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Erzählung.
Der Baron Arthur von Golenz saß in dem Garten seines kleinen Gutes, welches er den Sommer über bewohnte, weil der Arzt seiner kränklichen Gemahlin Ruhe und frische Luft empfohlen hatte, unter einer schattenden Linde. Ermüdet legte er das Buch, in dem er gelesen, auf den Tisch und richtete den Blick auf die ihm gegenübersitzende und mit einer weiblichen Arbeit beschäftigte Gattin.
»Du siehst heute viel wohler aus, Ella,« sprach er. »Deine Wangen fangen schon an sich leise zu röthen; es freut mich deshalb doppelt, daß ich dem Rathe des Arztes gefolgt und hieher gezogen bin.«
Die noch junge und schöne Frau, auf deren Gesichte ein durchgeistigter Hauch lag, ließ die Arbeit ruhen und blickte zu ihm auf. Aus ihren großen dunklen Augen sprach Milde und Innigkeit.
»Ich fühle mich auch gekräftigt,« erwiederte sie lächelnd. »Am besten bekommt die frische Luft Erwin; sieh, wie heiter das Kind hier spielt.«
Ihr Blick richtete sich auf einen in einiger Entfernung spielenden Knaben von vier Jahren, der auf dem kurz gehaltenen Rasen mit einem großen Neufundländer umhertollte und jedesmal laut aufjauchzte, wenn das unbeholfene Tier ihn auf den Rasen warf und über ihn hinwegsetzte.
»Ich erkenne den Jungen kaum wieder,« bemerkte der Baron, ein Mann von einigen dreißig Jahren, eine große, schlanke Gestalt. »In der Stadt war er stets still und ängstlich, und hier blickt er verlangend nach den höchsten Bäumen empor, so daß ich überzeugt bin, er würde hinaufklettern, wenn er es vermöchte. Hier wird ein ächter Junge aus ihm.«
»Um so mehr bedaure ich, daß Du hier so viel entbehren mußt,« fuhr die junge Frau fort. »Das stille, abgeschlossene Leben wird Dir nicht lange zusagen.«
»Beste Ella, was entbehre ich denn hier?« unterbrach sie der Baron lachend. »Habe ich nicht Dich und den Jungen hier? Oder hast Du mich hier schon ein einziges Mal verstimmt gesehen?«
»Nein, nein,« fiel Ella ein, indem sie dem Gatten die Hand entgegenstreckte, »ich weiß, daß Du uns dies Opfer gern bringst; allein ein Opfer ist es immerhin für Dich, denn Du bist zu sehr an das Leben und die Unterhaltung der Stadt gewöhnt, der Aufenthalt hier bietet Dir gar keine Zerstreuung und ich befürchte in der That, daß Du es auf die Dauer kaum ertragen wirst.«
»Sei ohne Sorge,« fuhr der Baron heiter fort, »ich bin allerdings kein Verehrer des Landlebens, verlange jedoch nicht mehr, wenn ich weiß, daß der Aufenthalt hier Dir und dem Jungen gut bekommt. Auch mir ist die Abwechslung ganz zuträglich, denn manche Unterhaltung, welche die Stadt bietet, fesselt nur dadurch, daß sie zur Gewohnheit wird. Sieh, ich habe mich oft in meinem Club gelangweilt und doch zog es mich täglich zu ihm, weil ich daran gewöhnt war.«
Der Junge auf dem Rasen hatte sich auf den Hund gesetzt und den Hals desselben mit beiden Armen umschlungen.
»Papa, ich reite!« rief er jubelnd.
Der Baron pfiff dem Hunde. Das Thier wollte sich der ungewohnten Last durch Schütteln entledigen, allein der kleine Reiter saß fest. In großen Sätzen eilte es auf seinen Herrn zu, die Last schien ihm indessen zu schwer zu werden, denn Roß und Reiter kugelten auf dem Rasen übereinander.
»Arthur, er wird Schaden nehmen!« rief Ella erschreckt und der Baron selbst sprang auf, um dem Kinde zu Hülfe zu eilen.
Es war nicht nöthig. Der Hund hatte den Reiter abgeworfen und sprang seinem Herrn entgegen, ebenso schnell hatte aber auch der kleine Kerl sich wieder aufgerafft und eilte dem Hunde jauchzend nach. Der Baron fing ihn in seinen Armen auf, hob ihn empor und küßte ihn auf die Stirn, dann trug er ihn zu seiner Frau, welche den hübschen und kräftigen Knaben innig umfing.
Es war ein stilles, friedliches Familienbild: unter der schattenden Linde, inmitten des sorgfältig gepflegten Parkes drei glückliche Menschen, welche sich nicht hinaus sehnten über den Kreis, der sie umgab, welche unter sich eine eigene Welt aufgebaut.
Mit der innigsten Liebe hingen die beiden Eltern an dem Knaben, ihrem einzigen Kinde, und manche Freude, welche das Leben ihnen versagt hatte, wurde ihnen durch das Kind reichlich ersetzt.
Arthur von Golenz stammte aus einer alten und reich begüterten Familie, von der ihm freilich nicht viel mehr als der Name übrig geblieben war. Sein Vater, der den Namen »der tolle Baron« geführt, hatte durch sein wüstes und verschwenderisches Leben fast das ganze Vermögen vergeudet, so daß nach seinem Tode für seine beiden Töchter, für Arthur und dessen um mehrere Jahre älteren Bruder Heino, der sich der militärischen Laufbahn gewidmet hatte, kaum so viel übrig geblieben war, daß sie davon, wenn auch nicht ohne Einschränkung, leben konnten.
Arthurs Jugendzeit war im Ganzen eine freudenleere gewesen, denn seine Mutter, deren stillen und ernsten Charakter er geerbt, hatte er früh verloren und seinem Vater war in seinem tollen Leben wenig Zeit übrig geblieben, sich um ihn zu kümmern. Er hatte überhaupt zu ihm, den er den »Träumer« nannte, wenig Zuneigung besessen und seine ganze Liebe auf Heino übertragen, der seinen eigenen Charakter besaß. Lachend hatte er die Schulden, welche der junge Husarenlieutenant gemacht, bezahlt und den tollsten Streichen desselben willig Vorschub geleistet, weil er überzeugt war, daß aus ihm ein tüchtiger Mann werden würde.
Arthurs Bildung war einem Hauslehrer anvertraut, ohne daß sein Vater sich je darum gekümmert hatte. Die Gesellschaften und Jagden, die Pferderennen und Spielabende hatten ihm keine Zeit gelassen. So hatte Arthur, dessen stillem Wesen das Studium am Meisten zusagte, sich viele Kenntnisse und eine tüchtige Bildung erworben, ohne sich zu einem bestimmten Berufe vorzubereiten. Daß die Vermögensverhältnisse seines Vaters schon damals arg zerrüttet waren, davon hatte er keine Ahnung gehabt.
Dieser Mangel in seiner Bildung, die Einseitigkeit derselben hatte sich erst nach dem Tode seines Vaters fühlbar gemacht, leider war es zu spät gewesen, um noch einen bestimmten Beruf zu erfassen. Er lebte einfach und bescheiden von dem ihm zu Theil gewordenen geringen Erbtheile, bis er durch seine Verheirathung das kleine Gut erhielt, welches wenigstens soviel eintrug, daß er anständig und ohne Sorgen leben konnte. Für sich wünschte er kaum mehr, denn sein Leben war äußerst einfach. In dem kleinen Kreise seiner Familie fand er volle Befriedigung, und seine Bibliothek gewährte ihm ausreichende Beschäftigung.
Mit seinem Bruder war er fast ganz zerfallen, denn ihre Charaktere waren zu verschieden und obenein hatte Heino stets mit einem Ausdrucke der Geringschätzung auf ihn herab geblickt. Heino, dessen Erbtheil im ersten Jahre durchgebracht war, hatte dann Schulden gemacht und war nach einigen Jahren eines Ehrenhandels wegen, in dem er sich Verschiedenes hatte zu Schulden kommen lassen, mit dem Charakter eines Rittmeisters pensionirt, während er nur die geringe Pension eines Lieutenants empfing.
Er war der ächte Sohn seines Vaters, stolz und leichtsinnig, ungebildet und verschwenderisch, der augenblicklichen Laune folgend, ohne zu bedenken, welche Folgen daraus erwachsen müßten. Seit Jahren lebte er eigentlich nur von Schulden und Arthur hatte ihn bereits verschiedene Male unterstützt, um ihn nicht gänzlich fallen zu lassen; freilich hatte er ihm endlich sagen müssen, daß er auf ihn nicht mehr rechnen möge, worauf der Rittmeister verächtlich mit der Achsel gezuckt und ihm den Rücken gewandt hatte.
Die beiden Brüder hatten sich lange Zeit nicht gesehen. Das friedliche Familienleben Arthurs wurde durch den Diener unterbrochen, der in den Garten trat und die Ankunft des Rittmeisters von Golenz meldete.
»Mein Bruder?« rief Arthur unwillkürlich und halb erschreckt, denn der Besuch desselben war für ihn noch immer mit Unannehmlichkeiten verknüpft gewesen. Er blickte zu seiner Gattin, auf deren Gesichte er dieselbe unangenehme Ueberraschung las.
»Ich werde sogleich kommen, – führe ihn in mein Zimmer,« befahl er dann dem Diener, mit Mühe vor demselben verbergend, wie unangenehm ihm dieser Besuch war.
Der Diener eilte in das Haus zurück.
»Arthur, es wird besser sein, wenn ich Deinen Bruder sogleich mit begrüße,« sprach Ella, welche dadurch ihrem Manne die unangenehme Begegnung zu erleichtern hoffte. »Meine Gegenwart zwingt ihn wenigstens, die Rücksichten zu nehmen, welche er selbst als Gast in Deinem Hause so gern vergißt.«
»Nein, nein!« fiel der Baron hastig ein. »Diese Aufregung will und muß ich von Dir fern halten, denn der Arzt hat Dir Ruhe empfohlen.«
»Glaubst Du, es regt mich nicht auf, wenn ich Dich in peinlicher Lage weiß?« bemerkte die junge Frau.
»Ella, ich bitte Dich bleib hier,« fuhr der Baron fort.
»Ich hoffe, daß mein Bruder nicht lange bleiben wird, denn weshalb er gekommen, ist ja nicht zweifelhaft.«
»Er will Geld haben?«
»Natürlich,« erwiederte der Baron aufgeregt; »sonst würde er sich nicht um mich kümmern, denn eine andere Theilnahme hat er mir nie gezeigt.«
»Dann gieb es ihm, Du ersparst Dir vielleicht Aerger dadurch.«
»Nein,« entgegnete der Baron mit Entschiedenheit, »Der Aerger würde mir doch nicht erspart werden. Ich muß ihm zeigen, daß ich fest bin, sonst wiederholt er das Ansinnen noch öfter, denn sein Ehrgefühl ist leider längst dahin. Ich komme bald wieder,« fügte er hinzu, indem er seiner Gattin die Hand reichte und sich dann rasch abwandte.
»Arthur, ich bitte Dich, rege Dich nicht auf!« rief Ella ihm nach.
Der Baron hörte diese Worte kaum noch. Er selbst hatte den Entschluß gefaßt, ruhig zu bleiben, derselbe war jedoch vergeblich, denn schon hatte die Aufregung seine Wangen geröthet.
Rasch trat er in das Haus und in sein Zimmer.
Der Rittmeister hatte bereits ungenirt auf dem Sopha Platz genommen. Er war eine große, hagere Gestalt, die mit jedem Jahre der seines verstorbenen Vaters ähnlicher wurde. Ein ausschweifendes Leben hatte sein Gesicht mit tiefen Furchen durchzogen und ließ ihn um mindestens zehn Jahre älter erscheinen, als er war. Seine etwas hervortretenden Augen, welche längst jeden Glanz verloren hatten, blickten dreist, trotzig und ohne jede edlere Empfindung.
»Guten Tag, lieber Bruder,« sprach er, als Arthur in das Zimmer trat, ohne sich vom Sopha zu erheben, die Kälte seines Tones ließ diese Worte wie einen Hohn erscheinen.
Arthur kannte diesen Ton und wurde jedesmal unangenehm durch ihn berührt, doppelt peinlich schlug er in diesem Augenblicke an sein Ohr.
»Du hast mich zu sprechen gewünscht,« erwiederte er.
»Natürlich,« fuhr der Rittmeister lachend fort. »Da ich Dich besuche, wünsche ich Dich auch zu sprechen, ich sehe freilich, daß Dir mein Besuch nicht sehr angenehm ist.«
»Es ist leider so,« bemerkte Arthur, sich zur größten Ruhe zwingend. »Du weißt ja, was uns trennt und was mich hindert, Dich, wie ich es so gern möchte, als Bruder freudig willkommen zu heißen.«
Der Rittmeister strich langsam mit der Rechten seinen langen, etwas verwilderten Bart, seine Augen ruhten mit einem halb lauernden, halb verächtlichen Ausdrucke auf Arthur.
»Ich weiß es?« wiederholte er. »Ich weiß nur, daß Du Dich, als wir uns zum letzten Male trafen, einer Geringfügigkeit wegen sehr unbrüderlich gegen mich benommen hast; es wäre mir lieb gewesen, wenn Du mich gar nicht daran erinnert hättest, ich will es jedoch vergessen, weil, um es kurz zu sagen, ein ähnlicher Zweck mich heute zu Dir führt. Ich gestehe Dir, daß es mir sehr peinlich ist, mich in dieser Angelegenheit an Dich wenden zu müssen, und doch blieb mir kein anderer Weg übrig.«
Arthur schwieg. Er wollte den Rittmeister erst ruhig aussprechen lassen, ehe er ihm antwortete, die Antwort stand bereits fest bei ihm.
»Ich bin in größter Verlegenheit,« fuhr der Rittmeister fort. »Ich habe einen Wechsel, der sich auf fünfzehn hundert Thaler beläuft, ausgestellt, derselbe ist morgen verfallen, ohne daß ich die geringste Deckung in Händen habe. Ich habe den Inhaber vergebens gebeten, den Wechsel zu prolongiren, er will es nicht, er besteht auf Bezahlung, wie Shylock auf seinem Schein. Kein Mittel, um mir das Geld zu verschaffen, habe ich unversucht gelassen, ich bitte Dich deshalb, mir dasselbe zu leihen, denn die Zumuthung, daß Du es mir schenken mögest, will ich nach unserem letzten Zusammentreffen nicht mehr an Dich stellen.«
Unwillkürlich glitt ein Lächeln über Arthur's Gesicht hin bei diesen Worten seines Bruders, welche derselbe mit größtem Ernste gesprochen hatte. Die Aeußerung, daß er das Geld leihen wollte, ohne die geringste Aussicht zu haben, es wieder bezahlen zu können, nöthigte ihm dieses Lächeln ab.
»Würde es nicht dasselbe sein, wenn ich Dir das Geld liehe, als wenn ich es Dir schenkte?« fragte er.
»Wie so?« warf der Rittmeister ein und hob den Kopf empor, als ob er diese Frage nicht verstehe und sich durch sie beleidigt fühle.
»Ich glaube, Du würdest nie die Mittel besitzen, um diese Schuld abzutragen.«
Der Rittmeister preßte die Lippen aufeinander, denn auf diesen Einwurf konnte er kaum etwas erwiedern.
»Ich muß das Geld haben,« fuhr er nach einigen Secunden fort. »Von dem Inhaber des Wechsels kann ich kein Mitleid erwarten, er hat gedroht, mich in Arrest bringen zu lassen, und er wird seine Drohung ausführen!«
»Es thut mir leid, allein ich kann Dir nicht helfen,« gab Arthur ruhig zur Antwort.
»Du willst nicht!« rief der Rittmeister aufgeregt. »Es scheint Dir gleichgiltig zu sein, ob Dein Bruder verhaftet, ob unser Name beschimpft wird! Um die Bagatelle von fünfzehnhundert Thalern willst Du mich preisgeben! Eines besseren Beweises von brüderlicher Liebe bedarf es kaum!«
»Es ist mir wahrlich nicht gleichgiltig, ob ein Golenz in das Schuldgefängniß wandert,« erwiederte Arthur; habe ich dies indessen verschuldet? Du machst mir Vorwürfe, während der Vorwurf allein Dich trifft. Ich habe Dich mehr als einmal aus Verlegenheiten gerettet und habe mich erst geweigert, dies zu thun, als ich einsah, daß mein Bemühen doch erfolglos sei. Und wenn ich jetzt Dir diese Summe, welche Du eine Bagatelle nennst, die für mich aber von Bedeutung ist, opfern wollte, was würde ich dadurch erreichen? Würde ich Dir wirklich damit helfen? Sie wäre weggeworfen, denn in kurzer Zeit würdest Du wieder in derselben Lage sein!«
»Sei ruhig!« unterbrach ihn der Rittmeister heftig. »Ich bin nicht hierhergekommen, um Vorwürfe zu hören, dieselben sind freilich wohlfeil, denn sie kosten nichts.«
»Ich würde gern die doppelte Summe hingeben, wenn ich nicht nöthig hätte, sie Dir zu machen,« bemerkte Arthur.
»Wenn Du es nicht nöthig hättest!« wiederholte der Rittmeister bitter lachend. »Ich bin freilich ein Thor gewesen, weil ich geglaubt habe, Du werdest mir helfen, um die Schmach von unserem Namen fern zu halten. Ich hatte; vergessen, daß Du durch Deine Verheirathung nicht allein eine bürgerliche Verbindung eingegangen bist, sondern auch bürgerliche Gesinnung angenommen hast. Deine Frau Gemahlin scheint Dich gut gezogen zu haben!«
»Halt!« unterbrach ihn Arthur, dem bei diesen Worten das Blut aus den Wangen geschwunden war, heftig. »Du weißt, daß ich über meine Frau nicht das geringste Wort dulde und am wenigsten von Dir. Ich habe es noch nicht eine Minute lang bereut, mich mit einer Bürgerlichen verbunden zu haben, denn ich habe bei ihr ein so edles Herz gefunden, wie ich es bei vielen unseres Standes vergebens suchen würde.«
Der Rittmeister zuckte halb gleichgiltig und halb wegwerfend mit der Achsel.
»Du wirst mich nie hindern, meine Ueberzeugung offen auszusprechen,« bemerkte er.
»In diesem Hause gewiß, denn hier stehen mir besondere Rechte zur Verfügung.«
Der Rittmeister sprang auf, sein starres Auge blickte drohend, voll Haß.
»Sprich Dich deutlicher aus!« rief er. »Welches Recht steht Dir hier zur Verfügung?«
Arthur war ruhig stehen geblieben. Wohl verrieth das leise Zucken seiner Lippen seine gewaltige innere Erregung, Furcht kannte er nicht.
»Das Recht, dem dieses Haus zu verbieten, der ohne Hochachtung von meiner Frau spricht,« entgegnete er fest.
»Das wagst Du mir zu sagen! Du vergißt, wer ich bin! Ich würde Genugthuung von Dir verlangen, wenn Du nicht der Sohn meines Vaters wärest und wenn ich erwarten dürfte, daß Du Dir noch so viel adelichen Sinn bewahrt hättest.«
Arthur zuckte zusammen, er wollte heftig antworten, in diesem Augenblicke trat die Baronin in das Zimmer.
Sie war eine schlanke, zarte Erscheinung, aus ihren Zügen und ihren großen Augen sprach Milde und Sanftmuth, und doch vermochten diese Augen auch zu imponiren, wenn sie ernst und streng blickten. Die zarte Gestalt schien dann zu wachsen, ein Hauch von Hoheit umgab sie.
»Entschuldige, Arthur, daß ich eintrete,« sprach sie, indem sie sich gegen den Rittmeister kalt grüßend verneigte. »Der Zufall ließ mich die letzten Worte vernehmen, als ich an der Thür vorüberging, ich hörte, daß ich die Veranlassung zu dem, was Dich erregt hat, bin.«
Arthur trat ihr entgegen.
»Nein, nicht Du, Ella,« entgegnete er, »sondern nur eine tactlose Aeußerung meines Bruders.«
Der Rittmeister strich seinen Bart. Er haßte seine Schwägerin, weil er ihrem Einflusse die Schuld beimaß, daß sein Bruder ihm kein Geld mehr geben wollte; dennoch hatte er ein Gefühl der Verlegenheit in ihrer Gegenwart nie überwinden können, er empfand, daß er einem Wesen gegenüberstand, das durch seine Reinheit und seinen edlen Charakter eine unbesiegbare Waffe besaß.
Halb vorwurfsvoll, halb drohend blickte er seinen Bruder an.
»Ich glaube, unser Gespräch ist beendet,« sprach er. »Denn jetzt darf ich wohl am wenigsten erwarten, daß Du meiner Bitte nachgiebst.«
»Ich werde Dir das Geld nicht geben,« entgegnete Arthur kurz.
Wieder warf der Rittmeister einen drohenden Blick auf ihn.
»Gieb es, ich bitte Dich!« warf Ella halblaut ein.
»Nein, die Summe ist zu groß, um sie wegzuwerfen,« gab Arthur zur Antwort. »Ich würde Erwin darum berauben!«
»Wegzuwerfen!« rief der Rittmeister. »Wegzuwerfen, sagst Du, wo Du weißt, daß Du mich retten kannst! Dies Wort sollst Du schwer bereuen, es entbindet mich jeder Rücksicht und löst das mir längst lästige Band, daß Du mein Bruder bist. Du wirst an mich denken lernen!«
Heftig erregt stürmte er aus dem Zimmer und aus dem Hause.
Der Baron versuchte nicht, ihn zurückzurufen. Seine Entfernung erleichterte ihm die Brust, und doch lag es noch schwer genug auf derselben. Es schmerzte ihn, daß er gegen den Bruder hatte hart sein müssen, und doch durfte er nicht anders handeln. Ja, das Band, welches sie verknüpft hatte, war zerrissen; war es auch nicht durch seine Schuld geschehen, so erschütterte es ihn doch tief, denn es war ihm, als ob dadurch ein Frevel gegen die Natur geschehen sei.
Starr blickte er vor sich hin und bemerkte es nicht einmal, daß Ella die Hand beruhigend auf seine Schulter legte. Die drohenden Worte seines Bruders hallten in ihm wieder.
