achseln. Er hat doch selber den größten Schaden davon, die Dame darf's ihm glauben, er möcht's gern ändern, wenn er könnt. Es ist ihm ja schrecklich unangenehm. Die Dame hat ganz recht, da hätte man früher besser aufpassen sollen. Er hat es dem Bürgermeister schon so und so oft gesagt, daß man gut aufpassen muß auf die fremden Arbeiter, weil die doch so leicht etwas hereinbringen, das hat er immer wieder betont, der Herr Apotheker ist sein Zeuge, und der Herr Postmeister auch. Das ist gerade wie bei der Viehseuche, nicht wahr. Da muß man auch beizeiten einschreiten, sonst geschieht ein großes Unglück, und alle Schweine gehen drauf, da könnte er Fälle erzählen … Ja, da weiß er wirklich nicht, was jetzt da zu machen wäre … Vielleicht, daß die gnädige Frau sich ein klein wenig geduldet … Es ist vielleicht mehr Gerede.

Anfangs heißt's immer, die ganze Stadt ist abgebrannt, und dann ist es nur ein Schornstein. Ja, er wird sich erkundigen, ganz gewiß. Er wird sein möglichstes tun. Schon im eigenen Interesse. Denn das Wohlbefinden der verehrten Herrschaften ist ihm doch die Hauptsache. Natürlich, sonst kommt niemand wieder. Und er will seine verehrten Gäste inzwischen so gut als möglich für den Schreck und die Aufregung entschädigen … Aber er sieht ganz verstört aus, und während er nach vorne die beruhigendsten Versicherungen erteilt, lauscht er mit gespitzten Ohren angstvoll nach hinten, wo in Flur und Gastzimmern die laute Empörung brodelt. Sanktrain ist in voller Auflösung.

Einzelheiten werden bis in den späten Nachmittag hinein nicht bekannt. Nur soviel ist sicher, daß das Fest abgesagt ist, daß Seine Eminenz der Herr Erzbischof nicht kommen wird, daß irgend etwas Entscheidendes sich vorbereitet. Man meint zwar: es handelt sich nur um einen kurzen Aufschub, nur um eine geringe Verzögerung. Denn man darf nicht gleich das Schlimmste sagen, auch wenn es die Wahrheit ist. Man muß sich langsam darauf vorbereiten und den Verlust erst zugeben, wenn man seine gute Seite und eine tröstliche Formel gefunden hat. Man zeigt sich als gelassenen Herrn der Lage. Aber es ist doch nur die Ruhe der Betäubung. Die Größe des Unglücks ist noch nicht ins allgemeine Bewußtsein gelangt.

Inzwischen beschäftigt man sich mit den nächstliegenden Dingen. Im Hause des Herrn Bürgermeisters soll es zu Schreckensszenen gekommen sein. Der Herr Bürgermeister hat sich der Anzeige widersetzt: mit vollem Rechte, man kann es ihm nachfühlen. Da ist der Doktor direkt zur Bezirkshauptmannschaft gefahren. Man will schon wissen, daß auch dort heftige Worte gewechselt worden seien. Der Doktor soll gleich mit dem Ministerium gedroht haben. Er kennt eben keine Rücksicht … Vielleicht wird er's doch nicht erreichen. Die Herren werden schon wissen, was sie zu tun haben.

Das Fräulein Hulda Herzl soll von einer Ohnmacht in die andere fallen. Sie soll gesagt haben, sie geht ihm nach und pfeift auf alles, und sie ist hier nie verstanden worden und wird Schauspielerin, das sei ihr Lebensinhalt und das Ziel ihrer kultivierten Intelligenz. So soll sie es ausgedrückt haben. Der Vater soll ihr darauf eine furchtbare Tachtel heruntergehauen und ihr gesagt haben, sie ist ein Mensch und soll schauen, daß er sie nie mehr zu sehen kriegt, und soll lieber in die Großstadt gehen und sich ganz verkaufen, und wenn sie gehen will, so soll sie jetzt gehen, stante pede, und ihm, wenn er ihn erwischt, wird er einen neuen Riemen um die Ohren gerben und ihn selber gerben, daß er nicht weiß, ob seine Haut Schweinsleder ist oder Rindsleder … Sie ist aber dann doch geblieben. Denn der Herr Othmar Waldenburg war auf unerklärliche Weise verschwunden. Er wird halt auf- und davongegangen sein, erklärt Herr Franz Gsell ganz richtig diesen betrüblichen Zwischenfall.

Jetzt spricht man plötzlich davon, daß der Totengräber vielleicht zum Strang verurteilt werden wird. Man erwägt in engeren Kreisen, ob alle diese Möglichkeiten nicht vielleicht in irgendeinem Zusammenhange stehen. Es kann schon sein, daß die furchtbare Aufregung dem Herrn Dechanten geschadet hat – aber man vermeidet die genaue Erörterung dieser Frage und konzentriert sich mehr auf den Doktor.

Alle Viertelstunden fliegen gesteigerte Neuigkeiten auf.

Jedermann ist der Mittelpunkt von hundert unsichtbaren Leitungen.

Jedermann ist in ein Netz von gespenstigen Drähten eingeschaltet, die sich ausgerechnet vor seinen Ohren kreuzen. Ganz Sanktrain ist durchwoben von einem Gespinst schwirrender, flüsternder Fäden, in denen die Stimmen von Mund zu Mund geistern. Ganz Sanktrain vibriert von elektrischer Spannung, von geheimen Kräften der unterirdischen Batterien, in denen aus kochenden Säuren scharfe Salze niederschlagen …

Wie ist die Geschichte eigentlich herausgekommen? …

Herausgekommen ist ja nichts; herausgekommen! Man ist ja selbst überrascht und wie zerschmettert von der furchtbaren Neuigkeit, daß im gesunden, berühmt gesunden Sanktrain Blattern herrschen sollen. Sollen!

Das heißt, also, in den letzten Tagen hat man so etwas geahnt. Aber auch nur geahnt. Natürlich, wenn man etwas gewußt hätte, so hätte man doch Schritte getan. Und wenn es nicht von selbst an den Tag gekommen wäre, so hätte man es selbst angezeigt – das versichern viele. Aber man wird doch nicht hingehen und jeden Tratsch gleich auf die große Trommel bringen, daß die Leute nur grundlos beunruhigt werden. Aber daß der Doktor gleich so vorgeht, das ist einfach empörend.

Er hat sich doch immer so als halben Sanktrainer aufgespielt. Verflucht wenig merkt man davon. Wenn ihm wirklich um Sanktrain etwas zu tun wäre, dann würde er nicht so ausgesucht gehässig sein. Denn das ist die pure Gehässigkeit. Bei einem Gesetz fragt man sich doch immer, gegen wen und wann man's anwendet. Sonst wird das Gesetz zum Verbrechen. Man geht auch nicht her und pfändet seine eigene Mutter. Weiß Gott, ob der nicht alles längst gewußt hat und nur gewartet, bis er die Schlinge zuziehen kann. Das säh ihm ganz gleich.

Die Erbitterung steigt. Blasen gurgeln vom Grunde herauf. Die Stimmung gerät ins Wallen.

