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V.

Seit Verenas Tod war der Doktor nicht mehr in Unzing gewesen.

Heute wollte er den Grauschimmel anspannen lassen, um dem Lehrer und Marianne wieder einmal einen Besuch abzustatten. Er wußte, es würde ihn schmerzen; er wußte, Verena würde ihm überall begegnen, das Haus selbst ihn aus ihren Augen ansehen. Aber das eigene Leid entband nicht der Pflicht gegen die Freunde.

In seinen Vorbereitungen zur Fahrt sah er sich durch einen seltsamen Besuch aufgehalten. Der Geisterer trat in seine Stube. In seinen Händen hielt er ein großes, stark benutztes Buch; das legte er vor den Doktor hin auf den Tisch.

»Das hab ich dir schon lang bringen wollen,« sagte der Alte ohne Umschweif; »aber es ist immer was dazwischenkommen. Hab's immer hinausgeschoben, bis auf diesen Tag. Und heut bring ich's dir. Wird dir vielleicht einmal nutz sein, das Buch; mir selber ist's oft nutz gewesen.«

Der Doktor legte die Hand auf den abgegriffenen Band, um ihn aufzuschlagen; aber der Geisterer hielt ihn zurück.

»Laß es ungeschaut, auf Treu und Glauben. Ich geb's in deine Händ, weil ich dir vertrau, aber aufmachen und lesen sollst es nit, solang ich da bin. Wenn ich einmal hinaus bin aus dem Haus, dann kannst damit machen, was du willst, lesen, zerreißen, verbrennen, wie's dich freut. Aber derweil laß es, wie's ist.«

Der Doktor schob dem Alten einen Stuhl zurecht.

»Ich hab immer geglaubt, Geisterer, ich würd Euch einmal besuchen, da oben in Eurer Einschicht. Ich hab mir's oft vorgenommen, vielleicht, daß ich's in diesem Sommer einmal wahr mach.«

Um die eingeschrumpften Lippen des Alten spielte ein fernes Lächeln.

»Wirst zu spät kommen. Ich geh außer Land.«

»Ihr, in Euren Jahren?«

»Oder ist's nit Zeit?« fragte der Alte. »Kommst mir einmal nach, gehst auch du außer Land. Vielleicht treffen wir uns dort?«

Wendt verstand.

»Damit hat's schon noch sein Bewenden, Geisterer! … Aber wollts Euch nicht setzen?«

»Ist eigentlich nit gut. Wer müd ist, soll sich nimmer setzen, solang noch Weg übrig ist; steht dann schwer auf zum letzten End nach Haus. Soll sein, weil ich schon einmal da bin.«

Er ließ sich behutsam nieder. Den Hartriegelstock stemmte er vor sich hin gegen den Teppich; über der Krücke verschränkte er die Hände und darauf stützte er das sorgfältig rasierte Kinn.

Der Doktor berührte seine Schulter.

»Kann ich Euch vielleicht helfen, Geisterer? Wo sitzt's denn, daß Ihr ans Sterben denkts?«

Der Alte sah ihn unter den weißen Brauen hervor nachdenklich an.

»Das ist's nit. Aber schau, ein End muß sein, damit wieder ein Anfang ist. Wenn einer sein Weg bis zum letzten Haus gegangen ist, soll er da wohnen bleiben, nur weil der Weg aufhört? … Mir fehlt nichts, aber ich bin alt, und älter als du denkst.«

»Merk aber nichts davon,« sagte Wendt freundlich; »wenn einer noch vom Berg ins Tal heruntersteigt und geht zurück in den Berg, dann ist das richtige Alter weit entfernt. Wollts Ihr noch heute in Eure Einschicht hinauf?«

Der Geisterer nickte.

»Ja, heut noch. Zu Abend werd ich droben sein. Hab dir grad nur das bringen wollen, das dicke, alte Rezeptenbuch. Könnt leicht sein, daß ich zum letztenmal im Tal bin, wär mir nit recht, wenn's in unrechte Händ käm.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Euch's danken soll. Hab Euch doch mein Lebtag nichts Guts getan.«

»Das weißt du nit. Und was das Danken angeht, verspar dir's. Wirst ja sehen, ob's einen Dank verdient oder nit. Steht viel altes Zeug darin, das längst nimmer wahr ist. So geht's mit allem. Alte Menschen sind auch nimmer wahr.«

Der Doktor klopfte ihm auf die Achsel.

»Das wär schlimm, Geisterer, wenn das so wär. Aber ich will Euch was fragen. Ich fahr jetzt hinauf nach Unzing. Wollts Ihr die Gelegenheit benützen? Ein kleines End kürzt's Euch doch ab, und unterwegs können wir allerhand bereden, wir zwei.«

Der Geisterer überlegte.

»Soll sein,« sagte er dann; »hätt eigentlich noch ein Weg dahier, bevor ich wieder zu Berg geh … Aber soll bleiben. Wird ihn leicht ein andrer für mich tun, den Weg. Ich fahr mit dir hinauf. Dann bin ich noch vor Abend daheim, ist auch gut so.«

Nun fuhren sie miteinander durch den warmen Sommernachmittag.

Der Doktor ließ den Grauschimmel in geruhigem Schritt hinprusten; er hatte keine Eile, und die zahlreichen Steigungen der weißen Hügelstraße hätten bei schärferer Gangart das Tierlein ganz unnötigerweise erschöpft. Auch lag ihm viel daran, den Weg hinauszuziehen; nun fand er doch einmal Gelegenheit, diesen wunderlichen Alten näher kennen zu lernen.

Er zeigte mit der Peitsche nach den goldenen Ährenwellen, über die ein zarter Traumwind hinschauderte.

»Wird eine reiche Ernte werden in diesem Jahr. Die Gerste ist nächstens schnittreif.«

Der Alte wiegte den weißen Kopf.

»Wenn's nit noch verhagelt.« Er deutete über die schimmernden Felder hin nach Südwesten, wo in blaudunstiger Bergferne eine weiße Sommerwolke in feierlicher Ruhe stand. »Die Wolken dort, die will mir nit recht gefallen. Und steht schon lang dort, diese Wolken. Wär Zeit, daß gute Ernten hereinkommen, könnt einen harten Winter machen für uns alle. Ist aber viel Unkraut zwischen, wie ich seh, und taube Ähren, langes Stroh, wenig Korn. Und roter Mohn ist auch mehr als in anderen Jahren. Das zeigt immer was an.«

Der Doktor nickte ernsthaft.

»Es wird nimmer so gut gearbeitet wie früher. Die Maschine hat den Menschen verdorben. Das Saatgut ist auch nimmer so rein wie früher. Die neuen amerikanischen Sorten taugen nichts, das ist nicht für unseren alten Boden. Und dann immer der heiße Südwind in den letzten Jahren, der verbrennt alles in der Blüte. Es ist eine schlechte Zeit.«

»Eine schlechter wie die andere,« sagte der Geisterer; »wie ich jung war, und das ist lang her, da ist noch nit alles so in Reih und Glied gestanden, aber ein anderer Segen war dabei. Ich hab einmal gelesen, daß das alte Eis wieder über uns kommen wird, und ich mein, ich spür's schon auf dem Weg von Norden herunter. Wenn das in unsern Föhn hineindrückt, gibt's ein großes Wasser und alles ertrinkt.«

Der Doktor sah den Geisterer verwundert an.

»Es fehlt eben am guten Willen,« sagte er nach einer Weile; »beim guten Willen muß alles anheben, dann wird jede Ernte reich, sogar die verhagelte.«

Der Alte schwieg.

»Da hast schon recht,« fing er dann an; »die Zeit ist noch nit da. Ist zuviel Liebe auf der Welt und zu wenig. Da fahren Wind aus Süd und Nord durcheinander und Eis kommt herunter. Überall sind jetzt Spitäler und Doktoren und Barmherzigkeit, stirbt kein Mensch mehr, wie's ihm vorgesehen ist – aber werden viele nur aufgespart für den Hunger und das Elend und das Verbrechen. Das ist die andre Seiten.«

Wendt ließ die Zügel schlaff auf dem Rücken des Grauschimmels spielen.

»Geisterer,« fragte er plötzlich; »wer seids Ihr eigentlich?«

»Das weiß ich selber nimmer,« beschied ihn der alte Mann; »frag nit, einmal wirst es schon raten. Weiß einer, wer er ist? Das weiß keiner, das wissen nur die anderen, die ihn machen. Wer bist denn du? Für dich selber bist nit der gleiche wie für die anderen.«

Die Straße überschritt den First eines Hügels und senkte sich leicht zu neuem Anstieg hinab. Der Doktor zog die Schleife an und ließ das Schimmelchen verhalten traben.

»Geisterer,« fragte er dann, als der Gaul wieder in Schritt fiel, »wie lange seids Ihr eigentlich hier? Ein Heimständiger seids Ihr nicht?«

»Wie lang ich hier bin? Ich mein, seit immer. Heimständig, das bin ich hier grad so wenig und so viel wie irgendwo. Heimständig ist nur einer, der die Seel im eigenen Misthaufen drin hat oder im eigenen Geldsack. Aber so einer wie ich, der ist heimständig bloß in den Sternen.«

»Ich weiß, Ihr seids ein Philosoph,« sagte Wendt ernsthaft; »ich hab das schon damals gemerkt, erinnerts Ihr Euch, wo wir uns zum erstenmal getroffen haben?«

Der Geisterer nickte.

»Ich weiß, bei der Gesundbeterin. Wo ich dir gesagt hab: und wenn du dich selber ihnen hingibst, sie machen doch bloß eine Sucht daraus.«

»Ihr habts ein scharfes Gedächtnis für Eure Jahre.«

»Das ist der geringste Segen, kannst mir glauben.«

»Eigentlich seids Ihr ein Kollege von mir. Ich glaube, Ihr wißt manches, was ein großer Arzt Euch neidig sein könnt.«

»Da kannst recht haben.« Der Alte lächelte. »Dazu hast jetzt das Buch. Da steht alles drin. Lies nur.«

Der Doktor streifte dem Schimmel mit der Peitsche die Bremsen ab.

»Wir haben noch einen Kollegen, wir zwei. Den Heiligen. Aber mit dem steh ich auf schlechtem Fuß.«

»Ich auch,« sagte der Alte ruhig. »Wenn er die Leut gesund macht, wär's schon recht. Aber er macht sie krank, und was das Schönste ist, sie machen ihn krank in seinem Grab.«

»Aber deswegen dürfts Ihr nicht denken, daß ich gegen alles bin, was ohne Latein und Titel wirklich heilt. Das Volk ist alt und weiß viel. Das Volk ist tief und hat viele Quellen, die wir gar nicht kennen. Bin ja selber einer aus dem Volk.«

»Weiß,« nickte der Geisterer; »ich auch. Was du da gesagt hast, das geht auf mich, gelt? Schau, ich hab ja manchem geholfen, aber ich hab die Leut immer auch inwendig gepackt, damit's greift, verstehst. Beim Tier, da wirkt's, wie's wirkt, da brennt das Feuer und löscht das Wasser. Aber beim Menschen, der ein vergiftetes Tier ist, da muß noch ein Extragift dazu. Dann schwörens gleich auf dich. Darum hab ich's ja nit getan, aber damit sie folgen. Für ein, der aufs Kreuz eingerichtet ist, g'hören drei Kreuzeln auf die Medizin. Und wann einer glaubt, der Hahn auf dem Mist ist der liebe Gott, dann mußt ihm zum Trank oder Kraut sagen, daß er vor dem Einnehmen dreimal Kikeriki schreit. So geht's von unten bis oben. Mach's so, und sie bauen dir eine Kirchen wie dem Heiligen.«

»Das könnts Ihr tun, Geisterer, aber ich nicht,« sagte der Doktor; »sie sollen meinen guten Willen sehen und selber guten Willen haben. Will ihnen ja nichts nehmen von dem, was ihnen notwendig ist. Aber ein Glaube, der kein Glaube ist, macht nicht gesund, der macht krank. Da kann ich nicht zu meiner Arznei noch ein paar Lot Lüge ins Rezept hineinschreiben.«

»Ah geh!« Der Geisterer legte seine dunkle, runzlige Hand auf den Arm des Doktors. »Werd du so alt wie ich und leb so lang mit den Wurzeln und Wolken und Sternen und Stürmen, dann denkst auch anders. Ich schau dir ja aus meiner Höh zu so lang als du da bist, und seitdem hab ich das Kurieren aufgegeben, weil du der Bessere bist. Aber der vor dir, der hat nichts geheißen, wenns ihn auch gern gehabt haben. Da hab ich halt geholfen, so gut als es gegangen ist. Aber du bist der den ich mein, das weiß ich von Anfang an. Nur auf den Berg mußt noch gehn, damit du von oben kommst. Ist ja alles nur eine Kinderstuben, schau, Spielerei mit Kirchen, Meierhöf und Soldaten. Und wo glaubt dir ein Kind an guten Willen, wenn du ihm den seinigen nit tust? Das Kind will ein Zucker, und du gibst ihm bittere Arznei. Das Kind will spielen, und du sagst ihm, es soll still sein. Da merkt's nichts von deinem guten Willen und kann dich nit leiden für dein bitteren Gesundtrank, wann er ihm noch so gut bekommt. So ist das Kind schon einmal, wirst es nit ändern. Mußt spielen mit ihm, und die Medizin gibst ihm auf Zucker oder was ihm schmeckt, und du hast die Gewalt in der Hand. Ist noch keine Wahrheit rein eingenommen worden, seit was die Menschen um ihre Lust leben und alles darauf einrichten. Muß immer ein Quentel Lüge dazu, und wenn du's ihnen mit der Weil abgewöhnt hast und sie vertragen die pure Wahrheit, dann weißt, daß das keine Wahrheit mehr ist, sondern selber schon Lüge worden. Seine Wahrheit hat noch jeder mischen müssen und würzen, und bleibt so bis ans End.«

Wieder streifte der Doktor die Bremsen vom schweißblanken Pferderücken.

»Geisterer,« sagte er dann ernst; »Ihr seids alt und klug wie tausend Jahre. Aber ich steh in der Mitte drin und seh's anders. Die Wahrheit ist mir zu heilig, ich hab das nicht so unter mir wie Ihr, der Ihr einschichtig auf der Höh lebts. Ich hab meinen Beruf und meine Pflicht und kann das nicht so als Kinderspiel nehmen. Wenn einer zu mir kommt und ich verschreib ihm die Arznei und sag ihm: dazu mußt aber einen ganzen Rosenkranz beten oder einen Gulden in den Opferstock spendieren, sonst hilft's nicht – wenn ich das tu, so betet er das nächste Mal den Rosenkranz und spendiert den Gulden oder er zwickt noch den ab, zu mir kommt er aber gewiß nicht mehr. Denn der Rosenkranz ist das Billigste. Und ich kann den Leuten auch nicht vormachen, daß das Wunderöl von dem Heiligen da drunten wirklich eine Medizin ist. Wenn ich das tu, so verdien ich, daß man mir das Dach überm Kopf ansteckt und die Zunge ausreißt. Wenn sie schon Kinder sind, so muß man sie zu erwachsenen Menschen erziehen, daß sie unterscheiden, was Religion ist und was nicht, daß sie wissen, wo die Verantwortung anfangt und wo sie aufhört. Das ist meine Pflicht, und die werd ich erfüllen, wie's auch ausgeht.«

Der Geisterer wiegte den Kopf.

»Erziehen? … Erziehen kannst sie schon einmal nit, bild dir nur das nit ein. Erziehst sie höchstens zu einer anderen Art Kind. Kannst sie soweit bringen, daß sie sich wie Männer anziehn und mit dicker Mannsstimm gescheites Zeug daherreden. Bleiben deswegen aber doch Kinder, die auf einem Theater die Alten spielen. Laß sie nur aus, sie rennen zurück zu ihrem Sandhaufen und graben Straßen hinein und stellen Türme auf und nennen das wichtig eine Welt. Und der Wind, der über den Sandhaufen geht und die Straßen verschüttet und die Türme umwirft, ist doch der gleiche, ob sie spielen oder nit. Er wird nit aufhören wegen ihnen, und sie werden ihm nit befehlen, wann er kommen soll und woher. Auch was du tust, was von dir aus geschieht, die Stern und Stürme ziehn drüber weg, die Zeit bleibt die gleiche, die Ewigkeit schon gar, das End wird deswegen nit früher sein und nit später und um kein Haar anders. Ist doch alles nur Spiel, damit die Zeit gut vergeht und weniger Leid ist als wie Lust. Wird doch alles nur zu dem erfunden, schau. Und kommst ihnen mit der heiligen Wahrheit, heilig wie sie dir ist – dann bist ein Spielverderber und dafür wirst noch hundertmal ans Kreuz geschlagen und wird dir noch hundertmal das Herz durchstochen und wirst noch hundertmal den Mund voll Essig haben und voll Gall! Du weißt nit, wie boshaft die Kinder sind, wenn einer ihnen das Spiel stört. Mußt immer denken, sie halten's für wichtig und kommen sich groß vor bei ihrem Sandhaufen. Tun wir's ja auch, also wie erst die Buben.«

»Ich will aber nur ihr Gutes,« widersprach der Arzt; »Ihr habts da leicht reden, Geisterer, Ihr schauts zurück, und da wird alles klein und unbedeutend. Aber ich, der ich da drunten mein Amt hab, ich kann nicht so alles gehen lassen, wie's gehen mag. Ich bin dazu da, um zu wirken und zu helfen. Dazu ist überhaupt der Mensch da, und ich bin auch ein Mensch.«

»Und ein guter obendrein,« sagte der Alte gelassen; »aber einer, gegen den alles sich sträubt. Ich versteh das alles. Ich war auch einmal ein Mensch. Aber du wirst ans Kreuz geschlagen werden mit deinem Gutsein und deiner Wahrheit, drei Nägel durch Händ und Füß und den Stich durch die Brust und die Dornenkrone auf den Kopf.«