»Sei ruhig,« bat Ella und strich ihm mit der Hand über die Stirn hin. »Du hättest ihm das Geld geben sollen, dann würdest Du Dir die Aufregung erspart haben.«
Der Baron schüttelte verneinend mit dem Kopfe.
»Nicht aus Härte habe ich seine Bitte abgeschlagen,« sprach er, »ich habe den Entschluß längst gefaßt und in Ruhe erwogen. Hätte ich ihn wirklich dadurch retten können, so würde ich ihm gern das Opfer gebracht haben, ich muß mir indessen gestehen, daß ich seinem Leichtsinn dadurch nur Vorschub leiste. Es klingt vielleicht hart von mir, dennoch halte ich ihn für verloren, weil er nicht den Willen hat, sich zu ändern, und ich glaube, er besitzt auch die Kraft nicht mehr dazu. Wenn ich allein stände und gegen Niemand weiter Verpflichtungen hätte, würde ich seiner Bitte vielleicht nachgegeben haben, jetzt hätte ich Dir und unserem Kinde Unrecht gethan, denn Euch hätte ich es entzogen.«
»Und doch würde ich viel darum gegeben haben, wenn Ihr in Frieden geschieden wäret, seine Drohung hat mich erschreckt,« warf die junge Frau ein.
»Es waren die Worte eines Zornigen,« suchte Arthur seine Frau zu beruhigen, »ich fürchte sie nicht. Unsere Wege berühren sich so selten, daß vielleicht lange Jahre hingehen werden, ehe ich wieder mit ihm zusammentreffe. Vergiß das Gehörte, komm, wir wollen in den Garten zurückkehren. Unser Glück und unsern Frieden zu stören, reicht seine Macht doch nicht aus!«
Lächelnd erfaßte er Ella's Hand und zog sie mit sich hinaus in den Garten. Es war still und friedlich dort wie zuvor. Kein störender Laut drang hin zu dem Platze unter der Linde, die Vögel in den Bäumen sangen so lustig, der Knabe, welcher auf dem Rasen spielte, eilte den Eltern jubelnd entgegen, sie lächelten zu ihm hinab und doch lag in diesem Lächeln etwas Erzwungenes. Der Frieden war doch schon getrübt, wenn auch nur auf kurze Zeit. Oder war es schon der Schatten, den ein späteres Ereigniß vorauswarf?
Es ist dem Menschen nicht vergönnt, in die Zukunft zu blicken und doch ziehen oft trübe Ahnungen durch seine Seele hin, wenn ihm Schweres bevorsteht. Es ist oft wie ein Vorbereiten des Geschickes, damit der Schlag, der ihm bestimmt ist, ihn nicht in dem vollen Lichte seines Glückes trifft.
Arthur saß am Nachmittage des folgenden Tages auf seinem Zimmer. Die Begegnung mit seinem Bruder hatte ihn tief erschüttert, noch zitterte die Erregung in ihm nach und in seinem Innern hallten die harten Worte des Rittmeisters wieder. Er wollte dieses seiner Frau verbergen, die ohnehin durch den Auftritt gelitten hatte, wie die Blässe ihrer Wangen verrieth.
Den Kopf auf die Hand gestützt, saß er da. Sein Bruder erschien ihm weniger schuldig, als er an dessen Jugend und Erziehung zurückdachte. Hatte der Vater nicht Heino's Leichtsinn absichtlich begünstigt, hatte er ihn nicht zur Verschwendung herangezogen, da er ihm das Geld stets mit vollen Händen gegeben?
Er erinnerte sich, daß sein Vater, als Heino als junger Lieutenant in einer Nacht all' sein Geld und obenein sein werthvolles Pferd verspielt hatte, ihm lachend zurief: »Laß den Kopf nicht hängen, Heino, sondern such Dir ein anderes Pferd aus meinem Stalle aus! Ein Offizier, der nicht spielt und nicht wettet, ist kein rechter Offizier!«
Immer tiefer versenkte er sich in die Vergangenheit, als Ella sichtbar aufgeregt zu ihm ins Zimmer trat.
»Ist Erwin nicht bei Dir?« fragte sie.
»Nein, suchst Du ihn?«
»Ich hatte mich auf mein Zimmer begeben und ihn im Garten gelassen; er spielte dort wie so oft, jetzt ist er nicht mehr dort. Ich habe ihn gerufen und gesucht, ohne ihn zu finden.«
Die größte Angst sprach aus den Zügen der jungen Frau.
»Sei ruhig, Ella,« bat Arthur sich erhebend. »Der Junge ist vielleicht aus dem Parke hinausgelaufen, ich werde ihn schon finden. Er ist für sein Alter sehr verständig, ohnehin kann er hier keinen Schaden nehmen.«
Ella sank auf einen Stuhl und ihre Thränen drängten sich gewaltsam hervor. Schon der Gedanke, daß ihr Liebling Schaden genommen habe, trieb sie fast zur Verzweiflung. Arthur suchte sie vergebens zu beruhigen, auf ihr lag eine Angst, welche sie nicht zu verscheuchen im Stande war.
»Bleib hier, Ella!« rief Arthur. »Ich werde den Jungen bald bringen, er wird in den Wald gelaufen sein und dort werde ich ihn finden.«
Er eilte aus dem Zimmer, auch ihn erfaßte eine unsagbare Angst. Die Diener und die Mägde hatten den Park und den Gutshof bereits durchsucht.
»Habt Ihr ihn nicht gefunden?« rief der Baron ihnen zu.
»Nein, im Park ist er nicht,« gab der Diener zur Antwort.
»Ist der Hund bei ihm?«
»Nein, der Hund ist im Hause,« entgegnete der Diener.
Arthurs Angst wuchs, denn der Hund wäre für den Knaben ein Schutz gewesen, da er sich auf die Treue und Klugheit des Thieres verlassen konnte.
»Alle Knechte und Arbeiter auf dem Hofe sollen Erwin mit suchen,« befahl er. »Vertheilt Euch über das Feld und den Wald, ruft laut seinen Namen, denn es ist möglich, daß er ermüdet eingeschlafen ist.«
Er selbst durchsuchte noch einmal den Park, in dem er jeden Spielplatz des Knaben kannte, dann eilte er in den Wald, der sich unmittelbar an den Park anschloß. Laut rief er den Namen des Kindes, keine Antwort erfolgte. Hastig eilte er weiter, der Angstschweiß stand auf seiner Stirn, seine Knie zitterten, seine Lippen vermochten kaum noch den Namen des Knaben zu rufen.
Da fand er Erwin's Peitsche im Walde im Grase. Neue Hoffnung leuchtete in ihm auf. Er hatte wenigstens die Gewißheit, daß der Knabe hier gewesen und er war fest überzeugt, daß er ihn nun bald finden werde.
Der Wald nahm ein Ende, eine weite Heidefläche schloß sich daran, sein Auge glitt suchend über die Ebene, den Knaben erblickte er nicht. Konnte das Kind nicht auf seinem andern Wege zum Gute zurückgekehrt sein?
Vielleicht ruhte es schon in den Armen seiner Mutter.
Auf anderem Wege kehrte er zurück, durch Hoffnung suchte er sich zu beruhigen. In dem Parke kam ihm Ella entgegen; aus der Verzweiflung ihrer Züge erkannte er sofort, daß der Knabe noch nicht aufgefunden war.
»Hast Du ihn gefunden?« rief Ella ihm entgegen.
Seine Lippen versagten die Antwort, es bedurfte derselben auch nicht; die Angst, welche aus seinen Zügen sprach, verrieth sein vergebliches Bemühen.
»Allmächtiger Gott!« schrie die junge Frau auf und wankte.
Arthur sprang noch schnell genug hinzu, um sie in seinen Armen aufzufangen. Ella war ohnmächtig. Neue Besorgnisse stürmten auf ihn ein. Es drängte ihn, seinen Knaben zu suchen und doch konnte er seine Frau nicht hülflos zurück lassen.
Die meisten der ausgesandten Leute kehrten zum Parke zurück, ihr Suchen war ohne Erfolg gewesen.
Ella kam wieder zu sich.
»Suche Erwin,« war ihr erstes Wort.
Durch die Dienerin ließ Arthur sie in das Haus geleiten, dann stellte er sich an die Spitze der Leute, um mit ihnen den Vermißten zu suchen. Einen Boten sandte er zum nahen Dorfe.
»Das ganze Dorf soll sich aufmachen und ihn suchen,« rief er dem Boten zu. »Ich verspreche dem, der ihn findet, reiche Belohnung.«
Der Bote eilte fort, so schnell als seine Kräfte gestatteten. Es zeigten sich überhaupt Alle mit Freuden bereit, den Baron zu unterstützen, da er mild und freundlich gegen seine Untergebenen war.
Aufs Neue zog er mit den Leuten in den Wald. Er hatte den Hund mit genommen und das kluge Thier schien zu begreifen, um was es sich handelte. Als er an die Stätte geführt wurde, wo Arthur die Peitsche gefunden hatte, wurde er lebhafter und aufgemuntert lief er in gerader Richtung dem Ausgange des Waldes zu, durch die Haltung des Kopfes verrathend, daß er einer bestimmten Spur folgte.
Arthur folgte ihm mit mehreren Leuten. Wohl drohten seine Kräfte zu schwinden, die neu erwachte Hoffnung hielt dieselben jedoch noch aufrecht.
Eine Strecke lang in die Haide hinein folgte der Hund der Spur, dann schien er sie zu verlieren. Alle Aufmunterungen dieselbe wieder zu finden, blieben erfolglos. Das Thier suchte ringsumher und schien traurig zu werden, weil sein Bemühen nicht gelang.
Arthur hatte die feste Ueberzeugung gewonnen, daß der Knabe hier vorübergekommen sei. Er vertheilte die Leute und eilte über die Haide hin. Sein Kopf brannte fiebernd, die Augen schmerzten von der Anstrengung, die Lippen versagten den Dienst, weil sie zu oft den Namen seines Kindes gerufen. Mehr als einmal brach er erschöpft zusammen. Der Diener wollte bei ihm bleiben und ihm Beistand leisten.
»Nein, nur weiter, – such Erwin!« rief Arthur, und dann raffte er sich selbst wieder auf und folgte den Vorausgeeilten.
Der Abend brach herein, mit ihm steigerte sich seine Verzweiflung. Er dachte an die Angst des Knaben, wenn er verirrt, allein die Nacht im Freien zubringen mußte.
Die Bewohner des Dorfes waren willig seinem Rufe gefolgt, mit einer Anzahl derselben traf er auf der Haide zusammen, sie hatten dieselbe bereits nach anderer Richtung durchsucht.
Stundenlang war er umhergeeilt, die Nacht war hereingebrochen. Er ließ einen Theil der Leute in der Haide, um dem Knaben zu Hülfe zu eilen, wenn sie vielleicht seine Stimme vernehmen sollten, mit den übrigen kehrte er zum Gute zurück.
Ihm bangte, seiner Frau entgegen zu treten. Was sollte er ihr sagen, womit sie beruhigen, da er selbst von der unsagbarsten Angst gefoltert wurde. Er wagte nicht einmal zu hoffen, daß das Kind während der Zeit aufgefunden sei und sich bei seiner Mutter befinde. Diese Hoffnung würde ihn auch getäuscht haben.
Ella saß in ihrem Zimmer und blickte, als er zu ihr trat, ihn schweigend, mit starren Augen an. Sie schien keine Thräne mehr zu haben. Er wollte auf sie zueilen, wollte sie zu trösten versuchen – seine Kraft war dahin. Er sank auf einen Stuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Ella trat zu ihm.
»Arthur, bleib hier, ich will ihn suchen,« sprach sie. Ihre Stimme klang tonlos wie die einer Geisteskranken. Sie schritt zur Thür, dort sank sie nieder.
Der Schmerz, die Verzweiflung seiner Frau schnitt Arthur doppelt tief ins Herz. Noch einmal raffte er seine Kräfte zusammen. Er ließ den erschöpften Leuten, welche ihm beim Suchen behülflich gewesen waren, Wein geben, dann brach er mit ihnen aufs Neue auf, um den Verlorenen zu suchen. Eine Anzahl der Männer trug Fackeln, vielleicht lockte ihr Schein den Verirrten herbei. Nach allen Richtungen hin wurden die Suchenden vertheilt.
Noch einmal wurde der ganze Wald und die Haide durchsucht, jedoch ohne Erfolg.
Als der Baron zum Gute zurückkehrte, schien längst die Märzensonne. Er glaubte nicht mehr, daß das Kind sich verirrt habe, denn der vierjährige Knabe konnte nicht so weit gegangen sein, als sie nach allen Richtungen hin die Gegend durchforscht hatten, ebenso wenig war zu befürchten, daß er verunglückt sei, denn in der Nähe befand sich weder ein Fluß noch ein Teich.
Ein anderer Gedanke war in Arthur aufgestiegen: irgend Jemand hatte den Knaben entführt und sein erster Verdacht fiel auf seinen Bruder. Derselbe hatte ihn mit einer Drohung verlassen und dem Charakter desselben war es zuzutrauen, daß er ein solches Mittel gewählt habe, um sich zu rächen, oder Geld zu erpressen.
Derselbe Verdacht war auch in Ella aufgestiegen und sie theilte ihn Arthur mit.
»Ich werde sofort zur Stadt zu meinem Bruder reiten!« rief Arthur.
»Nicht sofort,« bat Ella, der die bleichen Wangen ihres Gatten Besorgniß einflößten. »Du bist zu erschöpft, gönne Dir nur kurze Zeit Ruhe.«
Arthur schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.
»Es giebt keine Ruhe für mich, bis ich Erwin Dir wieder gebracht habe,« entgegnete er.
Das Herz der unglücklichen Mutter war durch die Größe des Schmerzes bereits so sehr abgestumpft, daß es nicht einmal mehr zu hoffen wagte. Es war ihr, als ob nie ein Schimmer des Glückes ihr wieder leuchten könne, als ob Alles, was ihr Leben erhellt hatte, ausgelöscht sei für immerdar.
Der Baron sprengte zur Stadt, während er durch eine Anzahl Männer noch einmal die Gegend im weitesten Umkreise durchsuchen ließ. Er hatte für die Auffindung seines Kindes einen hohen Preis ausgesetzt, und das lockte Manchen, um denselben zu verdienen. Selbst von anderen Dörfern, wohin die Nachricht gedrungen, waren zu diesem Zwecke Männer herbeigeeilt.
Nur die Aufregung hielt Arthurs Kräfte aufrecht. Als er in der Stadt angelangt war, trank er hastig ein Glas Wein und begab sich dann zu seinem Bruder.
Der Rittmeister blickte überrascht auf, als Arthur in sein Zimmer trat.
»Ah, Deinen Besuch hatte ich nicht erwartet,« sprach er.
Arthur antwortete hierauf nicht, er hörte diese Worte kaum.
»Wo hast Du Erwin, mein Kind?« rief er erregt, heftig.
Der Rittmeister blickte ihn fragend an.
»Wen?« fragte er.
»Meinen Sohn! Du hast ihn entführt, Du hast ihn mir geraubt!« rief Arthur leidenschaftlich. »Du hast ja gedroht, daß ich an Dich denken solle, ich habe freilich nicht geglaubt, daß Deine Rache zu einem so teuflischen Mittel greifen werde.«
»Ich verstehe Dich noch immer nicht, – was ist denn mit Deinem Kinde?« warf der Rittmeister ein.
»Du hast ihn mir geraubt, seit gestern Nachmittag ist er fort! Ich habe ihn gesucht seit der Zeit, die ganze Nacht hindurch, noch habe ich mir keine Minute Ruhe gegönnt, mein Kopf glüht – oh, ich glaube, ich werde wahnsinnig.«
»Ich weiß von Deinem Knaben nichts,« entgegnete der Rittmeister unwillig.
Arthur trat in höchster Aufregung an ihn heran und erfaßte seinen Arm, er drückte ihn krampfhaft fest.
»Heino, sage wo er ist!« rief er. »Gieb ihn mir zurück und ich will Dir verzeihen, welche unsagbare Angst Du uns bereitet hast! Ich will jeden Deiner Wünsche erfüllen, ich will Dir Tausende geben, nimm diese Qual von mir!«
»Ich habe Deinen Knaben nicht, ich weiß nicht, wo er ist.«
»Du hast ihn!« fuhr Arthur fort und schüttelte des Bruders Arm. »Treibe mich nicht zur Verzweiflung! Wenn Du kein Erbarmen fühlst, so werde auch ich keins empfinden mit Dir.«
Unwillig entzog der Rittmeister dem Erregten den Arm. Er fühlte kein Mitleid, am wenigsten mit dem vermißten Kinde. War der Knabe nicht die Ursache, daß Arthur ihm keine Unterstützung mehr gewährte? Er wollte dem Bruder heftig antworten und ihn ersuchen, sein Zimmer zu verlassen, als ein anderer Gedanke in ihm auftauchte. Konnte er Arthurs Erregung nicht leicht zu seinem eigenen Nutzen verwerthen? Ueber sein verlebtes und durchfurchtes Gesicht glitt ein Lächeln hin.
»Ich habe Deinen Knaben nicht,« erwiederte er freundlicher. »Ich werde Dich indessen gern in der Aufsuchung desselben unterstützen und glaube, daß es mir gelingen wird, ihn zu finden. Wie hoch schätzest Du meine Bemühung?«
Er hatte die Worte, daß er den Knaben zu finden glaube, besonders betont und was er dadurch bezweckte, erreichte er, da Arthur noch immer glaubte, daß er das Kind entführt habe.
»Verlange, was Du willst!« rief Arthur.
»Nun, zweitausend Thaler wird Dir meine Bemühung wohl werth sein.«
»Du sollst sie haben.«
Der Rittmeister zog langsam die Schultern in die Höhe.
»Ich zweifle nicht, daß Du Dein Versprechen halten wirst, ich brauche das Geld jedoch nothwendig – heute noch. Wenn es Dir also möglich ist, es mir sofort zu verschaffen, so … «
Er beendete seine Worte nicht.
»Ich eile, es zu holen!« entgegnete Arthur, welcher wußte, daß er diese Summe von einem Banquier sofort erhalten werde.
Er eilte fort.
Der Rittmeister rieb sich vergnügt die Hände. Er empfand nicht das geringste Mitgefühl an der Angst seines Bruders, sein Gewissen schlug nicht, weil er einen tief Bekümmerten betrog. Er hatte ihm ja nicht mehr versprochen, als ihm beim Aufsuchen des Vermißten behülflich zu sein; war es seine Schuld, wenn Arthur in seiner Aufregung diesen Worten eine andere Bedeutung unterlegte?
»Es geht nichts über einen schlauen Kopf!« rief er, indem er aufstand und lachend im Zimmer auf und ab schritt.
Nach kurzer Zeit kehrte Arthur zurück.
»Hier hast Du das Geld!« rief er, die Summe auf den Tisch legend. »Nun gieb mir mein Kind zurück!«
Der Rittmeister steckte das Geld erst ein, ehe er antwortete.
»Lieber Bruder, ich habe Deinen Knaben nicht, ich will indessen Alles aufbieten um ihn zu suchen und ich glaube …«
»Heino – Heino, habe Mitleid mit meiner Angst!« unterbrach ihn Arthur. »Du fürchtest Dich vielleicht, einzugestehen, daß Du den Knaben entführt hast – ich will es Dir verzeihen, ich verspreche Dir, nichts gegen Dich zu unternehmen – treibe mich nicht zur Verzweiflung!«
»Ich weiß auf Ehre nicht, wo Dein Kind ist!« versicherte der Rittmeister. »Ich habe Dir aber versprochen, Dir beim Aufsuchen desselben behülflich zu sein und ich halte mein Wort!«
Arthur blickte den Bruder starr an. Die Ahnung, dass er von demselben getäuscht sei, stieg in ihm auf und erbittert preßte er die Zähne auf die Unterlippe. Nicht die zweitausend Thaler ärgerten ihn, denn das Geld hatte ohnehin keinen Werth mehr für ihn, wenn er seinen Sohn nicht wiederfand, ihn schmerzte, daß sein Bruder seine verzweiflungsvolle Lage und seine Angst benutzt hatte, um ihn zu täuschen.
Ohne ein Wort zu erwiedern stürzte er fort aus dem Zimmer und aus dem Hause. Die Hoffnung, welche ihn aufrecht erhalten, als er hierher geeilt war, war wieder vernichtet. Was sollte er nun beginnen? Die Menschen, welche auf der Straße an ihm vorüber schritten, schienen sämmtlich so heiter zu sein, von seinem Elende hatten sie keine Ahnung.
Endlich dachte er daran, der Polizei von dem Verschwinden des Kindes Anzeige zu machen; er kannte einen Polizei-Commissär Ruge, zu ihm begab er sich und traf ihn zu Hause.
»Sie vermuthen, daß das Kind entführt ist?« fragte der Commissär, als Arthur ihm Alles mitgetheilt hatte.
»Es ist kaum eine andere Möglichkeit. Wir haben die ganze Gegend in einem Umkreise von mindestens drei bis vier Stunden durchsucht, ohne den Knaben gefunden zu haben. Er allein würde nicht soweit gekommen sein, ohne zu ermüden.«
»Kann er nicht verunglückt sein?«
»Nein, es ist weder ein Teich, noch ein Fluß in der Nähe.«
»Haben Sie irgend einen Verdacht, wer das Kind entführt haben könnte?«
Arthur zögerte, den Namen seines Bruders auszusprechen, er that es endlich, indem er dem Commissär die Begegnung mit seinem Bruder und die Drohung desselben mittheilte.
Ruge schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe. Er kannte den Rittmeister und dessen leichtsinniges Leben, gleichwohl traute er ihm eine solche That nicht zu.
»Ist Ihr Bruder gestern in der Nähe Ihres Gutes gesehen worden?« fragte er.
»Ich weiß es nicht.«
»Gut, dann werde ich zunächst nachforschen, ob der Rittmeister gestern die Stadt verlassen hat.«
»Kann er die That nicht durch einen Andern haben ausführen lassen?« warf Arthur ein.
»Die Möglichkeit ist nicht zu bestreiten,« gab Ruge zur Antwort. »Ich zweifle nur, ob er die Mittel besitzt, einen Anderen für solche That zu gewinnen. Einen weiteren Verdacht haben Sie nicht?«
Arthur sann nach, er strich mit der Hand über die heiße, schmerzende Stirn.