Alles, was mit diesem Menschen zusammenhängt, nimmt so einen Ausgang. Es haftet ein Fluch an ihm. Es wird keinen Frieden und Segen geben, bevor er draußen ist. Seit er sich hier niedergelassen, nichts als Skandal und Ärgernis. Da hat man anfangs gedacht, man kriegt einen jüngeren Doktor, eine wirkliche Kraft, einen angenehmen Gesellschafter, der da hereinpaßt und mit dem man verkehren kann – man hat auch gehört, daß er ledig ist, und manche berechtigte Hoffnung daran geknüpft. Nur der Herr Dechant, der hat gleich das Richtige getroffen, der hat die Achseln gezuckt und gemeint, man muß abwarten, jeder neue Mensch sei ein verschlossener Brief und man weiß nicht, was darin steht, etwas Angenehmes oder Unangenehmes. Er hat ganz recht behalten, der Herr Dechant. Als einschichtiger Unwirsch und Leutfeind hat sich der Neue ausgewachsen; statt sich da und dort anzufreunden, ist er immer droben in den Dörfern herumgestiegen, und statt gesellig zu sein, hat er sich mit seiner großen Kniegeige oder seinen Büchern grämlich eingesperrt. Und wenn er einmal den Mund aufgemacht hat, so war's nur, um gleich ganz grob draufloszuschimpfen, über das bewährte Wunderöl, das jedenfalls noch keinem Menschen nie nicht geschadet hat, über die offenen Gossen, die schon seit grauer Vorzeit in Sanktrain bestehen, über die Ableitungen der Gerbergruben, weil die mit ihren Abwässern den Bach vergiften könnten, wo noch nie nichts passiert ist und das Gerbergassel so alt ist wie die Wallfahrtskirche selbst. Er hat es eine Schweinerei genannt, daß die Sanktrainer kein Spital haben: – hätt er ihnen eins bauen sollen, wenn das schon so eine Schweinerei ist, woher denn das Geld nehmen, man hätt manches auf der Welt gern, man möcht lieber in lauter modernen Palästen wohnen als in den alten Häusern, wenn es schon aufs Wünschen und Habenwollen ankommt! … Hat von moderner Hygiene und Gesundheitspolizei ein langes und breites dahererzählt – und ausgerechnet unter ihm hat so was passieren müssen, was früher gar nie vorgekommen ist. Zu den Zeiten des alten Firmian Graff, Gott hab ihn selig, hat es solche Sachen gar nie gegeben, da ist alles so schön in Ruhe und sorgloser Gemütlichkeit weitergeflossen von Jahr zu Jahr – hie und da ist einer gestorben, also, ewig lebt kein Mensch, aber gleich ganze Epidemien, das hat man in Sanktrain nicht gekannt. Einmal haben sich die Masern gezeigt, man erinnert sich, vom Wiesner die Paula ist damals daran gestorben, und von den Stanznerischen die Netti hat die Diphtheritis bekommen, das schon. Aber daß Blattern da gewesen seien, dessen kann kein Sanktrainer sich entsinnen. Die Großväter der jetzigen Großväter haben manchmal von der bösen Krankheit erzählt wie vom Menschenfresser im Märchen. An Blattern hat man gar nicht mehr gedacht, so wenig wie an den Weltuntergang oder den ewigen Juden. Man ist ja von Zeit zu Zeit geimpft worden, und das schließt doch die Gefahr aus. Und jetzt ist der da, dieser Werner Wendt, dieser Mischdichinalles, warnt vor diesem Brunnen, der könnt einem einen Kropf machen, vor jener Quelle, die wäre ein Fieberwasser, vor dem alten Heiligen droben, der sei ein Schwindler: redet in alles hinein, was alt ist, gewohnt und erprobt – und kaum ist er da, brechen schon die Blattern aus, die in Sanktrain schon nimmer wahr gewesen sind.

Der alte Firmian Graff, Gott geb ihm die ewige Ruh, hat von Gesundheitspolizei und moderner Hygiene nie gesprochen, das hat er schon gewußt, daß das gar nichts heißt, daß das nur wieder so ein närrischer Schwindel für die Großstädte ist, jedem Menschen hat er dieselbe Medizin gegeben, einmal rot, einmal gelb, eingenommen hat man's nie, die Zähne hat er schön mit dem Schlüssel gezogen, und abends hat er seinen Tarok gespielt oder vom Schopenhauer erzählt, den er immer gelesen hat. Da kann sich der begraben lassen mit seinen neuen Theorien und Therapien und Zuwidrigkeiten. Und was der für Rezepte schreibt! Und wie er einen ausfragt! Der alte Firmian Graff, Gott hab ihn selig und das ewige Licht leuchte ihm, hat nur immer gefragt: Habens geschlafen? habens übergeben? … und damit war man fertig. Hie und da ein bisserl in den Hals hineingeschaut über den Löffel. Das war aber auch schon das meiste. Aber der, der druckt einen ab, der fragt einem die Großeltern und alle Paten und Muhmen aus dem Grab heraus, der untersucht einem die Zähn, wenn man Magenkrampf hat, und wie damals das Fräulein Herzl ihn gefragt hat wegen ihren Augen, weil das Licht ihr manchmal so weh tut und ein wenig kurzsichtig ist sie auch, aber wahrscheinlich hat sie auch ein wenig auf den Doktor gespitzt, aber bei dem ist so alles umsonst, der ist ein Leutfeind, später soll er sich ja mit der Kathreinischen oben verlobt haben, ist dann aber gestorben, da sieht man, was für ein Doktor er ist, nicht einmal die eigene Braut hat er retten können und schnell hat er sich auch getröstet, war ja lang genug bei ihm im Haus, die von der Gesundbeterin, die Kleine – also wie sie ihn da gefragt hat, ob man da nichts machen könnt, da hat er sie genau angeschaut und hat sie auf einmal ganz plötzlich gefragt, ob sie vielleicht in den Entwicklungsjahren eine Nierenentzündung gehabt hat und Eiweiß, daß sie sich hat rein schämen müssen … Nun ja, ein paar Leut hat er auskuriert, aber das bissel Zusammennähen, Herumschneidern, das kann bald einer, und die er geheilt haben soll, die wären von selbst vielleicht auch gesund geworden. Es gibt zwar einige Menschen, die seine ärztliche Kunst verteidigen, aber das ist schon einmal so, wenn einem das Gefehlte anschlagt, kommt es ihm richtig vor, manchmal wird einem das Gift zur Arznei, kann ja sein. Und immer nur über alles schimpfen und sich hineinmischen, so, und jetzt hat er die Blamasch.

Das würde man ihm ja schließlich alles noch verzeihen. Aber daß er gleich das ganze Dach eingerissen hat wegen einem brennenden oder brandverdächtigen Balken, das vergibt man ihm nicht. Er hätte doch wenigstens versuchen müssen, ob die Feuersbrunst nicht so sich ersticken läßt. Oder wenigstens einengen, beschränken, dämpfen. Hätt er nicht sagen können: so und so, seien wir still, wenn wir Lärm schlagen, dann müssen wir auch sperren und das bedeutet einen Schaden, der sich nie wieder gutmachen läßt, da heißt's ein wenig nachsichtig sein und die zuwidere Sach schön ruhig erledigen, ich nehm's schon auf mich, wir sagen, daß irgendwo im Bezirk oder im Land Blattern sind, und impfen gleich und im übrigen wird am Programm nichts geändert … Hätt er das nicht sagen können, wenn er einen guten Willen gehabt hätt? Und die Herren hätten das gleich eingesehen und hätten ihm noch gerne geholfen, weil man doch einen großen Marktflecken nicht so ohne weiters zugrunde richtet. Aber das war es nicht, was er gewollt hat. Jetzt hat er's endlich erreicht, daß er dem Heiligen und den guten Katholiken und der ganzen Partei einen rechten Schur antun kann: da war nichts anderes zu erwarten. Von ihm schon nicht. Das hat man ja gefürchtet. Das heißt: gefürchtet – man hat ja nicht geahnt, daß so etwas umgeht. Man ist ja jetzt peinlich überrascht und kann das Unfaßliche kaum glauben. Es gibt nicht wenige, die ganz offen behaupten, das Ganze sei nur eine böswillige Erfindung, den Blatternkranken möchten sie erst sehen, den gebe es gar nicht.

Sicher ist auf alle Fälle das eine: daß man mit diesem Menschen gründlich abrechnen wird. Was zu viel, ist zu viel. Soll er dann sehen, ob es ihn gelüstet, länger zu bleiben. Soll er dann nur probieren, ob er es länger aushaltet ohne sie wie sie ohne ihn. Die Flut steigt, der Feind ist gefunden, vor dem man sich einigt und an dem man sich entladen kann.

* * *

Die Spatzen von Markt-Sanktrain haben einen regen Verkehr mit den Sperlingen von Ober-Sanktrain. Beim Turm der Wallfahrtskirche geben die Schwalben aus Berg und Tal ihre Neuigkeiten ab. Der Turm mit der Sonnenuhr erfährt alles, was in seinem Sehbereiche geschieht. Die Dorfschwalben bringen die Post der Marktspatzen und umgekehrt. Um den Turm des alten schlafenden Heiligen ist ein stetes Spiel von blauen Eilbriefboten. Die Spatzen verbreiten dann die Nachrichten in Stall und Hinterhof und Gasse.

Die Kehrichtsperlinge von Markt-Sanktrain wissen es schon. In der Tafelrunde zum Roßapfel wird es herumerzählt und wenig später haben die Bürger sichere Kunde: die Bauern in Ober-Sanktrain sind furchtbar aufgebracht, sie wollen den Doktor erschlagen, wenn er sich noch einmal zeigt, sie werden ihm vielleicht das Haus anzünden, wenn es auch dem alten Fräulein gehört, es wird vielleicht gut sein, wenn die Feuerwehr für die kommende Nacht sich bereithält. Kein Wunder: die Bauern haben ganz recht. Man kann es ihnen nachfühlen. Einmal siedet der Topf über.

Die Ober-Sanktrainer Spatzen wissen auch schon alles. Die eiligen Schwalben tragen es von der Scheune zum Misthaufen, vom Misthaufen zur Tenne. Da werden die einander überstürzenden Nachrichten von den Spatzen dechiffriert und für den Ober-Sanktrainer Gebrauch schmackhaft zubereitet.