»Ist mir alles eins,« versetzte Wendt grimmig; »können mich steinigen oder schinden, wenn sie's freut. War schon einmal nah dran. Deswegen werd ich aber doch sagen, was ich für richtig halt. Dahier ist der Doktor, und dort ist der Pfaff. Zum Pfaffen gehts beten und beichten, zum Doktor kommts um die Arznei. Haltets die Kinder sauber und laßts die Wöchnerinnen nicht schon in der zweiten Woch auf Arbeit gehn. Wenn für eine Frau die schwere Stund kommt, laßts die Hebamm rufen oder den Doktor, aber verpfuschts die Kranken nicht mit heiligem Öl, was alles zusammen ein Schwindel ist und ein Verbrechen. Laßts wegen einem Feiertag den Kranken nicht sterben. Holts den Doktor nicht immer erst, wenn's zu spät ist. Statt daß ihr vorm Altar auf den Knien herumrutschts und euch gegenseitig in die Bücheln und auf die Rosenkränz schauts, wieviel daß sich der andre näher an den lieben Gott heranbetet, zündts euch lieber das ewige Licht inwendig an und haltets Frieden miteinander und habts guten Willen zueinander, damit die Gemeinde in die Höh kommt. Statt daß ihr eure harten Gulden hergebts für lange Kerzen und seidene Fahnen und neue Kirchtürm, tuts das Geld lieber zusammensparen auf ein Gemeindekrankenhaus. Statt daß ihr die Andacht begießts, laßts lieber die Groschen in der Taschen und kaufts dafür euren Kindern Lebertran … Das werd ich immer sagen, ob sie's gern hören oder nicht. Laßts neue Brunnen graben, damit ihr nicht immer das Kropfwasser trinkts. Machts euch eine Wasserleitung, damit die Weiber nicht das Wasser auf dem Kopf zu Berg schleppen müssen. Legts euer Geld in sichere Kassen, und nicht in solche, die damit schlecht spekulieren. Der Heilige im Grab braucht gar kein Geld, aber ihr brauchts welches, ihr, die lebendigen Menschen. Und wenn ihr in der rechten Meinung ein Vaterunser dazu betets, so wird der liebe Gott bei allem dabei sein. Das ist die pure und gesunde Wahrheit, und von der werd ich nicht abstehn, solang ich ein Mensch unter Menschen bin.«

»Ist schon recht,« antwortete der Geisterer bedächtig; »das ist alles recht, und wer selber den guten Willen hat, der merkt, wie du's meinst. Aber ob du's ihnen sagst oder nit, ob sie dir jetzt folgen oder nit, das ändert kein Deut am Anfang oder am End. Spielen müssen sie, eine Spielerei müssen sie haben. Das wirst du nit aus der Welt schaffen so wenig wie irgendeiner. Schau, an das mußt denken, was ihnen eigentlich Freud macht und für was sie leben. Ist alles auf das Eine eingerichtet und eingeteilt, von unten bis oben. Geht alles nur um das Eine, aus dem alles kommt und in dem alles aufgeht. Ist dem Geschöpf zur Freud gegeben, damit es leben mag und wachst. Wenn's die Menschen verderben oder an unrechte Stell setzen – ist alles nur, damit sie von einer anderen Seiten dazu kommen. Ob sie ihm jetzt den Namen geben oder den, die ganze Einrichtung ist auf den einen Punkt gestellt. Da hat alles sein Anfang genommen, da gehen alle Weg hin, die krummen und die graden, und wenn einer weggeht aus dieser Mitten, so lauft er nur den Weg zurück, der von dort kommt und dorthin weist. An der Stell, wo Weib und Mann zusammentreffen, da ist die Welt. Da sind alle Quellen. Da ist alles zu Haus. Und schau, was willst da machen? Wenn du ihnen schon die Wahrheit sagen willst, müßtest ihnen rein diese sagen. Und die wissen sie selber. Am End kommt alles auf dasselbe hinaus, die Sterne nehmen ihre Straßen und kümmern sich nit um das Narrenvolk da drunten. Ob sie sich weiß anziehn oder schwarz, ob sie Krieg führen oder Psalm singen, ob sie satt sind oder verhungern – ist alles eines für das große Geschehen. Der Kreis schließt sich, und die Nacht kommt über die Kinder, ob sie jetzt brav waren oder unartig.«

Der Doktor sprang heraus, um dem Schimmelchen die Zuglast ein weniges zu erleichtern. Es ging eben über einen kurzen, scharf gespannten Hügel hinweg. Auf der Schwelle der Steigung hielt er an und setzte sich wieder neben den Alten.

»Ich begreif Euch ganz gut, Geisterer,« sagte er; »aber man bekümmert sich doch auch um das, was einem blutsverwandt. Ich bin schon einmal so, daß ich nicht ansehen kann, wie die Menschen in die Irre leben. Das liegt mir im Wesen, ich kann nichts dafür, ich muß.«

»Red dir auch nit dawider,« entgegnete der Alte; »ich hab's selber durchmachen müssen, kenn mich also aus. Das sind die besten Jahre und die schlimmsten. Wenn du nit so wärst und hätt dich nit für einen solchen erkannt, ich wär nit zu dir gekommen und hätt dir das Buch gegeben. Ich sag dir nur, guter Will hin oder her – eher erkennen sie ihn nit, als bis du gekreuzigt bist, gestorben und begraben. Dann werden sie dich wieder auferstehen machen, vielleicht. Aber was du selber hast wollen und was du gewesen bist, das kommt nie zustand in alle Ewigkeit.«

»Ich erwart es mir auch nicht, Geisterer. Wenn ich dem geholfen und jenem, dann bin ich schon zufrieden. Ich möcht nur, daß sie inwendig hell werden und daß sie das Zeichen mit dem Erlöser inwendig aufstellen. Falschheit und Dummheit sind nicht notwendig zur Freude.«

Der Alte nahm seinen Hartriegelstock hervor.

»Du bist auch so ein guter Mensch, der die Wundmale an sich tragt. Meinst auch, mit dem, was du ihnen gibst, treibst ihnen die Dummheit und Falschheit aus. Ist aber nit so, schau. Gibst ihnen bloß eine neue Dummheit und Falschheit statt der alten, den Falschen und Dummen nämlich, und das sind die allermeisten. Es kriegt ein jeder bloß, was er schon hat, und darum geht tausendmal mehr Unkraut auf als Weizen. Aber das ist am End alles nur Einbildung, die wir uns angelernt haben mit unserem Magen und unserer Sucht. Die Sterne schau an – und gut und bös und schwarz und weiß und rechts und links, wo ist das noch? Wenn du's ihnen schon nit geben kannst, nimm dir's zum Trost, das Große da oben. Aus solcher Weiten ist alles schwacher Schein, und Schein ist alles … Dahier muß ich jetzt aussteigen, da kürz ich den Weg.«

»Könnt Euch grad noch über den Kritzenberg bringen,« schlug Wendt vor; »der ist steil, und beim Totenkreuz steigts Ihr dann aus.«

Der Geisterer winkte ab.

»Auf die Höh zum Totenkreuz komm ich schon noch allein. Bleib du nur. Das Gehn könnt mich sonst gereuen nach dem Fahren.« Er reichte dem Doktor die Hand. »Schön Dank für den guten Weg bis da herauf. Ich hab schon immer mit dir reden wollen. Jetzt haben wir uns ja ausgesprochen.«

»Noch lang nicht,« sagte der Doktor; »und zu danken hab ich, zuerst für den Besuch, dann für das alte Buch, endlich für die Gesellschaft.«

»Jetzt kann dir das Buch Gesellschaft leisten,« nickte der Alte; »ist viel durcheinander, was eben ein langes Leben so zusammentragt. Manches nimmer wahr, aber da und dort wirst es brauchen können.«

»Brauchts Ihr selber es nicht mehr?« lächelte Wendt.

Der Geisterer schüttelte langsam den Kopf; in seine Augen trat ein ferner, wehmütiger Schein. »Nimmermehr,« sagte er feierlich; »ich brauch's nimmermehr. Ich kann das ganze Buch auswendig, hab lang genug drin gelernt. So hab dich gut, ich muß jetzt gehn, meine Füß tragen mich nit wie früher. Heut ist Sonnwend, muß vor Abend zu Haus sein, daß auch dem alten Geisterer sein Feuer zu den Sternen hinaufbrennt. Der Stoß ist schon geschichtet, braucht bloß der Funken hineinschlagen.«

»Ich geh vielleicht mit dem Lehrer heut abend zum Totenkreuz,« sagte Wendt; »von dort sieht man so schön in alle Weiten. Da werd ich an Euch denken, wenn ich Euer Feuer seh.«

»Sehen wirst es,« versprach der Alte; »also denk an mich. Vom Totenkreuz hat man einen schönen Blick, ist wahr, von da oben sieht alles schön aus. So hab einen guten Sommer, und grüß mir den jungen Menschen, der da geistlicher Herr ist, der ist auch so ein Bruder vom Kreuz, dem alles zum Wundmal wird.«

Der Geisterer wandte sich, winkte noch einmal zurück und stieg dann gelassen durch die blumigen Sommerwiesen hinan, auf den schwarzen Wald zu. Längst schon war er im dunkelgrünen Zwielicht verschwunden, als der Doktor noch immer nach der Stelle spähte, wo die Gestalt des kleinen alten Mannes in die Dämmerung getreten.

Wendt ermannte sich endlich, er trieb das Grauschimmelchen an und fuhr durch die Dorfzeile hinauf bis zum Tafernwirt, der ihm seit jeher Pferd und Wagen in Unterstand genommen.

* * *

Obwohl er ganz gut die wohnlichen Räume des Erdgeschosses hätte beziehen können, begnügte sich der junge Pfarrverweser doch mit der liebgewordenen Enge des kleinen Stübchens.

Des kleinen Stübchens, das ihn damals, an jenem Vorabende eines Septuagesimasonntags mit dumpfer Kälte empfangen.

Aber nun hatte er das schmale Zimmerchen mit seinem kargen Gemöbel warmgewohnt.

Überall, in der Holzmaserung des Bücherschrankes wie in den tausendfach wiederholten Schablonenfratzen der Wandmalerei, im vitriolgrünen Ölgefäß der Lampe wie in den bunten Spiegelungen der Bildverglasung – überall begegnete ihm das Zeichen des Geistes, der ihm in dieser Zelle Einsamkeit erschienen, den er selbst beschworen hatte, und vor dem er dann geblendet in die Knie gebrochen war: das Zeichen des Erdgeistes. Überall das wunderkräftige Stigma, überall Narben, Spuren, Niederschlag des eigenen Schicksals, Staub vom eigenen Staube, Male der eigenen Wunden.

Das silberne Kruzifix auf blausamtner Unterlage, ein Geschenk der Mutter zu seiner Priesterweihe: an jenem Morgen, da er nach schwerem Sturze bis in die Erdentiefe aus seiner Betäubung erwacht, hatte er es geflohen wie das Antlitz eines schrecklichen Richters … Das Harmonium, das immer noch jenen verführerischen Gesang der schmerzensreichen Mütter gefangen hielt … Das Blatt mit den Köpfen der Päpste, der Hohepriester des neuen Bundes: sein schmaler, schwarzer Rahmen umspannte auch das Erleben jenes ersten Abends, da die Reihen der Nachfolger Petri wie eine Vision an ihm vorübergezogen … Und im Fache des kleinen Schreibtisches ruhte noch immer die unvollendete Handschrift, das Leben des heiligen Papstes Leo IX., Bruno von Toul, Grafen von Egisheim, das Werk, dessen Wurzeln er auf dem Wege zur Einkehr gefunden, auf der Flucht vor dem Leben in die alten Ruinen der Toten. Nun würde es wohl Bruchstück bleiben, der fürstliche Gönner vergebens auf Erfüllung des empfangenen Versprechens warten. Er fand den Pfad nicht mehr, der ins Innerste der Tempeltrümmer führte; ein neuer Frühling fand ihn vor neuen Äckern, Gärten und Bergen.

Das karge Gemöbel der Stube hatte er mit nicht unerheblichen Opfern aus dem Nachlasse des verstorbenen Pfarrers gekauft. Diese unscheinbaren Dinge, die von ihm so viel Eigenes empfangen und ihm sein Eigenes in Spiegelbild und Atem wiedergaben, waren ihm viel zu wert, als daß er sie dem Erben, dem starrstruppigen Hermagor Pichler, hätte ausliefern mögen. So kam nach etlichem Zaudern ein erträglicher Handel zustande. Siebenschein hatte sich eine selbstbeseelte Welt erstanden, und der Preis schien ihm nicht zu hoch, da er um die verborgenen Fächer der Schränke wußte. Hermagor Pichler vermehrte seine Erbschaft um eine kleine bare Summe, und das Geschäft schien ihm günstig, da er im alten Bücherspind nichts anderes sah als eben nur einen unbeholfenen, unmodernen Kasten, im kleinen Schreibtische nichts als ein Gerüst aus mehreren Holzstücken, deren Furnier vielfach erblindet und abgeblättert. So lag der Gewinn auf beiden Seiten, und die Beziehungen zwischen den zwei Erben des Verstorbenen, dem amtlichen und dem gesetzlichen, hätten herzliche werden können, wäre auch ein Austausch innerer Güter in Fluß gekommen. Allein Hermagor Pichler hatte nichts zu geben, Benedikt Siebenschein fand da nichts zu nehmen; so lebte man die Osterzeit hindurch in kühler Fremde nebeneinander her. Hermagor Pichler nahm schließlich einen etwas plötzlichen Abgang. Wie schon vor einem Jahre gereichte auch diesmal seine Anwesenheit den beiden Frauenzimmern zu Ärgernis und Reibung. Fräulein Petronilla Pichler setzte sich mit ihrer ganzen harten Persönlichkeit für ihn ein, Fräulein Amalie Huber wandte sich um so auffälliger dem jungen Herrn Pfarrverweser zu. So war die ganze stille Leidenswoche hindurch lärmender Unfried im Hause. Drunten knallten zornige Türen, im Flur stand weiland Permosers Hausrat getürmt, Käufer kamen und gingen, die Petronilla feilschte und Hermagor Pichler strich ein. Endlich aber versuchte er auf seine Art beim jüngeren Fräulein zu vermitteln und ging mit brennroter Wange als Märtyrer des Friedens aus diesem Kampfe hervor. Dies veranlaßte ihn, den Unzinger Staub von seinen Füßen zu schütteln, und wenige Tage darauf nahm Fräulein Huber, welcher die festgepolsterte Hand gleichfalls nachhaltig brannte, ihren Einstand im Eggerhof. So blieb Benedikt mit der ungastlichen Petronilla allein.

»Wann's nix Gescheits zu essen gibt – die Mali is net weit, das weiß der hochwürdige Herr Doktor.«

So hatte sich die getreue Freundin vom jungen Pfarrverweser verabschiedet.

Der Eggerhof lag ganz nahe; desto größere Umwege schlug Benedikt um dieses Haus des Schicksals.

Aber an einem Sommernachmittage mußte er sich doch wieder in die Gefahr begeben; ein Zufall führte den Anlaß herbei.

Wieder einmal war das Heimweh nach seiner Arbeit über ihn gekommen. Er öffnete das Fach des kleinen Schreibtisches, der nun der seine war, und holte die unterbrochene Handschrift aus ihrem frühen Grabe hervor. Da fielen ihm die beiden Reliquien in die Hände, die er gleichfalls in dieser Lade verwahrte, Verenas Gebetbuch und Malis kostbares Geschenk.

Ehrfürchtig schlug er die dünnen Blätter auf; der Duft einer lichten Mädchenseele schlug ihm daraus entgegen. Jede Seite trug ihr heiliges Geheimnis, jedes Wort beschloß in sich eine eigene Weihe und einen besonderen verklärten Sinn. Benedikt fand etwas unendlich Rührendes, ja Tröstliches in der Vorstellung, daß dies Buch einst von reinen Mädchenhänden war gehalten worden, daß ein stilles, zartes Mädchen seinen ganzen armen Frühling in diese Zeilen hineingebetet hatte, vielleicht zu einer Stunde, da er selbst vor dem Altar seiner ersten Kirche die jungen Wunder des Priestertums in süßen Schauern erlebt. Und dies Buch war Verenas gewesen, deren irdische Schönheit er mit bebenden Lippen hineingesegnet ins mütterliche Dunkel der alten schweren guten Erde! … Nun fand er ihr Lieblingsgebet, den verzückten Psalm des Mystikers Bonaventura, der wie ein inbrünstiger Münsterturm von Turm zu Turm zu Gott hinaufgipfelt, bis er in weitoffener Kreuzblume alle Liebe und Sehnsucht wie in einem Gral und Kelch dem Lichte beut: du Strom der Wonne, mein Besitz, mein Anteil, mein Schatz! … Hier lag noch immer das vergilbte Vierblatt mit den trockenen Blümlein, und um dies teure Vermächtnis eines frühverwelkten Gartens schlang sich ein Faden edelster Seide, ein dünnes Garn aus lebendigem Gold. Ihr Haar, so schön war es gewesen wie Ostersonne im jungen Birkenhag! … In tiefer Ergriffenheit betrachtete Benedikt das unscheinbare Andenken. Verena Kathrein! Damals hatten die Stare gesungen, als wäre nie ein Schatten über das Blühen hinweggegangen, und er hatte es nicht begriffen. Und an jenem Nachmittage war der Dechant in seine Trauer eingebrochen. Und zwei Tage darauf hatte er sie in die Erde geweiht, und dann war er ins Lehrerhaus hinübergegangen, und Marianne Kathrein hatte ihre heiße Hand in seine kalte Hand gelegt, und ihre tiefen Augen hatten gebeten: kommen Sie oft! … Und der alte Lehrer war vom frischen Hügel weg zur stillen Gartenerde gegangen, gefaßt und vorbereitet wie immer: »Traurig im traurigen Zimmer sitzen, das heißt das Leben anklagen; wir gehen mittwegs zwischen Grab und Wolken, und da müssen wir bleiben, bis wir durch die Tiefe wieder in die Höhe kommen. Wenn die Menschen nur starke und treue Herzen haben, so sind sie einander alle unsterblich.«

Vorsichtig bettete Siebenschein den kleinen gelben Strauß wieder zwischen die Blätter. Dann schloß er das liebe Buch über seinem kostbaren Zeichen. Was alles war seitdem in sein eigenes Buch geschrieben worden, Gebete, Bekenntnisse, Opferungen und Bußgesänge! …

Er nahm das andere Geschenk hervor, und trotz seines Wertes dünkte es ihm wenig bedeutend gegen jene unschätzbare Reliquie. Er entkleidete die Kapsel ihrer Hüllen aus Seidenpapier und Watte. Nachdem er sich am unendlich filigranen Kunstwerk des Reliefs so lange erfreut, daß sein Auge an der winzigen Ferne der Kleinschnitzerei fast bis zum Schwindel ermüdete, wandte er das zarte Meisterstück behutsam um. Unter hauchdünner Verglasung die Dornenkrone aus dunkelblondem Frauenhaar, von einem Goldreifchen, nicht stärker als der Staubfaden einer Biene, im Oval umspannt – das Lebenswerk geduldiger, entsagender Frauenhände!