»Nein. Ich habe seit dem Vermissen des Kindes noch keine ruhige Minute gehabt, um alle Möglichkeiten zu erwägen, ich bin auch dazu nicht im Stande, denn mein Kopf schmerzt, ich kann keinen Gedanken mehr fassen.«
»Ich begreife das vollkommen, deshalb werde ich mich der Sache annehmen,« bemerkte der Commissär.
»Thun Sie das!« bat Arthur. »Bieten Sie alle Kräfte auf, welche Ihnen zu Gebote stehen, ich werde den reich belohnen, der mir mein Kind wieder bringt!«
»Ich werde wahrscheinlich heute noch zum Gute hinauskommen,« sprach der Commissär. »Hoffentlich ist Ihr Sohn bis dahin bereits gefunden.«
Arthur schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe, er hatte bereits verlernt zu hoffen.
»Und wenn Sie den Wald noch so genau durchsucht haben, so kann das Kind doch darin versteckt gewesen sein und ist vielleicht von selbst, während Sie hier sind, zurückgekehrt,« fuhr Ruge beruhigend fort. »Es waltet über dem Leben eines Kindes oft ein wunderbar schützendes Geschick; geben Sie die Hoffnung nicht auf, denn Sie werden Ihren Knaben wieder sehen.«
Diese Worte übten auf Arthur nur wenig Eindruck aus. Die Aufregung, die Abspannung und der Schmerz hatten ihn abgestumpft, er dachte nur noch an die Verzweiflung seiner unglücklichen Frau.
Als er auf dem Gute wieder anlangte, fand er Ella in einem Zustande, der eine neue Besorgniß auf ihn häufte. Sie lag theilnahmlos, fiebernd da. Ihre ohnehin schwache Gesundheit hatte diesem gewaltigen Sturme nicht zu widerstehen vermocht. Ohne Zögern schickte er einen Boten zur Stadt, um den Arzt zu holen.
Von Erwin war noch keine Spur aufgefunden, obschon noch immer eine Anzahl Männer, durch den hohen in Aussicht gestellten Preis angelockt, die Gegend suchend durchstreiften.
Gegen Abend kam der Commissär; er konnte Arthur die Versicherung geben, daß sein Bruder das Kind nicht entführt habe.
»Ich habe sehr sorgfältig nachgeforscht,« sprach er. »Der Rittmeister hat gestern das Zimmer nicht verlassen, weil er sich unwohl fühlte, es ist auch Niemand bei ihm gewesen, auch heute nicht, außer Ihnen. Hätte er die That durch einen Anderen ausführen lassen, so würde ihm jedenfalls Mittheilung über das Gelingen derselben gemacht sein.«
Er blieb auf dem Gute und benutzte den Rest des Tages dazu, sich noch einmal über jede Einzelheit in Betreff des Kindes genaue Auskunft zu verschaffen. Da die Nachforschungen, welche den ganzen Tag über angestellt waren, erfolglos gewesen, so neigte auch er sich der Ansicht zu, daß der Knabe entführt sei. Hierauf hin richtete er am folgenden Tage seine Nachforschung.
Er suchte zunächst zu erforschen, ob an dem Tage nicht eine irgend wie verdächtige Person in der Gegend gesehen sei. Seine Bemühung blieb am ersten Tage erfolglos, er gab jedoch die Hoffnung noch nicht auf, sondern dehnte den Kreis seiner Nachforschung am folgenden Tage weiter aus.
Bereitwillig stellte der Baron ihm ein Pferd zur Verfügung. Das Glück schien ihm günstig zu sein. Ein Knabe, welcher im Walde Holz sammelte und mit dem er sich in ein Gespräch einließ, theilte ihm mit, daß vor mehreren Tagen ein Nagelhändler, der eine Karre geschoben, ihm mit einer Frau und einem ungefähr vier Jahr alten Knaben im Walde begegnet sei und nach dem Wege zum nächsten Dorfe gefragt hätte.
»Wie sah das Kind aus?« fragte Ruge.
Der Knabe vermochte weiter keine Auskunft zu geben, als daß das Kind sowohl wie der Mann und die Frau ärmlich gekleidet gewesen seien.
»Ich hielt sie Anfangs für Bettler, bis der Mann mir sagte, daß er mit Nägeln handle,« fügte er hinzu.
»Schlugen sie den Weg zu dem Dorfe ein?« forschte der Commissär.
»Ja, sie fragten auch nach dem Wirthshause des Dorfes und auch dieses habe ich ihnen bezeichnet.«
Ohne Zögern ritt Ruge dem Dorfe zu, fest überzeugt die Spur des Entschwundenen gefunden zu haben, wenn schon die Angaben des Knaben sehr unbestimmt gewesen waren. In dem Dorfe angelangt, begab er sich sofort in das Wirthshaus und der Wirth bestätigte ihm, daß der Nagelhändler mit seiner Frau und einem Knaben bei ihm gewesen sei.
»Können Sie mir genau sagen, an welchem Tage dies war?« forschte der Commissär.
Der Wirth kam seiner Aufforderung nach. Die Zeit, welche er nannte, war zwei Tage vor dem Verschwinden Erwins.
»Irren Sie auch nicht?«
»Nein,« erwiederte der Wirth mit Bestimmtheit. »Ich weiß es ganz genau, es war vor acht Tagen. Liegt gegen den Mann irgend etwas vor?« fügte er hinzu.
Ruge theilte ihm seinen Verdacht mit, daß das Kind der geraubte Knabe des Barons gewesen sei.
Der Wirth lachte.
»Herr Commissär, darüber kann ich Sie beruhigen,« rief er. »Das Kind gehörte dem Nagelhändler, denn er war mit demselben Knaben schon einmal vor ungefähr einem halben Jahre bei mir und ich meine auch, der Mann wird nie ein fremdes Kind entführen!«
»Weshalb nicht?«
»Weil ihm das eigene bereits Last und Kosten genug macht. Für Jemand, der das ganze Jahr im Lande umherzieht, ist es kein Vergnügen, solch ein Kind mit sich zu führen. Was sollte er auch mit dem fremden Kinde, da er kaum soviel hat, um sein eigenes zu ernähren!«
Diese Gründe waren für den Commissär überzeugend. Die Hoffnung, welche sich ihm gezeigt hatte, war wieder entschwunden; es wäre Thorheit gewesen, der Spur des Nagelhändlers weiter nachzuforschen, da er an der Wahrheit der Aussage des Wirthes nicht zweifeln konnte.
Zwei Tage lang setzte er seine Nachforschungen noch fort, ohne die geringste Spur weiter gefunden zu haben, dann gab er dieselben auf. Er konnte gegen den Baron nur die traurige Ueberzeugung aussprechen, daß sein Kind verunglückt sein müsse, da es ihm nicht gelungen sei, die geringste Spur von ihm zu entdecken.
Arthur empfing diese Mittheilung mit dumpfer Abgestumpftheit, denn es war mehr auf ihn eingestürmt, als er zu ertragen vermochte. Er saß jetzt an dem Krankenbette seiner Frau, für deren Leben der Arzt sehr besorgt war.
Der Gedanke, daß er auch sie verlieren könne, daß sein ganzes Glück mit einem Schlage vernichtet sei, trieb ihn fast zur Verzweiflung. Er bat den Commissär, die Nachforschungen fortzusetzen, nicht weil er noch Hoffnung hegte, sondern um sich sagen zu können, daß er nichts versäumt habe. War sein Kind auf irgend eine räthselhafte Weise ums Leben gekommen, so mußte doch der Körper desselben aufgefunden werden.
So schwanden Tage und Wochen. Keine Spur des Vermißten wurde vorgefunden und Ella's Zustand schwankte wochenlang zwischen Leben und Sterben. Als der Arzt Arthur endlich die Versicherung geben konnte, daß seine Frau wieder genesen werde, mußte er zugleich die Befürchtung aussprechen, daß sie vielleicht tiefsinnig werden würde.
Ruhig lag sie auf ihrem Lager und sprach oft den ganzen Tag kein Wort. Alles, was um sie vorging, schien ihr gleichgiltig zu sein, nur wenn Arthur an ihr Bett trat, richtete sie einen fragenden Blick auf ihn, als hoffe sie noch immer, daß er ihr eine freudige Nachricht bringen werde.
Arthur war kaum wieder zu erkennen. Der Arzt, welcher auch um ihn besorgt war, bat ihn, sich zu zerstreuen, mit Entschiedenheit lehnte er dies ab, schon der Gedanke daran, erfüllte ihn mit Widerwillen. Der Staatsanwalt hatte das Verschwinden des Kindes öffentlich bekannt gemacht und Jeden, der irgend eine Auskunft geben konnte, zur Mittheilung aufgefordert. Arthur hatte für jede Auskunft über den Knaben eine reiche Belohnung ausgeboten. Alles war ohne Erfolg geblieben.
So waren sechs Wochen entschwunden, als Arthur die Nachricht erhielt, daß in einem über vier Stunden entfernten Dorfe der Leichnam eines Kindes, der längere Zeit im Wasser gelegen haben müsse, aufgefunden sei. Ohne Ella die Nachricht mitzutheilen, eilte er sofort zu dem Dorfe. In dem Hause des Schulzen war der Leichnam, welcher bei der nahen Wassermühle gefunden war, niedergelegt.
Arthur zitterte, als er in das Zimmer trat, welches den Todten barg. Kaum hatte er den kleinen Leichnam erblickt, so sank er halb ohnmächtig auf einen Stuhl, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend. Es war sein Kind, dessen Körper vor ihm lag. Wohl waren die Züge desselben durchaus unkenntlich, er hatte es indessen sofort an der Kleidung erkannt. In derselben kleinen dunklen Blouse hatte er den Knaben so oft heiter spielen sehen. Er vermochte den Schmerz nicht zu beherrschen, Thränen rannen unter seinen Händen hervor; die erste Erleichterung, welche ihm seit Wochen vergönnt war.
Der Schulz trat zu ihm und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
»Ich vermuthete, daß es Ihr Kind sei, Herr Baron,« sprach er. »Anfangs zögerte ich, ob ich es Ihnen melden lassen solle, ich hätte Ihnen gern den Schmerz erspart; dann sagte ich mir, daß diese traurige Gewißheit für Sie immer noch besser sei, als vielleicht jahrelanges Bangen und Hoffen, denn es zehrt noch mehr.«
Arthur ließ die Hände sinken, allein er mußte das Gesicht abwenden, denn er konnte den entstellten Körper seines Kindes nicht sehen, dessen heitere, blühende Gestalt noch so frisch vor seinem Geiste stand.
»Wann ist das Kind gefunden?« fragte er endlich.
»Heute Morgen in der Frühe.«
»Wo?
»Bei der Wassermühle. Als der Müller früh an die Schleuse trat, um nach derselben zu sehen, weil es in der Nacht stark geregnet hatte und der Fluß angeschwollen war, fand er den Leichnam. Er zog ihn aus dem Wasser und ließ mich sofort rufen. Ich ließ ihn hierher bringen, damit ihn Niemand weiter anrühre, bis er besichtigt sei.«
»Es ist mein Kind, ich erkenne es deutlich an dem Anzuge!« entgegnete Arthur. »Ertrunken ist es also! Wie lange muß es gewandert sein, ehe es an den Fluß gelangt ist! Noch ist mir dies unbegreiflich, denn es war noch kaum zwei Stunden fort, als ich Alles aufbot, um es zu suchen. Die Angst muß es weiter getrieben haben, als es sich verirrt hatte.«
»Herr Baron, ich muß Sie auf Eins noch aufmerksam machen,« sprach der Schulz. »Ich glaube nicht, daß der Knabe aus Versehen ertrunken ist.«
Arthur sprang auf und blickte den Mann starr an.
»Weshalb? Weshalb?« rief er hastig.
»Es ist eine starke Schnur um den Leib des Knaben geschürzt und am Ende der Schnur befindet sich eine Schlinge. Wenn mich nicht Alles täuscht, so ist an dieser Schlinge ein Stein befestigt gewesen, der den Körper niedergezogen, deshalb ist der Leichnam auch erst nach so langer Zeit zum Vorschein gekommen, das Hochwasser des Flusses hat ihn losgerissen.«
Mit starren Augen war Arthur an den kleinen Leichnam herangetreten, er bemerkte die Schnur, von welcher der Schulz sprach, er sah die Schlinge am Ende derselben, dann fuhr er zurück.
»Allmächtiger Gott, das arme, arme Kind ist ermordet!« rief er und lehnte sich, vom Schmerz überwältigt, an den Pfosten der Thür.
Der Schulz trat an ihn heran; er fühlte Mitleid mit dem unglücklichen Vater.
»Ich hielt es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, so schmerzlich dies auch für Sie sein muß,« sprach er.
Der Baron antwortete nicht; er hatte die Hand vor die Augen gepreßt. Was in ihm vorging, vermochte nur der zu erforschen, der wußte, wie sehr sein Herz an diesem Kinde gehangen.
Endlich raffte er sich zusammen.
»Ich danke Ihnen, weil Sie mich hierauf aufmerksam gemacht haben!« rief er. »Hier ist ein unsagbar schändliches Verbrechen verübt! Das arme, unschuldige Kind zu ermorden! Aber ich werde den Tod desselben sühnen! Ich will mir nicht eher Ruhe gönnen, bis der Mörder entdeckt und zur Strafe gezogen ist. Hier – hier gelobe ich es!«
Seine Gedanken hatten eine andere Richtung erhalten. Unbewußt fühlte er, daß er sich dem Schmerze nicht zu sehr hingeben dürfe, weil eine andere Pflicht an ihn herangetreten war. Es galt, den Mörder seines Sohnes zu entdecken.
»Senden Sie sofort einen Boten zur Stadt,« fuhr er fort; »machen Sie bei der Staatsanwaltschaft Anzeige, ich werde einige Zeilen an den Polizeicommissär richten, denn dies Verbrechen muß gesühnt werden. Mein ganzes Vermögen will ich gern opfern, wenn der Verbrecher entdeckt wird. Lassen Sie Niemand das Zimmer betreten.«
Der Schulz versprach es. Ein Bote wurde sofort zur Stadt geschickt.
Eine neue Sorge drängte sich Arthur auf. Wenn Ella erfuhr, daß ihr Kind ermordet worden, so war für sie das Schlimmste zu befürchten.
»Haben Sie bereits gegen Andere über Ihre Wahrnehmung gesprochen?« fragte er.
»Nein,« erwiederte der Schulz. »Ich befürchtete, daß Sie das Entsetzliche zu früh und gänzlich unvorbereitet erfahren möchten, deshalb schwieg ich. Selbst gegen den Müller habe ich darüber geschwiegen.«
»Sprechen Sie auch gegen Andere nicht darüber,« fuhr Arthur fort. »Meine arme Frau darf es nicht erfahren, denn dies – dies würde sie nie überwinden. Noch weiß ich nicht, wie ich ihr mittheilen soll, daß unser Kind todt ist, denn aus ihrem fragenden Blicke lese ich täglich, daß sie noch hofft.«
Der Schulz versprach es bereitwillig.
Arthur blieb, bis der Staatsanwalt und der Polizeicommissär gekommen waren. Sie hatten einen Arzt zur Untersuchung des Todten mitgebracht. Alle Drei stimmten darin überein, daß das Kind gewaltsam in den Fluß geworfen und daß an der Schnur ein Stein befestigt gewesen sei, um es niederzuziehen. Es lag also ein Verbrechen vor und es war Pflicht des Staatsanwalts wie des Polizeicommissärs, Alles aufzubieten, um den Mörder zu entdecken.
Ruge zog Arthur zur Seite.
»Das Kind kann keinen Feind gehabt haben. Derjenige, der es ermordet, hat es nur gethan, um sich an Ihnen zu rächen, oder weil er irgend einen Gewinn dadurch zu erreichen hoffte.«
»Ich weiß nicht, daß ich einen Feind habe, der zu solcher That fähig wäre,« entgegnete Arthur. Er dachte an seinen Bruder und doch mochte er dessen Namen nicht aussprechen.
»Hat der Bruder durch den Tod Ihres Kindes Aussicht auf Gewinn?« warf Ruge ein.
»Wenig,« gab Arthur zur Antwort. »Er ist älter als ich und hat kaum Aussicht, mich zu überleben. Ich habe ihm zugetraut, daß er das Kind entführt habe. Aber daß er es hat tödten lassen, eine solche That – nein, er kann es nicht gethan haben!«
»Nun, ich werde Alles aufbieten, um dieses Räthsel zu lösen,« versicherte der Commissär. »Ein solches Ende Ihres Kindes hatte ich nicht erwartet.«
Arthur erfaßte Ruges Hand.
»Thun Sie es,« bat er. »Wenn Sie Unterstützung nöthig haben, ich stelle sie Ihnen gern zur Verfügung, soweit mein Vermögen reicht!«
Eine schwere Aufgabe stand Arthur bevor, diejenige, seiner Frau die Nachricht von dem Tode des Kindes mitzutheilen.
Er durfte es nicht hinausschieben, damit sie es nicht durch einen anderen Mund erfuhr. Konnte er es ihr ohnehin verbergen? Las sie nicht aus seinen Zügen, welch ein neuer Schmerz ihn erfüllte?
Als er heimkehrte und sie fragend den Blick auf ihn richtete, theilte er es ihr schonend mit. Erschreckt richtete sie sich empor, einige Sekunden blickte sie ihn starr an, dann, als er sich zu ihr niederbeugte, um sie zu trösten, umschlang sie seinen Nacken mit beiden Armen und weinte sich an seiner Brust aus. Gemeinsam hatten sie das Glück genossen – theilten auch den Schmerz.
Drei Jahre waren verflossen.
Der Baron und seine Frau waren auf dem Gute wohnen geblieben, weil sie jeder Berührung mit Menschen und mit der Gesellschaft auswichen. Die Wunde, die ihrem Herzen geschlagen, wollte noch immer nicht vernarben und sie ertrugen das traurige Schicksal am Leichtesten im stillen Miteinanderleben.
Alle Nachforschungen über den Tod des Knaben hatten zu keinem Erfolge geführt, nur so viel glaubte der Polizeicommissär ergründet zu haben, daß der Rittmeister an der That keinen Antheil gehabt. Es war ein Räthsel, wie so manches im Leben ungelöst bleibt.
Arthur und Ella schienen ganz andere Menschen geworden zu sein. Sie hatten den Schmerz wohl überwunden, aber nicht vergessen; er hatte sich bei ihnen zu einer stillen Trauer umgestaltet. Ella war noch immer nicht wieder völlig genesen, um so rührender war die Sorgfalt, mit der Arthur über ihr wachte. Er schien nur noch den einzigen Lebenszweck zu haben, für seine Frau zu sorgen; das Unglück hatte ihre Herzen, weil sie beide edel waren, noch enger an einander geschlossen.
Es war ein stürmischer Winterabend. Der Wind trieb den niederfallenden Schnee wirbelnd weiter, bis er ihn an einem Graben oder eine Hecke anhäufte. Wohl dem, der an solchem Abende im stillen, warmen Daheim sitzt und all die Seinigen geborgen weiß. Es führt ein solches Wetter die Zusammengehörenden enger aneinander, es ist, als ob draußen eine Mauer um sie gebaut würde, welche Niemand ungestraft übersteigen darf, es hält ja der Mensch zum Menschen, wenn ihm die Natur mit ihrer oft rauhen Gewalt entgegentritt.
Arthur und Ella saßen im warmen Zimmer neben einander. Er las der bleichen jungen Frau die Zeitung vor, das einzige Mittel, welches sie noch mit der Außenwelt in Verbindung hielt. Ella hörte still, mit einer weiblichen Arbeit beschäftigt, zu.
Der Diener trat aufgeregt in das Zimmer. Er war zum nächsten Dorfe gewesen und soeben zurückgekehrt. Seine zum Theil noch mit Schnee bedeckte Kleidung verrieth, wie unfreundlich es draußen war.
Erregt erzählte er, daß er außen am Parke eine Frau im Schnee gefunden habe und neben ihr ein Kind. Die Frau sei bereits halb vom Schnee zugedeckt.
Der Baron sprang empor.
»Ist sie todt?« fragte er lebhaft.
»Ich weiß es nicht; sie gab kein Lebenszeichen von sich, als ich zu ihr sprach und sie rüttelte.«
»Und das Kind?«
»Es weinte laut, dadurch wurde ich erst auf die Frau aufmerksam, denn sie lag seitwärts vom Wege, da der Schnee den Weg vollständig verweht hat.«
»Du hast das Kind nicht mitgebracht,« rief Ella vorwurfsvoll.
Er wollte sich von seiner Mutter nicht trennen. Ich eilte deshalb sofort hierher, um zu fragen, ob die Unglückliche nicht hierher gebracht werden soll.
»Bring meinen Pelz und meinen Hut und rufe die Knechte herbei!« rief der Baron, ohne auf des Dieners Bedenken zu antworten. »Nehmt Decken und eine Tragbahre mit. Schnell! Es gilt vielleicht noch ein Menschenleben zu retten.«
Ella war behülflich, ihn gegen die Rauhheit des Abends u schützen. Er hatte nicht nöthig gehabt, mit ihr über sein Vorhaben zu sprechen, denn wo es einem Unglücklichen zu helfen galt, waren Beide stets gleich bereitwillig.
Von dem Diener und mehreren Knechten begleitet, eilte der Baron durch den Park hin. Der Schnee hatte auch hier Berge aufgethürmt und ließ den Weg kaum noch erkennen.
Außen am Parke, dicht an einer Hecke, lag die Unglückliche. Sie schien hier gesucht zu haben, ohne zu ahnen, daß hier der Schnee sich doppelt schnell über ihr häufen werden. Ihr Körper war kaum noch zu erkennen, die kalte, weiße Decke hatte ihm fast ganz eingehüllt. Der Knabe weinte nicht mehr, dicht an seine Mutter gedrängt, kauerte er da.
Ihm galt des Barons erste Sorge. Der schon halb Erstarrte und gegen das, was mit ihm vorgenommen wurde, Gleichgültige wurde in eine Decke gehüllt und der Diener buchten Befehl, ihn so schnell als möglich zum Hause zu ragen.
»Eile!« rief Arthur dem Diener nach. »Bringe das Kind zu meiner Frau, sie wird dafür Sorge tragen, bis ich selbst komme.«
Nun wandte er sich zu der unglücklichen Frau. Als die Knechte sie empor zu richten versuchten, gab sie noch ein Lebenszeichen von sich.