Einige dreißig sollen in Markt-Sanktrain schon gestorben sein – das heißt, wahrscheinlich viel mehr, aber dreißig werden jetzt amtlich zugegeben. Die anderen Fälle vertuscht man vorläufig. Es werden also schon so bei hundert oder hundertfünfzig sein, wenn nicht mehr, denn so eine Krankheit greift um sich wie Streufeuer im April.

Den Herrn Dechanten soll vor Schrecken und Trauer der Schlag getroffen haben, wie er die Bescherung erfahren hat. Und den Doktor haben sie schon in Ketten abgeführt, mit aufgepflanzten Bajonetten. Denn er ist am ganzen schuld. Daß er nicht aufgepaßt hat, sagt er selber. Aber beim Gericht werdens ihm die Wahrheit schon nachweisen. Er hat das Gift selber unter die Leute gebracht. Er hat ja ein ganzes Zimmer voll solcher Flascherln. Der Fernbauer, wie er sich damals hat das Ohr ausspritzen lassen, hat sie gesehen. Nit um die Welt möcht er allein in so einem Zimmer bleiben, nit um das Paradies möcht er so ein Flascherl angreifen, wo der Teufel drin eingesperrt ist. Er hat sich schon damals gedacht: zu was denn diese Sachen, was braucht denn ein ehrlicher Christenmensch solche Geschichten? … Und der Plöckenbauer, der hat sich damals beim Doktor den hintersten Backzahn im linken Oberkiefer reißen lassen. Das heißt, lassen hat er ihn nicht: aber der Doktor hat ihn gerissen. Mit einer ganz kleinen Zangen, nit zum Glauben, und wie die verdreht ausg'schaut hat. Früher hat er sie gar nit gesehn, die Zangen, der Doktor hat nichts in der Hand gehabt, er hat nur gesagt, er soll den Mund weit aufmachen, und der Plöcken, der gerade so gut gesessen ist in dem kuriosen Stuhl mit den vielen Radeln und weiß Gott was für Geschichten und Kunststückeln, zum Hinauf- und Hinunterdrehen war's, und den Kopf hat man ganz weich nach hinten angelehnt, grad wie beim Bader, nur daß so eine komische lange Schlangen daneben gehängt ist, ganz grauslich zum Anschauen, wie die geblitzt hat wie eine echte – der Plöcken hat gemeint, der Doktor wird ihm nur in den Mund schauen, weil er doch früher etwas hineingespritzt hat, irgendso eine Geschicht, die einem ganz kalt und bitter gemacht hat im Maul, pfui deuxel … Aber wie er ihm jetzt hineingefahren ist, da hat auf einmal etwas zugepackt und dann hat's einen schrecklichen Kracher getan, und auf einmal kommt die eiserne Zangen mit einem Mordstrumm Zahn heraus. Der Plöcken hat gar nichts gesagt gehabt von Zahnweh, er hat nur gemeint, gegen das Ohr hin tut's ihn reißen und bis in den Kopf hinauf, und bis in den Hals hinunter, aber von Zahnweh hat er gar nichts gesagt, und jetzt war's auf einmal weg. Da hat er dann die Teuxelszangen angeschaut und den Zahn und am Ende noch die anderen Sachen. Und hat den Doktor gefragt, was das ist. Da hat der Doktor gesagt, es sind lauter Gifte, aus denen man Medizin macht. Und er hat ihn durch ein Guckglasel hineinschauen lassen, da hat alles durcheinandergewurlt wie in einem Ameishaufen, und der Doktor hat gelacht und gesagt, es sind lauter kleine Viecher und die machen die großen Krankheiten, die fressen den Menschen auf, und er hat sie eigentlich immer in sich, und daß in einem Tröpferl Wasser ganze Regimenter von solchen Viecherln drin sind. Und daß man aus solchen Viecherln auch die Arzneien macht gegen dieselben Krankheiten, zum Beispiel gegen die Blattern. Also hat der Doktor die Krankheiten immer gleich vorrätig gehabt. Da hat er leicht die Sanktrainer verderben können damit. Ein bisserl was auf die Straßen schütten davon oder in den Brunnen und fertig ist das Sterben. Darum habens ihn auch gleich in Ketten abgeführt und deswegen wird er aufgehängt werden …

Die Ober-Sanktrainer haben's ja schon gewußt. Sie haben's nie verstanden, wieso die Markt-Sanktrainer es so lang haben aushalten können mit dem. Daß der Doktor ein Leutfeind und Ungut ist, das hat doch jeder Blinde sehn müssen. Die Geschicht mit dem Stoderkreuz und dann mit der Regula. Und wenn sie ihn nicht aufhängen, so werden sie ihm schon selber ein Gericht machen, daß er seiner Lebtag dran denkt. Wo er jetzt noch die ganze Gegend verpestet hat mit seiner höllischen Schlechtigkeit. Und das will einer von der alten Wendt sein, so ein Judas! Die Fäuste ballen sich, warnende Donner grollen. Nicht aufhängen, schad um den Strick – erschlagen wie einen besessenen Hund. Annageln wie eine Eulen, daß alle Welt es sieht … Heißt ja, daß er den Bischof hat auch umbringen wollen auf diese Art. Und vielleicht hat den Herrn Dechanten auch davon der Schlag getroffen. Sie haben ja schon immer gewußt, er hat was mit dem Teufel. Das ist wahrscheinlich der Teufel, der der Emmerenz das Genick umgedreht hat. Jetzt versteht man auf einmal, warum neulich Licht war in der Gesundbeterin ihrer Stuben und warum man dort den Ungut gesehen hat herumspüren. Und die Gesundbeterin selber ist auch umgegangen und hat sich angemeldet. Sie hat die Leut warnen wollen. Neulich erst ist ihr einer begegnet, nicht weit vom Kreuzweg unterm Birket. Dort ist sie leibhaftiger gestanden, als wenn sie auf jemand warten möcht. Warnen hat sie die Leut wollen vor dem, der ihr den Hals umgedreht hat. Jetzt ist freilich alles klar. Jetzt kommt alles ans Licht. Jetzt hat der Teufel probiert, allen zusammen das Genick zu brechen. Weil ihm der Heilige und die liebe Jungfrau Maria bis in die schwarze Seel hinein zuwider sind. Und weil er ihnen nichts anhaben kann, macht er auf diese Weise seinen Gestank. Das werden die Sanktrainer doch sehen, ob das geschehen darf, daß ihr Heiliger um seine Wallfahrt kommt. Wo man mit heurigen Hühnern, Eiern und Gemüse ein großes Geschäft gemacht hätte. Wo es geheißen hat, die fremden Herrschaften werden so viel Geld sitzen lassen, daß ein namhafter Teil der Umlagen für die kommenden Jahre entfällt. Wo ihnen versprochen worden ist, daß mit diesem Sommer eine ganz neue Zeit anhebt für die ganze Gegend, und daß vom Tausendjahrfeste an jedes Joch Grund auf Sanktrainer Boden, und wenn's die schlechteste Klasse ist, um dreihundert Prozent mehr wert sein wird. Daß die Erschließung des Tales einen Aufschwung zu ungeahntem Wohlstand bedeutet. Daß ein Viertelgrund infolge des regen Verkehres so viel wert sein wird wie jetzt ein voller. Ohne daß deshalb die Steuern in die Höhe gehen. Im Gegenteil. Daß der Zufluß der Fremden selbst die steinigsten Äcker mit Gold befruchten wird. Das werden sie doch sehen, ob dieser Geburtstag ihnen so mir nichts dir nichts aus dem Kalender gestrichen werden darf. Immer soll das Gute ausfallen, wenn's aber einmal heißt, im nächsten Jahre kommt ein Steuerzuschlag, das trifft ganz bestimmt ein. Das möchten sie doch wissen, ob grad dem Bauern immer nur versprochen werden soll und nie gehalten. Und wenn sie den Doktor nicht schon in Ketten abgeführt haben, auf die Marend soll er sich freuen, die sie ihm diesmal bereiten.

* * *

Am frühen Morgen tritt der Peter Winkler beim Doktor ein.