Benedikt hielt das zerbrechliche Wunder unter das Vergrößerungsglas, Frauenhaar, immer wieder Frauenhaar, die feinste und stärkste unter allen Bogensehnen! Wer mochte gewesen sein, die aus dem Schmuck ihrer Schönheit diese geheime Spannfeder in Gestalt des göttlichen Leidensdiadems zusammengeflochten? Ein Leben mußte darüber vergangen sein, viele blütenlose wehe Frühlinge, viele unfruchtbare Sommer, viele weinende Herbste – und als das flaumleichte Gebilde, schwerer als Penelopens seidenstarrer Teppich, vollendet in der gealterten Hand lag, da waren die schönen Augen von Tränen und Müdigkeit erblindet, da zogen sich durch die dunkelblonden Flechten die spinnwebgrauen Allerseelengarne …

Siebenschein öffnete vorsichtig das verglaste Fensterchen. Irgendwo im Schlosse der kleinen Tür, nicht größer als das Herz einer Biene, gab es eine Feder, nicht stärker als der Fühler eines Azurfalters. Die Feder schnellte, und der Deckel sprang mit erstaunlicher Kraft: die Dornenkrone lag bloß. Mit Hilfe einer Nadel hob Benedikt sie zärtlich von ihrer Unterlage. Dann lockerte er auch diese. Das nur schwach angegilbte Papier gab nach und ließ sich willig auseinanderfalten. Es war ein Zettelchen von der Größe eines Rosenblattes, samtig zu fühlen und der Länge nach dreizeilig zerfressen vom Rost der Zeit. Aber als Benedikt mit seinem Vergrößerungsglase sich darüber beugte, erkannte er in diesen Spuren eine altertümliche, preziöse Schrift, so klein, als sähe er sie im Traume hoch droben in den Sternen oder in unermeßlicher Tiefe. Die kaum verbleichten Zeichen zeigten sich klar und lesbar. Benedikt entzifferte das erste Wort; dann wußte er auch schon den ganzen Text, und er verfolgte ihn leise murmelnd: pater noster, qui es in coelis … Bis zur Bitte um Vergebung der Schulden floß die mikroskopisch feine Schrift in bräunlicher Rindentinte hin; hier aber begann eine neue Zeile, und diese war vom Anfang bis zum Amen mit rostdunklem Purpur ins dünngeschabte Pergament geätzt. Dem Gebete folgte noch eine Unterschrift. Benedikt erwartete zu finden: Lukas 11, 2-4, aber statt dessen las er: Carolus B. Maximil. A. E.

Unter dem zusammengefalteten Blatte war noch ein zweites Deckelchen zum Vorschein gekommen. Auch dieses ließ sich öffnen, und nun erschloß sich das eigentliche Heiligtum, der Tabernakel dieses winzigen Domes. In blau ausgeschlagener Muschelhöhlung lag ein morschfarbener Span, selbst nicht stärker und länger als eine Wimper, und um diese kaum noch wahrnehmbare gespenstige Partikel kräuselte sich der geahnte Schein eines Fadens, schon nicht mehr ein Hauch, nur noch eine Erinnerung … Die Zeugen der göttlichen Tragödie auf Golgatha, getränkt vom Tau der heiligen Wundenmale.

Andächtig verschloß Benedikt die Tore der kleinen geheimnisvollen Kathedrale. Die Blumen im Gebete des heiligen Bonaventura, das mit Herzpurpur abgeschriebene Gebet des Menschensohns, ja selbst sein eigenes hartes Opfergebet, sein Marterholz, das nun ein Zeichen der Liebe und Gnade blieb von Ewigkeit zu Ewigkeit: – alles umflochten und durchwoben von der liederreichsten aller Saiten, von der köstlichsten aller Seiden, von feinem, leichtem Frauenhaar, bald schneidend wie Schwertstahl, bald federnd wie Bogensehne, Dornenkrone bald und Bast um verschwiegene Gedächtnisblumen.

Am nächsten Nachmittage trug Benedikt das Kleinod nach dem Eggerhofe.

»Zurücknehmen, noch schöner!« wehrte Fräulein Huber mit Leidenschaft; »was die Mali einmal wegg'schenkt hat, das nimmt's nimmer zurück, das könnt der hochwürdige Herr Doktor jetzt schon wissen.«

Hochrot stand sie inmitten der roten Nelken und frühen Gartenmohnrosen. An ihrer kleinen festen Hand funkelte matt der schmale Ring mit dem erblindeten Türkis.

»Aber Sie wissen selbst nicht, was Sie mir gegeben haben, Fräulein Mali. Das ist ein Familienstück von hohem Werte, eine Art Urkunde, die nicht in fremden Besitz gelangen darf.«

»Ah ja was. Der hochwürdige Herr Doktor, ist das für mich ein Fremder? Oder?«

Benedikt wurde verlegen.

»Immerhin, Fräulein Huber. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll … Es liegt ein Papier unter der Dornenkrone, das ist vielleicht nicht ohne Bedeutung … Ich meine, haben Sie die Unterschrift je gelesen … Es stammt von einem früheren Erzbischof unserer Diözese, Karl Borromäus Maximilian, der bekanntlich ein Graf von …«

Mali fuhr dazwischen.

»Weiß, weiß. Was die Famili angeht, die hat ang'fangen bei selbigem Karl Borromäus, der Herr Doktor versteht schon – na, und mit der Mali is zu End. So gut, war kein Segen dabei. Is halt immer das Gleiche, der Herr Doktor versteht schon. Die alte G'schicht halt … Ich bin ein einfachs Frauenzimmer, wenn selbiger Karl Borromäus vor hundertzwanzig Jahren noch so ein Graf war – aber das weiß ich: machts zu Menschen, die geistlichen Herren, wie sich's schickt, und all's steht gleich anders auf sei'm Platz … Wann mir schon davon reden, net? … Und wie kommt der hochwürdige Herr Doktor aus mit der Petronilla, wann man fragen derf? … Der Herr Dechant, zum Lachen, net? … Grad als ob ein abbrennts Streichhölzel sollt eim Kind wegg'nommen werden, damit's nix anstellt, net? … Bei der Weih von dem neuen Herrgott, da soll's ja ein Unglück geben ham?«

Benedikt erzählte im Umriß.

»Da is auch was dabei mit Hakeln, das net außer geht, nur allweil tiefer hinein. Wie das alles kommen is und weitergeht, eins ins andre verfutzelt – i will nix sagen, aber wir Weiber, wir sehen's halt anders. Wann man sich einmal auskennt bei ei'm Sparherd, nacher weiß man gleich, warum daß eine Sach anbrennt. Und die Reliquie da vom Karl Borromäus, Gott hab ihn selig, die soll der hochwürdige Herr Doktor nur behalten. So kommt's zurück zum Anfang, net?«

Benedikt ging langsam durch die Dorfzeile hinunter, und im Schulhause trat er ein.

* * *

Im Schulhausgarten summte die tausendstimmige Sommerstille.

Marianne saß im goldgrünen Schatten der breiten Linde. Ihre Hand führte die fleißige Nadel; ihre Seele lauschte dem leisen Orgeln der Bienen, dem fernen Klingeln des Wetzsteins, dem tiefseligen Atem der Welt, dem Sommer und dem Liede im eigenen Herzen.

Durch die weitgeöffneten Fenster des Schulhauses wehte manchmal der Hall kindlicher Stimmen in hellem, taktfestem Zusammenklang: Der Hahn kräht … Die Rose blüht … Die Biene summt … Der Bauer mäht … Dann wieder der tiefe, ruhige Baß des Vaters.

Ein rechtes Glück, daß er noch immer am Berufe festhielt.

»Ist ja nicht um das schmutzige Geld,« sagte er selbst; »die paar Groschen auf und ab, das brauch ich längst nicht mehr. Aber die Arbeit brauch ich, die Arbeit an Mensch und Pflanze. Gegen das Verlieren gibt es ein einziges Mittel: das Gewinnen. Gegen den Tod auch nur eines: das Beleben. Und gegen das Zugrundegehen das Schaffen und Gründen.«

»Ob es aber etwas Gutes ist, was man da schafft?« zweifelte die Tochter. »Ich glaube manchmal, die dumpfe Unbildung ist beinahe das Beste. Alles Verfeinern macht zart und schwächt den Widerstand. Man erzieht die Menschen eigentlich nur zum Schmerz.«

»Ist richtig,« bestätigte der Alte, während er den Kopulierverband sachte von den vernarbten Wunden löste; »aber der Schmerz macht gut. Aus dem Schmerz kommt alles, was gegen den Schmerz ist und das Leben erleuchtet. Blüte und Frucht, Kunst und Hoffnung, Gott und Glaube, alles ist im Schmerz zu Hause. In den Wundmalen. Ich weiß ja, vielen wird's zum Unglück, daß sie etwas gelernt haben; es macht sie krank, böse und empfindlich. Vielen kann sich's aber auch zum Glück wenden, und sie werden davon gesund, gut elastisch fürs Leben. Der erste, der ihn hat, geht am Schmerz zugrunde. Aber aus ihm und seinen Erben erwächst dann langsam das, was man Humanität nennt.«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, Papa. Der Schmerz allein tut's auch nicht. Schmerz ist Nacht, und Nacht hofft auf Licht. Schmerz ist nur zwischen zwei Freuden erträglich. Aber Schmerz ohne Aussicht macht finster und gehässig.«

»Du redest von der Zeit,« sagte Kathrein; »aber ich rede von der Ewigkeit. Die ganze Zeit zusammen ist ja nur ein einziger Schmerz, und aus dem steigt die Sehnsucht nach dem großen einzigen Licht. Alles Zeitliche ist nur Jahreszeit und Weh. Darum muß man das innere Licht hüten und nähren.«

»Das ist schwer, wenn es nicht hat, woran sich zu entzünden,« versetzte Marianne herb; »von selber fängt es nicht Flamme.«

Fast täglich sprach der Vater von der Verstorbenen; nicht wie man von Toten redet oder von Verreisten, sondern als wäre die andere Tochter bei jedem seiner Genüsse zugegen. Eine neue Rose, die er erzüchtet, und die im Juni zum ersten Male in wunderschöne, lockere weiße Blüten ausbrach, wurde auf Verenas Namen getauft.

»Wir sollten einen solchen Stock auf ihr Grab pflanzen,« schlug Marianne vor.

»Grab?« Kathrein sah die Tochter über die Brille an. »Begraben sind nur Tote! Die Verena ist nicht begraben.«

Aber er trug schwer am Verluste, Marianne merkte es an jedem Tage. Er war alt geworden in diesem Frühling, seine Bewegungen waren oft nachdenklich, und sein Schlaf war der Schlaf eines Greises.

Einmal hatte sie ihm doch zugesprochen, vom Lehramte zurückzutreten. Er könne sich nun wirklich einen behaglichen Abend machen, die Welt und ihre Schönheiten genießen, sich irgendwo bescheiden ankaufen und ganz seinen Liebhabereien leben. Aber da war sie auf gelassenen Widerstand gestoßen.

»Willst du mir auch das nehmen? Aber wenn du fort willst von hier, ich halt dich nicht, Mariann. Du solltest die Welt genießen, dich umsehen und heiraten. Hier wird dich keiner aufsuchen.«

Sie lachte auf.

»Laß das, Papa.«

»Warum soll ich nicht davon reden? Du bist in den richtigen Jahren, da werden die Pfirsiche schwer. Der Mensch ist dazu gemacht, daß er sich verjüngt. Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen. Hol dir Geld aus der Sparkasse, reise und schau dich um. Ich habe keine Vorurteile. Ich möchte nur, daß du glücklich wirst. Ich möchte nicht im Schatten deiner Vorwürfe leben.«

»Lassen wir das, Papa, ja.«

Ihre Stimme war hart. Sie vernahm es selbst und konnte es nicht mildern.

Dann sprachen sie von gleichgültigen Dingen.

Besonderen Dank wußte Marianne dem jungen Pfarrverweser. Er kam nun, so oft es ihm das Amt gestattete, und wenn er seine nachmittägliche Katechese beendet hatte, blieb er bisweilen bis gegen Abend. Da fügte es sich, daß er immer eine Stunde mit Marianne allein blieb, während der Lehrer seinen Fibelspatzen die Anfänge der deutschen Muttersprache vortrug.

Benedikt kam auch heute.

»Ich störe Sie hoffentlich nicht, Fräulein Marianne.«

Er setzte sich zu ihr auf die schmale grüne Bank.

»Wie stark die Rosen duften.«

Marianne wies mit der Nadel nach einem Stocke.

»Das sind die dunkelroten dort. Bringen Sie keine Neuigkeiten aus Sanktrain?«

»Doch, und was für welche! Ein großes Festspiel soll aufgeführt werden, eine Art Mysterium im mittelalterlichen Geschmack … In Sanktrain selbst ist auch nicht ein Haus mehr ohne mehrfache Einquartierung. Man hat nun schon bei uns und in anderen Dörfern angefragt. Tatsache ist, daß der Bärenwirt zwei alte Automobile zur Erleichterung des Verkehrs angeschafft hat. Der Sternwirt soll in aller Eile eine Art von besserer Baracke an seinen Gasthof angebaut haben. Heißt es. Die Fleischpreise sind tatsächlich im Steigen, behauptet die alte Petronilla, und die muß es wissen. Es wird von Sanktrain aus ungeheuer zusammengekauft. Man spricht von zwanzigtausend Gästen. Die ganze Gegend fiebert ordentlich.«

»Ja, man spürt es bis nach Unzing herein,« sagte Marianne. »Wissen Sie, was ich schon oft gedacht habe? Ob sie auch zur Tausendjahrfeier kommt?«

»Welche sie?«

»Nun – sie natürlich! Die Sartorius!«

Benedikt lachte verlegen.

»In irgendeiner Gestalt – vielleicht. Drei Triumphbogen werden ja gebaut. Vielleicht ist einer für die – die Salome des Heiligen bestimmt.«

Marianne kniff die Nadel zwischen die Lippen und hielt die Stopfarbeit mit ausgestreckten Armen gegen das Licht. Benedikt ließ seinen Blick über sie hinstreifen. In ihrem Haar zitterten goldgrüne Sonnenbilder; ein schmaler Strahlenstrom traf den Ärmel ihrer leichten weißen Sommerbluse und zeigte in rosiger Dämmerung den runden Arm.

Jetzt spannte sie die Arbeit wieder über ihr Knie.

Die Sommerstille träumte in der summenden Linde. In fernen Bergwiesen läutete der Wetzstein. Aus dem offenen Fenster des Schulhauses die hellen Kinderstimmen.

Benedikt saß vornübergebeugt. Mit einem Zweigstumpf scharrte er spielerische Runen in den Gartenkies, unbekümmert um die Erregung der in ihrem Verkehr gestörten Ameisen.

»Und noch eine Neuigkeit habe ich,« begann er; »wir bekommen einen neuen Pfarrer.«

Marianne zog einen neuen Faden durch die Lippen und zwirnte ihn an.

»Wirklich? Wissen Sie schon, wen?«

»Noch nicht. Er soll nächstens eintreffen. Dann werde ich bald scheiden müssen.«

Sie hielt den gespitzten Faden gegen das Licht und zielte aufs Nadelöhr.

»Sie werden wohl froh sein?«

»Froh? Ich wünsche gar nicht von hier wegzukommen.«

»Sie haben einmal anderes angedeutet.«

»Alles ändert sich, Fräulein Marianne.«

»Sie kommen dann doch wieder in die Welt hinaus.«

»In was für eine Welt? Meine Welt ist hier.«

»Wo Sie alles entbehren?«

»Was mir am meisten fehlt, werde ich vielleicht überall entbehren. Hier habe ich doch wenigstens etwas. Ich habe mich hier eingelebt, in das, was ich habe, und sogar in das, was mir fehlt.«

Das tiefe Sommerschweigen ging von Herz zu Herz.

»Und wann müssen Sie weg von hier?« fragte Marianne.

»Das ist Gott sei Dank noch nicht bestimmt. Ich habe ja meine Mitwirkung bei der Sanktrainer Feier versprochen. Ich soll zum großen Festamt die Orgel spielen. Der Pater Hucbald von Heiligenzell wäre zwar ein würdigerer Organist. Aber jetzt bin ich dankbar, daß ich noch bleiben muß.«

»Und wohin gehen Sie dann?«

Benedikt stützte den Kopf in die Hand des aufgestemmten Armes. Der Zweigstumpf in der Rechten peitschte den Gartenkies.

»Wohin? Der Pflicht nach, dem Befehl nach. Bis ich mich irgendwo einpfarre und alt werde wie der selige Permoser. Ja.«

»Sie haben doch einmal von Rom gesprochen?«

»Rom? Ja, Rom.« Er ritzte ein großes lateinisches R in den Sand. »Das war einmal so ein Traum. Aber das geht ja doch nicht in Erfüllung. Auch das nicht. Auch das nicht.«

Er löschte den großen Buchstaben aus und schürfte ihn von neuem in den Kies, fügte noch ein O daran und tilgte wieder die gedankenlose Inschrift. Dann entstand ein M und auch dieses wurde hastig verschüttet.

»Warum: auch das nicht?«

»Weil es noch andere Heiligtümer gibt, die ich wohl nie sehen werde.«

Marianne schwieg. Sie zuckte zusammen. Benedikt sah auf.

»Was ist Ihnen?«

»Nichts. Ich habe mich bloß gestochen.«

Sie steckte den Finger zwischen die Lippen.