»Sie lebt noch!« rief der Baron und trieb zur Eile an.
Während die Knechte sie in Decken eingehüllt auf die mitgebrachte Bahre legten, rieb er ihr mit Schnee die Schläfen und die erstarrten Hände. Die Unglückliche erhob sich, aber kein Wort kam über ihre Lippen, sie schien nicht zu wissen, was mit ihr vorgenommen wurde.
Als die Frau in das Haus gebracht wurde, befand sich das Kind, ein nur dürftig gekleideter Knabe von vier bis fünf Jahren, bereits im warmen Zimmer und war durch ein Glas Wein neu belebt. Weinend eilte er auf seine Mutter zu, sobald er sie erblickte. Die Frau schlug die Augen auf, allein selbst die Stimme ihres Kindes schien sie nicht aus dem abgestumpften Zustande zu rütteln zu vermögen.
Es war eine fast nur in Lumpen gehüllte Gestalt. Aus den abgezehrten, zerfallenen Zügen sprach Hunger und Elend.
»Es ist eine Bettlerin!« rief der Diener. »Ich erkenne sie, denn sie ist schon einmal in dieser Gegend gewesen.«
Er trat zurück, als halte er es nun nicht mehr für nöthig, der Unglücklichen beizustehen – sie war ja nur eine Bettlerin.
Der Baron verwies ihn mit strengen Worten.
»Kennst Du die Geschicke dieser Frau?« fragte er. »Weißt Du, was sie auf die Stufe gebracht hat, auf der sie jetzt steht? Nicht einem Jeden wird das Loos zu Theil, welches er verdient.«
Der Diener schwieg.
Die Frau wurde auf ein warmes Lager gebracht und schien sich etwas zu erholen, denn sie erfaßte die Hand des zu ihr getretenen Kindes und hielt sie fest in der ihrigen. Eine Erfrischung wies sie zurück.
Arthur hatte Ella in ihr Zimmer zurückgeleitet, denn aus ihren Zügen hatte er gelesen, welche Erinnerungen durch den Anblick des Knaben in ihr geweckt waren. Er selbst kehrte nach einiger Zeit zu der Unglücklichen zurück. Sie warf ihm einen dankenden Blick zu.
Mit kurzen Worten erzählte sie, daß sie gegen Abend in dem nahen Dorfe angelangt sei. Der Wirth der Dorfschenke habe ihr ein Nachtlager verweigert, weil sie nicht im Stande gewesen sei, dasselbe zu bezahlen; mehrere Bauern, an welche sie sich gewandt, hätten mitleidlos die Thüren vor ihr verschlossen, da habe sie sich auf den Weg zum Gute gemacht, um dort ein Unterkommen zu finden, ihre Kräfte hätten jedoch nicht mehr ausgereicht. An der Hecke, wo sie gefunden war, sei sie kraftlos zusammengebrochen.
»Steht Ihr so allein im Leben da?« fragte Arthur.
»Ganz allein.«
»Dieser Knabe ist Euer Kind?«
»Ja – es ist das einzige, was ich besitze,« gab die Frau zur Antwort und ihr mattes Auge richtete sich auf den Knaben. Ihr Herz schien daran zu hängen.
»Lebt des Knaben Vater nicht mehr?« fuhr der Baron fragend fort.
Die Frau schüttelte unwillig mit dem Kopfe, es schienen durch diese Frage trübe Erinnerungen in ihr wach gerufen zu werden.
Einige Minuten lang blickte sie starr vor sich hin. »Er ist todt,« sprach sie dann, »und wenn er auch noch lebte, würde ich doch ebenso allein dastehen. Er hat mich und das Kind verlassen, als ich krank und elend wurde; er sagte, das er nicht Lust habe, für uns zu arbeiten, denn er hatte kein Herz. Er verließ uns und ist noch eher gestorben als ich. Schon nach einem Jahre hat er sich todtgetrunken – ich habe keine Thränen um ihn weinen können, denn wenn er mich auch nicht liebte, so war doch das Kind sein Blut und an ihm hätte er anders handeln können.«
Sie verfiel in dumpfes, schweigendes Nachsinnen.
Arthur mochte nicht weiter in sie dringen, er verließ sie und trug der Dienerin auf, für die Unglückliche zu sorgen.
In seinem Zimmer schritt er langsam auf und ab. Der Mann hatte sein Kind verlassen, weil er nicht Lust gehabt, dafür zu sorgen und zu arbeiten und wie gern würde er Alles geopfert haben, wenn er dadurch seinen Knaben hätte erhalten können. Wo war die Gerechtigkeit des Geschickes? Schon zu oft hatte sich ihm diese Frage aufgedrängt, ohne daß er im Stande war, eine Antwort darauf zu geben. Was hatte der arme Knabe verschuldet, daß das Leben schon so früh mit solcher Härte an ihn herantrat?
Er begab sich zu seiner Frau, um solchen Gedanken zu wehren, denn sie erschütterten stets aufs Neue die Ruhe, welche er sich mühsam errungen.
Auch Ella schienen ähnliche Gedanken zu beschäftigen, denn schlaflos brachten Beide den größten Theil der Nacht zu und fanden erst gegen Morgen Ruhe.
Als sie spät erwacht und aufgestanden waren, trat der Diener zu ihnen und theilte ihnen mit, daß die unglückliche Frau gegen Morgen gestorben sei.
Erschreckt fuhr Arthur empor.
»Weshalb bin ich nicht gerufen?« fragte er.
»Ich löste gegen Morgen die Dienerin ab,« entgegnete der Diener. »Die Frau hatte während der ganzen Nacht ruhig dagelegen ohne zu schlafen, aber auch ohne zu klagen. Sie wachte auch, als ich zu ihr trat, denn sie blickte mich an. Auf meine Frage, ob sie etwas wünsche, schüttelte sie langsam mit dem Kopfe. Ich setzte mich neben den Ofen; um sie nicht zu stören. Es blieb Alles still, ich hörte sie nicht einmal athmen, das Kind schlief ruhig. Auch ich bin eingeschlafen. Als ich wieder erwachte und zu ihr trat, lag sie noch ebenso ruhig da und ich glaubte, daß sie schlafe. Leise entfernte ich mich aus dem Zimmer. Als ich nach längerer Zeit wieder zu ihr ging, befand sie sich noch in derselben Lage. Ich beugte mich über sie und es fiel mir auf, daß ich sie nicht athmen sah. Ich sprach zu ihr, sie rührte sich nicht, da erfaßte ich ihre Hand – dieselbe war kalt – die Frau war todt und mußte schon vor Stunden gestorben sein, ganz still, denn ich habe nichts gehört.«
Diese Mittheilung wirkte auf Arthur erschütternd ein, denn es war ein Menschenleben, welches dahingeschieden. War es auch nur ein armes, verlassenes und elendes Leben, so hatte es doch denselben Anspruch auf Glück gehabt, wie jeder andere Mensch. Die Augen, welche jetzt der Tod geschlossen, hatten sicherlich auch einst mit Lust und Hoffnungen in das Leben hinein geblickt, das Herz hatte vielleicht einst heiter und lebensfroh geschlagen und jetzt war sein letzter Schlag in fremdem Hause, unter fremden Menschen erfolgt.
»Unsere Hilfe ist zu spät gekommen,« sprach er zu Ella. »Ich würde der Unglücklichen gern das Leben freundlicher gestaltet haben – der Tod hat es verhindert.«
Er wollte sich zu der Todten begeben, Ella erhob sich, um ihn zu begleiten.
»Bleib hier,« bat er. »Es wird Dich erschüttern und Du kannst doch keine Hülfe mehr bringen.«
»Ich werde ruhig bleiben,« versicherte die junge Frau. »Ich kann die Unglückliche nicht beklagen. Als ich sie gestern Abend sah, schien schon der stille Wunsch, zu sterben aus ihren matten Augen zu sprechen. Was konnte das Leben ihr noch bieten? Hätte es durch ein gütiges Geschick sich auch noch so freundlich gestaltet, wäre damit zugleich auch die Erinnerung an die Vergangenheit ausgelöscht?«
Noch einmal versuchte Arthur, sie von ihrem Entschlusse abzubringen.
»Laß mich mit Dir gehen,« bat Ella. »Sieh, ich habe gestern das unglückliche Gesicht der Frau gesehen, es sprach aus ihren Augen ein so unsagbares Elend, ein so tiefer Kummer, daß mich verlangt, ihr Züge zu sehen, um zu erkennen, ob der Tod ihr Ruhe gebracht hat. Dies wird auch mir Ruhe bringen.«
Arthur wehrte ihr nicht länger.
Sie traten in das Zimmer, in welchem die Todte lag. Was Ella erwartet hatte, war geschehen, der Tod hatte der Unglücklichen Ruhe gebracht. Es lag wie ein Hauch des Friedens auf den bleichen, erstarrten Zügen.
Schweigend standen Arthur und Ella da.
Das Kind der armen Frau stand vor dem Lager derselben und blickte sie starr und ängstlich an. Ahnte es, wie viel es verloren hatte? Was der Tod bedeutete, vermochte es vielleicht nicht zu fassen, aber es fühlte, daß die Augen, welche geschlossen waren, es nie wieder ansehen würden.
Es lag etwas Rührendes in der Angst und dem starren Blicke des Knaben. Er war eine Waise, ohne Schutz, ohne eine Hand, die für ihn sorgte und ihn leitete. Er schien die Eingetretenen nicht bemerkt zu haben. Leise suchte er die Hand der Mutter zu erfassen und zuckte unwillkürlich, zurück, als er die Kälte derselben empfand und die Hand sich nicht rührte.
Ella's Augen ruhten wie im Traume versunken auf dem Knaben, Arthur bemerkte es. Ein Wunsch stieg in ihm auf, noch wagte er ihn nicht auszusprechen, allein je mehr er seine Frau anschaute, um so mehr gewann er die Ueberzeugung, daß in ihr derselbe Wunsch aufgekeimt war. Das Unglück hatte sie so eng an einander geschlossen, daß selbst ihr Denken und Wünschen mit einander verwachsen zu sein schien.
»Ella,« sprach er, »der Knabe steht allein und verlassen in der Welt da; sollen wir uns seiner annehmen und ihm die Stätte anweisen, die seit Jahren bei uns verwaist ist?«
Die junge Frau antwortete nicht, ihr leises Zittern verrieth jedoch, wie tief diese Worte sie berührten. Wohl war derselbe Wunsch in ihr aufgestiegen und doch schwankte sie.
»Arthur, kann uns dadurch je ersetzt werden, was wir verloren haben?« entgegnete sie endlich. »Heißt es nicht das Andenken Erwin's entweihen, wenn wir einen Anderen an seine Stelle setzen?«
»Nein, nein!« fiel Arthur ein. »Wir werden Erwin immer dasselbe Andenken bewahren, auch wenn dieser Knabe äußerlich an seine Stelle tritt. Sieh, Ella, es war unser liebster Wunsch, aus unserem Kinde einen guten und tüchtigen Menschen zu bilden, fast seit dem ersten Tage seiner Geburt ist unser Wunsch und Streben sich darin begegnet, es ist uns nicht vergönnt gewesen! Können wir Erwin ein besseres Denkmal setzen, als wenn wir aus diesem Knaben, der ohne uns vielleicht, ja sogar wahrscheinlich, im Sturm des Lebens untergeht, einen tüchtigen Mann bilden?«
Ella blickte ihren Gatten mit ihren großen Augen an, dann reichte sie ihm die Hand dar.
»Wir wollen das Kind als das unsrige annehmen,« sprach sie entschlossen, wenn schon ihre Stimme leise zitterte, denn der Schmerz um den Verlorenen trat in diesem Augenblicke doppelt lebhaft wieder an sie heran.
»Habe Dank!« entgegnete Arthur und drückte innig die dargereichte Hand.
Die Baronin trat an den Knaben hinan, der noch immer neben dem Lager der Todten stand. Sie beugte sich zu ihm nieder, um ihn zu umfassen.
»Komm, ich will Deine Mutter sein,« sprach sie und legte die Hand auf des Kindes Schulter.
Der Knabe blickte sie groß und fragend an, schweigend deutete er dann mit der kleinen Hand auf die Todte. Sie war ja seine Mutter.
Es lag in dieser stummen, kindlichen Bewegung so viel Rührendes, daß Ella die Thränen aus den Augen stürzten, daß sie das Kind umfing und fest an sich preßte.
Noch immer sprach der Knabe kein Wort, er ließ die Umarmung geschehen, als etwas fremdes.
Da trat der Baron zu ihm und erfaßte ihn an der kleinen Hand, um ihn sanft fortzuziehen.
Angst sprach aus den Zügen des Kindes, es versuchte sich von der es erfassenden Hand zu befreien, um bei seiner Mutter zu bleiben.
»Komm, Kind, komm,« sprach Arthur mit weicher Stimme. »Deine Mutter schläft – sie ist ermüdet.«
Der Knabe folgte ihm in Ella's Zimmer. Seine anfängliche Angst und Befangenheit schwand bald unter der Fülle der ihm entgegentretenden neuen Eindrücke und unter der ihm zu Theil werdenden Liebe. Hastig griff er nach dem ihm gereichten Essen und mit Staunen und Freude zugleich betrachtete er das ihm gegebene Spielzeug. Wie in eine Welt des Traumes schien er versetzt zu sein, nur dann und wann blickte er zur Thür und verlangte nach seiner Mutter, um ihr die schönen Sachen zu zeigen.
Mit den Worten, daß er sie nicht stören dürfe, da sie immer noch schlafe, wurde er beruhigt.
Einige Stunden hatte Ella sich mit ihm beschäftigt, dann ließ sie die Dienerin bei ihm zurück, um ihm andere Kleider anzuziehen, und trat in das Zimmer ihres Gatten, denn ein neues Bedenken war in ihr aufgestiegen.
»Arthur, wir wollen den Knaben als unser Kind annehmen und erziehen,« sprach sie. »Hast Du aber auch die Gewißheit, daß uns dies gelingen wird? Werden die ersten Eindrücke seiner Jugend sich vollständig in ihm verwischen lassen? Sein Vater hat ihn verlassen und ist als Trunkenbold gestorben, seine Mutter hat mit ihm bettelnd das Land durchstreift, wird das Beispiel, welches er so früh kennen gelernt hat, wird das Blut, welches in seinen Adern fließt, nicht vielleicht all' unsre Bemühungen zu Schanden machen und uns mit Schmerz und Enttäuschung lohnen?«
Verneinend schüttelte der Baron mit dem Kopfe, denn auch an ihn war diese Frage bereits herangetreten und er hatte sich Klarheit darüber verschafft.
»Nein,« entgegnete er mit Bestimmtheit. »Ich habe eine bessere Ueberzeugung von der Macht der Bildung. Sie ist es, welche dem Menschen den Charakter aufprägt und zu dem macht, was er ist. Vertraue mir! Die Eindrücke, welche das Kind schon so früh empfangen hat, werden bald durch andere und bessere verdrängt sein. Er tritt in ein neues Leben, in eine für ihn neue Welt, wie schnell wird er die trübe und ihm nur unklare Vergangenheit vergessen.«
»Und Du glaubst nicht daran, daß Eigenschaften dem Menschen angeboren werden, daß das Temperament eine Folge des Blutes ist?« warf Ella ein. »Vererbt sich nicht so oft das Schlechte von dem Vater auf den Sohn?«
»Ella, die schlimmste Eigenschaft, das heißeste und leidenschaftlichste Blut wird durch die Macht der Bildung gebändigt und geregelt,« fuhr Arthur ruhig fort. »Der Mensch ist ja nur ein Product der Erziehung und Bildung. Die heftigste Leidenschaft, welche den Verbrecher von Verbrechen zu Verbrechen treibt, hätte ihn vielleicht zu Großem geführt, wenn sie rechtzeitig gebändigt, wenn die innewohnende Kraft, welche sie immer voraussetzt, auf das Gute und Edle gelenkt wäre. Der schlimmste Eigensinn und Trotz läßt sich zu einem ruhigen und festen Willen gestalten; ich glaube an keinen angeborenen Trieb zum Schlechten, der sich nicht durch die Erziehung veredlen ließe.«
Die junge Frau fühlte sich beruhigt, ihr Bedenken war geschwunden. Sie widmete sich dem Knaben mit der Innigkeit und mütterlichen Sorge, die sie zu lange entbehrt hatte. Wohl kostete es Mühe, den Knaben – Hermann war sein Name, – von seiner Mutter fern zu halten und ihm den Begriff beizubringen, daß dieselbe gestorben sei. Ella ermüdete nicht, die Pflicht, welche sie einmal übernommen hatte, durchzuführen..
Es würde ihr vielleicht nicht gelungen sein, hätte Hermann nicht durch die neue Umgebung, gleichsam durch die neue Welt, in die er getreten war, eine Zerstreuung gefunden, welche die Vergangenheit seiner Erinnerung schnell entrückte. Der Gegensatz zwischen den vielfachen Entbehrungen, zwischen dem beschwerlichen Umherziehen von einem Dorfe zum andern und seinem jetzigen Leben, wo jeder seiner Wünsche erfüllt wurde, war ein zu großer und für das kindliche Gemüth zu bestechender, als daß sein Herz nicht unwillkürlich und schnell für seine neuen Eltern, die ihm so viel Güte und Liebe entgegentrugen, sich entschieden haben sollte.
Mit stiller Freude bemerkte der Baron, daß Ella zu dem Kinde eine Neigung faßte, welche er so schnell kaum erhofft hatte. Die Sorge für dasselbe gab ihr Beschäftigung und hielt sie ab, ihre Gedanken wie bisher zu oft auf das Verlorene zu richten.
Hermann war ein geweckter, lebhafter Knabe, dessen Aeußeres unter der sorgsamen Pflege sich rasch in vortheilhaftester Weise entwickelte. War die Erinnerung an die Vergangenheit auch bald bei ihm ausgelöscht, so blieben die Eindrücke derselben doch länger an ihm haften und es bedurfte oft des strengen Einschreitens des Barons, um des Knaben Unarten entgegen zu treten.
»Du verwöhnst das Kind,« sprach er oft lächelnd zu seiner Frau, deren Zuneigung zu dem Knaben von Tage zu Tage wuchs. »Vergiß das Eine nicht, Ella; als wir beschlossen hatten, Hermann als unser Kind anzunehmen, hegtest Du Bedenken, daß das Blut desselben unseren Wünschen und Hoffnungen entgegen treten könne. Es regt sich das Blut seiner Eltern in dem Kinde, der Leichtsinn seines Vaters, die Scheu gegen Arbeit einer Mutter, tritt zeitig diesen Regungen entgegen, sie gleichen den ersten Seitentrieben eines jungen Baumes. Der Gärtner, welcher einen gesunden kräftigen Stamm erziehen will, muß ohne Schonung alle Seitentriebe abschneiden, der junge Stamm überwindet es leicht und lohnt späterhin hundertfach, die aufgewandte Mühe.« –
Ein neues Leben war mit dem Knaben auf dem Gute eingekehrt, denn heiter spielte er, wie einst Erwin, in dem Parke auf dem Rasenplatze. Wohl drängte sich oft in Arthurs und Ellas Herzen ein wehmüthig trauriges Gefühl, die Erinnerung an ihren Verlust wurde wachgerufen; wenn dann aber der Knabe zu ihnen kam und sich schmeichelnd an sie anschmiegte, wenn er mit dem ernsten Gesichte, welches er machen konnte, halb ängstlich und halb fragend zu ihnen aufschaute, dann zog ihn Ella mit leidenschaftlicher Innigkeit zu sich heran. Mochte dieselbe auch halb noch Erwin gehören, Hermann empfand sie, und je weniger Liebe er früher genossen hatte, um so dankbarer war er jetzt.
Sowohl Arthur wie Ella wurden wieder heiterer, sie konnten wieder lachen und es war ihnen, als ob in ihrem Leben noch einmal ein Frühling gekommen sei, nicht so blühend und prächtig wie einst, aber doch mit frischem Grün überall, auf welchem das Auge so gerne weilt.
Der Baron hatte Hermann als Sohn adoptirt, damit er ihm allein gehöre und Niemand später Ansprüche an ihn machen könne.
Ein Schatten zog oft noch über Arthur's Stirn hin, wenn er an die Möglichkeit dachte, daß sein Bruder Erwin getödtet habe. Der Verdacht wollte nie vollständig in ihm erlöschen, obschon er keinen Beweis dafür hatte. Er hatte den Rittmeister seit Erwins Vermissen nicht wieder gesehen und nur dann und wann hörte er, daß es ihm schlecht erging. Er war immer tiefer und tiefer gesunken und lebte nothdürftig, da sein Credit vollständig vernichtet war.
Da kam eines Tages ein Bote zu dem Baron, der ihm meldete, daß der Rittmeister schwer erkrankt im Krankenhause liege und ihn zu sprechen wünsche.
Arthur erschrak, ein banges Gefühl erfaßte ihn. Weshalb wünschte sein Bruder ihn zu sprechen? Welche Mittheilung hatte derselbe ihm zu machen? Er zögerte, dem Rufe zu folgen. War es nicht besser, wenn der Rittmeister das Geheimniß, welches er ihm vielleicht dem Tode nahe anvertrauen wollte, mit hinein nahm in das Grab? Sollte er den schwer errungenen Frieden noch einmal stören lassen?
Ihn bangte für Ella. Er war glücklich, weil ihr durch die Sorge für Hermann, durch die Beschäftigung mit dem lebhaften Knaben die Vergangenheit ferner gerückt war, sollte der Schmerz um das Verlorene aufs Neue in ihr wachgerufen werden, ohne daß ihr die geringste Hoffnung blieb, das Verlorene je wieder gewinnen zu können?
Zwischen diesen Bedenken schwankte er hin und her und doch folgte er endlich dem Rufe des Kranken, freilich ohne Ella davon in Kenntniß zu setzen und mit dem festen Entschlusse, das Bekenntniß seines Bruders für immer in seiner Brust zu verschließen.
Es war ein schwerer Weg für ihn. Als er vor dem Krankenhause anlangte und zu den kleinen düsteren Fenstern emporblickte, schwankte er unwillkürlich zurück. In diesem Hause hatte sein Bruder, dessen Jugend eine so glänzende gewesen war, der Tausende in leichtsinniger Weise fortgeworfen, die letzte Zuflucht gefunden! Hier lag der Liebling seines stolzen Vaters!