Er möge sich in acht nehmen, er habe den Leuten gut zugeredet, aber sie seien wie toll, da könnt man grad so gut den Krähen zureden, sie sollen nicht auf den Weih hassen, wenn sie Junge im Nest haben, sind sie am giftigsten, und er stehe für nichts ein …

Der Doktor lacht grimmig auf. Er hat nur wenige Stunden geschlafen; die vorige Nacht ist er immerfort unterwegs gewesen. Er hat mit den Behörden einen schweren Kampf zu bestehen gehabt, und am späten Abend ist ihm zu Dank eine Katzenmusik gebracht worden. Ganz Sanktrain hat sich mit Kesseln, Ketten und Schrillpfeifen bewaffnet; in die Pausen von Tusch zu Tusch hinein grellten Schmährufe, Beleidigungen, Herausforderungen. Pfui! Pfui! begleitet von Winseln und Heulen der Turbinenpfeifen. Abzug Doktor! Abzug Jud! Abzug Protestant! Abzug Heide! Pfui! … Und wieder das Rasseln der Ketten, das Pauken der Kessel, das Läuten von Messingmörsern, eine allgemeine Empörung alles verfügbaren Metalles, ein Gewitter von Skandal. Das alte Fräulein ist vor Kränkung fast in Ohnmacht gefallen; er selbst hat nur bitter auflachen können. Ist ja einerlei. Die getane Pflicht nimmt niemand weg. Am nächsten Morgen wird jeder ein feiges Gesicht machen und in die Augen hinein alles höflichst gutheißen. Oder man wird wieder einmal versuchen, ihn hinauszuekeln. Alles möglich und vollkommen gleichgültig.

Auch die Nachricht des Wendtbauern bringt ihn nicht in Schrecken. Sie sollen hassen, soviel sie wollen, sagt er dem Winkler. Er wird da zu finden sein, wo seine Pflicht zu Hause ist. Bei den Herren Bürgern sollen die Bauern sich für die schöne Bescherung bedanken. Wäre aus dem Zufall, für den doch niemand etwas kann, nicht ein Verbrechen gemacht worden, so stünde die Sache heute schon anders. Und wenn sie ihn gleich lebendig verbrennen – zuschauen wird er nicht, wie ein Feuer sich nach allen Seiten ausbreitet.

Der Peter Winkler schüttelt unmutig den Kopf.

»Nix für ungut, Herr Doktor. Ich hab's ihnen ja eh g'sagt, Waben alte, hab ich ihnen g'sagt, schreits net und denkts ein bissel nach … Wenn der Herr Doktor schon was gegen den Heiligen hat, sag ich ihnen, also das geht mi ja weiter nix an – also wann der Herr Doktor schon auf den Heiligen spannt, werd er do net hergehn und dem Heiligen Kranke machen, damit's nacher heißt, der Heilige hat's kuriert! … Schreiens gleich gegen mich, daß mich schon kennen tun, daß i's mit dem Doktor halt … Daß i's mit der Vernunft halt, sag i dawider, Doktor hin oder her, aber a so an aufg'legten Unsinn werd's do net glauben, daß der Doktor selber die Blattern ansteckt … Zu was hat er denn nacher das Gift im Haus, schreiens gegen meiner … Von am Gift is mir nix bekannt, sag i z'rück, und wann's schon auf das geht, da könnt's ja den Salbenschmierer grad so gut hernehmen, der hats Gift gleich scheffelweis in seine Töpf und Ladeln … Nix da, schreiens gegen meiner, der's Stoderkreuz anzündt hat, der hat's giftige Feuer ang'steckt, jetzt kennen mir uns aus, verdienen will er dabei, und uns will er auf den Hund bringen … Alsdann was willst da machen, wann die Leut schon rein narrisch sein vor lauter Sucht … Drum mein i, besser, der Herr Doktor gebet Obacht, wanns ihn net in Ketten abg'führt haben und eing'spirt, na wern's selber besorgen, sagens … Na, i hab's ausg'richt.«

Der Doktor lacht trotzig in seinen Bart.

»Das sind ja liebe Landsleut. Also ich soll die Blattern eingeschleppt haben, und was noch? Und mich wollens in Ketten und im Zuchthaus sehen? Das kann auch noch kommen, nichts weiß man. Schön Dank, Wendtbauer, brauchts Euch nicht um mich zu sorgen, hier steh ich, anders hab ich nicht können, wer was von mir will, soll nur kommen, kann was zu hören kriegen.«

Wie der Wendtbauer die Türe öffnet, reißt das alte Fräulein sie ihm fast aus der Hand. Sie steht lichterloh in Flammen: in ihren kleinen fleischigen Fäusten zermalmt sie das ganze Sanktrain und die ganze undankbare Menschheit zu einem figürlichen Brei. Sie zittert vor inbrünstiger Wut; die weißen Haartouren steigen auf wie Wellenkämme vor dem Sturm. Das Kapotthütchen mit den kleinen schwarzen Trauerbüscheln sitzt schief wie ein lavierendes Schiff auf hohem Seegang; aber die Fähnlein auf den Kielen flattern kriegerisch, als ginge es todesmutig in eine schwere Schlacht gegen hundertfache Übermacht. Es ist aber auch, um sich hinzulegen und gleich zu sterben. Vor einer Stunde ist die neue Magd, die Franzi, weinend nach Hause gekommen. Nein, sie bleibe nicht länger, die Vorgängerin habe ganz recht gehabt mit ihrer Warnung, und was sie alles zu hören gekriegt auf ihrem Wege zur Schlögelschen Fleischbank, sich noch angroben lassen, dazu ist sie sich viel zu gut, und sie geht, und das gnädige Fräulein soll selber einkaufen gehen, wenn sie Lust hat, sie soll nur probieren, ob sie etwas bekommt, gar nichts wird sie kriegen, solche Kundschaften bedient er nicht länger, hat der Herr Fleischermeister Schlögel vor alle Leut ganz offen und deutlich gesagt, und es tut ihm leid, und er bittet um Begleichung der Büchlschulden von diesem Monat … So hat die Franzi gesagt, und dazu hat sie die leere Einkauftasche zornig in die Ecke geworfen und sich gleich die Schürze abgebunden, als wenn sie sofort den Dienst aufgeben wollte, und hat sich auf die Aschenkiste gesetzt und geheult … Ja, und das gnädige Fräulein allein wird der Schlögel weiterhin mit gewohnter Aufmerksamkeit bedienen, aber nicht, so lange der Mensch da, der Doktor, bei ihr in Kost und Quartier lebt. Wenn sie dem aufkündet, wird es ihm eine gleiche Ehre sein wie früher …

Da ist das alte Fräulein selbst gegangen; weiß Gott, was der dumme Trampel verstanden hat, das muß ein Mißverständnis sein, jetzt ist sie schon ein halbes Menschenalter die Kundin vom Schlögel, da ist eine Aufhetzerei dahinter. Da wird sie doch in Person nähere Erklärungen fordern. An der Fleischbank ist der nichtsnutzige Trampel gestanden, die Anna, die ihr damals, grad am Freitag nach dem Tode des seligen Firmian, die große Flaschen mit dem kostbaren alten Bechtramessig zerbrochen hat. Und die macht jetzt noch ein süßes Gesicht und grüßt mit widerwärtiger Honigstimme: Kißdiand, gnädiges Fräulein … Fräulein Graff hat aber die Verräterin keines Blickes gewürdigt, sie hat ihr nur gesagt, sie freut sich, daß sie sie so gesund wiedersieht, und daß es ihr hoffentlich immer recht gut geht … Dann hat sie sich aber mit voller Wucht auf den rotbespritzten Herrn Fleischermeister Schlögel geworfen. Aber der hat sich nicht erschüttern lassen. Wie ein Turm von Gesinnung hat er den Sturm von Bitten und Beschwörungen bestanden. Es tut ihm wirklich sehr leid – er verschränkt die schinkenroten, haarigen Henkerarme und zuckt die Achseln – aber nach der gestrigen G'schicht … Das gnädige Fräulein versteht schon … Da kann er wirklich nicht … Da fallen alle Sanktrainer über ihn her … Ins Haus liefert er auch nicht mehr einen abgenagten Knochen … Wenn er das riskiert, so riskiert er das Geschäft … Nicht wahr? … Leider, aber er ist nicht schuld daran …

Fräulein Graff flüchtet in Scham und Wut. Sie kann sich das doch nicht vor alle Leut sagen lassen, sie kann doch nicht mit dem rohen Kerl Streit anheben – sie, die doch aus guter Familie ist, sie, um die sich manche feine Herren bemüht haben, zu einer Zeit, wo der Schlögel noch nichts anderes war als ein ganz gewöhnlicher Viehtreiber beim Händler Jacklinger … Sie trägt ihren grollenden Kummer zur Stanzer; irgendwo muß das hinaus, sonst birst inwendig etwas, wenn sie sich stark zürnt, tut ihr gleich der hippohondrische Nerv weh. Den gibt es doch, sie hat einmal eine Abbildung davon gesehen, und es stimmt, genau dort spürt sie ihn.