»In Rom würden Sie wohl das Werk vollenden, von dem Sie mir erzählt haben?«

»Vielleicht, ja. Wenn ich noch den Weg zu dieser Stimmung finde. Vielleicht auch nicht. Ich weiß selbst nicht. Vielleicht könnte ich in Rom erst recht nicht zur Ruhe kommen. Aber sehen möchte ich es wohl, Rom. Von den ersten Schuljahren an steht man unter dem Bann von Rom. Das spüren wir Männer viel stärker, und nun gar wir – die wir von Rom kommen und nach Rom gehen. Sehen möchte ich es schon. Rom, Athen und Jerusalem, die drei Hauptstädte der Welt. Der inneren Welt, also der wirklichen.«

»Und wenn man Ihnen die Wahl ließe, welche Stadt würden Sie zuerst aufsuchen?«

»Immer wieder Rom,« sagte Benedikt ohne Zaudern. »Denn Jerusalem ist uns durch Rom wahr geworden. Ohne Rom kein Europa, ohne Rom für uns kein Athen und kein gelobtes Land. Rom ist die Weltsäule, die alle Joche trägt.«

Es war eine Stelle aus seiner eigenen Handschrift, die anzubringen er sich für berechtigt hielt. Marianne horchte auf.

»So habe ich es im Leo dem Neunten auszudrücken versucht,« setzte er in hastiger Entschuldigung hinzu.

»Für jene Zeit mag es auch stimmen,« nickte Marianne ernsthaft; »aber ob heute noch?«

»Es wird wieder dahin kommen,« sagte Benedikt zuversichtlich; »wenn man heute noch so laut schreit: Los von Rom – so ist die Zeit doch nicht fern, da man wieder sehnsüchtig rufen wird: Nach Hause, nach Rom. Ich habe die feste Hoffnung, daß die Christenheit der Zukunft ihren Mittelpunkt und Pol wieder in Rom suchen und finden wird.«

»Sie sind ein Idealist, Doktor Benedikt.«

»Ich hoffe, Fräulein Marianne. Ich möchte nicht gerne das Gegenteil sein …«

Er hielt ein, als wollte er noch mehr sagen. Die Immen brummten, und ein feines fernes Rauschen wie von unsichtbarem Mähestahl träumte im schwebenden Sommerwind. Die Stimmen der befreiten Kleinen waren nach hellem Schlußgebet in der Dorfzeile verjubelt. Jetzt kam der Lehrer, und er brachte den Doktor mit.

»Da könnten wir ja heute wieder einmal ein Trio spielen,« sagte er; »richtig, du hast ja dein Cello nicht mit. Warum läßt du's daheim? Die Toten werden nicht lebendig, wenn wir uns auch tot stellen. Aber sie leben fort, wenn wir unbeirrt weiter leben.«

»Da hast du recht,« sprach der Doktor herzlich; »das nächste Mal machen wir Musik. Guten Tag, Hochwürden. Wir haben uns auch schon lange nicht gesehen. Ich soll Ihnen Gruß bestellen. Wissen Sie, von wem? Vom alten Geisterer.«

»Vom Geisterer?« fragte Siebenschein zurück; dann erschrak er. »Er war bei Ihnen?«

»Ja, er war bei mir und ist ein Stück Wegs mit mir gefahren. Und er läßt sagen, wir sollen heute abend nach seinem Berge sehen, dort wird sein Feuer brennen. Kommen Sie mit hinauf zum Totenkreuz?«

Benedikt sagte ohne Zaudern zu.

»Ja, ich komme gerne mit.«

Er sah dabei auf Marianne, und sein Blick begegnete dem ihren und flüchtete von ihm weg zu den schweren Sommerrosen – zu den dunkelroten Sommerrosen, wohin auch der ihre sich verirrt.

* * *

Der Dechant saß bis in die späte Nacht hinein über seiner Korrespondenz. Der Andrang der Pilgergäste schwoll zur Hochflut an.

Ein solches Fest hatte die katholische Christenheit schon lange nicht gesehen.

Es würde eine Feier werden, die vielleicht für ganz Europas Kirchenpolitik ein neues Zeitalter eröffnete: die große Verbrüderung am Grabe des Heiligen.

Die Sommerhitze brütete schwer in der Stube. Die Hände des Mannes am Schreibtisch waren eiskalt.

Er hätte gerne das Fenster geöffnet, um die frische Nachtluft hereinzulassen. Allein er fürchtete sich, von seinem Stuhle aufzustehen. Dann hätte das braune Dunkel der Stube sich vor ihm aufgetan, die Nacht mit ihren tausend Augen, mit ihren wachen Fenstern, mit den schaurigen Höhenfeuern der Berge. Der helle Schreibtisch, das weiße Papier, die Angst der ununterbrochenen Tätigkeit – das war wenigstens etwas, das war noch nicht die Einsamkeit der Geisterstunde.

Die Gespenster waren wieder da.

Er wagte es nicht, ans Fenster zu treten.

Durch eben dieses Fenster hatte er den Geisterer ins Haus des Doktors treten sehen. Das konnte nur einen Sinn haben. Dann war der Doktor mit dem Alten wieder herausgekommen, und endlich waren sie miteinander davongefahren. Auch das hatte nur eine Bedeutung.

Die Gespenster waren wieder da.

Und er besaß nicht mehr die Kraft, sie zu bannen. Sein Widerstand war gebrochen.

All die Wochen hindurch hatte er auch nicht eine Nacht ruhig geschlafen. Nur wenn tierische Erschöpfung ihn aufs Lager warf, versank er auf einige Stunden in tödliche Bewußtlosigkeit. Und selbst in diesem Zustande war er nicht ganz erlöst. Auch dann war etwas mit ihm und in ihm, ein Druck, eine Fratze, eine Drohung. Und sein Erwachen war jedesmal das Erwachen eines Menschen, der durch den Büttel aus dem Schlaf der letzten Nacht gescheucht wird.

Er arbeitete, arbeitete, wühlte sich in einen Taumel, in einen Rausch von Emsigkeit hinein. Er umgab sich mit Geschäftigkeit wie mit einer hohen Mauer. Erledigte täglich ganze Stöße von Briefen, als wären es Ablaßgebete. Vergrub sich in Tätigkeit wie in eine wohltätige schwere Kasteiung und reinigende, erlösende Buße. Dazu trank er ungewöhnlich viel Wein. Aber die tröstliche Trunkenheit wollte sich nicht einstellen.

Einmal war er wie von ungefähr seinem Spiegelbild begegnet. Aber da hatte er sich schnell wieder abgewendet. Sein gedunsenes Gesicht mit den bleifarbenen Ringen unter den Augen widerte ihn an. Er sah verwahrlost und ungepflegt aus. Es war ihm gleichgültig. Aber es ekelte ihn, diese Wirkung an sich zu beobachten.

Er hätte gerne irgend jemand zur Gesellschaft gehabt. Es war ihm ein Bedürfnis, sich selbst ununterbrochen sprechen zu hören. Aber es hätte ein Mensch ohne Gesicht sein müssen. Die Gesichter der Menschen waren unangenehm.

Manchmal straffte er sich zusammen: nein, er war noch immer der Alte.

Bis irgendein Geräusch, eine Stimme, ein Schritt ihn aufschreckte. Nein, er war längst nicht mehr der Alte. Er war schwerkrank. An seinem Herzen tickte der Wurm.

Jetzt betrat jemand das Haus. Er fühlte es.

Jetzt schlurfte ein später Gast den Gang entlang. Das war das Tasten eines Blinden.

Jetzt rührte jemand an die Türe. Eine Hand streifte darüber hin. Eine Hand, die den Griff sucht.

Der Dechant fuhr sich nach dem Hals, nach der Brust. Da drinnen wurde auf einmal alles kalt und starr.

Es wird der Geisterer sein.

Er ist längst vorbereitet.

Er habe in jener letzten Aprilnacht alles belauscht, wird der Alte sagen. Und er wird entgegnen: was haben Sie belauscht? … Und der Alte wird mit dem Finger auf sein Herz deuten: dich! … Und er wird ihm antworten – was wird er ihm antworten? … Er hat sich's hundertmal zurechtgelegt, er hat es hundertmal verworfen.

Es kann auch der Wachtmeister sein, der da draußen tastet.

Der Wachtmeister wird eintreten, militärstramm grüßen, hämisch vertraulich werden.

Er wird sagen, daß es sich nur um eine Formalität handelt, um einen leicht zu erbringenden Nachweis. Um ein ganz harmloses Alibi. Damit das törichte Gerede aus der Welt geschafft werde. Der alte Geisterer – nicht wahr? Wie solch alte Leute nun schon einmal seien … Das wird er sagen, und dabei wird ihm hinter den Augen schon der gewisse Verdacht stehen, in den Händen, die er so wohlwollend reibt, werden schon die unsichtbaren Handschellen klirren …

Es war aber weder der Geisterer, der eintrat, noch war es der Wachtmeister.

Es war vielleicht nur das eigene Blut, in dessen Gängen die Schritte herantappten.

Es war vielleicht nur das Herz, in dem geheime Türen sich öffneten und schlossen.

In der Uhr übersprang eine Feder mit scharfem Klang.

Aus der Schale der oberen Ewigkeit löste sich ein Tropfen und fiel erzhallend in die untere.

Vom Turm der Pfarrkirche schlug die Stunde.

Und doch würden sie eines Abends kommen.

Aber was konnten sie ihm schließlich anhaben? Beweise, bitte. Beweise! … Das könnte ein jeder behaupten! … Lächerlich! …

Oder es kam morgen schon eine Ladung. Der Gemeindediener wird sie bringen – ein Mensch wie tausend andere, ein Mensch, der seine blöde, blinde Brotpflicht tut, um andere zu vernichten. Ein Stein in der großen Mühle …

Ob es da nicht am Ende besser war, einen anderen zu Gaste zu laden? Geschwätze eines kindischen Alten, ohne rechten Sinn, ganz allgemein, abergläubisches Gefasel!

Aber die Gespenster sind wieder da.

Die großen Spinnen laufen auf langen Beinen über die knisternden Dielen und weben an ihren grauen, unsichtbaren Garnen.

Ein unfühlbarer kalter Wind schauert durchs Haus.

Versteckte Uhren in Holz und Mauer regen ihre Pendel und schlagen in die Stille hinein die unvollbrachte Stunde.

Begrabene Herzen in Schrank und Truhe heben zu pochen an, den Quellen gleich, wenn sie in dunkler Sturmnacht zum Frühling erwachen.

Verloschene Stimmen flüstern im Regal, das die schweren alten Totenbücher bewahrt.

Eine Hand blättert in den rauschenden Seiten, wendet und wendet, sucht und sucht.

Draußen vor dem Hause tasten Finger am Tor.

Etwas Grauenvolles wächst riesengroß an der Mauer herauf.

Ein Gesicht starrt durch die Scheiben herein und zerrinnt.

Die Türe öffnet sich ohne Laut. Eine Frau tritt kalt und ungeheuer in die Stube.

Wenn der Mann am Schreibtisch sich umwendet, sieht er ihr gerade in die hohlen Augen. Sie lauert ihm über die Schulter, ihre dürre Hand späht über seinem Genick.

Wenn der Mann am Schreibtisch aus seiner Arbeit aufblickt, verschwindet das Fensterkreuz zwischen den schwarzen goldrot glimmernden Scheiben, und an seine Stelle tritt ein anderes Kreuz. Daran hängt ein weißes nacktes Mädchen mitten in der Nacht, die Ahnung des Todes im gesenkten Antlitz, die jungfräuliche Blöße beschlagen mit dem purpurnen Tau ihrer Wundenmale … Aber da geht ein Murren und Grollen durch den bleckenden Pöbel. Ein bärtiger Mann drängt die gierigen Gaffer zurück, unter seinem zornigen Griff zerbricht der morsche Marterpfahl, er aber fängt ihn im Falle auf, die Gekreuzigte sinkt in seine Arme, und siehe, aus dem Geflecht ihrer Dornenkrone bricht junger Rosenfrühling …

Wenn der Mann am Schreibtisch aus seiner Arbeit aufschaut, so muß er die Irrlichter sehen, die drüben auf dem Gottesacker unter dem Kalvarienberg flackern. Da ist eines, das bricht aus dem Grabe des alten Stöcklbauern und setzt über die Kirchhofsmauer und zuckt den Berg hinan, auf den Stöcklhof zu, wo jetzt fremde Hände schalten … Da ist eines, das züngelt aus ungeweihter, ungezeichneter Erde und läuft rings um die Friedhofsmauer, als suchte es verzweifelt Einlaß … Da ist eines, das lodert aus frischem Hügel empor und gleich danach springt es über den Höhen auf, wo die letzten Häuser der Oberweiler stehen … Das sind die Sonnwendfeuer, die dem einsamen Manne am Schreibtisch brennen. Und er sieht sie, obschon er nicht aufblickt aus seinen Briefen, und er wartet auf den Augenblick, da der Wachtmeister eintreten würde oder der Geisterer.

Vor Jahren, da war es geradeso gewesen. Da hatte er auch in jedem Schlag seines Herzens den nahenden Schritt der Schergen, in jedem Seufzer, der nächtlich durch die Dielen lief, das Aufschauern der Türe vernommen. Und dann war nichts geschehen. Keine Glocke hatte geschlagen, keine Zunge hatte sich gerührt, keine Hand hatte sich wider ihn erhoben. Der Mitschuldige war nun tot, hinter ihm war das schwere Tor ins Schloß geschnappt, und er hatte den Schlüssel mit sich in die auflösende Erde hinabgenommen. Alles war vorübergegangen, die Gespenster waren in ihre Grüfte gesunken, auf schreckliche Wochen folgten sorglose Jahre. Weshalb sollte es nicht diesmal so werden? … Es gibt gar keine Gespenster; die Toten stehen nicht auf, die sind froh ihrer ewigen Ruh im Nichts. Die wahren Gespenster haben Uniformen an und Amtstalare, sie kommen bei hellem Tage und lassen sich für ihren Spuk bezahlen, und Gewissen ist nichts anderes als die Furcht vor diesen staatlich bestallten Geistern, vor dem paragraphenumzüngelten Erinnyenkopf des Gesetzes.

Aber dann huscht das Grauen auf langen Spinnenbeinen über die Dielen, und dem Manne hinter der hellen Lampe sträubt das grelle Entsetzen über Rücken und Nacken bis ins Haar hinauf. Er wagt es nicht, sich umzusehen. Der Raum hinter ihm ist voll fletschender Lemurenfratzen und stummer Schicksalsfrauen … Es könnte doch eine der vielen heimlichen Pforten aufgehen, und das kalte Morgengrauen würde hereinschauern, und all die dunklen großen Vögel, die in der Stube nisten, die braunen Fledermäuse und aschenfarbnen Dämmerspinner würden erschrocken durcheinanderflügeln, daß die Lampe verlosch … Dann war er allein mit jener Gestalt, die immer schon sein wohlgehegtes Haus umschlich, deren Hand nach dem Griffe tappte und am Schlüssel versuchte … Dann war er allein mit sich selbst, und vor ihm stand sein eigenes Gespenst …

Die Geister gingen um, und plötzlich überkam Simon Hetz eine widerwärtige, wohlbekannte Empfindung. Er verspürte das wilde Schnellen eines Körpers unter seinen Fäusten und Knien; er sah im Wechselschein von rotem Herdbrand und fahlblauem Wetterstrahl ein gräßlich verzerrtes Gesicht; er fühlte den Krallenschlag magerer Hände, den Biß schnappender Kiefer; er vernahm das Winseln des Sturmes im Rauchfang, das hohle Wimmern eingesperrten Atems in einer Kehle. Er mußte die Augen schließen und sich alles vergegenwärtigen, zum tausendsten Male; er mußte es wieder erleben und wieder verüben, Zug um Zug, Wort für Wort, Tat für Tat. Er mußte den furchtbaren Becher an die Lippen setzen, so oft er aus dem Schlummer des Augenblicks zur geschehenen Wirklichkeit erwachte.

So war es ihm einst mit anderen Erinnerungen ergangen, mit blumigen Sünden, mit den Stimmen seliger Nächte. Er war einst ein anderer gewesen – daß es solche Wege mit ihm genommen, war nicht seine Schuld allein. Was hatten sie ihm nicht sein Leben und seine Natur gelassen? … Er hätte vielleicht ein guter Mensch werden können; es überkam ihn wie Rührung, gedachte er dessen, was ihm und durch ihn der Menschheit verloren gegangen. Er wäre vielleicht ein sehr tüchtiger, ein berühmter Arzt geworden; er hätte wahrscheinlich ein gutes und sonniges Familienleben geführt. Wäre ihm jenes Mädchen nicht in die Quere gekommen, und jener Mensch, der sich seinen Freund genannt! … Er hatte das Mädchen doch nicht verführen wollen; es hatte sich ihm an den Hals gedrängt, es hatte sich weggeworfen an ihn. Sie hatte es gewollt, wie so viele andere; an ihm war es nicht gelegen. Und dann hatte der Freund sich eingemischt in den Handel. Hatte ihn mit Schmach und Strafe bedroht, wo er die Verführung und ihre Folgen nicht mit dem Geschenk der ehelichen Ehre sühnen wolle … Was hätte das für eine Ehe werden sollen, eine Ehe, die nichts anderes war als eine verhaßte Buße oder die Einlösung einer im Rausche begangenen Schuld, einer Schuld des Liebesspieles. »Wenn einer ein Mädchen nimmt, so muß er sich ihm auch ganz geben.« So hatte der Freund gesprochen. Verführung – als ob er sich nicht selbst verführt hätte! … Und er, der sichere Aussicht hatte auf die Hand eines reichen, vornehmen Mädchens, auf Erfolg und Ruhm, auf Wohlstand und Ehren! … Er sollte da auf alles verzichten und mit dauerndem Elend sühnen! … Als ob er damit etwas gut machte! … Aber jener hatte ihn vor die Wahl gestellt. »Du hast das Mädchen in die Schande getrieben. Du hast ein Menschenleben vernichtet. Du hast kein Anrecht auf ein anderes Leben als dieses. Wenn du nicht sühnst, so werde ich dich preisgeben.« Da war er über Nacht verreist, und da war es geschehen, daß er sich zum Priester scheren ließ und die leuchtenden Farben des Brustbandes mit der Stola vertauschte … Man hatte ihn zum reißenden Wolfe gemacht, da sie ihn und seine Natur in den Stand drängten, dessen die Unantastbarkeit und die Macht.