Ein Wärter führte ihn in ein kleines enges Zimmer. In dem nur dürftig erleuchteten Raume auf niedrigem Bette lag sein Bruder. Mit tief liegenden Augen und abgezehrten Wangen blickte ihm derselbe entgegen. Unwillkürlich blieb er auf der Schwelle zögernd stehen. Dies war sein Bruder, dessen Bild noch lebhaft vor seinem Geiste stand, als derselbe zum ersten Male in der Uniform eines Husaren auf den Gutshof seines Vaters gesprengt kam.
Bild auf Bild drängte die Vergangenheit entgegen, und erst als er aus dem Munde des Kranken seinen Namen nennen hörte, trat er schnell an das Lager.
»Es ist gut, daß Du gekommen bist,« sprach der Kranke mit matter Stimme und gab ihm mit der Hand ein Zeichen, sich auf den Schemel neben dem Bette nieder zu lassen.
Schweigend folgte Arthur. Erschütterung und Bangen erfüllten ihn.
»Wir haben uns seit langer Zeit nicht gesehen,« fuhr der Rittmeister fort. »Ich will Dir keinen Vorwurf machen, Arthur. Schon seit Wochen liege ich hier allein und fast verlassen in diesem Zimmer und während dieser Zeit ist meine Vergangenheit mehr als einmal an meinem Geiste vorüber geeilt. Ich bin, wenn auch zu spät, zu der Erkenntniß gekommen, daß mein Leben ein verfehltes war, daß ich mich selbst um das Glück desselben betrogen habe – vielleicht ich nicht allein, sondern auch die, welche mich nicht auf einen andern Weg leiteten, als es noch Zeit war. Ich habe oft mit Geringschätzung auf Dich herabgeblickt und ich erkenne doch, daß Du klüger gewesen bist – und auch besser.«
Er hielt inne, das Sprechen schien ihm schwer zu werden.
»Rege Dich nicht auf,« bat Arthur.
»Weshalb nicht, ob ich einige Stunden früher sterbe, was liegt daran? Ich bin ohnehin des Lebens überdrüssig. Ich habe Dich gebeten, zu mir zu kommen, weil ich nicht unausgesöhnt mit Dir sterben wollte.«
Fragend richtete er den Blick auf den Bruder. Seine dreiste und stolze Zuversicht war längst geschwunden, denn die letzten Jahre seines Lebens hatten eine harte Schule für ihn gebildet.
Arthur schwieg, in seinem Innern stürmte es. Er wollte dem Bruder die Hand entgegenstrecken und doch hielt ihn der Verdacht, welcher auch jetzt wieder in ihm aufstieg, zurück.
»Hast Du mir nichts weiter mitzutheilen?« fragte er.
Wieder richtete der Kranke den Blick forschend auf ihn und ein trauriger Zug glitt über sein Gesicht hin, denn alle Frage klang kürzer und kälter, als dieser gewollt hatte.
»Nichts,« erwiderte er mit gepreßter Stimme.
»Heino, sei offen!« rief Arthur erregt. »Hast Du mir nichts – nichts über mein Kind zu gestehen? Ich will Dir vergeben, was Du ihm auch gethan haben magst, nur sage mir die Wahrheit.«
Der Kranke richtete den Kopf ein wenig empor.
»Arthur, ich weiß, daß Du den Verdacht gehegt hast, ich – ich habe Dein Kind getödtet! Lebt dieser unglückselige Verdacht noch in Dir?«
»Wenn Du es nicht gethan hast, hast Du nicht darum gewußt? Sprich die Wahrheit, Heino!«
»Nein,« gab der Kranke mit fester Stimme zur Antwort. »Ich weiß nichts davon, ich bin ohne Schuld an dem Verschwinden und dem Tode Deines Kindes.«
»Du weißt auch nicht, durch wen der arme Knabe den Tod gefunden hat?« forschte Arthur weiter.
»Nein, sonst würde ich es Dir längst mitgetheilt haben. Sieh, ich habe Dir gezürnt, weil Du mir kein Geld mehr geben wolltest, ich glaubte ein Anrecht darauf zu haben, weil ich Dein Bruder war; allein soweit ging mein Zorn nicht, daß ich Dir einen solchen Schmerz hätte zufügen sollen. Was hätte mir der Tod des Kindes, welches mir kein Leid zugefügt, genützt? Du hast mich für schlechter gehalten, als ich war.«
Arthur streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich habe Dir Unrecht gethan, vergieb,« sprach er. »Du ahnst nicht, wie unsagbar ich gelitten habe, mein Kopf sann Tag und Nacht, um den zu entdecken, der mir dieses Leid zugefügt – da fiel mein Verdacht auf Dich, weil Du der Einzige warst, von dem ich wußte, daß er mir zürnte.«
Der Kranke behielt Arthurs Hand in der seinigen – es waren lange Jahre her, daß er diese Hand berührt hatte.
Sein Gesicht wurde ruhiger, er war ausgesöhnt mit dem Bruder.
Arthurs Blick glitt durch das ärmliche Zimmer hin.
»Hier darfst Du nicht bleiben,« sprach er. »Ich werde Sorge tragen, daß Du noch heute in ein besseres und freundlicheres Zimmer gebracht wirst, es soll Alles zu Deiner Pflege geschehen und wenn Du wieder so weit genesen bist, daß Du dies Haus verlassen kannst, dann hole ich Dich auf mein Gut, dort wirst Du Dich in der reinen Luft wieder kräftigen.«
Der Kranke drückte Arthurs Hand, über sein sonst so kaltes Gesicht glitt ein Zug der Rührung hin
»Ich danke Dir für Dein Anerbieten,« erwiederte er, »ich weiß, daß Du es ehrlich meinst, allein ich bedarf der Hülfe nicht mehr, meine Tage sind gezählt, ich weiß es.«
»Du wirst wieder genesen,« unterbrach ihn Arthur beruhigend.
Der Kranke schüttelte mit dem Kopfe.
»Ich mag auch nicht wieder genesen,« fuhr er nach einigen Secunden fort. »Was habe ich vom Leben noch zu erwarten? Ich habe alle Freuden desselben genossen und mich doch nicht glücklich gefühlt, es ist mir zuletzt zur Last geworden, die ich gern abstreife. Einen Wunsch habe ich noch.«
Er zögerte denselben auszusprechen.
»Sprich, Heino,« bat Arthur. »Wenn es in meinen Kräften steht, so werde ich ihn erfüllen.«
»Ich lernte vor mehreren Jahren ein junges Mädchen kennen, bei deren Mutter ich wohnte,« erzählte der Kranke. »Es war arm, allein es war jung und hübsch und nährte sich gemeinsam mit seiner Mutter durch Nähen und Plätten. Die Unschuld des Mädchens, sein offenes, kindliches Auge zog mich zu ihm hin, täglich saß ich bei ihm in dem kleinen Zimmer und immer mehr wuchs es mir ins Herz hinein. Ich hatte nie in meinem Leben wirklich geliebt, mit diesem Mädchen meinte ich es aufrichtig. Ich war glücklich, als ich Gegenliebe fand und habe eine Zeit lang an der Seite dieses Mädchens glückliche Tage verlebt.«
Er hielt inne. Wie träumend hatte er den Blick vor sich hingerichtet, vergangene Zeiten schienen vor ihm aufzutauchen.
»Erzähle weiter,« mahnte Arthur.
»Ich bin bald zu Ende. Die Folge dieser Liebe ist ein Kind, dessen Geburt seiner Mutter das Leben kostete. Damals habe ich zum ersten Male empfunden, wie wehe es thut, wenn ein geliebtes Wesen stirbt. Ich wollte mir selbst das Leben nehmen, der Gedanke an das hülflose Kind hielt mich zurück, ich hatte ja ein Anrecht an dasselbe und zugleich die Verpflichtung, für es zu sorgen. Seiner Großmutter war das kleine Wesen zur Last, denn es hinderte sie an der Arbeit – ich habe es oft stundenlang auf den Armen getragen, habe gesehen, wie es sich entwickelte, gehört, wie es zuerst meinen Namen nannte – da habe ich kennen gelernt, wie lieb man ein Kind haben kann, und da habe ich Dich aufrichtig bedauert, weil Du das Deinige verloren. Den letzten Bissen würde ich freudig mit dem Kinde, es ist ein Mädchen, getheilt haben. Sieh, nach diesem Kinde sehne ich mich, es ist jetzt zwei Jahre alt und ich möchte es noch einmal sehen, ehe ich sterbe. Wiederholt habe ich gegen meinen Wärter den Wunsch ausgesprochen, allein der Mann ist unfreundlich und kalt gegen mich, denn ich habe nichts, womit ich seine Freundlichkeit erkaufen könnte.«
Ergriffen war Arthur aufgesprungen, denn er hatte seinem Bruder eine so weiche Empfindung kaum zugetraut.
»Ich werde das Kind holen und zu Dir bringen!« rief er.
»Thu' es, thu' es!« sprach der Kranke hastig, als befürchte er, daß er sterben könne, ehe sein Wunsch erfüllt sei.
Er bezeichnete Arthur den Ort, wo er das Kind finde.
Arthur eilte fort, es lag ihm Alles daran, den Wunsch seines Bruders zu erfüllen, denn nie hatte er diese Stimme so weich und bittend gehört. In enger Gasse fand er das Haus, in welchem die Wäscherin wohnte. Als er in das ihm bezeichnete kleine Zimmer trat, sah er ein kleines Mädchen auf der Erde sitzen und spielen – es war das Kind seines Bruders. Es war allein und blickte ihn ohne Furcht mit den großen Augen fragend an. Als er zu ihm trat, zeigte es ihm unbefangen die Holzstückchen, mit denen es spielte.
Seine Großmutter trat ein. In mürrischer Weise nahm sie des Kranken Wunsch auf, daß er das Kind noch einmal zu sehen wünsche.
»Es wäre besser, wenn das Kind nie geboren wäre!« sprach die Frau mit herzlosem, kalten Tone. »Mir ist es im Wege, und was ihm bevorsteht, ist auch nicht mehr als ein Leben voll Mühe und Arbeit.«
Es schnitt Arthur in's Herz, daß die Frau, der das Kind verlangend die kleinen Hände entgegenstreckte, in so herzloser Weise sich darüber äußerte. Er dachte nicht daran, daß der mühsame Kampf um das Dasein nur zu oft die edleren und weicheren Gefühle abstumpft. Wer immer gerüstet sein muß, zu kämpfen und zu ringen um das tägliche Brot, wird gleichgiltig gegen die Interessen und das Glück Anderer, seine Kraft und seine Empfindung wird aufgezehrt durch die Sorge um das eigene Leben.
Mürrisch nahm die Frau seine Bitte, das Kind zu seinem Vater zu tragen, auf, und erst als er einige Thaler auf den Tisch legte, klärte sich ihr Gesicht auf, und sie wurde freundlicher gegen das Kind.
Arthur trieb die Frau zur Eile, denn vor seinem Geist stand das Bild des Kranken in dem stillen engen Zimmer, wie er die Minuten zählte, wie sein Ohr ungeduldig auf jeden Laut lauschte und sein Blick auf die Thür gerichtet war.
Die Frau folgte ihm endlich mit dem Kinde auf dem Arme, und so langten sie in dem Krankenhause an. Arthur eilte vorauf, um seinen Bruder vorzubereiten.
Als er in des Kranken Zimmer trat und diesem mittheilte, daß das Kind sogleich gebracht werde, glitt eine freudige Röthe über das bleiche Gesicht des Rittmeisters hin.
»Es kommt!« rief er und sein Auge richtete sich auf die Thür. Beide Arme streckte er dem Kinde entgegen und als es ihn erkennend seinen Namen rief, zog er es an sich, strich ihm liebkosend mit der Hand über das Haar hin und rief mit leiser, schmeichelnder, bewegter Stimme: »Grete meine Grete.«
Alles um sich vergessend, beschäftigte er sich nur mit dem Kinde, nach dem er sich während seiner Krankheit so oft gesehnt. Er setzte es auf sein Bett, blickte ihm in die großen klugen Augen und gab ihm die zärtlichsten Namen, bis die Frau endlich daran erinnerte, daß sie zurückkehren müsse.
»Ich habe keine Zeit mehr,« sprach sie mürrisch. »Es sorgt ja jetzt außer mir Niemand für das Kind. Ich glaubte in meinen alten Tagen es leichter zu haben, nun muß ich obenein noch für Andere sorgen! – Komm, Grete,« fügte sie kurz hinzu, des Kindes Arm erfassend.
Das Mädchen klammerte sich mit den kleinen Armen an seinen Vater fest, der ängstlich, gleichsam Hülfe suchend zu Arthur aufblickte.
»Geh – geh!« sprach er dann zu dem Kinde, welches er noch immer mit den Armen umschlungen hatte, als sei es ihm unmöglich, sich von ihm zu trennen. Es war ja das letzte Mal in seinem Leben, daß er es sah und an seine Brust drücken konnte.
Die Frau nahm ihm das Kind ab und verließ mit ihm das Zimmer.
Der Kranke sank auf sein Lager zurück und schloß die Augen. Seine Kräfte waren völlig erschöpft, seine Brust athmete schnell. Die Aufregung hatte ihn mehr angegriffen, als er erwartet.
Nicht ohne Rührung hatte Arthur die Vaterfreude des Kranken und den erschütternden Abschied gesehen. Er wußte, was ihn so heftig bewegte: der Gedanke, sein Kind ohne Schutz in den Händen einer Frau, die es nicht liebte, sondern nur als eine Last ansah, zurück lassen zu müssen.
Er trat zu dem Lager des Kranken, ließ sich auf den Schemel nieder und legte die Hand auf den Arm des Bruders.
»Heino, ich will für Dein Kind sorgen,« sprach er.
Der Rittmeister zuckte freudig zusammen, er versuchte, sich empor zu richten und blickte den Bruder fragend an, als vermöge er die Worte, welche er soeben gehört hatte, nicht zu glauben.
»Arthur – Du – Du?« rief er.
»Ich werde es thun, verlaß Dich auf mein Wort,« versicherte der Baron.
Die Augen des Kranken wurden feucht. Er erfaßte des Bruders Rechte mit beiden Händen und hielt sie fest.
»Sieh, dies – dies hatte ich nicht erwartet, denn ich habe es nicht verdient,« sprach er. »Jetzt würde ich viel darum geben, wenn ich die letzten zwanzig Jahre meines Lebens auslöschen, wenn ich sie noch einmal durchleben könnte! Ich habe Dir viel – viel Unrecht gethan, weil ich Dich nie verstanden.«
»Laß – Heino,« unterbrach ihn Arthur beruhigend. »Wir sind ausgesöhnt – das Vergangene ist vergessen; rege dich nicht auf.«
»Gönne mir diese Aufregung, es ist eine schmerzliche und freudige zugleich. Wenn ich noch Jahre meines Lebens durch sie erkaufen könnte, so würde ich sie nicht hingeben. Sieh, ich habe lange geschwankt, ehe ich Dich bitten ließ, zu mir zu kommen, ich war zaghaft geworden, der Gedanke, daß Du meine Bitte nicht erfüllen werdest, drängte sich mir immer wieder auf – ich habe Dich ja jetzt erst völlig kennen gelernt. Nun erfülle mir noch eine Bitte.«
»Sprich sie offen aus,« mahnte der Baron.
»Laß das Kind nicht bei der Frau, bei seiner Großmutter. Sie liebt es nicht; sie behandelt es hart und streng, das arme Wesen hat ja keinen Schutz, wenn Du Dich seiner nicht annimmst.«
»Ich werde es in mein Haus nehmen und für es sorgen, als wenn es meine Tochter wäre.«
»In Dein Haus?« rief der Kranke erfreut. »Wird – wird Deine Frau dies gern sehen?«
»Ja,« versicherte Arthur. »Wenn ich ihr das Kind heute Abend bringe und sie bitte, es in ihre Obhut zu nehmen, dann wird sie es gerne thun, denn ihr Herz ist edel und weich.«
Der Kopf des Rittmeisters sank auf das Kissen zurück, er war erschöpft. Es mochte auch der Gedanke an ihn herantreten, daß er Ella oft Unrecht gethan. Alle, mit denen er einst befreundet gewesen war, hatten ihn längst verlassen, keiner seiner früheren Freunde war zu ihm gekommen, um, ihm seine Hülfe anzubieten – jetzt fand er sie bereitwillig bei denen, von welchen er sie am wenigsten erwartet.
»Du willst das Kind heute schon mit Dir nehmen?« fragte er nach einiger Zeit; das Sprechen wurde ihm schwer.
Arthur bestätigte es.
»Nun geh,« fuhr der Kranke bittend fort, da er fühlte, daß seine Kräfte nicht länger aushielten. »Ich finde nicht die Worte, um Dir zu danken, aber hier – hier! –« Er deutete auf seine Brust. »Du hast mir die letzten Stunden meines Lebens leicht gemacht.«
»Ich komme morgen wieder zu Dir,« sprach Arthur indem er dem Bruder die Hand drückte.
Heino nickte schweigend mit dem Kopfe, ein ruhiger Zug lag auf seinem Gesichte. Sein Auge folgte dem Bruder, als dieser das Zimmer verließ, noch einmal nickte er ihm grüßend zu.
Der Baron suchte den Arzt des Krankenhauses auf, um über den Guten seines Bruders Gewißheit zu erlangen und ihn zugleich zu bitten, für eine bessere Pflege zu sorgen.
Der Arzt suchte der Frage auszuweichen.
»Sagen Sie mir offen die Wahrheit,« bat Arthur.
»Wird mein Bruder wieder genesen?«
»Nein!« gab der Arzt mit Bestimmtheit zur Antwort.
Dies eine Wort durchzuckte den Baron schmerzlich; er mußte seine Kräfte zusammenraffen, um gefaßt zu bleiben.
»Lassen Sie ihn in ein besseres und freundlicheres Zimmer bringen,« sprach er. »Ich werde gern alle Kosten, die aus der Verpflegung meines Bruders erwachsen, tragen.«
»Diese Wohlthat wird er nicht mehr genießen können,« bemerkte der Arzt.
»Glauben Sie, daß er so bald schon sterben kann?«
»Er hat Sie zur rechten Zeit rufen lassen. Ich war heute Morgen bei ihm und habe aus seinen Zügen gelesen, daß ihm nicht viele Stunden mehr vergönnt sind.«
»Stunden, sagen Sie?« rief Arthur erschreckt.«
»Sein Leben ist nicht mehr nach Tagen, sondern nur nach Stunden zu zählen.«
Arthur wollte zu ihm zurück eilen, denn als er von ihm Abschied genommen, hatte er nicht daran gedacht, daß derselbe für immer sein werde.
Der Arzt hielt ihn zurück.
»Haben Sie noch Wichtiges mit ihm zu sprechen?« fragte er.
»Nein, ich will ihm nur noch einmal die Hand drücken.«
»Dann lassen Sie mich erst nach seinem Zustande sehen.«
Der Arzt eilte in das Zimmer des Kranken und kehrte schon, nach wenigen Minuten zurück.
»Bleiben Sie hier,« sprach er. »Ihr Bruder befindet sich bereits in dem großen Processe der Auflösung, welches wir Sterben nennen. Ohne Kampf geht derselbe bei ihm vor, denn er liegt ruhig da, auf seinem Gesichte ruht ein Hauch des Friedens. Ich beugte mich über ihn und fragte, ob er Sie noch einmal zu sprechen wünsche, er schüttelte langsam mit dem Kopfe und seine Lippen flüsterten mir noch einen Gruß an Sie zu.«
»Liegt er allein?« fragte Arthur.
»Nein, ein Wärter ist bei ihm. Sie würden ihn nur aufregen, wenn Sie noch einmal zu ihm kämen. Ich werde mich seiner annehmen.«
Erschüttert verließ Arthur das Haus und doch erfüllte ein Gefühl freudiger Genugthuung seine Brust. Er war ausgesöhnt mit dem Bruder und hatte ihm die letzten Stunden des Lebens leicht gemacht.
Der Tag neigte sich bereits, als er zum Gute zurückkehrte. In dem offenen Wagen neben ihm saß die Wäscherin, mit Heinos Kinde auf dem Schooße. Er hatte Wort gehalten und es sogleich mit sich genommen.
Die Abendsonne schien freundlich und warm, von den Feldern kehrten die Arbeiter heim, ihr Tagewerk war beendet. Still, in sich gekehrt saß Arthur in dem Wagen, seine Gedanken weilten noch bei seinem Bruder, vielleicht schlossen sich dessen Augen mit dem scheidenden Tage – auch sein Tagewerk war beendet. Ein wehmüthig trauriges Gefühl hatte ihn erfaßt und doch glitt ein Lächeln über sein Gesicht hin, wenn er den Blick auf das Kind richtete, welches plötzlich, weil es fuhr, aufjauchzend die kleinen Arme emporstreckte. Es ahnte nicht, wie viel es vielleicht in dieser Stunde verlor, und wie viel es gewonnen hatte durch die treue und sichere Hand, der sein Schicksal nun anvertraut war.
Als der Baron auf dem Gute angelangt, vor seinem Hause vorfuhr, trat Ella aus der Thür und blickte erstaunt auf seine Begleitung.
»Ella, ich bringe Dir noch einen zweiten Schützling,« sprach er, indem er das Kind auf den Arm nahm und zu seiner Frau trug.
Ella verstand ihn nicht. Als er ihr indessen das Geschehene mit kurzen Worten auseinandersetzte und das Kind mit seinen großen lebhaften Augen sich unbefangen und neugierig umschaute, da nahm sie ihm freudig erröthend das Kind ab und trug es in das Haus, unter dessen Dache es Schutz und Liebe finden sollte.
Wir müssen eine lange Reihe von Jahren – achtzehn Jahre – überspringen.
Auf dem kleinen Gute hatte sich Vieles in dieser Zeit geändert. Der Baron war auf ihm wohnen geblieben, hatte die Bewirthschaftung desselben selbst in die Hand genommen und manche Verschönerung angebracht.