Aber die Stanzer weiß keinen Trost. Sie hört den erbosten Jammer gelassen und gleichgültig erstaunt an, schüttelt den Kopf, gähnt hinter der Stricknadel und versenkt die kurzgefaßte Spitze bedächtig ins Innere des hohlen Backenzahnes. »Gehens … Zweie dreißig und zwanzig sind fünfzig und fünfzig sind drei … Danke bestens, Frau Wiesner, danke sehr, ein andermal die Ehre! … Gehens!« Sie zerkaut fröstelnd ein zweites Gähnen und vertieft sich wieder in den grauen Strumpfschlauch. »Ja, mein Gott. Mein Gott und Herr. Es wird halt am besten sein, Sie geben die Partei auf … Zwölferdochte sind ausgangen!« ruft sie dem neuen Kommis zu; »schauens hinten, bei die Rundbrenner, vielleicht ist da noch einer …« Sie verläßt hilfsbereit ihre Kassenkanzel, um auf den letzten unwahrscheinlichen Zwölferdocht Jagd zu machen und den furchtbaren Anklagen des alten Fräuleins zu entfliehen.

Und nun muß der Doktor das alles anhören. »Was man jetzt machen soll? Der Krapf wird jetzt auch kein Brot mehr liefern, die Stanzer kein Petroleum, keine Kerzen, keinen Kaffee, diese Undankbarkeit von den Leuten, aufhängen sollte man alle zusammen, und ob denn nicht mit den Gendarmen was zu machen wäre, wenn die Stanzer die aufgepflanzten Bajonette sieht, vielleicht gibt sie dann vor Schreck alles her? Das geht ja doch nicht, diese Menschen müssen wegen versuchten Mordes verurteilt und eingesperrt werden, wenn der Herr Doktor vielleicht so gut ist und die Gendarmerie ruft, die soll doch die Ordnung herstellen …

Wendt legt dem alten Fräulein eine begütigende Hand auf die Schulter.

»Nein, das machen wir nicht. Erstens hilft's nichts, zweitens wird's davon nicht besser. Machen Sie es nur so, wie die Stanzer es Ihnen geraten und der Schlögel. Ich zieh aus, und dann habens Ihre Ruh.«

Da gerät die alte Dame erst recht außer sich.

»Nein, und nein, und das laß ich nicht zu, und da kann der Herr Doktor sagen, was er will, ich halt zum Herrn Doktor, und wenn sie uns belagern wie Paris. Und was will denn der Herr Doktor machen? Jesus, Jesus, wer wird denn auf dem Herrn Doktor seine Sachen achtgeben. Jesus, Jesus, wie möcht denn das ausschauen, wenn die alte Graff nit aufpaßt, und der Herr Doktor kann gar nit weg, sind ja die fünf Vorhemden noch in der Wäsch, erinner ich mich grad.«

Der Arzt lächelt.

»Die werden mich nicht halten. Aber ich werde Ihnen was sagen, Fräulein Theres. Ich hab Ihnen schon einmal den Vorschlag gemacht – jetzt mach ich ihn wieder: verkaufens mir das Haus, dann werden die Sanktrainer gleich andere Gesichter schneiden. Nicht daß ich Sie wegdrängen will, im Gegenteil, Sie bleiben erst recht bei mir, was mach ich denn ohne Sie – aber dann habens keine Zuwidrigkeiten mehr, und mich könnens nicht gut wegbeißen, wenn ich am Grund ansässig bin.«

Fräulein Therese ballt die kleinen Fäuste.

»Jesus, Jesus, ich kann ja nicht verkaufen. Dem Herrn Doktor kann ich's nicht verkaufen. Wo das Haus so schon halb dem Herrn Doktor gehört.«

»Mir gehört?« Wendt forscht unter der schweren breiten Stirn hervor die alte Dame strenge an. In seinem goldbraunen Bart zuckt das Wetterleuchten.

Sie bricht in Tränen aus:

»Wo ich's dem Herrn Doktor verschrieben hab, längst schon! … Wo's dem Herrn Doktor gehört nach meinem Tod! … Und ich mach so nit mehr lang mit … Ich bin alt und schwach, ich erleb so kein neues Jahr mehr. Darum derf der Herr Doktor gar nit weg, wo das Haus so schon so gut wie das seinige ist! … Drunten hab ich das Testament liegen, wenn der Herr Doktor mir vielleicht nit glaubt, und der Herr Notär beim Gericht hat die Abschrift … Ich hab's dem Herrn Doktor nie sagen wollen … Aber ich sterb ja so bald, lieber heut als morgen, und wenn der Herr Doktor schon vom Weggehen und Verkaufen redet … Der Herr Doktor is ja der Einzige, den ich hab auf der ganzen Welt … Aber diese schlechten Menschen, so könnt ich's alle zusammen zerfuzzeln, so; ganz auf klein wie frische Strangeln, weil sie gar so niederträchtig sind …«

Unter ihren beredten Händen verdichtet sich die ganze nichtswürdige Menschheit sichtbarlich zu einem armseligen Häufchen Gemüse. Aber in ihrer heißen Rührung spricht und gestikuliert das alte Fräulein nicht zum Doktor, sondern über ihn hinweg zur Herme des alten Empedokles, der ihrem Leid und ihren lavaglühenden Ausbrüchen ebenso gelassen zusieht wie einst dem Kochen des Magma im Krater des Ätna.

Der Doktor fährt sich grimmig durch den aufknisternden Bart.

»Aber das ist ja der helle Unsinn. Immer denken sich Weiber solche Geschichten aus. Wenns noch gesagt hätten, Sie stiften das Haus der Gemeinde als Spital, das hätt noch einen Sinn. Zerreißens lieber den Wisch von Testament, das nehm ich nie an, das ist wieder so ein echtes Altweiberstückel … Kaufen tu ich das Haus, aber schenken laß ich mir's nicht. Daß die Leut sich dann über Sie das Maul blutig reden! Das schlagens sich nur aus dem Kopf.«

Die alte Dame steht starr vor Enttäuschung; sie hat sich einen anderen Dank erwartet.

»Denen soll ich was stiften! Denen, die sich so gegen den Herrn Doktor stellen! … Gut, wann's dem Herrn Doktor nit recht ist, dann verbrenn ich das Testament, heut noch, jetzt gleich … Dann soll erben, wer mag, ich mach so nimmer lang, sterb lieber heut wie morgen, wo so nichts auf der Welt ist wie Undank und Bosheit …«

Sie nickt dem Empedokles wehmütig zu; der war ein Menschenkenner gewesen. Dann wendet sie sich zum Gehen; aber unterwegs fällt ihr noch das Wichtigste ein:

»Und wegen heut braucht sich der Herr Doktor noch nicht zu sorgen, für heut hab ich noch grad was in der Speis, so zwei Kilo Rindfleisch von gestern und so eine dreißig Eier und so ein Sackerl Nullermehl, daß der Herr Doktor weiß, für heut braucht der Herr Doktor noch nit in der Angst zu sein … Vielleicht Palatschinkerln, wenn's dem Herrn Doktor recht ist, mit Haschee, so ganz, ganz fein, mit ein bisserl Pfeffer, ganz, ganz wenig, und fein, fein mit saurem Rahm … Und morgen reden die Leut vielleicht wieder anders …«

Die gute Dame trocknet sich die Augen; ihr schiefes Kapotthütchen nickt betrübt mit den Begräbnisbüscheln.

»Ich hab ja nicht gewußt, daß der Herr Doktor es so aufnimmt,« sagt sie entschuldigend zum blinden, bärtigen Empedokles.

Ein gutes Wort könnt er ihr doch geben.

»Ich nehm es ja gar nicht schlecht auf. Muß ich Ihnen denn immer extra sagen, was ich denke?« Er hält die Linsen vor die heißen, übernächtigen Augen. »Aber es kann nicht sein, das sehens doch selbst, das ist heller Unsinn, das gibt's nicht, fertig, Schluß.«

Das Fräulein flüchtet bekümmert hinaus. Wenn er so den letzten Strich hinter den letzten Punkt setzt, dann schlägt's nächstens ein … Das hat man davon. So ist er eben auch mit den anderen Menschen, und darum können sie ihn nicht leiden bei all seiner Güte. Und wenn es bis zum äußersten kommt, sie harrt bei ihm aus, soll er sehen, was er an ihr hat, er hat ja selbst zugegeben, daß er ohne sie nichts anfangen kann, das ist das Wort, an dem sie sich über den neuen Schmerz hinwegzehren wird. Jesus, Jesus, und die fünf Vorhemden sind noch in der Wäsche, und wenn sie dann kein Holz und keine Kohlen kriegt, wie soll sie denn bügeln, und vielleicht auch keine Stärke und kein Wäschblau und keine Seife mehr, Jesus, Jesus – der ganze tägliche Hausbedarf verwandelt sich in ein Gewölk finsterer Drohungen und Möglichkeiten, das Gespenst des Mangels steigt furchterregend empor, und unter solchem Drucke erwacht in der Seele des alten Fräuleins etwas vom zornigem Entsagungsmut des Belagerten. Und wenn sie alles aus der Großstadt müßt kommen lassen, sie wird den Sanktrainern schon zeigen, daß man sie nicht braucht. Dann werden nur die Sanktrainer den Schaden haben, und vorläufig ist an eine Ergebung noch gar nicht zu denken. Bei Aufnahme der vorhandenen Vorräte vergißt die alte Dame sogar die widerfahrenen Kränkungen. Sie hat schon immer gesagt, man weiß nie, was kommt, man muß von allem Überfluß haben, lieber heute kaufen als morgen, morgen ist's bestimmt nicht billiger, eher teurer. In solchen Erwägungen tröstet sie sich schließlich in eine Art Begeisterung hinein. Jetzt wird sie eine Rolle spielen, und wenn es in die Zeitung kommt, wie die Sanktrainer Herrschaften gegen ihren Doktor sich aufgeführt haben, und das muß unbedingt in die Zeitung, damit alle Welt es weiß – dann wird auch dabeistehen, das allbeliebte Fräulein Graff hat ihrem Quartierherrn standhaft die Treue gehalten, und die Stanzer und der Schlögel werden es lesen und bersten vor Zorn.