Er hatte ja gut sein wollen. Nicht um der Abrechnung willen. Abrechnung und Jenseits – wenn es keine anderen Gerichtshöfe gab, war er geborgen. Aber um seiner eigenen Ruhe willen hatte er mit neuen Vorsätzen begonnen. Und er war von Bösem zu immer Böserem gelangt, im Kampf um die Macht, im Kampf um den Genuß. So oft er sich Strenge gelobte, so oft trat die Verführung bei ihm ein, und sein Fuß versank beim nächsten Schritte in noch tieferem Morast. Er hatte zu ungezählten Malen den Entschluß gefaßt, die Vergangenheit von sich abzuwerfen wie ein verseuchtes Kleid und in schlichter Demut sein Heil zu suchen. Aber sowie er den Kampf mit der Schlange wagte, fand er sich von hundert Vipern umwunden, so eng, daß nur ein Schnitt ins eigene Fleisch die züngelnden Köpfe hätte abtrennen können … Und jeder dieser Köpfe hätte ihm zuvor einen tödlichen Biß versetzt … So war er selbst zur Viper geworden, mißtrauisch, wachsam, glatt, beweglich und schillernd … Und hatte er nicht in sich selbst seinen eigenen Stand geschützt? … War nicht dies und jenes um der Sache willen geschehen, der Macht zuliebe, zur Wahrung des geistlichen Ansehens und der kirchlichen Gewalt? … Sie hatten ein Raubtier aus ihm gemacht … Alles, was anderen über der Erde blüht und reift wie Primelfrühling und Weizensommer, alles das mußte ihm unterirdisch schwelen wie das verruchte Gold.

Es war noch nicht alles verloren. Der Geisterer war alt und kindisch. Es war wohl nur die Überreiztheit der letzten Wochen, die ihn alles das vernehmen und deuten ließ. Es gab ja doch gar keine Beweise. Der Geisterer hatte doch selbst das Lampenlicht hinter seinem Fenster gesehen. Andere Menschen vielleicht auch. Niemand war ihm begegnet. Er hatte seine Schuhe selbst gereinigt und alle Spuren vertilgt. Er hatte sich die vom Gewitterregen durchnäßten Kleider am Leibe trocknen lassen. Er hatte sein Bett zerknüllt und war dann wieder zeitig ausgegangen, doch so, daß er gesehen werden mußte. Der Arzt hatte ja einwandfrei festgestellt, daß die Gesundbeterin sich mit Hilfe eines sogenannten Weidestrickes erhängt. Dieses Ergebnis war zu Protokoll genommen und verbucht worden. Es war ja nur die Stimme in ihm selbst, die ihn an jenem Gewittersonntage lähmend ins Herz getroffen. Diese Stimme mußte er ersticken; er mußte sein Gleichgewicht wieder finden. Vorläufig stand noch alles gut; er hatte ja gar keine Ursache, sich zu ängstigen.

Trotzdem arbeitete er mit verbissener Anstrengung, gleich als sollte er mit diesem Tage den Rest seiner Jahre erschöpfen. Er arbeitete, als sei die Hemmung in seinem Uhrwerk zerbrochen und als jagte die zum Springen angespannte Feder die schnurrenden Räder in sinnloser Hast durch den Stundenkreis. Es war das einzige, was ihm wirklich Halt gewährte; in wilder Hingabe an das nahe Ziel fand er noch Kraft und Selbstbeherrschung, ja eine bittere Befriedigung. Vielleicht gingen seine Wünsche doch noch in Erfüllung.

Das Fest, sein Fest hob ihn auf die Höhe der Ehren und Siege. Der Weg zum Anstieg wurde frei. Die Verleihung neuer Würden lohnte seine Opfer. Weshalb sollte er es nicht bis zum Diözesan bringen? Er stand noch immer in guten Jahren, in den Jahren der Ernte, im Frühherbst seines Lebens … Weshalb sollte er nicht Sitz und Stimme im Senat des Reichs erlangen? An Ansehen und Einfluß, an reichen Mitteln und gebahnten Wegen fehlte es ihm keineswegs … Weshalb sollte er nicht die Macht an sich bringen, um die er seine beste Zeit hindurch gekämpft, um die er sich selbst erhalten, um derentwillen er lebte und den Tod scheute! … Die Macht, nach der er sich glühend sehnte, heißer noch als vordem nach dem Genuß – die Macht, die ihn weit fester an die Erde bannte als alle Schrecken des Jenseits!

Es gibt kein Jenseits und keine Gespenster und kein Gewissen. Wer nach dem Jenseits trachtet oder das Jenseits fürchtet, der blickt in die Höhe und fällt; wer Gespenster ahnt, der späht nach rückwärts und achtet seines Weges nicht und strauchelt; wer sich mit einem Gewissen schleppt, der lädt sich von einem Atemzug zum anderen eine neue Last auf, bis er unter seiner Bürde zusammenbricht und an der Straße stirbt.

Bis in den Sommermorgen hinein saß der Dechant über seinen Korrespondenzen. Der Andrang der Pilgergäste schwoll zur Hochflut an.

Ein solches Fest hatte die katholische Christenheit schon lange nicht gesehen.

Es würde eine Feier werden, die vielleicht für ganz Europas Kirchenpolitik ein neues Zeitalter eröffnete.

* * *

Der Abend war warm, und Marianne bedauerte es, ihr leichtes, weiches Tuch überhaupt mitgenommen zu haben.

»Nun müssen Sie sich damit schleppen,« klagte sie zu Benedikt, der neben ihr herging; »das Steigen fällt Ihnen wohl noch schwer?«

»Nur anfangs. Wenn ich warm werde, nicht mehr.«

»Warten Sie nur, bis Sie erst in Rom sind. Dort werden Sie ganz gesund werden.«

»Ja, dort werde ich vielleicht ganz gesund werden.«

»Und dort werden Sie auch das Werk vollenden, Ihren Leo den ichweißnichtwievielten?«

»Sie sprechen, als ob ich schon sicher im Schatten der Peterskirche säße.«

»Ich hoffe doch, daß sich Ihnen dieser Wunsch erfüllt.«

»Wünschen Sie das wirklich, Fräulein Marianne? Was kann Ihnen daran liegen?«

»Verstehen Sie das nicht? Wir sind uns doch nahe geworden in diesem Jahre. Oder nicht?«

»Oh ja, Fräulein Marianne.« Er atmete auf. »Ich danke Ihnen viel. Aber ich habe doch nicht gedacht, daß Ihnen an meiner Zukunft etwas gelegen ist. Oder wollen Sie mich so bald weg haben?«

»Ich soll Ihnen natürlich das Gegenteil sagen?«

»Nur wenn es die Wahrheit ist.«

»So will ich Ihnen die Wahrheit sagen. Ich wollte, Rom wäre hier.«

»Dann würde der neunte Leo doch in seinem Grabe bleiben.«

»Also es liegt nicht an den Quellen, wie Sie gesagt haben. Es liegt auch nicht am Orte oder am Klima. Sondern an etwas anderem?«

»Es liegt an den inneren Quellen, Fräulein Marianne.«

»Sie sprechen heute immer von inneren Dingen. Ich verstehe das nicht.«

»Und wenn Sie es verstehen würden – was nützt es uns?«

Sie schwieg eine Weile. Langsam stiegen sie auf der bleichen Straße zwischen den nächtigen Bergwäldern hinan, zu Häupten den Himmel mit seinen flimmernden Nebeln von Licht.

Marianne blieb stehen.

»Sie sind hier ein ganz anderer geworden, Doktor Benedikt.«

»Das weiß ich selbst.«

Sie vernahm das bittere Zucken in seiner Stimme.

»Gebessert habe ich mich nicht,« setzte er hinzu.

»Darüber hat man kein eigenes Urteil.«

»Allerdings. Alles kann Besserung wirken.«

Marianne stand dunkel in der blaßdämmernden Straße.

»Also auch die Schuld?« fragte sie hart.

»Es ist wohl schon mancher durch die Schuld zur Gnade eingegangen,« antwortete Benedikts Stimme aus der Nacht; »aber wir dürfen für unsere Schulden nur Verzeihung erhoffen, nicht sie zu unseren Lehrern wählen.«

Er wandte sich und schritt von neuem aus.

»Gehen Sie nur langsam. Man hört ja Ihr Herz schlagen.«

»Wirklich?« fragte Benedikt; »aber die anderen sind schon weit voraus.«

»Lassen Sie die anderen weit voraus sein. Denken Sie an sich.«

Kathrein blieb stehen und rückte den Hut aus der Stirne.

»Sieh die Sterne an,« sagte er zum Doktor; »und da quälen wir Menschen uns mit kleinen Fragen, mit Religionen, Kriegen und Gesetzen.«

»Sprichst ja wie der Geisterer,« wunderte sich Wendt; »aber ich sage dir – wenn der Mensch nicht gut ist und er hat nicht das innere Auge für das innere Licht, so sieht er auch nicht, was in den Sternen geschrieben steht.«

»Der Mensch wird gut, wenn er alles aus der Ewigkeit begreift,« antwortete der Lehrer überzeugt; »wer überall die große Seele sieht und die große Stimme vernimmt, der hat das Maß für alles Geschehen.«

»Du redest wie einer, der seinen Berg hinter sich hat,« sagte der Arzt; »bist hier oben ruhig geworden und hast das Leben unten vergessen. Aber der Mensch ist ein Mensch und fängt beim Menschen an. Das Gutsein beginnt ganz unten bei den kleinen täglichen Dingen. Wer da nicht die Seele findet und die Stimme hört, der bleibt blind und taub auch für die Ewigkeit.«

»Wie eben einer ist,« entgegnete Kathrein; »du weißt, wie ich meinem Beruf und meinen Liebhabereien lebe. Aber wenn ich nicht meinen Garten hätte, an dem ich die Jahreszeiten und Feiertage ablese, wenn ich nicht die Sterne hätte, in denen ich das Gesetz erkenne – ich vermöchte nicht junge Menschenpflanzen zu ziehen und ihnen den Begriff der Ordnung einzupfropfen. Von oben kommt der Mensch zum Menschen zurück.«

»Wie eben einer ist,« erwiderte Wendt; »darin hast du recht. Du weißt, wie sehr ich die Natur liebe und wie mir das alles nah ist. Aber wenn ich nicht die Menschen hätte mit ihrer Torheit und ihrer Not, ich sähe keinen Garten blühen und keinen Stern im Himmel. Durch den Menschen geht der Mensch wieder nach oben.«

»Kennen Sie sich da oben aus, Doktor Benedikt?« fragte Marianne.

»Nur ungefähr. Der hellere Stern dort, mit dem kleineren Begleiter nahe über sich, das ist der Atair im Adler.«

»Und jener große weiße Stern?«

»Das ist Wega in der Leier.«

»Und diese fünf Sterne im Winkel, das ist die Cassiopeia, nicht?«

»Bravo, Fräulein Marianne. Und jener mächtige düsterrote Stern dort, sehen Sie, auf den der Bogen der Deichsel am großen Wagen zeigt, das ist Arktur.«

»Das sind alles Namen. Aber wozu all das Leben? Es muß doch einen Sinn haben.«

»Und wüßten wir diesen Sinn, Fräulein Marianne, wir suchten dahinter doch einen anderen.«

»Eben. Wir suchen immer etwas, statt zu finden und zu nehmen. Es gibt nur einen Sinn, da oben und hier und überall und immer. Brennen, blühen, reifen, vergehen.«

»Das ist nicht der Sinn, Fräulein Marianne, aber vielleicht das Wesen.«

»Wesen und Sinn – wozu noch solche Unterschiede? Es macht das Leben schwer.«

»Solange man selbst leicht ist. Aber wenn man schwer wird, macht es das Dasein leicht. Zeit ist doch nur unser Anteil an der Ewigkeit, und Wesen ist nur unser Anteil am Sinn.«

»Das ist mir zu hoch, Doktor Benedikt. Ich sehe es so: die Ewigkeit ist wirklich nur in uns und unserer Zeit, der Sinn offenbart sich nur in unserem Wesen. Leben ist Genießen, um des Schmerzes willen lebt keiner von uns, auch Sie nicht. Das ist alles nur eine Lüge oder eine Krankheit, dieses Verleugnen seiner Wünsche!«

Ihre Augen funkelten im hohen Sternenschein.

Man hatte die Höhe erreicht. Die beiden Männer standen schon unterm Totenkreuz, das dämmernd im Abgrund der Sommernacht ragte.

Auf den ruhenden großen Bergen loderten die goldroten Opferflammen. In der durchsichtigen Tiefe des Weltraums zogen feierlich die Stunden der weißen Gestirne.

Das nächste der Sonnwendfeuer brannte unweit des Korbinikirchleins. Düsterrot trat das kleine Gotteshaus mit seiner rauhen Friedhofsmauer hervor aus der Nacht. Es sah aus wie ein Bild aus bösen Kriegsläuften.

Schwarze Gestalten tummelten sich vor der knatternden Lohe. Funken stoben und verschwirrten im Nichts. Jetzt duckte sich der Brand, dann leckte er wehend hochauf.

Ein dumpfer Widerschein der Flammen erreichte das Totenkreuz und die steilen alten Rottannen, daß sie finster glühten wie auferweckt aus dem starren Brüten hundertjähriger Sturmwacht. Der Schuppenpanzer ihrer Borke schimmerte ehern überstrahlt. Hinter ihrem bronzenen Gezweig stand tausendäugig und unsichtbar der Wald.

»Wie schön!« rief Marianne.

Benedikt antwortete nicht. Er gedachte jenes Sommertages, der sich nun bald jähren würde, des Christophsonntags, da er im Gottesacker zu Sankt Korbini seine Erntepredigt gehalten. Damals hatte ihm das Weib zum ersten Male ins Herz und auf den Mund gesehen.

Die eine hatte ihm das süße Gift beigebracht, das ihn der anderen in die Arme trieb. An dieser anderen hatte er sich zum ersten Male erlebt, an ihr hatte er es gelernt, nach dem Tranke zu lechzen, der in jedem Weibe des Genießers harrt. Früher war dumpfe Unruhe gewesen, zaghafte, schwüle Furcht; jetzt war heißer Wunsch, berauschender, verwirrter Mut. In den willfährigen Armen eines gutmütigen und begehrlichen Frauenzimmers hatte er eine andere gesucht und genossen, die, welche ihm den Becher gereicht, das Weib, das ihn aufgesucht in seiner darbenden Wüste. In den Umarmungen eines reifen, einfachen Mädchens, das sich seiner knabenheißen Gier geboten, fast mütterlich gütig und doch demütig wie ein Opfer, war ihm der Stachel gewachsen, in anderen Gefäßen tieferen, stärkeren, edleren Trank zu suchen. Und nun wußte er, wie schwer es sei, die Last des Heilandskindes auf seinen Schultern durch den reißenden Lebensstrom zu tragen, von einem Ufer zum anderen.

Jemand berührte seinen Arm. Er sah aus seinen Gedanken auf. Da merkte er, daß er den Kreuzpfahl mit der Hand gestreift. Dicht unterm Bilde des Erlösers stand der Doktor. Auch er sah still und sinnend in die heilige Sommernacht hinaus.

Ein besonders helles, einsames Feuer brannte in den Bergen.

»Das muß der Geisterer sein.«

»Ja, dort oben wohnt der Alte.«

Trotz bedeutender Entfernung glaubte Benedikt die Gestalten der uralten Wetterbäume im brandigen Glanz zu erkennen.

»Herr Doktor,« fragte Benedikt plötzlich, »haben Sie das neue Kreuz schon gesehen?«

Wendt lachte grimmig in seinen Bart.

»Noch nicht. Überhaupt –«

Seine Stimme schlug mit einem Male um.

»Wird's denn Ihnen nicht schaden, daß Sie hier mit mir dieselbe Luft atmen? Mit dem Heilandsbrenner?«

»Die anderen können reden und denken, wie sie wollen,« erwiderte Siebenschein ruhig. »Ich weiß, was ich davon zu halten habe. Ich weiß, warum es geschehen ist. Und ich, der Priester, hätte in äußerster Not das Gleiche getan. Nicht für mich, aber für einen Mitmenschen unbedingt.«

Kathrein schlug ihm herzhaft auf die Schulter.

»Siehst du, daß du ungerecht bist! Du hast Menschen, die zu dir stehen.«

Wendt nahm den breitkrämpigen Hut vom Haupte. Benedikt sah den Schattenschnitt der mächtigen Stirne gegen das goldrote Feuer vor der Korbinikapelle.

»Um das handelt sich's mir nicht,« sagte der Doktor. »Mir handelt sich's um die Pflicht, die Wahrheit und das Leben. Um die Menschlichkeit. Gerade wie dem da.«

Er schlug mit der Hand gegen den Pfahl des Totenkreuzes, von dem der nackte Leib des Erlösers bleich herunterschimmerte.

»Wenn alle zur Pflicht, zur Wahrheit und Menschlichkeit stehen, dann ist's schon recht.«

Die Feuer verloschen. Es sah aus, als bewölkte sich die Erde, daß ihre roten Sterne vereinzelten und versanken.

Da und dort loderte eine der Bergfackeln in neuer Pracht auf; die anderen aber wurden klein und müd und gingen zur Ruhe.

Nur der Feierbrand des alten Heiden zuhöchst in der Einsamkeit wollte nicht ersterben; majestätisch überstrahlte er jetzt alle anderen, umnebelt von rötlichem Rauch.

Der kühle Bergwind wehte aus den Wäldern herab. Kathrein schnupperte ihm entgegen.

»Man riecht den Kien.«

Benedikt sah das Bild: dort droben kauerte jetzt der weißhaarige Einsiedler, den Hartriegelstock gegen eine Wurzel gestemmt, das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt – so saß er unterm Stamm des düsterroten Wetterbaumes und starrte stumm in den brodelnden Glast und wachte feierlich über den Tälern der Kinder, er, der Weltferne, der heimgekehrt zu den Stürmen und Sternen.

Marianne erschauerte.

»Die Feuer sind aus. Es wird kalt.«

Sie ließ sich von Benedikt das Tuch um die Schultern schlagen.

Er erschrak, wie er den jungen vollen Körper berührte.

»Marianne,« sagte er mit einer inneren Stimme: »Marianne, du.«

Und sie vernahm den leisen Schrei des Wiedererwachten und erschauderte in süßer Ahnung bis hinab in ihren Schoß.

