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Zweiundzwanzig Jahre sind es dessen, daß Jagd, Wald und Wild mich zum Schriftsteller gemacht – und heute auf den Tag achtzehn Jahre, seit ich von der Doktordissertation weg fast zwangsweise zur Schriftleitung der ältesten deutschen Jagdzeitung abgeführt wurde.
Für jenes ehrwürdige Blatt, »A. Hugos Jagdzeitung« (so genannt nach seinem Begründer Albert Hugo, der eigentlich ein Baron Schroll und ganz eigentlich ein Habsburger gewesen) – für jenes ehrwürdige Blatt, von mir acht Jahre hindurch recht und schlecht redigiert und nach dem Tode seines ältesten, treuesten und wichtigsten Abnehmers und Lesers, des Kaisers Franz Josef I., mit dem 60. Jahrgang für immer beschlossen, waren diese hier in dritter Auflage erscheinenden Geschichten, Stimmungsbilder, Skizzen ursprünglich bestimmt.
Wenn ich es im Ruhme vielleicht auch nicht sehr weit gebracht: – dessen jedenfalls kann ich mir vor vielen Nobel- und Schillerpreisträgern brüsten, daß gleich der erste Band meiner gesammelten und sämtlichen Werke von einem Kaiser – und von einem, wie spätere abgeklärte Geschichte urteilen wird, großen Kaiser – zu allernächst gelesen worden.
Denn Se. Apostolische Majestät erhielt selbstverständlich lange vor übrigem Volk das erste, auf Vorzugspapier abgezogene Exemplar der jeweiligen Nummer, und das nicht etwa in gemeinem Kleisterschleifband, sondern in einem riesigen Ministerialkuvert, feierlich versiegelt und von des Herrn Verlegers, Hofbuchhändlers und kaiserlichen Rates A. W. Künast eigener Hand kalligraphisch adressiert.
Später, im Juli 1907, ging das alte Blatt ins Eigentum eines anderen rühmlichst bekannten Verlages, der Hofbuchhandlung Wilhelm Braumüller, über. Der Text wurde erweitert, sein Bild geändert und vereinheitlicht, der Umfang vermehrt, gelegentlich einmal eine schöne Extranummer von vier bis fünf Bogen Stärke herausgegeben – die Abnehmer nahmen an Zahl zu, aber der Kaiser selbst stand nach wie vor an ihrer Spitze, und auch sonst blieb alles gut österreichisch beim alten.
So hatten wir gegen unbequeme Neuerer und katilinarische Umstürzler immer eine bildschöne Ausrede: »Der Kaiser will's nicht; und der Kaiser ist erstens einmal der Kaiser und zweitens einmal der Senior unserer Abonnenten . . .« Und das war nicht einmal gelogen.
Es ging von Schönbrunn und Mürzsteg die Sage, daß der Kaiser, wenn er abends Krone und Zepter seines undankbaren Reiches auf das, gut österreichisch gesagt, »Nachtkastel« abgelegt und in sein spartanisch einfaches Feldbett gekrochen, immer noch beim Schein einer schlichten Kerze in »A. Hugos Jagdzeitung« gelesen und sodann bemeldete Kerze mit dem kleinen grünen Leibblattl ausgelöscht habe: worauf er mit letztem Vaterunser und manchen Sorgen um die Herren Tschechen und Polen und Alldeutschen und Slowaken in selige Träume von guten Eisenerzer Hirschen hinübergeschlafen . . .