* * *

Sollen sie über ihn denken, wie sie wollen.

Alle zusammen, wie sie da sind: die Sanktrainer, die Bauern, die Behörden.

Dem Bezirkshauptmann hat er seine Meinung mit voller Schwere gesagt. Der hat sich gewunden und gedreht wie eine Schlange unter der Ferse. Man müsse doch Rücksicht nehmen auf die Bevölkerung, und vielleicht lasse sich die Gefahr diskret unterdrücken, und eventuell könne man der Schutzimpfung einen harmlosen Vorwand geben, ohne gleich die Sperre zu verhängen – jetzt, wo der Ausfall des Festes geradezu katastrophal wirken könnte, ganz abgesehen von der Stimmung der Bevölkerung, der ohnehin schon sehr gereizten Stimmung …

Auf diesen Nachsatz hat der Herr Bezirkshauptmann einen besonders gehässigen Akzent gelegt.

In Ansehung gewisser Vorfälle, nicht wahr, nun ja, es ist ja das alles zusammen sehr unangenehm – er übernimmt jedenfalls nicht die Verantwortung … Offiziell ist übrigens gar nichts bekannt.

Die Verantwortung übernimmt schon er selber, der Doktor. Und jeder Sanktrainer Spatz pfeift schon, daß der Ort verseucht ist. Wenn's auch offiziell noch nicht bekannt sein sollte. Die Sanktrainer haben schließlich auf sich selbst und ihre Gäste keine Rücksicht genommen, verdienen also auch keine.

Ja, aber eben wegen des Festes, das ist doch erklärlich …

Fest hin, Fest her, und wenn der Papst kommt mit einem Kaiser rechts und dem anderen links – Blattern sind Blattern …

Gut, gut … Hier ist der Bezirkshauptmann unruhig geworden … Aber es wird sich doch empfehlen, die Stimmung nach Tunlichkeit zu schonen.

Da gibt's nichts zu schonen. Oder soll die gute Laune von ein paar Krämern und Wirten geschont werden, nur damit ein Dutzend andere sterben, unschuldige Kinder und ahnungslose Gäste?

Da ist der Bezirkshauptmann auf einmal ganz warm und vertraulich geworden.

»Versuchen Sie es doch mit milderen Mitteln, lieber Doktor. Aber die Sperre müssen wir unter jeder Bedingung vermeiden … Schließlich – – umsichtige und doch zarte, sozusagen delikate Behandlung solcher Angelegenheiten ist oft schon angemessen belohnt worden …«

Da hat er, Werner Wendt, ihn aber heiß angeflammt:

»Ich pfeif auf jede Belohnung. Brauch gar keine als wie mein gutes Gewissen. Die Sperre wird verhängt, gerade wegen des Festes. Und wenn ich bis zum Ministerium gehen müßte! Für das Vertuschen von Schweinereien mich mit Orden behängen, das überlaß ich anderen. Ist mir auch ganz gleich, wer da hineinfliegt. Hätt man's nicht mit Dreck verschmiert, so möcht das Wetter jetzt keinen Dreck herunterwaschen.«

»… Den werden wir uns abschaffen,« hat der Herr Bezirkshauptmann später zu seinem Kommissär gesagt; »das heißt, er wird sich selber den Stuhl unterm Leibe absägen. Solche Elemente kann ich in meinem Amtssprengel nicht brauchen.« –

Sollen sie gegen ihn minieren und über ihn sagen, was sie wollen. Die einfache Menschenpflicht werden sie ihm nicht wegnehmen …

Der Doktor lacht grimmig, wie er den Posteinlauf durchsieht. Einige acht oder zehn Briefe, denen man den Inhalt schon von außen ansieht. Anonymes Geschmier. Dann ein geschäftliches Schreiben vom Apotheker. Er will seine kleinen Forderungen beglichen haben. Zum Lachen! … Vom Sternwirt: er kann Pferd und Wagen des Herrn Doktors nicht länger in Unterstand behalten … Die Beziehungen werden von allen Seiten gekündigt, der offene Bruch klafft auf.

Was denn noch alles?

Die fremden Herrschaften haben ihn auch schon angefallen, die Kommerzialrätin vorneweg. Gerade, daß sie ihm die Augen nicht ausgekratzt hat. Der seidene Exzellenzherr hat ihn auf offenem Platze angehalten. »Sie, sagens! Herr Doktor! … Also wirklich Blattern! … Die schwarzen Blattern! … Das ist mir ja eine liebe Gegend!« … »Na, dem hab ich aber meine Meinung ordentlich gesagt,« äußerte er später zu Herrn Franz Gsell … Der Herr aus dem tiefsten Preußen ließ es aber bei solchen Oberflächlichkeiten nicht bewenden. Er drang gleich bedeutend tiefer in den Fall ein und entwickelte eine geradezu betäubende Gründlichkeit der Fragestellung und Beweisführung, die offenbar dem Wunsche nach organisatorisch tätiger Mitarbeit entsprang und aus deren rasend hinrasselnder Flut einzelne Schlagworte wie Raubforellen bissig hervorschnappten: mal ganz energisch durchgreifen – gottvergessene Zucht – Asien – reinste Tibetreise – sich lieber von 'nem Tiger auffressen lassen – nerjisch reinleuchten … Schließlich überließ es ihm der Doktor, seine Ansichten vor einem dankbaren Sanktrainer Publikum zu entwickeln, und ging gelassen weiter, seiner Pflicht nach. Aber er vernahm wohl die Worte, die mit Absicht laut gesprochen wurden: … Daß der sich noch auf die Gassen traut … Nach dem Skandal von gestern … Wann ihm das nit genug ist … Ein anderer, der packet zusammen und ginget, wann's am finstersten ist …

Kein Mensch zog den Hut, er selbst grüßte niemand. Manche wichen ihm aus, der Apotheker trat schnell ins Dunkel seines Hauses zurück, andere sahen ihm frei und frech ins Gesicht. Er schritt durch die ihm anvertrauten Menschen wie ein Gebrandmarkter, wie ein öffentlicher Sünder, wie der Schächer, der unter jubelndem Hohn an staunenden Kindern und keifenden Weibern vorbei nach dem Richtplatze gestoßen wird. Sie maßen ihn wie den Begnadigten, der nach erlassener Todesstrafe zwanzig Jahre lang im Zuchthaus welkte, um endlich in eine neue, unbarmherzig fremde Welt hinausgejagt zu werden … Oder wie den Verurteilten, um den her die Schatten der Schuld sich sichtbarlich verdichten … Irgend jemand hinter ihm spuckte breitklatschend aus … Irgendwo schrillte eine Turbinenpfeife auf … Eine Stimme sagte: wenn morgen geimpft wird, das sag ich, von dem laß ich mich nicht impfen, weiß Gott, was der einem hineinkratzt, dem sieht alles gleich … Ein anderer sprach laut davon, daß solche Leute ohne rechte Konfession überhaupt den Doktortitel nicht erlangen sollten, vielleicht drüben in Amerika, aber nicht hier in einem christlichen Staat … Überhaupt so Leute, die aus der Fremde wieder nach Hause kommen, die sein nie was wert, sagte ein anderer vernehmlich … Unterm Tor ihres Hauses stand die Hafnerin; an ihrer Schürze hing ihr Jüngstes, ein Knabe von zwei oder vielleicht drei Jahren. Sie wies nach dem Vorübergehenden und sprach leise zum Kinde herab. Der jähe, große Schreck in den unschuldigen blauen Augen verriet die Verleumdung … Gassenjungen, die sonst dem Doktor gerne zugelaufen waren, spähten scheu an ihm hinauf; andere Kinder liefen schreiend davon; die kleine Grete, die mittlere von den drei Spänglertöchtern, die er in der schwierigen Behandlung einer hartnäckigen Krankheit liebgewonnen und oft beschenkt hatte, rannte ihm harmlos und strahlend entgegen. »Onkel Dottor, Twieback, Twieback!« Dem einsamen Manne stieg es heiß in die Augen; er hätte die Arme ausbreiten mögen, um das süße blonde Kind an sein bitterwundes Herz zu ziehen. Aber die Spänglerin setzte der zwitschernden Grete nach und riß sie mitten in der Straße zurück, wie man ein gefährdetes Kind vor scheuen Pferden oder einem tollen Hunde zurückzerrt. »Nichts wirst von dem nehmen. Das ist gar nicht dein Onkel. Das ist der böse Mensch, der uns alle hat verderben wollen. Was der den Kindern gibt, das ist Gift …« Der Spänglermeister in seinem grünen Schurz trat auch vor die verglaste Türe seiner Werkstatt. »Man hätt's ja voraus wissen müssen. Einer, der seine Braut gleich vergißt und sich eine andere ins Haus nimmt, so eine Schwindlerin … Dem gebet ich keine Katz mehr zu kurieren. Daß du mir nichts mehr von dem da nimmst, duu!«