* * *

Benedikt Siebenschein verbrachte unruhige Tage, und die kurzen Sommernächte wurden ihm lang.

Nun war es doch über ihn gekommen.

Der nackte Mensch in ihm war erwacht und schrie brünstig in die rosenschwüle Sommernacht hinaus.

Er sann zurück: seit wann liebte er Marianne Kathrein?

Er wußte es nicht.

Er erinnerte sich nur, daß er von Tag zu Tag des Wiedersehens froher geworden, daß er jedesmal schwerer geschieden war.

Ganz unvermerkt war es in ihn hineingezogen, fast wie eine Gewohnheit oder ein Bedürfnis oder ein Laster.

Ein leises Hin- und Widerstrahlen von zarter Wärme hatte sich bald eingestellt; aber das war so geschwisterlich und unverdächtig gewesen. Bis Ingeborg Sartorius kam und die Frühlingsquellen in seiner Tiefe erweckte.

Bis er in seinem jähen jungen Durst sich über die nächste Quelle warf, um den rot aufschießenden Brand zu stillen, halb wider Willen, halb berauscht vom Fieber der Blutvergiftung.

Ingeborg Sartorius hatte er aus diesem anderen Becher getrunken: die Fremde, die plötzlich eingetreten war in sein unschuldiges Leben, groß, dunkel und unentrinnbar wie das Schicksal.

Was war sie ihm gewesen, jene andere, in deren Arme er getaumelt? Nichts als ein Gegenstand, irgendeine, die Nächste.

Und doch hatte er sie mit herzroten Rosen umkränzt, hatte sie zur einzigen gemacht, als ihm nach ersten lechzenden Zügen die Blume des Weines emporblühte, deutlicher und verfeinert mit jeder Nacht.

Dann war mit leiser Ermüdung die Kraft der Reue und Flucht über ihn gekommen.

Und nun fühlte er: all das war Traum und Vorspiel, und es gab keine auf der Welt außer Marianne Kathrein.

Zuerst hatte er es demütig auf sich genommen wie eine süße Buße. Es war keine Schuld an dieser zarten, duldenden Neigung. Es war vielleicht sogar Verdienst daran, und er wollte sie tragen als ein inneres Kreuz. Er wollte seine keuschen Freuden darin finden, die Seligkeiten heimlichen Besitzes und die heilsamen Bitternisse der Wüste.

Aber jetzt war der Sommer gekommen mit seinen heißen Gewittern und schwülen Rosen, mit seinen starken Lichtern und tiefen, verführerischen Schatten.

Da war es in ihm erwacht und schrie nach Leben und Erlösung.

Was er an einer anderen erfahren, das stellte er sich nun in dieser vor. Er hatte im rosig durchdämmerten Ärmel den weichen Umriß ihres Armes geschaut, und seine Einbildung tastete weiter nach den Ursprüngen.

An seiner Hand haftete noch ein Hauch vom Duft ihres Schultertuches. Es war der feine, bescheidene Duft, der alles, was sie gab und besaß, umwehte, geheimnisvoll, verheißend und rein wie der Atem jungen Frühlings oder blühendfrischen Linnens. Er trank die reizende Witterung in gierigen Zügen ein, und in seinem Inneren entstand deutlicher ihr Bild, klang deutlicher ihre Stimme. Er war betrübt, wenn das scheue Arom unter seinen Lippen zu rasch verdunstete; er war belebt, wenn es nach längerer Zeit wieder emporschlug, gleich als sei es in ihm selbst zu einer neuen Blume aufgebrochen oder als quölle es aus verborgenem Born unerschöpflich nach.

Er hatte ihren jungen warmen Körper berührt. Seine Hand hatte auf ihrer Schulter schmeichelnd gezögert. Sie hatte es geduldet. Der zündende Augenblick mit seinen Eindrücken und Durchleuchtungen wurde ihm immer wieder gegenwärtig, und seine Sinne spürten von da zur Fülle stärkerer und begehrterer Reize fort.

Er sprach mit einer inneren Stimme jedes ihrer Worte nach und schuf sich daraus Satz für Satz ein neues Erleben. Er wägte die Betonungen und Pausen und suchte darin nach der Deutung, die er ersehnte. Er horchte in die Seele, in die Quellenschächte dieser Worte hinab und lauschte auf das dunkle Pochen, das sie zutage trieb. Er vernahm in ihnen den Schrei, davon er bis in seine geheimsten Saiten hinein widerhallte. Er fühlte den Anhauch der Glut, der aus ihren Herden ihm entgegenschlug und ihn feurig überflackerte. Er ahnte hinter ihrem oft stoßweisen Puls den vollen wühlenden Strom, der drängend wider die Schleusen schäumte. Er begehrte in ihr das Wunder der Gärten, davon ein sommerlicher Ruch ihn angeweht. Er fürchtete in ihr den Sturm seiner Urwälder. Er wußte in ihr all seiner Mündungen großes, brausendes, erlösendes Meer.

An seinem Schritt, an seinen geballten Fäusten klirrten die Ketten.

Nun wußte er auch, daß er mit seinem Berufe in die Irre gegangen.

In seinen jungen Schuljahren war der Föhn an ihm vorübergestrichen, ohne ihn zu erwecken. Er hatte die schwellende Unruhe der Mannwerdung und die Stachel der lüsternen Neugier an sich erlebt wie vielleicht jeder andere. Aber gerade die Eröffnungen und Unterweisungen eines Schulgenossen hatten ihn mit solch tiefem Schrecken erfüllt, daß er von dieser Stunde an eine ängstliche Abscheu gegen alles hegte, was nur irgendwie an jene gefährliche Grenze stieß. Seine Kameraden hatten in dunklen Hausfluren und in den Abenddämmerungen des Stadtparkes auf das begehrte Wild gejagt und prahlten laut mit Erfahrungen; es fehlte nicht an Mädchen, die nur darauf warteten, den jungen Flaumbärten der oberen Klassen als Vorschule und erotische Propädeutik zu dienen. Aber dann hatte sich etwas Schreckliches ereignet. Einer der Kollegen war beim Besuche eines verbotenen Hauses betreten worden und mußte die Anstalt verlassen. Ein anderer, und zwar der Primus, trug von einem Ausflug in seine frühen Gärten, wo er Lilien gepflückt zu haben sich gebrüstet, das Schandmal einer unheilbaren Vergiftung davon und ging an deren Verheimlichung zugrunde. Ein dritter wurde von einem vierzehnjährigen Mädchen als der Vater ihres Kindes bezeichnet und machte seinem Leben ein Ende. Diese Erschütterungen gingen Benedikt bis in den Kern, und er fand darin nur eine Bestätigung seiner schon halb ausgereiften Wahl. So hatte er schließlich die Bürde seines Standes auf sich genommen, ohne zu verstehen, welche Entsagung er gelobte.

In ehrfürchtiger Demut war er in den Dienst Roms getreten. Welche Lüge aber und welchen Kampf er damit auf sich lud, war ihm nicht bewußt geworden.

Rom wird der Mittelpunkt einer geeinten Christenheit der Zukunft werden – so hatte er selbst zu Marianne gesagt. Allein seine Untergedanken hatte er dabei verschwiegen. Rom stieß seine Söhne mit grausamer Gewalt ab von sich. Alle Ströme würden wieder in Rom zusammenmünden, wo man sie nur in natürlichem Bette fließen ließ, anstatt ihnen Wehren zu bauen, die sie verheerend durchbrechen mußten, anstatt sie nach Niederungen abzudrängen, wo sie versandeten, verseuchten und versumpften. Rom selbst beschwört Haß und Lüge, Schuld und Fall über die Seinen herauf, da es ihnen den Weg zum Leben verwehrt und sie verstümmelt, da es ihnen das gesunde Dasein verbietet und sie zu Dieben und Räubern verdammt.

Er wäre mit Marianne Kathrein glücklich geworden. Er hätte viele Jahre in Treue und Demut um sie gedient, wäre nur das Ziel gewiß gewesen. Er würde um dies Mädchen warten und werben, sich gedulden und sammeln, war es ihm nur sicher, daß er sie dereinst in ein freundliches Pfarrhaus heimführen durfte. Welche Sonne im Schaffen des Priesters, der selbst ein reines Glück in der Helle genießt! In der Wärme des engen Kreises würde er sich zu seiner Pflicht bereiten; am eigenen Herde, an der starken Gefährtin würde er sich von Tag zu Tag rüsten für seine heilige, verantwortungsvolle Aufgabe. Und kann sittlich und gerecht sein, der selbst zum Sünder verdammt ist? Er, der Priester, der Hirt, der Tröster, der Vermittler, der Hüter der Menschlichkeit, der Lehrer und Helfer und Arzt – er sah sich selbst der verödenden Einsamkeit preisgegeben, einer Einsamkeit, die nicht förderte und vertiefte, sondern erkältete und verdarb. Von den Wegen seiner Pflicht kehrte er heim in ein Haus, das doch nur ein geliehenes war; in kalte, unbeseelte Stuben, darin kein Hauch von Menschenglück, kein Widerschein echten Goldes, kein Widerhall seiner eigenen Stimme. Er, der hilfreicher Teilnahme am meisten bedurfte, wurde nach des Tages Werk von keinem Feierabend empfangen. Es war kein Wunder, daß der eine dann in Politik seinen Lebensinhalt suchte, daß der andere im Anhäufen von Schätzen sich tröstete; jener sank zum Weine hinab, dieser zu niedriger Völlerei; der machte die Haushälterin zu seiner Vertrauten und Herrin, ein anderer trachtete nach Geselligkeit und lernte über ihren Genüssen seine Pflicht versäumen und trüben. Jeder aber, das begriff Benedikt jetzt an sich selbst, jeder strebte triebhaft und unfehlbar nach dem, was ihm verboten war, nach dem Weibe. Dem Roheren genügte die Geliebte, wie und wo sie sich ihm bot; der Feinere und Bedürftigere aber sehnte sich nach der beratenden Stimme der Frau, nach dem Bogen, der seine eigenen Saiten strich, nach dem Geiste, dessen Zeichen er doch in allen Büchern fand, und von hier aus geriet er in die gefährliche Drift, die ihn von Schuld zu Schuld trieb, bis sein Steuer zerbrach und das Festland in unwiederbringlicher Ferne versank.

Auf Schändung und Ehebruch hat Rom seine Diener angewiesen; auf solchem Boden sollten sie des Vermächtnisses Christi walten.

Hier war ein reines Mädchen, nach dem es ihn übermächtig verlangte. Aber wo goldener Weizen hätte reifen können, da mußte geiles Unkraut wuchern, da es doch nicht jedem gegeben, seine Erde, die von Erden ist, für jeglichen Samen zu veröden. So wurde unterm Druck alles brandig und bitter; die hohe Flamme vergiftete sich zu schwelender, frecher Begierde. An Hunderttausenden ist Rom zum Verderber und Verführer geworden. Rom hat die Blüte zum Dorn verflucht, den unschuldigen Trieb zum Stachel geschaffen. Was der neunte Leo gefordert und seine großen Nachfolger mit immer steigender Strenge zum Gesetze gestählt, das hat keine Berechtigung mehr in Zeiten, da der Glaube sich zum Bekenntnis der reinen Menschlichkeit verklärt und Seele werden will. Wann wird der Ersehnte kommen, jener Benedikt der Gesegnete, der mit kühner Unfehlbarkeit jene nichtigen Verträge zerreißt und auch dem Diener des Menschensohnes gibt, was des Menschensohnes ist?

Benedikt Siebenschein hatte unruhige Tage, und die kurzen Sommernächte wurden ihm lang.

Schwere Entschlüsse stiegen ihm von allen Seiten auf. Bald sah er einen jungen Menschen, der sich wie befreit von ungeheurer Last an der Schwelle eines neuen Lebens reckt, um mit erfrischtem Atem ins volle Tageslicht hinauszuschreiten. Bald sah er einen jungen stillen Mönch im gewölbten Büchersaal zu Heiligenzell, der von seinen Pergamenten weg in den Lenz hinausträumte. In vollem Silberstrom floß die Frühlingssonne durch die hohen Fenster und verklärte den gelehrten alten Staub zu blauem Osterweihrauch; draußen im Klostergarten blühten weiß die Kirschen und rosig die Aprikosen des guten Pater Maurus; ein flaumiger Zweig schwankte vor dem Fenster im lieblichen Erlösungswind. Auf dem eichenen Tische vor dem jungen Mönche aber lag die Handschrift des weiland Geroldus Claudus genannt Anapäst, und die zärtlichen Strahlen spielten über die dunkle Stelle hin, da das Leben des Heiligen vor einem Abgrund oder einem reißenden Strom die Wendung zur Einsamkeit nimmt.

* * *

Marianne Kathrein stand mitten in der Nacht aus ihrem heißen Bette auf und trat ans Fenster in den kühlenden Mondschein.

Sie hatte manchmal gelächelt, wenn sie sich dabei überraschte, wie ihre Gedanken bei stiller Arbeit immer wieder sein Bild aufsuchten und jedes seiner Worte, jeder seiner Blicke ihr von Tag zu Tag an Tiefe und Schwere gewann. Es mochte daher kommen, daß er der Einzige war, der teilhatte an ihrem Tage; der Einzige, den es für sie gab auf dieser Insel, der Einzige und Eigentliche, zu dem von ihr aus eine Brücke sich erbauen konnte über den alten, rätselvollen Abgrund. So hatte sie damals gedacht, als sie der zunehmenden Wärme gewahr wurde – und das war lange her. Sie hatte nie einen Bruder gehabt und wollte ihm nun die Schwester ersetzen: mit dieser Lösung hatte sie sich abgefunden, wenn es wieder einmal geschah, daß er ihr auf allen Wegen begegnete und eine ganze Woche in den Stunden ihres Beisammenseins sich zu erschöpfen schien.

Aber dann hatte sie ihn unter dem Schatten jener Fremden gesehen, und es war ihr nicht entgangen, wie er aufglühte unter der rätselhaften Kraft des einschießenden Stromes. Brennende Eifersucht hatte sie mit scharfen Schwertern überfallen. Allein jene gefährliche Frau war über Nacht verschwunden, und als sie ihn wiedersah, da war er ein anderer geworden, kein zaghafter Schüler und Bruder mehr, dem man ziehmütterliche Zärtlichkeit erweist, sondern ein Mann, dem das erkannte Begehren auf der Stirne steht.

Doch erst nach Verenas Tode war die langverhaltene Knospe in ihrer Hand aufgebrochen. Sie hatte gesehen, wie ein durstiger Mund ungestillt sich für immer schloß, wie ein sehnsüchtiger Leib unerlöst zur Erde einging, und dies Miterleiden eines Frühlingssterbens hatte sie mit flammendem Lebenswillen erfüllt. Er kam nun auch häufiger, und alles, was sonst der Heimgegangenen Anteil an ihr gewesen, wandte sich ihm zu. Das Ende der armen Schwester hatte auch einen Schatten gestellt zwischen sie und jenen anderen, der Verena hätte glücklich machen sollen. Alles, was sie am Doktor verlor, gewann sie an Benedikt wieder, den leisen Groll zum Verlangen entzündet, die stumpfe Narbe der Enttäuschung aufgerissen zur hoffenden Wunde.

Sie lächelte nicht mehr, wenn sie sich dabei fand, wie ihre Wünsche ihn auf seinen Pfaden begleiteten. Sie wußte, das war nicht mehr die frische Teilnahme an einem neuen Menschen, sondern ihr Schicksal. Und sie nahm es glühend hin und riß sich das Hemd von den vollen Brüsten, daß der Speer mit dem zitternden Schaft noch tiefer eindringe in ihr Leben.

Der eisblaue Mondschein lag starr auf ihrem Busen; perlmuttern schimmerte ihre Haut, wie sie an sich heruntersah. Sie riß das Fenster auf. Der Ruch von Bergheu und würzigen Wiesen, Flieder und Hochsommer drängte in die schwüle Stube. Ein verlorener Stern irrte durch den blassen Mondhimmel, riß eine glimmende Bahn und verlosch. Im Schulhausgarten spielten die Leuchtkäfer; in beglänzten Fernen waren die bellenden Hunde wach.

Nun sollte er ihr genommen werden, für immer. Dann war nichts mehr. Dann war alles zu Ende, und sie würde in gleichförmiger Entsagung verwelken, ohne je das letzte Heiligtum der Tempel mit ihrem Gürtel geschmückt zu haben. Dann verloschen alle Fackeln und verdorrten alle Kränze, und das Leben hatte keinen Sinn mehr.

Er war vielleicht krank, wie Verena unheilbar. Was nutzte es seiner vermeinten Ewigkeit, wenn er sie nicht um seine Zeit bereichern konnte? Es war etwas in ihm, das nach Lust und Besitz flackerte, die heiße Unstetheit der Todgeweihten. Nur daß er es hinter seiner Pflicht verbarg und daß sein unterdrücktes Feuer nach innen schlug. Sie liebte ihn darum, und eben darum nur um so mehr, mit einem wilden, empörten Mitleid. Sie ahnte in seiner Zurückhaltung eine stille, beinahe schon grausame Kraft, vor der sie wollüstig erschauerte bis in ihren Schoß hinab. Dieser schüchterne Mann war sehr stark und weitaus stärker als sie.

Aber zwischen ihnen stand dunkel die dornenumsponnene Mauer.

Sie wußte es, aber sie sah nicht die Scheidewand, sondern nur den Menschen, der jenseits des verriegelten Gittertores stand.

Wenn er das Schloß sprengte, sie würde ihre Gärten ihm nicht verwehren.

Und wenn es tausendmal ihr Unglück war oder auch ihr Untergang – um der Krone des Lebens willen würde sie auch die dumpfe Armut der Schmach auf sich nehmen. Sie blieb dann doch die Königin, und den Purpurmantel der Liebe nahm ihr kein Schimpf mehr weg. Denn Leben will Genuß und will im Genuß die Frucht und will in der Frucht die Keime neuer, befruchtender Genüsse.

Marianne sah noch einmal an sich hinab, wie sie so dastand, dem Monde preisgegeben.

Dann ging sie zu Bett, aber ihre Hände und Lippen und Brüste suchten seine schmalen Hände, die sie von ferne berührt wie der Anhauch des dunklen Tauwindes aus Mittag.