Ich weiß nicht, ob die Geschichte ganz wahr ist, und ob der Kaiser wirklich immer schon ungeduldig am hohen Fenster auf den Boten mit dem riesigen versiegelten Kuvert gewartet; ob er tatsächlich einmal in bedenklicher Ungunst einen seiner Räte angeraunzt: »Das werd' ich wohl besser wissen, ob heut der fünfzehnte ist oder der vierzehnte; die Hugosche ist noch nicht da, also der vierzehnte . . .« – und ob er wirklich manchen Abends geseufzt: »Was der Gagern da wieder z'sammgschrieben hat! . . .« Ich will die historische Richtigkeit dieser hübschen kleinen Züge aus dem Leben des alten Herrn nicht beschwören; ich wollte ihn selber einmal danach fragen, das war auf der grandiosen Wiener Jagdausstellung, aber da machte er, der Kaiser, einen so ewig österreichischen Witz, daß ich darüber auf alles andre vergaß. Wir hatten ihm – und mit voller Gerechtigkeit – eine seiner kapitalen Gamskrucken prämiiert (»bepreist« würde man heut sagen, »bepreißt« darauf der Wiener spotten), und als er dann auf der Trophäenschau von den Klafterwuchten der Ungarhirsche und den perlenstarrenden Polenböcken her zu den schwarzen Hacklern kam, blieb er vor seiner Höchsteigenen Beute ahnungslos und andächtig bewundernd stehen. »Ja, das ist einmal ein Kapitalstück! . . . Von wem denn?« . . . Der Präsident trat ehrfurchtbeflissen halbvor. »Von Ew. Majestät selbst!« . . . Da ging ein heiteres Flimmern um die Augen des alten Herrn; scheinbar streng verweisend nickte er nach uns hin. »Na ja, natürlich; wieder einmal eure Protektionswirtschaft . . .«
Die Verlagsbuchhandlung W. Braumüller war es auch, die im Herbste 1907 vorliegenden Band kleiner Jagdgeschichten und Stimmungsbilder erstmals herausgab und mir jungem, mein Gott! fünfundzwanzigjährigem Schriftsteller sozusagen Firmpatin stand. Und da eben diese Geschichten mit wenigen Ausnahmen in unserer guten geduldigen Jagdzeitung vorabgedruckt worden, kann ich nicht anders als annehmen, der letzte eigentliche, der Kaiser von Österreich habe sie in seinem kargen Feldbett beim Schein jener überlieferungstreuen Kerze gelesen und vielleicht darüber der Herren Tschechen und Slowaken, Polen und Alldeutschen auf ein paar friedliche Minuten zwischen Wachen und Schlaf vergessen . . .
Als dann das erste Buch, das erste Exemplar des ersten Buches als grüne, mit meiner eignen Schrift golden betitelte Tatsache in meiner Hand lag . . .!
Es war ein schöner weinklarer Herbsttag in der alten Heimat; das Laub fiel und Tauspinngarn glitzerte, die Welt duftete nach jungem Most und gebratenen Kastanien; ich hatte in den Vorwäldern gejagt und kam gerade nach Hause, zwei mollige Berghasen im Rucksack, einen Haselhahn am Galgen, den Drilling über der Schulter und keine schlimme Ahnung in der Seele – – da lief mir der Postbote der Quer und hielt mir ein strammes kleines Paket entgegen:
»Im Büchsenlicht«. –
Ein Traum, der Traum, mein Traum war in Erfüllung gegangen.
Aber: erfüllte Träume sind – ausgeträumte Träume.
Die Jugend war endgültig vorüber; die Pflicht hub an – die Verpflichtung. –
Ein recht hübscher Erfolg lohnte das Wagnis des – – na, Verlegers. Die Kritik, darunter sogar die vermaledeit scharfe der gefürchteten Wiener Tagespresse, begönnerte den jungen Herrn Kollegen von der grünen Fakultät. Nur mein lieber verehrter Vorgänger im Redaktionsthron der »Jagdzeitung«, der in seiner Art wirklich unsterblich gewordene Dr. Wahrmund Riegler, schimpfte 1 ein klein wenig auf die allzuviele – Liebe, auf Eros im Gefolg der Diana. Aber er, der geschmackvolle Dichter und ausgezeichnete Kenner, war damals schon um die sechzig Jahre alt, und ich, o Venus, erst fünfundzwanzig; und er hatte vielleicht gerade einen seiner kritischen Tage, und schließlich ist ja das Alter immer wieder dazu da, die immer wieder schäumende Jugend zu zügeln; und er hatte manche Fabulierung wohl allzu buchstäblich genommen und gerade hier ein bißchen Jägerlatein nicht verstehen wollen; und im übrigen meinte er's herzlich gut, denn – – er forderte mehr. Und sieh, übers Jahr hatten wir die zweite Auflage, und aber zwei Jahre danach hatten wir die »Wundfährten«, und dann kam der »Böse Geist«, über den der alte Riegler kurz vor seinem verfrühten Hinscheiden noch ganz hellichterloh aus dem Häusel geriet, und dann kam das »Geheimnis«, und es kamen »Die Wundmale« – und so wurde aus dem Jäger der Schriftsteller, der heut nicht ohne vergnügte Rührung auf seine Anfänge zurückblickt und doch selbst in seinem Schaffen die Herkunft aus dem Walde, aus der Heimat des Märchens, der Sage und aller Poesie nie ganz verleugnen kann . . .
Der arme alte Kaiser ist seit sieben Jahren tot und hat nun drunten in der Kapuzinergruft vor Tschechen und Slowaken und Polacken und Morlacken seine ewige Ruh; sein großes schönes, sein armes altes Österreich ist tot, und die Tschechen und Slowaken und Polacken und Morlacken haben jeder mit seiner Beute weniger davon, als sie alle miteinander vom friedlich geordneten Ganzen gehabt; die berühmte Jagd Österreichs ist nahezu tot und fristet nur noch in wenigen entrückten Tälern ein geheimes Sagendasein; die ehrwürdige »Jagdzeitung« Albert Hugos alias Baron Schroll alias N. N. von 2 Habsburg ist endgültig tot, und ihre Makulaturleichen modern vergessen in den Grüften der G. m. b. H. gewordenen Verlagsbuchhandlung W. Braumüller; aber sieh einer her, ihr Sproß, das Büchel, mein altes Büchel lebt, und lebt so kräftig, daß es nach einer neuen Auflage und nach neuem Gewande schreit.