Den Baron selbst würde Mancher kaum wieder erkannt haben. Seine Gestalt war voller und kräftiger geworden. Wohl mischte sich in sein dunkles Haar schon hier und dort Weiß, gleichsam um anzudeuten, daß seine Vergangenheit schwere Tage zähle, auf seinem Gesichte war indessen keine Spur mehr davon zu erkennen. Was er einst geglaubt, nie vergessen zu können, das hatte die Zeit doch verwischt. Eine zufriedene Heiterkeit sprach aus seinen Zügen. Hatte er einst geglaubt, ohne die Zerstreuungen der Stadt nicht leben zu können, so fand er jetzt volle Unterhaltung in seinem Hause. Die Pflicht, welche er sich einst durch die Sorge für die beiden Kinder auferladen, hatte ihm reiche Früchte getragen und eine Fülle von Freuden ihm geschaffen, an die er einst nicht gedacht hatte.
Das Kind seines Bruders, die kleine Grete, welche er als zweijähriges Mädchen seiner Frau überbracht hatte, war zur reizenden Jungfrau geworden. Sie war für sein Herz sein Kind und sie selbst kannte keinen anderen Gedanken, als daß es ihr Vater sei, an dem sie mit vollster kindlicher Liebe und Verehrung hing.
Sie war aufgewachsen unter Ella's Leitung und Vorbilde, es war nichts versäumt, um ihren lebhaften Geist zu bilden und da sie stets nur Liebe und Güte empfangen, kannte ihr Herz auch nur das Gefühl derselben. Sie war noch wie ein Kind, welches dem Baron, wenn er aus dem Walde oder vom Felde heimkehrte, mit offenen Armen entgegenlief, welches auf die Wünsche Ella's lauschte und dieselben zu errathen suchte, noch ehe sie ausgesprochen waren.
Ihr harmlos heiterer Sinn riß Alle mit hin. Wenn sie singend durch den Park oder den Garten hinschritt, wenn sie so kindlich lustig lachte, dann scheuchte sie jede trübe Stimmung.
Auch bei Ella hatten die Jahre den Schmerz vollständig verwischt, obschon sie stiller und ernster geworden war. Es kam hinzu, daß ihre Gesundheit sich noch immer nicht völlig gefestigt hatte. Wenn sie oft in Gedanken versunken da saß und auf ihrer Stirn sich Schatten lagerten, dann umschlang Grete sie mit den Armen, blickte ihr so heiter lachend in die Augen und fuhr mit der kleinen Hand so schmeichelnd über die Stirn hin, daß auch sie lächeln mußte und ihren »Wildfang,« wie sie Grete nannte, an sich zog.
Sie liebte das Mädchen mehr als Arthur je für möglich gehalten hatte; der heitere, einschmeichelnde Charakter desselben that ihr so wohl. Wenn der Baron früher zuweilen strenge gegen das Kind gewesen war, um ihm nicht die geringste Unart ungerügt oder ungestraft hingehen zu lassen, dann war sie ihm bittend entgegen getreten, um die Strafe von ihrem Lieblinge abzuwenden.
Ebenso viel Freude hatten Arthur und Ella an Hermann erlebt, wenn schon die Erziehung desselben ihnen mehr Schwierigkeiten und Sorge verursacht hatte. Es steckte in dem Knaben ein heißes und leidenschaftliches Blut, und der Baron dachte oft an die Bedenken seiner Frau, als sie sich des Kindes angenommen hatten. Es schienen dem Knaben die Verhältnisse, in denen er lebte, zu eng zu sein, mit Leidenschaft erfaßte er irgend eine Arbeit oder ein Studium, um sich, ehe es halb beendet war, davon wieder abzuwenden.
Mit aller Strenge trat Arthur dem entgegen. Er hielt an dem Grundsatze fest, daß durch die Macht der Bildung und Erziehung jede Leidenschaft zu besiegen sei und in richtiger Einsicht erkannte er, daß das, was in dem Knaben so stürmisch gährte, ein unbewußtes Gefühl der Kraft war, die einst Tüchtiges leisten konnte, wenn sie auf den rechten Weg geleitet und durch feste Grundsätze beherrscht wurde.
Er konnte dem Knaben ohnehin, selbst wenn dieser eine Unart begangen hatte, nicht böse sein, denn Hermanns Herz war gutmüthig und erkannte die Liebe, welche ihm entgegengebracht wurde, dankbar an.
Mit großem Eifer hatte der heranwachsende Knabe Mathematik, Physik und Mechanik getrieben und der Wunsch, sich diesem Studium ganz zu widmen, war immer lebhafter in ihm geworden.
Ella war dagegen gewesen, denn da Hermann der Erbe ihres Namens und Vermögens war, hatte er nach ihrer Ansicht nicht nöthig, sich einem bestimmten Studium zu widmen. Es war nicht Stolz, der sie dagegen eingenommen, sondern der Gedanke, daß dieses Studium dem Namen und dem Stande, dem der Knabe einst angehörte, nicht entspreche.
Lächelnd hatte Arthur ihr stets zugehört. Seitdem sein Bruder, der Aelteste der Familie von Golenz, arm und verlassen im Krankenhause gestorben war, hatte er das letzte Vorurtheil, welches für seinen Namen und Stand sprach, von sich geworfen. Hatte nicht schon sein Vater durch sein wüstes und verschwenderisches Leben auf seinen Namen einen Flecken geworfen? War es nicht besser, wenn Hermann durch Kenntnisse und Arbeit sich eine Stellung errang, welche er durch das nicht große Vermögen, das er einst zu erwarten hatte, doch nicht erhielt?
»Laß ihn gewähren,« hatte er Ella stets erwiedert. »Die Anlagen und Neigungen des Knaben weisen mit Entschiedenheit auf dieses Studium hin. Er hat es nicht nöthig, um einst leben zu können; ich glaube auch nicht, daß er dies Studium später als Beruf erfassen wird, und doch wird es für ihn ein Schatz werden, der ihm im Mißgeschick treu zur Seite steht. Ich würde viel darum gegeben haben, wenn meine Bildung nicht eine einseitige und zersplitterte gewesen wäre, wenn ich nach dem Tode meines Vaters, als mir kaum soviel geblieben war, um davon leben zu können, irgend einen bestimmten Beruf hätte erwählen können. Mich schreckten damals die vielen Lücken in meiner Bildung und in meinen Kenntnissen zurück. Ich will Hermanns Zukunft sichern. Und noch Eins, was für mich von der größten Bedeutung ist. Hermanns Herz ist gut, es trägt die Anlagen eines edlen Charakters in sich, aber sein Blut ist stürmisch und leidenschaftlich. Laß uns diese Leidenschaft auf das Gute wenden; jetzt richtet sie sich auf sein Studium und wird ihn treiben, Tüchtiges darin zu leisten. Es beschäftigt seine Kraft und hält sie von falschen Wegen zurück. Hat er dies Studium beendet, dann wird sein Charakter so weit gekräftigt sein, daß er sich durch die Schwierigkeiten und Verlockungen des Lebens hindurchkämpft.«
Ella hatte nachgegeben und Hermann war seiner Neigung gefolgt. Er befand sich auf der Universität, hatte sein Studium beendet und kehrte in wenigen Tagen zurück, um vor der Hand auf dem Gute zu bleiben.
Grete war für Hermann eine getreue und lustige Gespielin gewesen, wild wie er selbst und vor nichts zurückschreckend, wenn er der Anführer war. Schon als Kinder hatten sie sich eng an einander geschlossen und erst als Hermann die Schule und später die Universität besuchte und nur während der Ferien auf dem Gute weilte, war ein anderes Verhältniß zwischen ihnen eingetreten. Das heranwachsende Mädchen, welches wußte, daß er nicht ihr wirklicher Bruder war, war ihm zurückhaltender entgegengetreten, es empfand ein Gefühl der Befangenheit in seiner Nähe, und doch hing sein Herz an ihm noch eben so sehr, ja sogar inniger.
Ellas und Arthurs Augen war dies nicht entgangen und es wurde dadurch der Wunsch, der schon längst in ihnen keimte, gereift, daß beide einst ein Paar werden müßten. Beide waren gut und in ihrer Vereinigung schien die sicherste Bürgschaft für ihr Glück zu liegen.
Ella hatte längst errathen, daß Grete Hermann liebte; nur dieser selbst schien davon keine Ahnung zu haben. Er betrachtete Grete noch immer als Jugendgespielin, würde Alles für sie geopfert haben, allein seinem Herzen schien sie nicht nahe zu sein.
»Ich glaube, er weiß noch gar nicht, was Liebe ist,« rief Arthur lachend, wenn Ella hierüber zu ihm sprach.
»Jetzt haben nur die Gedanken für sein Studium in ihm Raum, das lustige Studentenleben gefällt ihm und zerstreut ihn, in seinem Jugendübermuthe scheint er noch gar nicht daran zu denken, daß er auch lieben könne. Es wird anders werden, wenn er erst nicht mehr die farbige Mütze trägt, wenn er zu uns zurückgekehrt ist, und in das ruhige Leben hier tritt.«
»Und wenn es nun nicht anders wird?« warf Ella besorgt ein. »Dich täuscht vielleicht Gretes heiteres Gemüth, ihr Lachen und Singen. Sie ist ein tieferer Character, als Du ahnst. Sie liebt Hermann mit einer Innigkeit, ja Leidenschaft, welche sie kaum noch zu verbergen im Stande ist, denn sie erröthet schon, wenn von ihm gesprochen wird. Es ist ihre erste Liebe, die langsam in ihr gekeimt ist und sich befestigt hat; sollte sie in ihr getäuscht werden, so würde, glaube ich, auf ihr ganzes Leben ein Schatten geworfen.«
»Du siehst zu finster,« entgegnete Arthur. »In dem Alter vergißt man schneller.«
»Gewiß, nur nicht bei Gretes Charakter. Die erste Täuschung, welche das Herz erfährt, ist die bitterste, und ich würde viel darum geben, wenn ich sie davor bewahren könnte.«
»Mach Dir nicht vor der Zeit Sorgen, Ella!« unterbrach sie Arthur. »Es ist ja auch mein inniger Wunsch, daß sie Hermanns Frau wird. Laß ihm Zeit; wenn sein Jugendübermuth verraucht ist, dann wird er sehen, wie schön Grete geworden ist und ihr hübsches Bild wird sich seinem Herzen fester und fester einprägen. Ich bin überzeugt, daß auch er sie bereits liebt, ohne daß er sich der Liebe bewußt ist.«
Ella schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.
»Ein Frauenherz ist anders als das des Mannes,« fuhr Arthur fort. »Es gleicht der stillen Blume, welche ihren Kelch erschließt und sehnend, verlangend der Sonne zuwendet. Sie ist gebannt an die Stätte, an der sie Wurzeln geschlagen, sie hofft und harrt in Ergebung, bis der Geliebte, dem ihr Herz bereits gehört, sich ihr naht. Des Mannes Herz ist anders. Es gleicht dem Schmetterlinge, der lustig in den Frühlingsmorgen hinausflattert. Sein Herz ist bereits von einem Ideal der Liebe erfüllt. Wo findet er es? Lustig im Sonnenscheine sich wiegend, flattert er über die Flur hin, bis er die Blume findet, nach der er sich gesehnt.«
»Und wenn er eine andere Blume findet?« fragte Ella.
»Halt!« fiel Arthur ein. »Es giebt für jedes Menschenherz nur ein Herz, welches er wirklich lieben – und das ihn ganz glücklich machen kann – das weißt Du ja!« Er streckte seiner Frau die Hand entgegen und mit glücklichem Lächeln erfaßte Ella dieselbe. Sie hielt dieselbe fest und blickte ihrem Gatten lieb ins Auge.
Es giebt ein Glück, für dessen Innigkeit die Sprache kein Wort besitzt, nur ein Blick, oder der Druck der Hand vermag dasselbe auszudrücken. Und es ruht ein Hauch der Poesie über diesem Glücke, der nur empfunden, aber nicht ausgesprochen werden kann. Wer im Stande ist, dem höchsten Glücke und dem höchsten Schmerze Worte zu verleihen, kennt beide nicht! Er ist arm! Der Tag, an welchem Hermann nach Beendigung seiner Studien von der Universität heimkehrte, war erschienen. Auf dem Gute herrschte eine freudige Aufregung. Der Baron hatte ihm bis zur Stadt entgegenfahren wollen und doch diesen Gedanken wieder aufgegeben, denn nicht unter fremden Menschen wollte er ihn empfangen, sondern daheim, um nicht nöthig zu haben, seiner Freude irgend welchen Zwang anzulegen.
Er wußte, daß Hermann erst am Nachmittage eintreffen konnte und schon am Morgen schritt er ungeduldig durch den Park hin. Jede Stunde dieses Tages schien sich bis zur Unendlichkeit auszudehnen.
Hermann hatte in seinem Herzen einen Platz eingenommen, dessen Tiefe er selbst kaum geahnt hatte. Fester und fester hatte der Knabe sich darin eingewurzelt und als er endlich zum Jüngling herangereift, war aus dem angenommenen Kinde ihm ein Freund erwachsen, der mit innigster Liebe an ihm hing, der ihn liebte als Vater, ihn verehrte als Wohlthäter und sich ihm mit der vollen Offenheit der Jugend anschloß.
Ella sah der Ankunft des Sohnes mit stiller Freude entgegen. Ruhiger malten ihre Gedanken sich aus, wie die hübsche Gestalt desselben noch mehr zum Mann herangereift wäre, denn seit einem Jahre hatte sie ihn nicht gesehen. Ihr eignes Kind hätte sie nicht mehr lieben können als Hermann, sie verbarg diese Liebe nicht, sie erschien indessen bei ihr in dem sanften milden Lichte, welches ihr ganzes Wesen verklärte.
Mit jener, kränklichen Personen eigenthümlichen Geduld erwartete sie den Ankommenden. Sie wünschte ihn auch nicht früher herbei, denn in diesem Erwarten, in diesem Ausmalen seiner Gestalt, in dieser ganzen freudigen Erregung lag ein großer Zauber für sie.
In der aufgeregtesten Weise sah Grete der Ankunft des Heimkehrenden entgegen. Unwillkürlich hatte sie sich sorgfältig an diesem Tage geschmückt, sie sang und lachte und dann plötzlich verfiel sie in stilles Nachdenken. Hermanns Zimmer hatte sie selbst in Ordnung gebracht. Auf dem Tische stand ein schöner Strauß frischer Blumen, um sein Bild hatte sie einen Kranz von Eichenblättern gehängt und dann hatte sie denselben wieder abgenommen, als befürchte sie, der Kranz möge verrathen, mit welchen Empfindungen sie ihn gewunden.
Sie gab sich Mühe, ruhig zu erscheinen, und doch konnte man ihr Herz freudig pochen sehen, sie schloß die Baronin mit leidenschaftlicher Innigkeit in die Arme und saß dann wieder still träumend da.
Arthur und Ella saßen im Garten, mit jeder Minute Hermanns Ankunft erwartend.
Grete war in das Haus gegangen, aus dessen oberen Fenstern man weithin auf die zur Stadt führende Straße blicken konnte.
Aufgeregt kam sie in den Garten geeilt.
»Er kommt, er kommt!« rief sie freudig erröthend und als der Baron und seine Frau aufsprangen, wollte sie sich selbst niederlassen und eine weibliche Arbeit erfassen, als fühle sie, daß sie die freudige Ungeduld ihres Herzens allzudeutlich verrathen habe.
Ella erfaßte ihre Hand und zog sie mit sich.
Vor der Thür erwarteten Arthur, Ella und Grete den Ankommenden. Als der Wagen über den Hof daherrollte, schwenkte Hermann grüßend die farbige Burschenschaftsmütze, und ehe der Wagen anhielt, war er schon ungeduldig aus ihm gesprungen und dem Baron entgegengeeilt.
»Mein Papa!« rief er, den Mann mit den Armen umfangend, der so unendlich viel für ihn gethan, der zum Vater für ihn geworden war.
»Willkommen, Hermann, willkommen!« rief Arthur freudig. »Ich habe Dich schon seit Stunden erwartet! Weshalb hast Du die Pferde nicht schneller antreiben lassen? Hast Du Dich denn nicht hierher gesehnt, Junge?«
Er wollte ihm in die Augen schauen, allein Hermann machte sich aus seinen Armen los und eilte auf seine Mutter zu.
»Mama, Mama!« rief er und warf sich an ihre Brust.
Noch ein Kind in diesem Augenblicke, umfing er sie wie einst. Und als sie ihn auf die Stirn küßte, als sie liebkosend, sanft mit der Hand über sein Haar hinstrich, blickte er mit feuchtem Auge und doch glücklich lächelnd zugleich zu ihr auf. An ihrem Herzen hatte er so oft geruht, und so weit seine Erinnerung zurückreichte, erblickte er im Geiste stets nur ihre milden, sanften Züge.
Schüchtern war Grete hinter ihren Eltern halb in der Thür stehen geblieben.
»Nun, Grete, willst Du mich nicht begrüßen?« rief Hermann, indem er ihr die Arme entgegenstreckte.
Eine freudige Röthe flammte auf ihren Wangen auf, sie wollte ihm entgegeneilen, sich an seine Brust werfen, und doch hielt es sie zurück.
»Komm, bist Du mir gegenüber schüchtern geworden?« fuhr Hermann übermüthig lustig fort, zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn. »Wahrhaftig, Du bist noch größer geworden,« fügte er hinzu, indem sein Auge über ihre schlanke Gestalt hinglitt.
Sie wollte sich von ihm los winden, er hielt sie an der Hand fest und setzte ihr seine farbige Mütze auf den lockigen Kopf.
»Mama, wie herrlich Grete die Mütze kleidet!« rief er lachend. »Wie schade, daß Du nicht ein Junge bist, einen hübscheren und flotteren Studenten würde es schwerlich gegeben haben!«
Ein Zug der Trauer glitt über des Mädchens hübsches Gesicht hin. Dieser Scherz paßte so wenig zu ihrer Stimmung. Würde er sie so begrüßt haben, wenn er sie liebte?
Ella bemerkte, was in Grete vorging. Sie zog sie an sich, ihr die Mütze vom Kopfe nehmend.
Der Baron lachte laut.
»Genau noch der übermüthige alte!« rief er. »Ich glaubte, Du würdest ernster geworden sein, da die Studentenzeit vorüber ist. Nun, es möge Dir immer dieser heitere Sinn erhalten bleiben.«
Er kehrte, von Hermann und Ella begleitet, in den Park zurück, Grete war in das Haus geeilt.
»Es wurde mir schwer, als ich die Universität und die alten Freunde verließ, von denen ich manchen wohl nie wiedersehen werde,« sprach Hermann. »Und jetzt freue ich mich doch, daß ich hier bin.«
Er reichte den Eltern noch einmal beide Hände, und sein Auge glitt durch den Park hin, über den Rasenplatz und die Blumenbeete, sie alle riefen Erinnerungen einer glücklichen Jugend in ihm wach.
Mit Freude ruhten Arthur's und Ella's Augen auf dem Heimgekehrten, denn in dem Jahre, in welchem sie ihn nicht gesehen, hatte sich sein Körper außerordentlich entwickelt. Seine Gestalt war nur mittelgroß, aber kräftig, es ruhte noch die volle Frische der Jugend auf ihr. Sein Gesicht war hübsch und erhielt durch die klugen, lebhaften Augen einen erhöhten Reiz. Die fein geschnittenen Lippen verriethen einen festen und entschiedenen Willen, und Entschiedenheit prägte sich in seinem ganzen Wesen aus.
Hermann erzählte von der lustigen Burschenzeit, von seinen Vergnügungen und seinen Arbeiten, und es war, als ob Arthur noch einmal mit ihm jung geworden wäre, denn so lustig hatte Ella ihn seit langer Zeit nicht lachen hören.
»Du wirst nun bei uns bleiben,« sprach sie zu Hermann.
»Wird es Dir hier nicht zu still werden?«
»Nein,« entgegnete der Gefragte. »Ich bin ja stets so glücklich gewesen, wenn ich in den Ferien hieher kam! Ich habe mich lange auf diese Zeit gefreut und will den Papa in der Bewirthschaftung des Gutes unterstützen, da es doch Euer Wunsch ist, daß ich das Gut einst übernehme.«
»Wünschest Du dies nicht auch?« warf Ella ein.
Eine leichte, flüchtige, kaum bemerkbare Röthe glitt über Hermann's Wangen hin. Sein Wunsch hatte sich ein anderes Ziel gesteckt, gern hatte er denselben jedoch seinen Eltern gegenüber aufgegeben, da er ihnen so unendlich viel zu danken hatte.
»Doch, Mama,« gab er zur Antwort. »Ich wünsche es schon deshalb, weil ich dann bei Euch bleiben kann.«
Arthur hatte dies Erröthen nicht bemerkt, weil sein Auge nicht die gleiche Feinheit und Schärfe in der Beobachtung besaß, als das Ella's.
»Du wirst hier jetzt auch mehr Unterhaltung finden als früher,« sprach er. »Unser alter Nachbar hat sein Gut verkauft und ist in die Stadt gezogen, ein Herr von Reden hat dasselbe erworben. Es ist ein noch junger Mann, einige Jahre älter als Du, lebenslustig und ein vortrefflicher Gesellschafter. Ich hoffe, daß Ihr bald gute Freunde werdet, denn wenn nicht Alles täuscht, so passen Eure Charaktere zu einander. Er hat freilich weniger gelernt als Du, besitzt aber mehr Kenntniß vom Leben, da er viel gereist ist und längere Zeit in der Residenz gelebt hat.«
»Seid Ihr genauer mit einander bekannt?« warf Hermann ein.
»Er besucht uns oft, und da ich gespannt bin, ob Du Dich zu ihm hingezogen fühlen wirst, habe ich ihn gebeten, morgen zu uns kommen.«
Hermann nahm diese Mittheilung ziemlich gleichgiltig auf.
Grete trat in den Park zu ihnen, ihre Augen waren geröthet, sie schien geweint zu haben. Sie war äußerlich ruhig, und doch verrieth das leise Beben ihrer Stimme, durch einen wie schweren Kampf sie diese Ruhe erkauft hatte. Es war, als ob aus ihrem Lächeln immer noch ein innerer Schmerz sprach.
Arthur forderte Hermann auf, mit ihm einen Spaziergang durch den Park zu machen; Arm in Arm wie zwei Freunde schritten sie dahin.
»Ich wollte Dich für kurze Zeit allein haben,« sprach der Baron, als Ella und Grete ihn nicht mehr hören konnten.