* * *

Florian Kathrein arbeitete im bienensummenden Sommergarten. Es gab in diesem Monate viel zu schaffen und zu erhalten. Die Wildlinge mußten auf den Saft okuliert werden; Herbstmöhren, Endivie und Winterrettig harrten der Aussaat; Thymian, Pastinak und Majoran waren vor der Blüte zu schneiden und zu trocknen. Auch zeigten etliche Bienenstöcke nicht übel Lust zu verspätetem Schwärmen; das mußte beizeiten unterdrückt werden. So wurden die Nachmittage nicht lang, und in die liebevolle Sorge hinein spannen sich dem alten Gärtner seine Gedanken.

Er sah es gut, was in Marianne vorging und was in Siebenschein heraufzog. Es war das Geschick einsamer Menschen, das in diesen beiden sich bereitete. Der häufige Verkehr mußte dazu führen, und die Absonderung dieses Beisammenseins schuf eine Enge, wie sie draußen in der vollen strömenden Welt erst nach langwieriger Ausscheidung und vielen Kreuzungen sich verdichtet. Für jeden von ihnen gab es eben nur diesen einen Pol und keine Wahl. Früher, solange Verena gelebt, war es vielleicht anders gewesen. Zwischen zwei ebenbürtigen Mädchen besteht für einen unerfahrenen Mann wenig Gefahr; er teilt sich auf, wird schwankend getragen und sinkt nicht unter. Nun aber fand Marianne wohl alles in ihm, was sie irgend von der Welt zu erwarten berechtigt war, und er selbst mußte, auch wenn es nicht in ihm lag, von dieser überstrahlenden Wärme entfacht werden. Für ihn selbst gab es ja auch keinen Weg als diesen; das Gewand ändert nichts am Menschen, der darunter seine irdische Not leidet.

Florian Kathrein sah gar wohl die Fäden, die zwischen den beiden armen jungen Leuten herüber und hinüber webten. Er fand sich deshalb in Marianne nicht enttäuscht. Sie war von je die kräftigere, die gegenwärtigere der Schwestern gewesen; sie hatte alle Sorgen des Haushaltes auf sich genommen und ihre ganze Jugend an Arbeit hingegeben. Der frühe Tod der Mutter hatte sie selbst irgendwie zur Mutter gemacht. Sie war aber auch die erdhaftere, und der Vater wußte, daß hinter ihrem selbstlosen Fleiß eine starke Sinnlichkeit am Werke war, der unschuldige Trieb des Geschehens, der auf diese Weise sich selbst übertäubte. Und auch das war ihm nicht entgangen, daß unter dieser Lebensweise eine ganz besondere innere Welt sich entwickeln mußte. Unterm Druck der Leere verdichteten sich alle Wünsche und Hoffnungen, und auf dem Grund dieses in seinem Alltag so tatsächlichen, rüstigen Mädchens schlummerten Gewalten, viel stärker an Spannung und gebundener Flamme als die Leidenschaften anderer, die ihr Garn an Schein und Wort verspinnen. Marianne war nicht heißblütig, aber verborgene Krater reichten tief in sie hinab. Sie war nicht sprühend, aber in der blauen Glut ihrer Augen verriet sich oft der unterirdische Brand. In ihrer Spröde zitterte manchmal der verhaltene Puls gefährlicher Mächte.

Trotzdem blieb Florian Kathrein gelassen. Er wollte nicht in die Fäden greifen, die sich da unter seinen Augen verschlangen. Er sah ruhig darüber hinaus in die Ewigkeit der Dinge und ihrer Wiederkehr. Es schien ihm, als würde er mit jedem Worte, und war es noch so behutsam, das Natürliche vergiften. Es war möglich, daß seine Tochter sogenannte Schande über sein graues Haar brachte: und wenn er sich dem blinden Geschehen entgegenstellte, würde er es wirklich aufhalten, nicht bloß zurückstauen und zu heftigeren Ausbrüchen reizen? Was konnte schließlich geschehen? Nichts als was menschlich war, unvermeidlich und echt. Wenn das Wurzelreis mit seinen Blüten und Früchten durch den aufgesetzten Edelstamm hindurchschlug, so verursachte ein neuer Schnitt doch nur eine Wunde, die aushöhlender Wespenbrut eine Gelegenheit bot und den ganzen Baum bis in seinen Grund hinab und bis in seine Krone hinauf verdarb. Gerade die Vereinzelung dieser beiden jungen, von ihrem Frühling tieferregten Menschen barg in sich eine eigene Gefahr. Das milde Mittel der Ablenkung konnte hier nicht versucht werden, und jede Störung oder auch nur Berührung drohte aus der vielleicht schon weitgediehenen Spannung einen schweren Sturm von Erschütterungen auszulösen, während ruhiges Gewährenlassen eher noch einen milden Abklang zum Gleichgewicht verbürgte.

Aber einmal streifte Kathrein doch ans bedenkliche Gebiet.

»Du kennst ja die Lies, die Zellerische, nicht?«

Marianne lüpfte ihren Rock und ließ sich vor dem frischen dunkelbraunen Gartenbeet in die Knie nieder.

»Warum? Natürlich kenn ich sie. Ist sie schon wieder –?«

Sie wurde rot und beugte sich tiefer über die Erde herab.

»Das nicht. Zweie sind ja genug. Der ältere wird heuer mit seinem ersten Schuljahr fertig. Wenn du den sähst.«

»Ist er so hübsch?«

»Hübsch auch. Aber gescheit – für zwölf andere, die es besser haben werden im Leben.«

Der Alte hob die Spindel mit dem Richtgarn aus dem Boden und legte sie säuberlich beiseite.

»Ich muß ihn dir einmal zeigen, den Michel. Jetzt bin ich schon ein Menschenalter hindurch Dorfmagister, aber so ein Prachtbuberl hab ich noch nicht auf meinen Bänken gehabt. Wenn der unter einem anderen Stern geboren wäre, es würde vielleicht aus ihm ein großer Michael Zeller werden, ein Künstler oder Forscher. Aber so wird er versumpfen und versinken, ein Jammer.«

»Du hast es ja nicht gern, wenn jeder zweite Bauernsohn hinaufstudiert. Warum soll er's so nicht anwenden können?«

»Weil ihm seine Geburt nachstinkt. Was soll er werden? Haben tut er nichts. Der Kerl hat das Mädel sitzen lassen. Hat ja selbst nichts gehabt. Und wie das schon geht, wegen dem kleinen Michel hat sie mit einem zweiten angebandelt. Vielleicht, daß der sie heiratet, die Leut finden ja nicht so viel dabei. Dann hätt der kleine Michel wenigstens eine halbe Heimat gehabt. Ist auch nichts daraus geworden. Der Zweite ist auf und davon nach dem berühmten Amerika und laßt nichts von sich hören. Und der Erste hat reich geheiratet; davon hat die Lies blutwenig.«

Marianne wischte sich mit dem Handrücken eine Locke aus der heißen Stirn.

»Alimentieren muß er den Buben doch?«

»Von was? Von dem, was er bei seiner Frau gefunden hat? Die bedankt sich dafür. Die Kinder haben rein gar nichts. Nicht so viel, als ich mit der Hand hier zudecken kann. Die Lies muß als Magd herumdienen. Wenn der liebe Gott für diese armen Würmer sorgen wollt wie für die Lilien auf dem Feld – das übrige wär schon recht, ging ja schließlich keinen Menschen was an. Aber da ist der liebe Gott auf einmal sehr weit und verlaßt sich auf die Menschen, denen er so schöne Gebote gegeben hat. Er selber, wenn man's ihm übergibt, er macht sich die Versorgung sehr billig, denn Quartier und Kost im Himmel kosten nichts. Diese armen Würmer. Da ist jetzt ein kleiner Prachtmensch, könnt ich weiß nicht was aus ihm werden – wird's aber wahrscheinlich schlecht anwenden müssen und irgendwo vergaunern. Da sollten doch die geistlichen Herren ein wenig zuschauen. Machen's aber selber nicht besser. Dieser Hermagor Pichler, der Nachlaß vom seligen Permoser – untergebracht ist er ja, aber ist auch der Stand untergebracht bei ihm? Billig ist's und einfach, also. Und er wird wieder einen Jodok Stramberger hinterlassen und dieser einen Nepomuk Schwarzenthaler und so weiter; lauter Beichtväter und Weibsverderber. Der Mann denkt ja gewöhnlich an nichts. Aber die Mädeln sollten an die armen Würmer denken, denen ungerechterweis immer die Schand anhängt. Wenn sie schon um sich keine Angst haben. So viel Mutter sollt in jedem Mädel sein.«

Marianne richtete sich aus den Knien auf. Ihre Augen, umgeben von brauner Dämmerung, leuchteten in seltsamem Glanz.

»So redst du jetzt, Papa. Siehst du, wie du bist? Damals hast du den Siebenschein mit Fleiß auf den Geschmack gebracht, mit der Sartorius.«

Kathrein spähte über die Brille hinweg.

»Und hat sie ihn gebissen?«

»Was weißt du, ob sie ihn nicht gebissen hat. Giftig war sie.«

Der Lehrer scheuchte eine zudringliche Biene, die ihn in engen Kreisen umflog.

»Ich habe damals gesagt: eine wird ihn drankriegen, und dann wird er andere drankriegen.«

»Und stehst du vielleicht ein für diese anderen?«

»Du redest ja, als wie wenn ich Gelegenheit gemacht hätt. Kannst aber ruhig sein, dafür kenn ich den Siebenschein. Wer faul ist, der fallt doch um, also. Und der Siebenschein ist nicht faul. Verbrannt hat er sich vielleicht ein wenig an der Sartorius, aber tief ist's ihm nicht gegangen. Eine ist immer die erste, irgendwo geschieht's, das ist so sicher wie der Sankt Medardi am achten Juni. Wenn die ihn nicht drangekriegt hat, so wird's vielleicht einmal eine andere tun. Aber ich halte den Siebenschein für einen Ehrenmann. Er denkt über alles schwer nach, wo er's doch gar nicht nötig hätte, mit seiner Jugend. Er ist gewissenhaft und kehrt sich selber dreimal um, bevor er sich einmal ausgibt. Mit ihm ließ ich jedes junge Mädel getrost allein, genau so wie dich seelenruhig mit jedem Mann. Auf einer Insel, von mir aus, drei Jahre lang.«

Marianne beugte sich wieder tiefer über das braune Gartenbeet.

»Du haltest mich für besser, als ich bin. Ich weiß nicht, ob du das tun dürftest.«

»Seelenruhig!« wiederholte der Alte mit tiefer Stimme; »und wenn dann etwas geschieht, so wär's etwas so Großes, daß es anders gar nicht hätte geschehen können. Da hört alles Gut und Besser und Schlechter auf. Und da könnt ich jawieso nichts ausrichten … Also, daß du weißt, bis zum ersten Drittel die Möhren, dann die Winterrettige. Ich muß einmal nach den Bienen sehen, die sind heut so unruhig. Mir scheint, da bereitet sich was.«

Marianne blieb allein. Sie arbeitete und wühlte, als könnte sie da drunten in der feuchten kalten Erde ihr heißes Herz begraben. Und über ihr lag das feierliche Schweigen des tiefen Erntesommers.

* * *

Der Lehrer hatte Benedikt gefragt, ob er morgen, am Sonntag, mit ihm nach Heiligenzell hinüberfahren wolle. Er habe sich vom Tafernwirt den Wagen gemietet, um dem guten Pater Maurus einen Besuch abzustatten und aus seiner Mustergärtnerei einige schon bestellte Edelreiser und Sämereien zu entführen.

Benedikt schlug das Anerbieten aus. Unter anderen Verhältnissen wäre es ihm willkommen gewesen. Nun begrüßte er aber gerade den Anlaß dieser Einladung und gleichzeitig schämte er sich seiner Hintergedanken.

Kathrein drang nicht weiter in ihn.

»Vom Geisterer hat man also nichts mehr gehört?« fragte er.

»Nichts mehr,« sagte Benedikt zerstreut.

»Ein Einsiedler ist er gewesen, und den Tod des Einsiedlers ist er gestorben,« meinte der Lehrer. »Hat die Hütte selbst in Brand gesteckt und ist irgendwohin in die Höhen gegangen, um sich aufzulösen.«

»Sie glauben doch nicht, daß er selbst – – er hätte doch keinen Grund dazu gehabt?«

»Grund genug hat er gehabt und Recht auch. Es hat jeder Mensch das Recht, wenn er nicht weiter kann. Wenn das auch nicht drinsteht in eurem Katechismus. Sie haben ihn ja besser gekannt als ich.«

»Eben. Es scheint mir ganz unwahrscheinlich. Ich denke eher an ein Unglück. Oder an ein Verbrechen. Die Burschen sollen ihm gedroht haben, sie würden ihm das Dach überm Kopf anstecken. Weil er dem Peter die Hand verredet hat. Damals, am Sonntag nach Fronleichnam. Bei der verunglückten Kreuzweihe.«

Kathrein schüttelte den Kopf.

»Ich habe davon gehört, ja. Aber wenn sie es haben wirklich tun wollen, so sind sie zu spät gekommen. Der Alte hat sich sein Sonnwendfeuer schon selbst gemacht. Er hat ja auf der ganzen Welt keinen Menschen gehabt. Oder alle. Nicht einmal einen Namen hat er gehabt. Und zu lernen hat es für ihn nichts mehr gegeben. Da ist er hinaufgegangen zu seinen Sternen. Sein Grab ist die ganze Welt und seine Kirche der ganze Himmel, Gott geb ihm seine Ewigkeit … Also ich werde den Pater Maurus und den Herrn Abt recht schön von Ihnen grüßen – und daß der Herr Pfarrverweser ganz unabkömmlich ist.«

»Ich würde bei nächster Gelegenheit einen Besuch abstatten,« berichtigte Siebenschein hastig; »wenn einmal der neue Herr Pfarrer hier eingetroffen sein wird.«

»Ja, richtig. Wann kommt er denn?«

»Es ist noch nicht bestimmt. Ich weiß noch gar nichts Näheres.«

»Also bleiben Sie nur schön zu Hause, daß Sie nicht am Ende überrascht werden. Können ja der Mariann ein wenig Gesellschaft leisten, wenn Sie grad Zeit haben. Die will auch nicht mitfahren. Ich komme gegen Abend zurück. Vielleicht treff ich Sie dann bei uns?«

Benedikt eilte, daß er mit Christenlehre und Segen zu Ende kam. Er merkte es längst nicht mehr, daß er beim Gottesdienst gar keine Gebete sprach, sondern sinnlose lateinische Formeln: eine Vernachlässigung, die von Christoph Licht, dem Meßner, beobachtet und mit Genugtuung verkündet wurde:

»Segts es, was ich g'sagt hab. Zuerst, da hat er ein jeds Wörtel so haklich und extra ausg'sprochen, als ob er's im Mund waschen müßt, eh daß er's herzeigt. Als ob der liebe Gott selber es ihm vorsagen möcht. Dominus vobiscum, hat er g'sagt, als ob er den heiligen Geist aus die Händ auslassen möcht wie eine Brieftauben. Jetzt dreht er sich nur so um und sagt Dominus vobiscum als wie guten Morgen. Und die Meß, die geht jetzt herunter wie das ABC. Der Mensch g'wöhnt sich halt an alles.«

Der junge Pfarrverweser ging vom Segen weg nach Hause, um dort noch einige kurze Besorgungen zu erledigen. Er war bei allem nur mit halber Seele; es trieb ihn in die erkannte Gefahr hinein, und er ahnte sich erwartet. Welches Ende es nehmen sollte, wußte er selbst nicht. Aber gerade ins Unbestimmte hinein drängte es ihn übermächtig – in dunkel erregende Möglichkeiten.

Der Weg nach dem Schulhause führte zwar nicht über den Eggerhof, aber er entschloß sich doch zu dieser kleinen Verzögerung, um Fräulein Huber vom nahenden Eintreffen des neuen Pfarrers zu benachrichtigen. Vielleicht würde sie in den ersten Tagen da und dort aushelfen, und dann konnte der zukünftige Vorgesetzte ja selbst seine Wahl treffen.

Die Mali nötigte ihn aber sogleich in den Ehrenstuhl ihrer guten Stube, einen altväterischen, gemütlichen Armsessel, den sie aus dem Dachgerümpel des pfarrherrlichen Nachlasses erstanden und in Sanktrain hatte aufarbeiten lassen.

»Gleich wieder davonrennen, noch schöner,« zürnte sie; »wo der hochwürdige Herr Doktor so nur alle heiligen Zeiten sich anschauen laßt, wenn ich ihn net von hinten sehet bei der Meß. Der hochwürdige Herr wird nix versäumen und um kein Haar schlechter werden, wenn er sich bei der alten Mali einmal hinsetzt und ein Kaffee trinkt – oder?«

Auf dem Tische lag aufgeschlagen das goldgeschnittene Erbauungsbuch, das Siebenschein selbst an jenem Christnachmittage gegen die kostbare Reliquie in Tausch geschenkt. Aus dem großgedruckten Abschnitt des Sonntagsevangeliums sprangen Benedikt die Worte des Herrn in den Blick: »Herr, geh weg von mir; denn ich bin ein sündhafter Mensch.« Ein Holzschnitt auf der anderen Seite kündete das nahe Fest Sankt Ulrichs, des tapferen Bischofs von Augsburg, an.

Fräulein Huber schlug das schwarze Merkband in den Text und schob das Buch beiseite.

»Da sieht der Herr Doktor wenigstens, wie daß ich's in Ehren halten tu. Jeden Tag tu ich mein G'setzl drin lesen, bin schon selber völlig heilig worden … Also wenn der hochwürdige Herr Doktor sich ein bissel geduldet …«

»Ich muß wieder gehn.«

»Ah ja was, muß. Der hochwürdige Herr Doktor muß gar net. Schickt sich das, so davonlaufen? Ein Stündl wird der Herr Doktor der alten Mali schon noch schenken können. Der Herr Doktor soll sich nur ein bisserl gedulden, bin gleich wieder da.«

Siebenschein fügte sich seufzend. Fräulein Huber eilte geschäftig hinaus, und bald vernahm er sie mit Blech und Porzellan hantieren.