Oh, er kannte sie alle, die Stimmen hinter seinem Rücken. Aber er wandte sich nicht um. Er hatte keine Zeit, die geifernden Hetzer zur Rechenschaft zu ziehen. Die Kranken mußten geheilt, die Seuche mußte erst gelöscht werden. Wenn das ihm gelang, dann sollten sie ihn weiter schmähen. Er ließ die Schläge der vergifteten Zungengeißeln geduldig auf seine Schultern fallen, er ertrug es, daß sie ihn mit essiggetränkten Besen durch die Straßen stäupten und mit Steinen nach ihm warfen. Sie wußten es ja nicht besser. Das Geschäft war ihnen verdorben; der neuvergoldete Gott war gestürzt und lag in Scherben … Wie sagte der Geisterer in seinem Lebensbuche? »Immer nur eine Kinderstube, und Kindern verzeiht man.« Kinder sind grausam und rachsüchtig, und wenn einer ihnen den schönen Sandhaufen zerstört, macht er sich ihnen zum Feind. Auch dann, wenn ein Skorpion im Sande gewohnt hat, vor dem man sie hat bewahren wollen …

Es war wieder bleiern schwül, die Luft schwanger mit Dampf.

Aus den Tiefen der Berge kochten neue Wetter empor.

Von den Ober-Sanktrainer Höhen, aus dem Sterzener Tal, aus dem Staudacher Grund her wälzten sich schwarze grollende Wolken auf den Wallfahrtsort zu.

Ohne Fahnen und Bänder, ohne geistlichen Führer und Chorbuben, ohne Weihrauch und Lied zieht die Trutzwallfahrt der Bauern nach dem Grabe des Heiligen.

* * *

Der Doktor macht sich eben mit seinen Instrumenten zu schaffen.

Da birst die Regula zur Türe herein, ihr nach bricht in voller Auflösung das alte Fräulein.

»Jesus, Jesus! … Sie werden uns umbringen!«

»Herr Doktor! Herr Doktor!« Das Mädchen bricht fast in die Knie vor ihm. »Herr Doktor! Sie kommen!«

Wendt schützt die blaugoldene Weingeistflamme unterm Rost gegen den hereinfegenden Luftzug.

»Erst mach die Tür zu. Siehst doch, daß ich meine Instrumente da drin koche. Wer kommt, was kommt?«

Die Regula kehrt keuchend von der Türe zurück.

»Herr Doktor … Alles liegen und stehen lassen … Der Lukas schickt mich … Ich bin so gerannt, daß ich ungesehener vorauskomm … Sie wollen den Herrn Doktor erschlagen … Erschlagen und aufnageln, habens gesagt … Lebendiger aufnageln … Sind ganz von sich …«

Wendt legt gelassen noch eine Lanzette zu den übrigen ins Bad.

»Bravo. Das habens schon einmal wollen. Ist aber nichts draus worden. Zuerst wegen dem Stoderkreuz. Und dann wegen – na, sie sollen nur kommen.«

Die Regula starrt fassungslos.

»Herr Doktor, letzte Zeit! … Alles liegen und stehen lassen!«

»So. Kennst mich dafür? Setz dich lieber, ruh dich aus, erzähl. Wenn du ausgekühlt bist, bringt dir das Fräulein Tant was für den Durst.«

»Herr Doktor, sie kommen ja schon von der Gnadenkirchen herunter!«

»Ah so, von dort kommens. Sollen mir nur sagen, was sie wollen. Ich bin grad zu Haus, das trifft sich ja.«

»Aber sie reden, der Herr Doktor hat die Krankheit ang'steckt. Mit dem Gift in die Glaseln da. Lassens sich's nit ausreden.«

»So so. Mach nicht zu viel Wind, du. Schau, wie das Feuer auf die Seiten schlagt.«

Die Regula sieht den Freund angstvoll an. Um Gotteswillen, vielleicht ist er verrückt geworden. Wie der so ruhig weiterhantiert, als ob gar nichts wäre.

»Weißt, am liebsten wär mir, du gehst jetzt mit dem Fräulein Tant hinunter oder ein wenig hinaus in den Garten. Ich komm später. Ich hab nicht gern Weiber im Zimmer, wenn ich aufpassen muß.«

»Herr Doktor, um Christi Willen … Da … Hörens?«

Sie stürzt nach dem Fenster. Unten brodelt dunkel der Krater.

»Sie sind schon hier …«

Ja, jetzt sind sie hier.

Der Überacher, der Schmölzhofer, der junge Rottenbacher, sogar der bedenksame Rainstaller, sogar der Anrain von Ober-Sterzen … Sie alle, vierzig, sechzig Bauern, Burschen, Knechte, ein Aufstand, ein Gewitter, der Krieg.

»Und wann er net in Ketten abg'führt worden is mit Schandarmen rechts und links, so wern wir ihm's besorgen … Red und Antwort soll er stehen nach altem Recht … Kann uns niemand etwas sagen, wann viele sein, wer will da was nachweisen … Und wann er net sagt, die Sperr wird aufg'hoben, daß unser Heiliger sein Ehrentag hat, nacha soll er si anschauen, der Leutfeind … Dös werd si no aufweisen, ob das sein derf, daß so ein g'hassiger Teufel am Christenmenschen in sein ehrlichs Brot hineinspuckt … Lutherische brauchen mir net, und Juden erst recht net, und wann aner hergeht und bringt Gift unter die Leut, dann is er noch schlimmer wie jeder Heid … Alles zerhauen mir ihm, was er hat, alles … Selber soll ers austrinken, die Glaseln, damit mir sehn, ob's Gift is oder net … An demselbigen Strick aufhängen, an dem die Emmrenz g'hängt is … Mit demselben Feuer ihm alles verbrennen, mit dem ers Stoderkreuz anzündt hat …«

Der Zug wälzt sich den Gnadenweg herab, vorbei an den Leidensstationen des Erlösers, vorbei an der Lebensgeschichte des großen Wundertäters – unaufhaltsam und unlöschbar, das schwere, zermalmende Element, die Erde, die Tiefe, der Trieb.

Die Sanktrainer wittern schon lange den Blitz.

Der Platz bevölkert sich.

Um den Kern von harten, wilden Bauern schwärmt die feige Gasse.

Schießt ihnen an wie Söldlinge den erprobten Helden.

Schießt in sie ein, wie trübes Stauwasser in aufgelockerten Schutt.

Keine Hand rührt sich, die Schleusen fallen zu lassen. Kein Mund öffnet sich, der Vernunft zu dienen. Das wühlt und kocht und wallt aus brausendem Abgrund empor.

»Heilandsbrenner … Die Fenster schmeißts ihm ein … Heide … Leutfeind … Giftmischer … Mörder … Heilandsbrenner …«

Der ganze weite Marktplatz eine Arena. Alle Daumen herabgedreht.

Keine Gnade!

Die Bestien sind los.

Der seidene Exzellenzherr steht erstarrt. Er hat lange regiert. So sieht das Volk aus! Da muß doch Ordnung geschaffen werden! Das ist ja die Revolution!

Er prellt gegen einen jungen Geistlichen.

»Sie! sagens! Hochwürden! … Das ist ja schrecklich … Was machen denn die Leut … Sie, hörens, das ist eine liebe Gegend. Da muß doch die Gendarmerie einschreiten.«

Siebenschein, der eben aus der Dechanei gekommen, keucht vor Eile.

»Ich bin gerade auf dem Wege …«

»Ah, Sie, da geh ich mit. Erlauben schon, daß ich mich vorstell …«

Benedikt stutzt: ein klingender Namen, ein hoher Titel.