»Es drängt mich, Dir etwas mitzutheilen, was ich Dir nicht schreiben mochte. Nachdem Du Dein Studium beendet hast, bist Du in einen neuen Lebensabschnitt eingetreten. Du bist erwachsen, und ich möchte Dich so stellen, daß Du weniger von mir abhängig bist.«
Fast erschreckt blickte Hermann zu ihm auf, er verstand diese Worte nicht.
»Du bist Erbe meines Namens und Vermögens,« fuhr der Baron fort, »und Du kannst leicht in die Lage kommen, in der es Dir Pflicht ist, meinen Namen zu vertreten. Ich habe Dir bis jetzt zur Bestreitung Deiner Ausgaben eine bestimmte Summe gegeben, das möchte ich künftig nicht mehr. Ich will Dich nicht mehr beschränken, verlange so viel von mir wie Du brauchst, ich werde es Dir gern geben, ohne zu fragen, zu welchem Zwecke Du es verwendest.«
»Nein, Papa, laß es, wie es bisher gewesen ist!« rief Hermann.
»Es ist mein Wunsch, daß Du selbstständig und Deinem Namen angemessen auftrittst,« bemerkte der Baron. »Ich habe die volle Zuversicht zu Dir, daß Du mein Vertrauen weder täuschen, noch mißbrauchen wirst.«
»Gewiß nicht – nie!« versicherte Hermann bewegt.
»Du überhäufst mich mit Güte, Dir verdanke ich mehr als mein Leben und noch habe ich nichts thun können, um wenigstens einen Theil des Dankes abzutragen!«
»Laß das, Hermann,« fiel der Baron ein. »Ich will Dir sagen, wodurch Du Dich uns dankbar beweisen kannst: dadurch, daß in keiner Lebenslage das Vertrauen zu mir und deiner Mutter erschüttert wird. Du weißt, daß wir es gut mit Dir meinen. Sieh, als wir einst Dich, das Kind eines Bettlers, zu unserem Kinde annahmen, da thaten wir es in der festen Zuversicht, daß es uns gelingen werde, Dich so zu erziehen, daß Du unseres Namens würdig werdest. Wir haben es nicht bereut, keine Minute lang, nun bleibe, wie Du bist, gut und lebensfroh. Du hast ein heißes, leidenschaftliches Blut, allein Du besitzest auch die Kraft, dasselbe zu beherrschen. Das vergiß nie!«
Hermann warf sich seinem Vater an die Brust. Er konnte in diesem Augenblicke nicht sprechen, allein seine Bewegung verrieth, wie es ihm ums Herz war. –
Grete trat Hermann schon am folgen Tage wieder unbefangener entgegen, nur wenn er in seiner übermüthig heiteren Laune sie noch wie den früheren Spielkameraden behandelte, zuckte ein leiser schmerzlicher Zug über ihr Gesicht hin.
»Du bist anders geworden, Grete!« rief er. »Früher war Dir kein Bach und Graben zu breit, wenn ich voran sprang, jetzt hast Du nicht mehr Lust, mir zu folgen. Wir müssen aber wieder gute Kameraden werden.«
»Sind wir es nicht?« entgegnete Grete mit ihrem feinen Lächeln. »Du vergißt nur, daß wir älter geworden sind.«
»Dürfen wir deshalb nicht mehr lustig sein? Komm, wir wollen einmal wieder versuchen, wessen Füße die schnellsten sind. Früher hast Du mich öfter besiegt.«
Grete schüttelte schweigend und ablehnend mit dem Kopfe.
Unwillig stand Hermann auf, verließ sie und schritt durch den Park hin. Mit einem traurigen Blicke sah Grete ihm nach. Verstand er denn nicht, weshalb sie mit ihm nicht mehr spielen konnte wie einst? Früher hatte er sie, wenn sie in tollem Laufe den Abhang im Garten herabgeeilt war, unten oft in seinen Armen aufgefangen. Begriff er nicht, weshalb dies nicht mehr ging? Er war unwillig weggegangen und sie konnte ihn nicht zurückhalten, denn was in ihrem Herzen vorging, durfte sie nimmermehr verrathen.
Am Nachmittag kam der Herr von Reden, eine hoch aufgeschossene Gestalt mit blondem Haar und weichen, fast ausdruckslosen Gesichtszügen. Durch seine Reisen und das Leben in der Residenz hatte er sich ein leichtes, gefälliges Wesen und die Formen der feinen Gesellschaft angeeignet. Er verstand mit Gewandtheit zu erzählen und dadurch zu fesseln, selbst wenn der Gegenstand noch so dürftig war.
Er kam Hermann in der freundlichsten Weise entgegen.
»Ich kenne Sie bereits sehr genau aus den Erzählungen Ihres Vaters und konnte wirklich kaum den Tag erwarten, um Sie persönlich zu begrüßen,« sprach er, Hermann wie einem längst Bekannten die Hand darreichend.
»Und nun werden Sie finden, daß mein Papa mit zu günstigen Farben gemalt hat,« erwiederte Hermann lächelnd. »Er ist zu gutmüthig, um auch die Schattenseiten in sein Gemälde mit aufzunehmen.«
»Nein, nein,« wehrte Reden einfallend ab, »Sie thun sich selbst unrecht, wenn Sie zu bescheiden sind.«
Der Baron hatte nach einem schattigen Platz im Parke Wein bringen lassen, dorthin begaben sie sich. Er war erfreut, daß die beiden jungen Männer so schnell an einander Gefallen zu finden schienen.
»Nun wollen wir auf gute Nachbarschaft und Freundschaft anstoßen,« rief er, die Gläser füllend. »Die Menschen, welche zu einander passen, müssen zusammenhalten!«
»Ich bin glücklich, seitdem ich Sie kennen gelernt habe,« versicherte Reden. »Als ich das Gut gekauft hatte, war es mir fast leid – jetzt würde ich es um keinen Preis wieder hergeben.«
»Ich bedauere, daß ich nicht in der Lage bin, Sie auf die Probe stellen zu können,« warf Hermann lächelnd ein.
»Auch ich bedauere dies, denn Sie würden dadurch die volle Wahrheit meiner Versicherung erkennen,« bemerkte Reden.
Der Baron führte in heiterer Weise die Unterhaltung, denn er fühlte sich glücklich, weil er seinen Sohn nun wieder bei sich hatte und er war stolz auf ihn.
Anfangs gab Reden sich mit vollem Interesse der Unterhaltung hin. Dann schien er zerstreuter zu werden und oft die Worte kaum zu hören, die gesprochen wurden. Wiederholt richtete sich sein Blick ungeduldig suchend auf den Weg, der zum Hause führte.
Hermann bemerkte es, ohne den Grund dieser Ungeduld zu errathen. Da kam Grete durch den Park daher, und sobald Reden sie gesehen hatte, glitt eine leichte Röthe über sein Gesicht hin und seine Züge nahmen einen lebhafteren Ausdruck an. Nach ihr hatte er sich also gesehnt.
Wäre Hermann hierüber noch im Zweifel gewesen, so würde die Aufmerksamkeit, welche der junge Gutsbesitzer Grete widmete, ihm Gewißheit gegeben haben. Nur auf sie war sein Blick gerichtet, sein Ohr hörte nur auf ihre Worte.
Grete war ihm gegenüber freundlich und artig, nichts verrieth an ihr eine innere Aufregung, und doch glaubte Hermann diese zu erkennen. Sprach sie mit Reden nicht mehr als mit ihm? Lächelte sie nicht, wenn derselbe etwas erzählte, was zu erzählen kaum der Mühe lohnte?
Still beobachtend, scheinbar in Gedanken versunken saß er da. Was in ihm vorging, verstand er selbst nicht, allein ihn ärgerte Gretens Freundlichkeit und Redens Unterhaltung. Es ärgerte ihn, daß er auf gute Nachbarschaft und Freundschaft mit ihm angestoßen! Der erste Eindruck, welchen der Gutsbesitzer auf ihn gemacht hatte, war ein ganz günstiger gewesen, schon war derselbe indessen wieder geschwunden.
Endlich sprang er auf und schritt dem Hause zu. Es war ihm so eng in der Brust geworden, daß er sich heraus sehnte in's Freie.
»Wohin willst Du?« fragte Ella, welche aus dem Hause trat und seine Hand erfaßte. Sie bemerkte, daß er erregt war.
»Auf mein Zimmer, um kurze Zeit allein zu sein,« entgegnete er. »Ich bin müde, der Wein hat mich abgespannt – ich bin nicht gewöhnt, am Tage Wein zu trinken. Außerdem spricht der Herr von Reden zuviel, er erzählt und erzählt, das hat mich schwindlich gemacht.«
Ehe Ella noch ein Wort hinzufügen konnte, hatte er seine Hand aus der ihrigen gezogen und war in das Haus geeilt.
Er begab sich auf sein Zimmer, riß das Fenster auf, da die Luft ihm schwül erschien, warf sich auf das Sopha, sprang jedoch nach wenigen Minuten wieder auf und eilte fort auf einem Umwege in den Wald. Er kannte dort einen Platz unter einer Eiche, ringsum eingeengt von Gebüsch, es war sein Lieblingsplatz als Knabe gewesen – dorthin begab er sich.
Der Platz war noch wie einst, nur das Gebüsch war höher geworden. Dicht an dem Stamme der Eiche auf dem Moose warf er sich nieder. Die Hände unter den Kopf gelegt, blickte er hinauf zu den knorrigen Aesten und Zweigen, durch welche der blaue Himmel hindurch schimmerte. Schon als Knabe hatte er oft so hier gelegen. Damals hatte sich sein Blick in die Zukunft gerichtet und seine Phantasie hatte dieselbe aufgebaut und belebt, jetzt stiegen die Bilder der Vergangenheit in ihm auf und seine Gedanken weilten nur zu gern bei denselben.
So manchen kleinen Zug führte das einmal erregte Gedächtniß ihm zurück. Er hatte im Walde mit Grete Beeren gesucht, plötzlich war er ihr in übermüthiger Laune davon gelaufen und hatte sich an diesem Platze versteckt. Grete hatte ihn gesucht, er hörte wie sie ängstlich seinen Namen rief, er ließ sie anfangs ungestört rufen, weil es ihm Freude machte, daß sie ihn suchte. Dann antwortete er als Echo auf ihr Rufen und es belustigte ihn, wie sie dem Schalle folgend, sich ihm immer mehr näherte. Als sie ganz nahe bei ihm war, sprang er hervor, schloß sie in seine Arme und lachte über ihr Erschrecken und das rasche Pochen ihres jungen Herzens.
Wie eine goldene Zeit erschien ihm diese Jugenderinnerung und der Gedanke, daß dieselbe nie wiederkommen könne, legte sich mit stiller Trauer um sein Herz. Weshalb war er nicht immer ein Knabe geblieben und Grete ein Kind? Er sah sie im Geiste noch mit gerötheten Wangen, mit leuchtenden Augen, die vollen Locken in tollster Verwirrung.
Wie anders war sie jetzt geworden. Als er bei seiner Heimkehr ihr die Arme entgegengestreckt, war sie schüchtern befangen zurückgetreten. Früher würde sie sich lachend, jubelnd an seine Brust geworfen haben. Was hatte die Veränderung in ihr hervorgerufen?
Er verstand nicht den sinnigen Zug des Mädchenherzens, welches schüchtern das am meisten zu verbergen sucht, was es ganz erfüllt. Er ahnte nicht, daß für ein Mädchenherz die erste Liebe etwas so heiliges ist, daß es dieselbe still in sich wahrt.
Sollte Reden diese Veränderung bei Grete hervorgerufen haben? Er glaubte es, denn er hatte gesehen, wie sehr sich derselbe bemühte, ihr zu gefallen.
Stunden waren dahin geeilt, ohne daß er es gewahr wurde; erst die hereinbrechende Abenddämmerung schreckte ihn auf. Er wußte selbst kaum, ob er geschlafen oder nur geträumt habe. Langsam kehrte er zum Gute zurück. In dem Parke kam ihm sein Vater entgegen, der ihn suchte.
»Hermann, wo bist Du gewesen?« rief der Baron, nicht ohne Erregung. »Schon seit länger als eine Stunde suchen wir Dich.«
»Ich war in den Wald gegangen, habe dort einen meiner früheren Lieblingsplätze aufgesucht, mich auf das Moos hingestreckt und bin eingeschlafen,« entgegnete der Gefragte. »Der Wein – die Luft – dies Alles hatte mich müde gemacht.«
»Nun das nenne ich wahrhaftig einen gesunden Schlaf,« fuhr der Baron lachend fort. »Es war mir übrigens des Herrn von Reden wegen unangenehm, daß Du plötzlich verschwunden warst. Ich ließ Dich im Hause suchen und im Parke – nirgend warst Du zu finden. Ich war in Verlegenheit, wie ich Dich entschuldigen sollte, denn sehr artig erschien Dein Verschwinden nicht. Wäre Reden nicht ein so prächtiger und gutmüthiger Mensch, so würde er es übel genommen haben; er versicherte jedoch, daß er Dir durchaus deshalb nicht zürne und dies dadurch beweisen werde, daß er bald wiederkomme.«
Diese letzten Worte wirkten unangenehm auf Hermann ein.
»Und was würde es mir schaden, wenn er mir zürnte,« warf er ein. Diese Aeußerung war ihm entschlüpft und er bereute sie schon, als er sie kaum ausgesprochen.
Erstaunt blickte ihn der Baron an; er schien den gehörten Worten nicht glauben zu können.
»Wie, Hermann, dies wäre Dir gleichgiltig?« rief er. »Ich war der Ueberzeugung, daß Reden Dir sehr gut gefallen habe und hoffte, daß Ihr bald Freunde werden würdet.«
Hermann zuckte ausweichend mit der Schulter.
»Sprich Dich offen aus, denn Du erscheinst mir wie ein Räthsel,« bemerkte der Baron.
Einen Augenblick zögerte Hermann mit der Antwort, denn er wußte, daß seine Worte seinen Vater unangenehm berühren würden und hätte dies gern vermieden. Es war indessen schon zu spät.
»Reden wird nie mein Freund werden,« sprach er. »Ich will zugestehen, daß er gewandt zu sprechen versteht, allein sein ausdrucksloses Gesicht, seine Worte ohne Inhalt, sein Lächeln ohne Grund stößt mich mehr ab, als es mich, anzieht.«
»Du beurtheilst ihn zu hart und zu streng,« warf der Baron ein. »Er besitzt nicht die Kenntnisse, welche Du Dir erworben hast, allein er versteht, vortrefflich zu unterhalten und wie ich gesehen habe, ist er Dir in der freundlichsten Weise entgegen gekommen.«
»Vielleicht zu freundlich,« bemerkte Hermann. »Ich habe gegen einen Jeden ein Mißtrauen, der seine Freundschaft gleichsam aufdrängt, denn nach meiner Ueberzeugung muß dieselbe, wenn sie überhaupt Dauer haben soll, langsam heranwachsen.«
»Es würde mir leid thun, wenn wir Redens Umgang verlören, denn er hat uns schon manche Stunde abgekürzt,« fuhr Arthur fort. »Lerne ihn näher kennen und ich bin überzeugt, daß Du ihn lieb gewinnen wirst.«
Sie waren in das Haus getreten. Durch Hermanns Schuld war eine leichte Mißstimmung hervorgerufen, die ihn selbst um so peinlicher berührte, weil er erst so kurze Zeit wieder in dem Vaterhause war. Er wollte sich bekämpfen, ein Blick auf Grete vernichtete seinen Vorsatz. Auf ihrem Gesichte lag ein vorwurfsvoller Ausdruck. Sie konnte nicht verbergen, wie schmerzlich es sie berührt, daß er fortgegangen war und sie der Unterhaltung Redens, der ihr nicht das geringste Interesse einflößte, überlassen hatte. Hermann deutete dies anders. Er glaubte, aus ihren Augen den Vorwurf zu lesen, daß er gegen Reden nicht freundlich genug gewesen sei und diese Vermuthung war wenig geeignet, sein aufgeregtes Blut zu beruhigen. Er schützte Müdigkeit vor und begab sich früh auf sein Zimmer.
Weder Arthur noch Ella verstanden ihn. Sollte er ein Anderer geworden sein, als er bisher gewesen war?
Sein offenes, heiteres Wesen schien ihnen plötzlich verändert zu sein.
»Ich begreife ihn nicht,« sprach Ella zu ihrem Gatten, als sie allein waren. »Er ist erregt und verstimmt, es ist eine Veränderung mit ihm vorgegangen, die mich schmerzt. Früher theilte er mir Alles offen mit, jetzt verschließt er Etwas in sich.«
Arthur schwieg. Was Ella ihn mitgetheilt, hatte er selbst bemerkt und empfunden, und doch mochte er sie dadurch, daß er ihre Wahrnehmung bestätigte, nicht noch mehr beunruhigen.
»Er wird anders werden,« entgegnete er endlich. »Es ist ein Abschnitt in seinem Leben eingetreten: der Uebergang aus dem lustigen, ungebundenen Studentenleben in unseren stillen und einfachen Kreis; vielleicht ist es dies, was ihn mehr erregt, als er selbst weiß.«
Zwei Tage später kam Reden schon wieder zum Besuche, der Baron empfing ihn im Garten, in welchem er sich zufällig befand. Er konnte aus diesem Besuche schließen, daß Reden Hermanns auffallendes Benehmen nicht übel genommen, zugleich fiel ihm aber die ungewohnte Zeit – denn es war noch Morgen – und die sichtbare Unruhe des jungen Gutsbesitzers auf.
Er wollte ihn ins Haus führen, Reden lehnte dies ab.
»Bitte, lassen Sie uns hier bleiben,« bat er. »Es ist mir angenehm, daß ich Sie allein treffe, denn mit Ihnen wünschte ich zu sprechen.«
Seine Worte klangen nicht unbefangen wie gewöhnlich, ein Gefühl der Verlegenheit prägte sich auf seinem Gesichte aus.
»Sie machen mich neugierig!« rief Arthur lächelnd. »Nun, ich stehe Ihnen natürlich jeder Zeit mit Vergnügen zur Verfügung.«
»Es wird Ihnen auffallen, daß ich zu so ungewohnter Zeit gekommen bin,« fuhr Reden fort, er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, allein er stockte.
»Durchaus nicht!« entgegnete Arthur. »Sie wissen ja, daß Sie hier jederzeit willkommen sind. Will man wirklich gute Nachbarschaft halten, dann darf man sich nicht zu streng an gewisse Formen binden, da sie den gemüthlichen und vertraulichen Verkehr nur beengen.«
»Herr Baron, mich hat ein bestimmter Zweck heute zu Ihnen geführt,« nahm Reden mit einem gewissen feierlichen Ernste aufs Neue das Wort. »Ich – ich bitte Sie um die Hand Ihrer Pflegetochter.«
Arthur war aufs Höchste überrascht, denn hieran hatte er in der That nicht gedacht.
»Sie sehen mich überrascht, Herr von Reden,« rief er.
»Ich hatte ja keine Ahnung; ich habe wahrhaftig geglaubt, Ihre Besuche hätten stets mir gegolten.«
»Wollen Sie mich wenige Minuten lang anhören?«
»Natürlich!«
»Ich habe Ihre Pflegetochter geliebt, seitdem ich sie zum ersten Male gesehen,« fuhr der junge Gutsbesitzer fort und es kehrte, nun er das ihn bedrückende Geheimniß verrathen hatte, seine gewohnte Geläufigkeit im Sprechen zurück. »So laut auch mein Herz für sie schlug, so habe ich doch meine Liebe mit Gewalt geheim gehalten. Ich wollte Ihrer Tochter sowohl wie Ihnen zuvor Gelegenheit geben, mich kennen zu lernen, Herr Baron. Sie sind mir stets mit der größten Freundlichkeit entgegen gekommen, ich sah darin einen Beweis, daß Sie Zutrauen zu mir gefaßt – und dies – dies hat mir den Muth gegeben, diese Bitte gegen Sie auszusprechen. Es liegt in Ihrer Hand, einen Menschen glücklich zu machen. Was ich für Ihre Tochter empfinde, ist nicht eine flüchtig entstandene Neigung, sondern die wahrste und innigste Liebe. Ich habe mein Herz geprüft seit Wochen und Monaten und ich weiß, daß es mich nicht täuscht. Die eine Versicherung kann ich Ihnen geben, daß ich Alles, Alles aufbieten würde, um Ihre Tochter glücklich zu machen.«
»Ich glaube Ihnen,« versicherte Arthur, der seine Ueberraschung noch immer nicht überwinden konnte. Er hatte Reden gern, er schätzte ihn, er konnte indessen den lange gehegten Wunsch, daß Hermann Grete heirathen möge, so schnell nicht zurückdrängen. »Ich glaube Ihnen,« wiederholte er, »allein haben Sie denn – haben Sie denn mit Grete bereits hierüber gesprochen.«
»Noch nicht, ich wagte es nicht, ehe ich nicht Ihrer Einwilligung gewiß war.«
»Und Sie wissen nicht, ob das Mädchen Sie liebt?«
»Nein, ich hoffe indessen, daß ich keinen unangenehmen Eindruck auf sie gemacht habe, denn sie ist stets freundlich gegen mich gewesen. Ich werde ihr meine Liebe gestehen, sobald Sie mir die Gewißheit gegeben haben, daß Sie mir ihre Hand nicht verweigern werden. Darf ich hoffen, Herr Baron?«
Arthur zögerte mit der Antwort. Er konnte sich so schnell nicht entscheiden, denn diese Frage war zu unerwartet an ihn herangetreten, er mochte es auch nicht thun, ehe er mit Ella Rücksprache genommen.
»Herr von Reden, ich will offen gegen Sie sprechen, als Mann gegen Mann,« entgegnete er. »Daß ich Sie hochschätze und gern habe, wissen Sie, legen Sie deshalb meine Worte nicht falsch aus. Es ist gegen meinen Grundsatz, irgend eine Zusicherung zu geben, ehe ich Gretes Neigung und Willen nicht kenne. Ich will in dieser Beziehung in keiner Weise auf sie einwirken, ihr Herz soll allein entscheiden, denn ihr Glück hängt davon ab. Dem Mann, den sie mir als ihren künftigen Gatten bezeichnet, werde ich gern die Hand reichen, wenn ich ihn sonst achten kann. Grete wird aber auch nie einen Mann lieben, den sie nicht hochachtet. Nehmen Sie aus meinen Worten also weder eine Zusicherung noch eine Ablehnung, Grete allein soll entscheiden.«
»Ich danke Ihnen, Ihre Worte geben mir Hoffnung und habe ich jetzt nur noch die eine Sorge, das Herz ihrer Pflegetochter zu gewinnen. Noch Eins, Herr Baron, ich bin gern bereit, Ihnen einen offenen Einblick in meine ganze Lebens- und Vermögensverhältnisse zu gestatten.«
»Es bedarf dessen nicht, da ich Ihnen volles Vertrauen schenke. Bitte, verrathen Sie Ihre Liebe gegen Grete mit keinem Worte, bis ich einen Einblick in ihr Herz gethan habe, ich werde Ihnen denselben wahr und offen mittheilen.«
Reden versprach es.