Viel Ehr fürwahr; aber ich kann nichts dawider tun. Mit der Vaterschaft an Büchern ist's ein eigen Ding. Du setzest sie leichtfertig in die Welt; gleich stehen sie schwarz auf weiß da und wollen nicht mehr in deine Munt zurück, wie sehr du lockst und bittest.
So mag denn dieser Band mit seinen kleinen bunten, allzu bunten Geschichten zum dritten Male unter die Menschen gehen, die da guten Willens sind, ihn zu lesen und aus eigenem Erleben heraus zu verstehen, was einst Jagd einem jungen heißen Menschen war.
Ich will nicht leugnen, daß ich heute dieselben Dinge anders schreiben, dieselben Bilder anders sehen, dasselbe Erleben wesentlich anders nachgestalten würde. Wer unter den Lesern etwa vom »Geheimnis«, von den »Wundmalen«, vom »Nackten Leben«, von »Ein Volk« freundlich Kenntnis genommen, wird das würdigen und begreifen. Das äußere Weltbild weitet, das innere vertieft sich.
Aber schließlich, es wird keiner mit dem hohen Kothurn am Fuße geboren. Auf allen Vieren beginnt jeder Lebensweg, auch der des Schriftstellers. Später erst lernt die mannbare Kunst in bewußtem Gleichgewichte dahinzuschreiten, und wenn sie alt und die Seele rheumatisch geworden, humpelt man grämlich am Stabe der Philosophie einher.
Ob ich am Ende auch schon hier angelangt, darüber wird am besten der Leser entscheiden, wenn er etwa die 3 neue Ausgabe von »Im Büchsenlicht«, meines Erstlings, mit dessen neuem Folgeband »Von der Strecke«, und in diesem letzteren wieder die einleitende »Resa« mit den beiden anderen Erzählungen vergleicht.
»Resa«, vor nun siebzehn Jahren im schweren Seegang spiralender Nachfieber einer bösen Krankheit geschrieben, in der Folge dutzendmal nachgedruckt und auch als Sonderausgabe einer Kriegsbücherei erschienen, eben diese vielgelesene »Resa« mußte aus Gründen räumlicher Verteilung mit zwei bisher noch nicht veröffentlichten, zum Stil und Gehalt der »Wundfährten« hinüberleitenden Erzählungen zu einem völlig neuen Buche zusammengeschlossen werden; möge sie auch in dieser Umgebung ihre alte Anziehungskraft bewähren und auf den ganzen Band übertragen.
Tief drunten in den Bergen der einst südösterreichischen Wildnis und Halbwildnis entstanden weitaus die meisten dieser Erzählungen, Skizzen, Stimmungsbilder; dort wurde ich zum Jäger – und durch den Jäger, durch Jagd und Wald zum, wenn man es gelten lassen will: Dichter . . . Nun hat sich alles geändert, umgestaltet, umgeschichtet . . . Österreich ist nicht mehr, sein Wild ist in die ewigen Jagdgründe ausgewechselt, seine Wälder und Völker verbrennen im pestigen Gluthauch der Industrie: – und auch »Resa« ruht vielleicht längst schon irgendwo unter schiefem Kreuz auf vergrastem Bergkirchhof; nur die Sonnwendfeuer leuchten wohl noch von nachtenden Sommerhöhen in silberne Ährenstille der Felder herab, und dem einst Mannes uraltewige Doppelliebe zu Wild und Weib im branddurchdämmerten Blütendunkel mythischer Kastanienhaine zum Erlebnis geworden, den verschlugen die Stürme seiner Lebensodyssee nach einem rauhen nordischen Hafen, an dessen Küsten keine 4 Maronen blühen, keine heidnischen Opferflammen mehr zu den Sternen lohen, und von dem er damals noch nicht einmal den Namen geahnt . . .
Es heißt, des göttlichen Dulders Odysseus Irrfahrt ging von Kirken zu Kalypso, von der freundlichen Kalypso zu den Phäaken. Vielleicht, wer weiß, schreibe ich das Geleitwort zum nächsten Bande von einem anderen, heut kaum erträumten Vorgebirge aus.
Ballenstedt am Harz, 1. April 1924.
Friedrich von Gagern.