Er nahm das schwarze Buch mit dem großen goldenen Kreuz zur Hand und begann gedankenlos zu blättern. All das trat in anderes Licht, sobald man die Träger des Ganzen in der Erde selbst verankerte, im ehrlichen, wirklichen, unentrinnbaren Leben.

Die Mali kam mit dem geblümten Tuch, mit Kannen und einem großen, goldgelben, zuckerversilberten Gugelhupf.

»So. Hat's lang dauert? Na, der hochwürdige Herr hat ja seine Heiligen zur Gesellschaft g'habt. Da sieht der Herr Doktor, daß die Mali sich nix abgehn laßt. Na ja, zu was lebt man denn?«

Der starke, verschwenderisch gebraute Kaffee dampfte; die Fliegen summten sommerlich; die scharfe Nachmittagssonne strahlte steil und kurz durch die kleinen Fenster mit den sauberen Gardinen. Benedikt verspürte den Stachel eines Heimwehs. Auch das gehörte dazu, und so hätte es immer in Ehren sein können. Von Weib und Brot kommt der Mensch, zu Weib und Brot kehrt der Mann immer wieder zurück.

»Der hochwürdige Herr Doktor bei der alten Mali zur Jausen! Das hätten mir uns auch net dacht, vor ei'm Jahr, gelt?«

Sie sprachen eine Weile von gleichgültigen Dingen, vom Sanktrainer Fest, vom rätselhaften Ende des alten Geisterer, von Pfarrverhältnissen, von Benedikts unsicherer Zukunft. Siebenschein antwortete kurz und zerstreut. Er aß und trank ohne Genuß, wie um rasch fertig zu werden. In seinen schmalen Händen fieberte die Unruhe.

Da fing die Mali an.

»Also wie lang bleibt der hochwürdige Herr Doktor noch in Unzing?«

»Jedenfalls noch mehrere Wochen,« erwiderte der junge Pfarrverweser; »der neue Herr Pfarrer kommt vielleicht erst in vierzehn Tagen, und dann soll ich drunten in Sanktrain zum Festamt und auch später die Orgel spielen.«

»Also noch ein paar Wochen,« sagte die Mali gedankenvoll; »in ein paar Wochen, da kann viel g'schehn, in ein paar Wochen.«

»Was soll da geschehen?« fragte Benedikt mißtrauisch.

»Ah nix. Ich red grad nur so daher. Bin bloß begierig, was der Neue für einer is. Ein Anständiger, wie der Herr Doktor, oder so einer, wie's dutzendweis herumlaufen.«

»Aber Mali!« tadelte Siebenschein. »Erstens bin ich – das heißt, also, Sie verstehen – –« Er verwirrte sich und brach ab.

Fräulein Huber vollführte ihre wegwerfende Handbewegung.

»Ah ja was! Der Herr Doktor weiß ja selber. Aber der Herr Doktor und ich brauchen uns doch nix vorzumachen. Der Herr Doktor sieht ja selber, wie's zugehn tut, net? Alsdann.«

Benedikt senkte die schmale Stirn.

»Ich darf da am allerwenigsten richten.«

»Richten! Wer redt denn von Richten? Ich mein ja nur so.« Sie schenkte ihm die dritte Tasse voll. »Es geht schon noch, der Herr Doktor soll nur probieren, wird schon noch Platz sein. Sein ja so klein, die Schalerln.« Dann fing sie den anderen Faden wieder auf und spann weiter. »Ich mein doch bloß so. Sein ja arme Hascher, die geistlichen Herren, ich sag's schon immer. Arme Hascher sein's, sein halt doch auch Mannsbilder unterm schwarzen G'wand, der Herr Doktor entschuldigt schon – aber der Herr Doktor weiß ja selber. Ob schwarz oder weiß der Rock, das Mannsbild bleibt doch das nämlich in der nacketen Haut. Ich sag's schon immer: heiraten soll mans lassen, die geistlichen Herren. Dann werden's weniger Unglück anrichten und selber werden's auch besser und zufriedener sein. Hab ich recht?«

Siebenschein versuchte den vorgeschriebenen Standpunkt festzuhalten.

»Es hätte ja vielleicht gewisse Vorteile, das ist natürlich nicht in Abrede zu stellen; es würde damit manches Ärgernis vermieden. Aber es hätte jedenfalls seine Schattenseiten. Es würden sich sehr bald manche Unzukömmlichkeiten zeigen.«

»Ah ja, Schattseiten und Unzukömmlichkeiten! Die armen Bamsen und Bankert, sein das vielleicht keine Schattseiten und Unzukömmlichkeiten? Und die Mädeln, die in Schand und Unglück kommen deswegen? Ein anderer, der kann's wenigstens gut machen mit der Heirat, wann's net ein ganz Schlechter is. Aber so ein armer geistlicher Herr, der kann gut sein wie er mag, den ehrlichen Namen kann er der Sach doch net geben. Versorgen, studieren lassen, recht schön. Aber wo bleibt der Nam und die Ehr?«

»Es ist vielleicht doch nicht ganz so schlimm,« tröstete Benedikt wider sein Gewissen; »aus einigen Ausnahmefällen dürfen wir doch nicht aufs Ganze schließen.«

Die Mali lachte in der Tiefe ihrer wasserblauen Augen.

»Das glaubt ja der Herr Doktor selber net, was er da sagt. Oder meint der Herr Doktor, die Mali is so dumm, daß sie ihm das glaubt? Der Herr Doktor muß halt so reden, aber wegen mir braucht er sich keine Müh zu geben. Der Herr Doktor weiß ja selber, was er davon zu halten hat. Hat ja lang genug dazug'schmeckt. Alsdann! … Ja, wenn alle so wären wie der Herr Doktor! Wenn's alle so schwer und ernst nehmeten! … Aber die meisten, die machen sich nit viel Gedanken, die leben grad so, wie's der Herrgott g'schaffen hat … Na ja, mir wissen ja.«

Sie brach ab und vertiefte sich in ihren Kaffee, auf dem überm zerschmelzenden Zucker die verknisternden Schauminselchen im Kreise trieben.

Summende Sommerstille; irgendwo im sonntagsschläfrigen Dorfe krähte der Hahn; schleppend schlug vom Pfarrturm die Nachmittagsstunde.

»Ich merke aber gar nichts davon, daß ich mich für etwas Besonderes halten darf,« sagte Siebenschein nach langem Schweigen. »Ganz im Gegenteil.« Er seufzte auf.

Die Mali sah aus ihrer Tasse auf. Ihr Löffel zerknirschte den Zucker auf dem Grunde. Dann legte sie plötzlich ihre runde weiche Hand auf Benedikts Arm.

»Der Herr Doktor erlaubt schon – aber das is etwas ganz anderes.«

Siebenschein mied ihren Blick.

»Das seh ich nicht, warum. Für mich wird es wohl keine Ausnahme geben.«

»Ausnahmen net, aber doch. Wenn's der Herr Doktor net sieht, ich schon. Die Mannsbilder unterscheiden da net, aber die Frauenzimmer ja. Das ist doch ein Unterschied, ob man ein Mädel oder gar ein besseres Fräulein unglücklich macht und in Schand bringt – oder ob man – – na, der Herr Doktor versteht schon. Jetzt wird sich der Herr Doktor denken: Schlampen, alte, nixnutzige, du hast grad was zu reden, wie hast denn du's trieben, mußt auch einmal ein Mädel g'wesen sein, wo hast denn du dein Ehr g'lassen, hä, g'scheiter, kehrst vor deiner eigenen Tür den Mist. Also von mir aus: soll sich der Herr Doktor denken. Aber derf ich dem Herrn Doktor sagen: wann's schon sein muß – dazu sein die da, an die so schon nix mehr zu verderben ist. Damit andre net ins Elend bracht werden. Wann's schon sein muß! … Also der Herr Doktor – der wird ja so was net tun, dafür kenn ich den Herrn Doktor zu gut, lieber sich die Zungen abbeißen, so wie der Herr Doktor schon is, haklich auf sich selber und' genau in allem. Aber ich mein: überhaupt. Hab ich recht?«

Siebenschein rührte gedankenlos in der leeren Tasse. Fräulein Huber nahm es für eine Aufforderung und schenkte zum vierten Male strichvoll. Er widersprach nicht; er merkte es kaum.

»Ja, Fräulein Mali,« seufzte er endlich auf; »wenn wir schon davon reden – da glaube ich doch, daß die Sünde entschuldbarer ist, die aus einer großen, echten Liebe entspringt. Aus einer inneren Not.«

»Ah ja, Liebe!« Die Mali machte ihre wegwerfende Gebärde. »Bis zu der kommt ja so ein armer geistlicher Herr gar nie! Derf ich dem Herrn Doktor sagen: die kommt erst lang nachher! … Was früher is und so in der ersten Zeit, wann mir schon davon reden, das is bloß Verliebtsein. Und glaubt mir der Herr Doktor, das hat man nur vor der Bescherung und solang die Lichterln recht hell brennen. Dann tropft's ab und die Freud is aus und das Ganze fangt an zum rauchen und zum stinken … Liebe – da muß man miteinander viel durchg'macht haben, bis man zu der kommt. Und für das bisserl Verliebtsein, wo's doch kein ehrlichen Namen haben derf, na, da is bald was gut. Dadrum sag ich, es is ein Schand und Sünd, wenn wegen so was ein ganz frischer Mensch fürs Leben verdorben wird. Da wird mir der Herr Doktor wohl selber recht geben.«

Siebenschein sah an sich herunter. In seinen Händen fingerte verlegene Unruhe.

»Ja, Fräulein Mali – wenn davon überhaupt geredet werden soll – am besten ist es ja natürlich, wenn das gar nicht in Frage kommt. Aber wenn schon – wenn schon –« – er sah beiseite, und auf seiner Stirne zuckte der Kampf – »dann hat die menschliche Schwäche vielleicht am meisten Aussicht auf Vergebung.«

Die Mali erfaßte seine Hand am Gelenk.

»Eben,« sagte sie eifrig; »jetzt hat der Herr Doktor das Richtige troffen. Menschlich. Das is net menschlich, ein armes Mädel, das auch schwach is – mein Gott, mir sein ja keine Heiligen, wo wär denn da noch Platz im Himmel? … Also, das is net menschlich, so ein armes Mädel verführen und verschandeln. Da hat der Herr Doktor ja recht, wenn er das meint. Und das weiß ich ja so, der Herr Doktor, der brächt so was net übers Herz. Aber die anderen! Es sein net alle wie der Herr Doktor, der Herr Doktor derf mir's glauben. Soll der Herr Doktor mich anschauen, schlecht wie ich bin. Glaubt mir der Herr Doktor, ich hab's hunderttausendmal bereut, wo ich selber net unschuldig war. Denn wann ein Mädel net mag – der Herr Doktor versteht. So ein junger Herr war er wie der Herr Doktor, und geistlicher Herr war er auch. Völlig gleich schaut der Herr Doktor ihm – nur daß er gerieben war und gewußt hat, mit welche Fliegen man die Fisch fangt. Der Herr Doktor tät so was nit. Aber der war halt anders. Na, und die Mali war damals jung und dumm und brennheiß vor lauter Verliebtheit. In die Schul sein mir gangen bei ihm. Sagt er mir einmal, ich soll nach der Schul zu ihm, er wird mir was Schönes schenken. Hätt's gar net braucht das sagen, wär so gangen auch. Schönes Heiligenbildl, das er mir g'schenkt hat, statt zur heiligen Firmung hinaus ins Krankenhaus, zu die ledigen Mütter … Glaubt mir der Herr Doktor, ich hab ihm's net nachtragen. Aber da weiß ich noch andre G'schichten. Da hab ich eine Freundin gehabt, hübsch wie ein Blümerl im Mai, war von einem besseren Haus, Männer hätt's kriegt an jedem Finger zehn. Geht's net daher und verliebt sich in ein geistlichen Herrn. Na, das war halt ein anderer wie der Herr Doktor, der hat's net so genau g'nommen, der hat sich dacht, hätt der liebe Gott die Eva net g'macht, is dem seine Schuld, hätt er den Adam allein gelassen, wär so besser g'wesen. Na, und so. Weiß net, wie's dann weiter gangen is – geladen warens halt aufeinander, und einmal wird schon die Ketten vom Radschuh g'rissen sein … Wie's schon so kommt, junge Leut denken net weit, wie sollens denn, und es is halt net ein jeder der heilige Aloisi, weiß Gott, ob der's selber war, is keiner dabei g'wesen … Also, daß ich's g'schwind sag, auf einmal war's Unglück da, die Eltern fuchsteufelswild, das Mädel in der Schand, das Gered durch alle Gassen …«

Sie unterbrach ihre Erzählung und kramte aus einer Lade eine stark verblaßte Photographie hervor.

»Das war sie. Vorher. So ein Mäderl, net? Wie's unschuldig herschaut mit dem Kreuzerl auf der Brust.«

»Und?« fragte Siebenschein.

»Na also, daß ich's weiter erzähl. Wo sie dann hinkommen is, das weiß ich net. Ich bin weg, war selber beschmiert, das Kind is nach drei Wochen g'storben, war noch ein Segen. Bin halt in die Fremd gangen, dienen, verdienen, g'lernt hab ich ja was g'habt, noch heut dank ich's der Mutter im Grab. Hab schon ganz vergessen g'habt auf sie, auf einmal, nach sechs Jahren oder sieben, krieg ich da net ein Brief von ihr. Wie's meine Adreß erfahren hat – wahrscheinlich von der Mutter ihrer Schwester, der Tant, die hat noch g'lebt … Krieg also den Brief, denk mir noch, na, vielleicht geht's der besser als dir, weiß Gott, vielleicht hat's g'heirat, hat ja der andre g'sagt, daß er austreten will und was weiß ich … Mach ich den Brief auf – glaubt mir der Herr Doktor, daß ich mich hing'setzt hab und g'weint, drei Tag lang hab ich net schauen können vor lauter Weinen, glaubt mir der Herr Doktor? … Liebe Mali, schreibt's mir … aber ich kann ja dem Herrn Doktor den Brief zeigen, hab ihn verbrennen wollen, na, is auch ein Andenken, hab ich mir dacht, hebst ihn auf, und da is er.«

Sie legte den mit wirren, vielfach verwischten Zeilen bedeckten Bogen vor Benedikt hin.

»Wenn der Herr Doktor lesen will.«

Lange bemühte sich Siebenschein mit dem abgenutzten Schriftstück. Die Mali ging mit der Kanne hinaus und kehrte wieder, und noch immer starrte er in die krausen, fleckigen Zeilen. Endlich ließ er das Blatt sinken.

»Na, was sagt der Herr Doktor zu dem?«

»Und ist das wirklich geschehen?« fragte Benedikt.

»Wie ich den Brief kriegt hab, da war's schon unter der Erden.«

Siebenschein biß sich auf die Lippen.

»Was hätt's tun sollen? Schön geduldig warten, daß der liebe Gott in seiner Gnad sie von der Krankheit erlöst? Vom Lebendigverfaulen? Und was hätt's sonst anfangen sollen? Hätt sie einer g'heirat mit eim ledigen Kind von dem Vatern? Das geht unter Bauern, aber net unter solche Leut. G'lernt hat's nix g'habt. Das Kind haben die Eltern behalten, sie selber haben's vor die Tür g'setzt. Freilich, die trifft's auch, die Eltern. Aber hat der Doktor g'lesen, wie's ihn verflucht am Schluß? Und war doch verliebt g'wesen in ihn. Hat ihm doch selber Augen g'macht. Sünd – Sünd is net so arg viel dabei. An die denkt so keiner, wann das Feuer einmal Zug kriegt. Und von der Sünd möcht überhaupt keiner reden, da krähet kein Hahn darnach – wann das andre net wär, das hintere End. Von der Seiten haben die Leut überhaupten g'funden, daß eine Sünde dabei sein könnt … Und dadrum sag ich, mit solche Fräulein is nix, lieber ein alte, abgetakelte, der Herr Doktor entschuldigt schon, aber wann man schon davon redt …« Sie nahm Photographie und Brief auf. Noch einmal hielt sie das Bild vor sich hin. »Wie's da herzig und unschuldig herschaut, net – arms Hascherl.« Sie legte die beiden Andenken in die offene Lade und schob diese zurück. »Ja ja, so is auf der Welt … Na, jetzt wird sich aber der Herr Doktor denken, schöne Freundin, die Mali, ladt ein zu eim Kaffee ein, laßt ein net amal spazieren gehn bei dem schönen Wetter, und noch obendrein erzählt's eim so traurige G'schichten. Aber wo mir schon drauf zu reden kommen sein … Aber net, daß der Herr glaubt, das is die einzige. Da weiß ich noch andre G'schichten, von hier herum – wann man da anfangen wollt.«

»Und was ist ihm geschehen?« fragte Siebenschein.

»Mit wem? Ah, mit dem! Richtig, das hab ich ja ganz vergessen. Austreten is er, versoffen hat er sich, und das End war das:« Sie zog mit dem Finger einen Kreis um ihren Hals und deutete dann den gespannten Strick an. »Na, merkt jetzt der Herr Doktor den Unterschied?« Um ihren Mund spielte ein halbes Lächeln. »Gern hat mich ja der Herr Doktor nie so g'habt. Pscht, der Herr Doktor braucht der Mali gar nix vorerzählen. Das war nur so für den Durscht … Is ja recht so, gut, daß keine Schlechtere war und keine Bessere … Na, dem Doktor braucht man ja solche Sachen gar net sagen. Wann die geistlichen Herren alle wie der Herr Doktor wären –! Aber jetzt soll sich der Herr Doktor gemütlich hersetzen und noch eine Schalen trinken, sein ja so klein, die Schalerln, jetzt red mer von andre Sachen … Der Herr Doktor will wirklich schon gehen? … Ja, also, da will ich den Herrn Doktor net aufhalten, wo er mir schon so viel Zeit g'schenkt hat … Ja, und wenn der Herr Doktor die Mali braucht, derf er mir's nur sagen lassen.«

Siebenschein zögerte lange am Scheideweg.

Dann wählte er den Pfad, der durch Wiesen und Ackergeländ nach einem abgelegenen Häuschen hinaufführte. Dort wohnte eine blutflüssige Frau, die seit Monaten das Lager nicht mehr verlassen hatte.


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