»Oh, Exzellenz, verzeihen … nämlich, das heißt … Das wäre allerdings das beste …«

Der seidene Exzellenzherr wischt sich im Trab den blanken Schweiß von der hohen Schädelkuppe.

»Sie, hö, Hochwürden, nit so g'schwind … Was glaubens denn … Nämlich … Sie, das erinnert mich … Sie, schauens, das ist ja furchtbar … Sie, da möcht ich nit regieren, das sag ich Ihnen … Nämlich damals, wie ich noch Minister war, zu meiner Zeit … Das sind ja Zuständ …«

Der Gendarm steht am Fenster und beobachtet aufmerksam das fesselnde Schauspiel. Der alte Exzellenzherr ringt mit dem Atem.

»Sie, hörens, Herr … Sie, warum schreitens denn da nit ein? … Im Namen des Gesetzes …«

Der Herr Gendarm zeigt sich sehr unzufrieden ob der Störung.

»Ja … die zwei andern sind auf der Patroll, der Wachtmeister und der Postenführer … Da darf ich die Kaserne nicht verlassen … Ist Vorschrift so …«

»Ah was, Vorschrift.« Der alte Herr wird plötzlich ein anderer. »Schauens mich nit so dumm an …«

»Bitte, das ist eine Beleidigung der öffentlichen Wache.«

»Ah was, Beleidigung. Wann Sie da beim Fenster stehen und zuschauen, dann sind Sie überhaupt keine öffentliche Wache. Und ich bin der Justizminister außer Dienst, verstehens.«

»Ja, bitte, ist mir bekannt, ist aber schon so Vorschrift.«

»Hörens mir auf mit Ihrer Vorschrift in dem Büchel da. Wann man so was kommen spürt, so verständigt man die Nachbarposten oder das Kommando, verstehens … Jetzt setzens auf, Ihre Pickelhauben, und nehmens Ihren Schießprügel und schauens, daß da Ordnung machen. Sonst mach ich Ihnen eine Ordnung, verstehens, Sie!«

»Ja, bitte, ist aber doch gegen die Vorschrift …«

»Das Zuschauen ist auch gegen die Vorschrift … Jetzt gehens, sonst lernens den alten Minister kennen … Überhaupt, euch da hier werd ich ein Licht aufstecken, wenn ich auch nichts mehr zu reden hab. Kommt alles in die Ministerien, drauf könnts euch verlassen.«

Der Gendarm gehorcht zögernd und sehr umständlich.

Draußen brüllt das Gewitter.

»Einschmeißen die Fenster … Heraus muß er, Red und Antwort stehn, der Heilandbrenner …« Dazwischen die heulenden Torpedopfeifen. »Der Mörder … Ist dir noch net erschienen, die Emmrenz, hä? …«

Der ganze Marktplatz braust mit.

»Wirst du uns das Geld zahlen, was d' uns g'stohlen hast auf die Weis, hä? … Wirst du uns die Steuern abschreiben und die Umlagen? … Wirst du uns eine halbe Million schenken jedes Jahr, hä … Leutfeind, Heilandbrenner …«

Endlich verläßt der Gendarm funkelnd und schwerfällig die Kaserne.

»Da wird man aber so nichts machen können,« bemerkt er zum alten Minister. »Wird vielleicht am besten sein, wenn man telegraphiert.«

»Und bis dahin habens zehn Kriminalfälle,« herrscht der Exzellenzherr zurück; »zu was habens denn Ihr Bajonett, Sie Lettfeigen?«

Der Gendarm beeilt sich nicht, diesem Ratschlage Folge zu leisten.

Er käme ohnedies zu spät.

* * *

Der Doktor trat ruhig ans Fenster.

Aha, da standen sie alle, der Überacher voran, dann der Schmölzhofer, der Rottenbacher, der Rainstaller, schau, sogar der Anrain von Ober-Sterzen. Da sind sie ja alle beisammen. Mehr als erschlagen können sie ihn nicht. Sollen sie schreien und schimpfen! Wenn sie heraufkommen, wird er ihnen schon seine Meinung sagen. Erst die Arbeit fertig machen. Da fliegt ein Stein durchs Fenster und zerschmettert ein paar Reagensgläser. Noch ein Stein, Scheiben klirren, ein dumpfer Aufschlag. Die beiden Frauenzimmer müßte man doch warnen, daß sich die Narren nicht an denen vergreifen … Wieder ein Stein, neue Scherben, das Geschoß platzt in die kleine Wanne, darin die Lanzetten liegen. Die zielen ja ganz achtbar … Schritte draußen, Gepolter, Stimmengewühl … Er will ihnen entgegentreten, da, ein gellender Aufschrei: Laßts mich durch! um Christi willen, laßts mich doch durch … Das Kind! … Seids doch Menschen, habts doch ein Erbarmen … Seids denn Viecher! … Heißer Atem, eine Frau in flatternder Eile, fliegend vor innerer Angst, ihm zu Füßen, die Spänglerin …

»Herr Doktor, um Christi willen … Herr Doktor, um Christi willen! … Der liebe Gott hat uns … Herr Doktor, g'schwind, g'schwind, um alle Heiligen willen … Nit daß der Herr Doktor mitgeht … Die da draußen … Nur was geben … Die Straf vom lieben Gott! … Die Gretel …«

»Blattern?« Der Doktor schreit auf.

Die Frau wehrt mit keuchenden Armen ab.

»Die Lötlampen … Der Mann selber … Und die Salzsäure … Ganz verbrannt … Wie der Mann herausgesprungen is …«

»Herrgott!«

Der Doktor wirft seinen breiten Hut auf den Kopf, rafft die Tasche.

»Herr Doktor, die da draußen …«

»Ah was.«

Jetzt tritt er mitten unter sie.

Der schwarze Sturm schlägt ihm entgegen.

»Laßts mich durch.«

Ein Stein summt, verfehlt sein Ziel.

Ein Mann wird zurückgerissen, daß er taumelt.

Ein gereiztes Aufbrüllen.

»Was machst denn du dahier?«

Ein gellender Weiberschrei.

»Widmann! Bist g'scheit! … An die Heilignacht denk! … Du hast g'soffen, und der hat mirs Leben g'rettet und deinem Hoferben!«

Gewühl, Unschlüssigkeit, Murren, eine vorwärtspflügende Gasse.

Eine verstümmelte Hand, die über die Köpfe hinausschwört.

»Mander! Da. Mich derschlagts. Falsch hab ich geschworen, die Finger hat's mir wegg'rissen, umsonst hat er mir's kuriert.«

Der Doktor steht ruhig vor der heranstoßenden, zurückweichenden Brandung.

»Also jetzt machts Platz. Laßts mich durch. Daß ich zu dem kranken Kind komm. Nacher red'mer weiter.«

Eine finstere Gasse tut sich widerwillig auf.

Erlahmte Steine fallen schwer.

Dumpf, enttäuscht und besiegt sinkt die Lava in den Krater zurück.

Die Leute stehen starr. Sie haben geglaubt, er wird fliehen oder sich zur Wehr setzen. Sie sehen sich wieder um einen Genuß betrogen.

Ein geschlagenes Heer, so flutet der kochende Feuersee nach beiden Seiten ab. Schwer, unsicher und zähflüssig. Gelähmt von einer unerklärlichen Furcht, betäubt von einer furchtbaren Stimme, geblendet von einem unerträglichen Licht.

Sie staunen und erwachen. Mitten durch sie ist er hindurchgegangen und keiner hat ihn halten können. –

Der Herr Gendarm findet nichts mehr zu tun. Darum zieht er auch gleich andere Saiten auf.

»Was is denn das für ein Krawall? Wißts net, daß Seine Exzellenz der Herr Justizminister hier auf dem Platz wohnt? Seine Exzellenz der Herr Justizminister hat alles mitang'schaut. Schämts euch net? Wer hat ang'fangt?« Er zückt das dicke Sündenbuch und leckt den Bleistift. »Einer muß ang'fangt haben, im Namen des Gesetzes …«

»No ja, mir ham uns bloß die Gnadenkirchen anschauen wollen, wie die herg'richt is,« entschuldigt der Fern; »und da sein mir halt ein bissel heruntergangen, schauen, ob dös wahr is mit die Blattern … Hammir den Herrn Doktor fragen wollen … Aber er hat ka Zeit net, grad is er weggangen.«

»Hab eh g'sagt, laß mer's bleiben.« bestätigt der Rainstaller; »hab eh g'sagt, wo so hohe Herrschaften jetzt wohnen tun, da derf man kan solchen Lärm schlagen, schickt si net, und überhaupts, glei hat man Zwidrigkeiten und Weg vielleicht aa no, und nix hast davon.«


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