»Und wann werde ich Nachricht von Ihnen bekommen?« fragte er. »Sie wissen, wie ungeduldig ein Herz ist, welches liebt.«
»Bald – bald! Vielleicht heute noch. Ich werde mit meiner Frau sprechen, vor ihr hat Grete kein Geheimniß. Sie wird ebenso überrascht sein, wie ich, denn auch sie hat keine Ahnung davon. Wie es aber auch kommen mag, Herr von Reden, ich hoffe, wir bleiben Freunde, denn ich meine es aufrichtig mit Ihnen.«
Der junge Gutsbesitzer streckte ihm die Hand entgegen.
In glücklicher Stimmung verließ er das Gut. Der Baron hatte ihm keine Zusicherung gegeben, allein die Gewißheit hatte er doch aus dessen Worten erlangt, daß er gern seine Einwilligung gab, wenn Grete ihn liebte und daß sie ihn liebte, zweifelte er nicht. Er hatte jene glückliche Meinung von seinem Werthe und seiner Liebenswürdigkeit, daß er fest überzeugt war, ein jedes Mädchen müsse ihn lieben.
Nicht ohne Aufregung eilte Arthur zu seiner Gattin und theilte ihr Reden's Werbung mit.
Ella war weniger überrascht.
»Ich habe es befürchtet,« entgegnete sie … »Reden thut mir leid, er täuscht sich, denn Grete liebt ihn nicht.«
»Er hat Hoffnung geschöpft aus ihrer Freundlichkeit,« bemerkte Arthur.
»Weil er das Herz eines Mädchens nicht kennt. Wenn sie ihn liebte, würde sie weniger freundlich gegen ihn gewesen sein, daß sie ihm gegenüber ganz unbefangen und heiter ist, beweist, daß er ihrem Herzen gleichgiltig ist.«
»Ich habe Reden versprochen, sie zu prüfen,« fuhr Arthur fort. »Thu Du es, Ella, Dir steht sie noch näher als mir und was sie mir vielleicht aus Schüchternheit nicht gestehen wird, wird sie Dir anvertrauen. Sage ihr, daß Reden um sie geworben hat.«
Ella schwieg.
»Ich trage Bedenken, dies zu thun,« entgegnete sie endlich. »Daß Grete Hermann liebt, weiß ich, allein ihr Herz ist jetzt in einem Zustande der Verzweiflung, weil es bei Hermann keine Gegenliebe zu finden hofft und Hermann ist auch mir jetzt ein Räthsel. Ich fürchte, sie könnte jetzt aus Verzweiflung Reden die Hand reichen und ich glaube nicht, daß sie je an seiner Seite glücklich werden würde. Schon mehr als ein Mädchen hat in solchem Zustande der Verzweiflung sein ganzes Lebensglück verscherzt.«
Arthur begriff dies nicht recht.
»Wenn sie Hermann aufrichtig liebt, wird sie keinem anderen Manne ihre Hand reichen,« versicherte er. »Bitte, theile ihr Reden's Werbung mit; sollte sie dennoch bereit sein, dessen Gattin zu werden, so können wir ihr ja immer noch Zeit und Ruhe zum Bedenken geben.«
»Gut, ich werde es ihr mittheilen,« erklärte Ella. »Ich werde sie sogleich rufen lassen, willst Du mich auf Deinem Zimmer erwarten?«
Arthur versprach es. Seine Geduld wurde nicht auf eine harte Probe gestellt, denn schon nach kurzer Zeit kam Ella zu ihm.
»Nun?« fragte er, ihr entgegengehend.
»Sie liebt ihn nicht; sie hat mir mit größter Entschiedenheit erklärt, daß sie nie Reden's Gattin werden würde.«
»Ich werde sie nicht dazu zwingen, obschon ich Reden gern habe und achte,« sprach Arthur, der diese Nachricht mit einem freudigen Gefühle vernommen hatte, denn nun schien die Erfüllung seines Wunsches wieder näher gerückt zu sein.
»Hat Grete Dir vertraut, weshalb sie seine Werbung zurückweist?«
»Nein, sie sagte nur, daß sie ihn nicht lieben könne. Als ich in sie drang, sich mir offen zu vertrauen, warf sie sich an meine Brust und weinte leidenschaftlich, allein kein Geständniß, daß sie Hermann liebe, kam über ihre Lippen.«
»Hast Du sie nicht deshalb befragt?
Ella schüttelte verneinend mit dem Kopfe.
»Ich mag ihr armes Herz nicht unsanft berühren,« entgegnete sie. »Was ist mit Hermann vorgegangen? Er ist seit einigen Tage stiller? Sollte er ahnen, daß Grete ihn liebt?«
»Ich glaube es nicht. Ich will mir jedoch Gewißheit darüber verschaffen, ob er Liebe gegen Grete empfindet.«
»Du willst ihn doch nicht deshalb befragen?« warf Ella ein.
»Nein, ich will ihm nur mittheilen, daß Reden bei mir um Grete's Hand geworben hat, aus der Art und Weise, wie er diese Nachricht aufnimmt, werde ich erkennen, ob er Grete liebt.«
Ella war mit diesem Plane einverstanden. Arthur eilte in den Park, in welchem Hermann unter den Bäumen langsam auf, und abschritt. Er trat zu ihm, indem er sich zwang möglichst unbefangen zu erscheinen.
»Mich hat schon der Herr von Reden heute Morgen besucht,« erzählte er.
»Ich sah ihn hier im Parke, deshalb blieb ich im Hause,« entgegnete Hermann. »Ich kann keine Neigung zu ihm fassen und weiche ihm deshalb lieber aus.«
»Hermann, Du thust ihm Unrecht.«
»Ich kann mich nicht zwingen, freundlich gegen ihn zu sein, deshalb ist es besser, wenn ich so wenig als möglich mit ihm zusammentreffe. Es ist ja möglich, daß diese Abneigung schwindet.«
»Es thut mir leid, denn er ahnt es noch nicht. Er kam heute Morgen zu mir und hielt um Gretes Hand an.«
Hermann fuhr erschreckt zusammen. Das Blut schoß in sein Gesicht, ebenso schnell wich es auch wieder zurück seine Wangen waren bleich.
»Weshalb – weshalb?« rief er und seine Stimme bebte leise.
»Er gestand mir, daß er Grete liebt und zu besitzen wünscht, er warb um sie und …«
»Und Grete? Grete?« unterbrach ihn Hermann erregt.
»Sie weiß es noch nicht. Du scheinst Dich nicht darüber zu freuen?«
»Zu freuen?« wiederholte Hermann. »Doch – doch – haha – ich freue mich!«
Aufgeregt stürmte er fort in den Park hinein.
»Hermann, Hermann!« rief Arthur ihm nach.
Der Gerufene hörte nicht.
In heiterster Stimmung kehrte Arthur zu seiner Gattin zurück.
»Er liebt sie, wahrhaftig er liebt Grete!« rief er, als er zu ihr in's Zimmer trat.
»Hat er es Dir gestanden?«
»Nein, nicht ein Wort, allein dennoch weiß ich es,« gab Arthur zur Antwort und schilderte Hermann's Erschrecken und Fortstürmen. »Ich glaube wirklich, daß er sich erst in diesem Augenblicke bewußt geworden ist, daß er sie liebt. Nun ist Alles gut, denn ich bin überzeugt, daß er Grete jetzt aufsucht, um Reden zuvor zu kommen. Nun begreife ich auch weshalb er Reden nicht liebt, sein Auge ist schärfer gewesen als das unsrige und hat erkannt, daß jener Grete liebt. Er ist eifersüchtig auf ihn, das ist es!«
»Wie glücklich wird Grete sein!« sprach Ella. »Ich habe aus ihren Zügen gelesen, wie viel sie in diesen Tagen gelitten hat.
»Auch ich bin glücklich, daß es so gekommen ist!« fuhr Arthur fort, »und dennoch thut mir der arme Reden leid. Er schien so zuversichtlich zu hoffen, daß es ihm gelingen werde, Grete's Herz zu erwerben.«
»Wie willst Du ihm das mittheilen?« fragte Ella.
»Grade und offen, das bin ich ihm schuldig. Und ich werde es heute noch thun. Heute Nachmittag werde ich zu ihm reiten und ihm Alles sagen, damit er sich nicht noch länger in Träumen wiegt. Es würde mich schmerzen, wenn ich ihn als Freund verlieren sollte, denn er ist ein ehrlicher Charakter.«
Mit Ungeduld warteten Arthur und Ella auf Hermann's Rückkehr, allein die Mittagszeit verging, ohne daß er kam.
Grete war auf ihrem Zimmer gewesen, er hatte sie also nicht gesprochen.
Als Hermann sich von seinem Vater getrennt hatte, eilte er durch den Garten in den Wald. Er war sich in der That zum ersten Male bewußt geworden, wie innig er Grete liebte. Schon als Kind hatte sie sich in sein Herz hinein geschlichen und immer festere Wurzeln darin geschlagen. Ihr hübsches, heiteres Bild hatte ihn zur Universität begleitet, und er hatte nie daran gedacht, daß sie einst von ihm getrennt werden könne. Gehörten sie nicht zusammen als getreue Spielkameraden? Er warf sich im Walde unter der Eiche, die er früher so oft besucht hatte, nieder, allein nach wenigen Minuten sprang er wieder empor, es fehlte ihm an Ruhe.
Der Gedanke, daß Reden um Grete's Hand angehalten habe, peinigte ihn. Diesem Manne mit dem ausdruckslosen, immer lächelnden Gesichte sollte sie angehören? Unwillkürlich ballte sich seine Hand. Und wenn sie ihn nun liebte? Wenn sie seine Werbung annahm? War sie nicht freundlich gegen ihn gewesen, hatte sie nicht auf seine Worte gelauscht, als ob er ihr die interessantesten Sachen mitzutheilen habe?
Grete durfte nicht die Frau dieses Mannes werden! Das heiße, leidenschaftliche Blut regte sich in ihm. Noch war sie es nicht und er konnte es noch hindern. Nachdem dieser Gedanke einmal in ihm aufgestiegen war, prüfte er ihn nicht lange, das rasche Blut der Jugend drängte sofort zur Ausführung. Was kümmerte es ihn, ob das Mittel recht war; um Grete nicht zu verlieren, würde er Alles gewagt und Alles gethan haben.
Unwillkürlich hatte er den Weg zu Reden's Gute eingeschlagen, es lag in der Ferne vor ihm und er beeilte seine Schritte, um es zu erreichen. Er bemühte sich, sein erregtes Blut zu beruhigen, als er sich dem Gute näherte, es gelang ihm nicht. Reden's Diener führte ihn in das Empfangszimmer, als er das Gut erreicht hatte. Es war ein großes, geräumiges Zimmer und doch erschien die Luft in demselben ihm schwül, er hätte die Fenster aufreißen mögen, denn auf seiner Brust lag es schwer und drückend.
Wenige Minuten später trat Reden ein; er schien überrascht zu sein, als er Hermann erblickte, denn dieser hatte dem Diener seinen Namen nicht gesagt.
»Ah, Herr Baron!« rief er ihm entgegeneilend. »Das ist ja prächtig! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie es waren; ich bin glücklich, weil Sie mir das Vergnügen machen.«
Ein bitteres Lächeln zuckte über Hermann's Gesicht hin. Dies freudige Lächeln in Reden's Zügen ärgerte ihn. Lächelte er, weil er seinen Wunsch schon erreicht zu haben glaubte?
»Ich bedaure, wenn ich Sie störe, allein ich werde Ihre Zeit nur wenige Minuten in Anspruch nehmen,« entgegnete er.
»Durchaus nicht!« versicherte Reden. »Sie sind mir ja immer willkommen, und wenn Sie zur Nachtzeit kämen. Bitte, nun kommen Sie in mein Zimmer, es ist gemüthlicher dort.«
»Lassen Sie uns hier bleiben, denn ich wollte nur einige Fragen an Sie richten.«
Der Ernst, mit welchem Hermann diese Worte sprach, fiel ihm auf; erst jetzt bemerkte er die bleichen Wangen und das erregte Auge desselben.
»Was haben Sie, Herr Baron?« fragte er.
»Sehr wenig. Ich wollte nur die Frage an Sie richten, ob Sie mir Genugthuung geben würden, wenn ich Sie forderte.«
Reden trat einen Schritt zurück.
»Weshalb? Ich bin mir nicht bewußt Sie beleidigt zu haben?« rief er.
»Bitte, weichen Sie meiner Frage nicht aus.«
»Ich kann nicht darauf antworten, ehe ich weiß, was Sie dazu veranlaßt.«
»Ist dies so nothwendig? Ich würde mich Jedem zur Verfügung stellen, der Genugthuung von mir verlangt. Vielleicht fürchten Sie sich, eine Kugel zu wechseln.«
»Herr Baron, Sie haben kein Recht, mich zu beleidigen,« unterbrach ihn Reden. »Es scheint, daß unsere Auffassungen des Duells sehr verschieden sind. Ich werde Niemand Genugthuung geben, der mir nicht sagt, weshalb er sie verlangt.«
»Gut, ich werde es Ihnen sagen!« rief Hermann erregt. »Sie haben um Grete's Hand bei meinem Vater angehalten. Sie lieben Grete, Sie streben darnach, sie zu besitzen.«
»Ja, dies kann Sie jedoch nicht beleidigen.«
»Und wenn es mich nun beleidigt?«
»Herr Baron, ich begreife Sie nicht!«
»Ah, Sie scheinen sehr Vieles nicht zu begreifen, und doch glaube ich deutlich genug gesprochen zu haben!«
Reden zuckte zusammen.
»Ich werde Ihnen Genugthuung geben!« rief er. »Nachher werde ich jedoch auch von Ihnen eine gleiche für diese Beleidigung verlangen.«
»Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Wann darf ich auf Sie rechnen?«
»Wann es Ihnen beliebt.«
»Ich danke Ihnen,« sprach Hermann und entfernte sich.
Unwillkürlich griff Reden mit der Hand an die Stirn. Hatte er geträumt? War es Wirklichkeit, daß er Hermann Genugthuung versprochen, ohne zu wissen, wodurch er ihn beleidigt? War es möglich, daß er ihn durch seine Werbung um Grete's Hand beleidigt hatte? Hatte nicht sein Vater die Werbung in freundlicher Weise aufgenommen, wenn schon er ihm keine Zusicherung gegeben?
Er versuchte vergebens das Räthsel zu lösen, es ärgerte ihn, daß er sich in der Aufregung hatte hinreißen lassen, Hermann Genugthuung zu versprechen, denn dessen Forderung war eine unberechtigte gewesen; er dachte daran, zum Baron zu reiten und Aufklärung von ihm zu verlangen, allein er gab diesen Gedanken wieder auf.
Eine berechtigte Erbitterung gegen Hermann erfaßte ihn, zugleich sah er seine Hoffnung auf Grete vernichtet. Wußte sie darum, daß Hermann zu ihm gekommen war? Er konnte dies nicht glauben, denn auch sie war immer freundlich gegen ihn gewesen.
Er begab sich in den Garten, weil er hoffte, dort mehr Ruhe zu gewinnen, denn noch unablässig suchten seine Gedanken nach einer Lösung für das räthselhafte Betragen Hermann's. Es traten zugleich ernstere Sorgen an ihn heran, denn er konnte erwarten, daß die Forderung ihm bald zugesandt werde. War er nicht ein Thor, einer ihm unbekannten Sache wegen vielleicht sogar sein Leben in Gefahr zu bringen? Hatte er nicht das Recht gehabt, von Hermann nähere Aufklärung zu verlangen?
Da sah er den Baron über den Hof reiten. Er wollte den Diener rufen, um ihm aufzutragen, daß er nicht zu sprechen sei und den Baron nicht empfangen könne, denn er konnte kaum annehmen, daß Hermann ohne Wissen seines Vaters gehandelt habe.
Es war zu spät, denn Arthur trat bereits in den Garten; sein Gesicht war ernst.
»Herr von Reden!« rief er ihm entgegen, »ich komme, um mein Versprechen, Ihnen bald Antwort zu bringen, zu erfüllen.«
»Bedarf es derselben noch?« warf Reden ein.
»Mein Gesicht scheint schon zum Verräther geworden zu sein,« fuhr Arthur fort. »Auf mein Wort, bester Freund, ich würde glücklich sein, wenn ich Ihnen eine freudigere Nachricht bringen könnte.«
»Herr Baron, Sie scheinen nicht zu wissen, daß ich die Antwort bereits deutlich genug aus dem Betragen Ihres Sohnes erkannt habe.«
»Aus wessen Betragen?« warf Arthur erstaunt ein.
»Aus dem Ihres Sohnes, oder sollten Sie nicht wissen, daß er hier war.«
»Er war hier? Wann? Wann?« rief Arthur, dessen Staunen noch mehr wuchs.
»Vor ungefähr einer Stunde.«
»Was wollte er hier?«
»Genugthuung von mir verlangen.«
»Genugthuung? Wofür?«
»Weil ich um die Hand Ihrer Pflegetochter geworben.«
»Er ist toll! Deshalb – deshalb also!«
»Wie er sich dadurch beleidigt fühlen kann, vermag ich jetzt noch nicht zu fassen. Vielleicht erhalte ich durch Sie Aufklärung.«
»Er hat Ihnen also nichts gestanden?«
»Nichts.«
»Sie haben ihn natürlich doch ausgelacht. Haha! Er ist toll, Genugthuung von Ihnen zu verlangen.«
»Ich habe versprochen, sie ihm zu geben.«
»Unmöglich!« fiel Arthur ein. »Hat er Ihnen denn nicht gesagt, daß er selbst Grete liebt! Und das Mädchen liebt auch ihn, deshalb hat sie Ihre Werbung nicht angenommen.«
Endlich hatte Reden die Lösung, an welche er freilich nicht gedacht hatte.
»Der Junge ist wahrhaftig toll!« fuhr Arthur fort. »Natürlich ist daran nicht zu denken, daß er Genugthuung von Ihnen verlangen wird.«
»Herr Baron, er hat mich ohne Veranlassung beleidigt,« entgegnete Reden ernst. »Ich bin jetzt selbst genöthigt, Genugthuung von ihm zu verlangen.«
»Auch das noch! Herr von Reden, wenn er Sie beleidigt hat, dann soll er Ihnen Genugthuung geben, aber eine friedliche. Sein heißer Kopf ist mit ihm durchgegangen und das Alles nur, weil er ein Thor und blind ist, weil er nicht sieht, daß Grete ihn liebt. Nun, reichen Sie mir die Hand, ich habe ja von der Thorheit Hermann's keine Ahnung gehabt.«
Reden zögerte, die ihm dargereichte Hand anzunehmen.
»Ich kann es nicht, ehe diese Angelegenheit nicht erledigt ist.«
»Doch, doch!« rief Arthur und erfaßte fast gewaltsam Reden's Hand. »Ich bürge Ihnen, daß Sie Genugthuung erhalten! Er soll Abbitte leisten und er wird es thun. Nun zürnen Sie mir nicht, ich würde ihm ja kein Wort gesagt haben, wenn ich hätte ahnen können, daß er sich zu einer solchen Tollheit werde hinreißen lassen. Dies ist wahrhaftig ein Studentenstreich!«
Reden war schwer zu beruhigen; erst als Arthur ihm ausführlich Alles erzählte, gewann er die feste Ueberzeugung, daß den Baron keine Schuld treffe. Den Schmerz über die vernichtete Hoffnung vermochte er freilich nicht so schnell zu überwinden. Er nahm die ihm dargereichte Hand an.
»Wir bleiben also Freunde?« rief Arthur.
»Ich hoffe es,« gab Reden zur Antwort. »Freilich muß ich bezweifeln, daß Ihr Sohn sich je zu mir hingezogen fühlen wird.«
»Doch, doch!« fiel Arthur ein. »Jetzt verstehe ich ihn, er hat befürchtet, daß Grete Sie lieben könne; sobald diese Furcht ihm genommen ist, wird er von selbst zu Ihnen eilen, um Ihnen die Hand zur Versöhnung zu reichen. Ich will offen gegen Sie sein, Herr von Reden. Es ist seit Jahren mein und meiner Frau still gehegter Wunsch gewesen, daß Hermann Grete heirathen möge, wir haben nichts gethan, um darauf hinzuwirken, nun unser Wunsch aber in Erfüllung tritt, werden Sie es begreiflich finden, daß wir uns darüber freuen. Hätte ich noch eine zweite Tochter, so würde ich sie Niemand lieber geben, als Ihnen.«
»Ich danke Ihnen, obschon dieser Trost mir das Verlorene nicht zu ersetzen vermag,« erwiederte Reden.
»Sie werden ein anderes Mädchen finden, durch welches Sie glücklich werden,« versetzte Arthur, »und dann wird sich Niemand aufrichtiger darüber freuen, als ich.«
Sie schieden als Freunde.
Arthur sprengte heim, die Erfüllung seines liebsten Wunsches hatte ihn so freudig gestimmt, daß er die Zeit, bis er sein Gut erreicht hatte, kaum erwarten konnte. Es war ihm, als ob er selbst um Jahre verjüngt sei und noch einmal hinausziehe, um ein Herz zu werben.
Heimgekehrt, eilte er zu Ella, welche er auf ihrem Zimmer traf.
»Wo ist Hermann?« fragte er.
»Er hat sich sofort nach seiner Rückkehr auf seine Stube begeben.«
Arthur wollte zu ihm eilen, Ella hielt ihn zurück.
»Wie hat Reden die Nachricht aufgenommen?« fragte sie.
»Gut – gut,« gab Arthur hastig zur Antwort. »Ella, in wenigen Minuten sollst Du Alles erfahren. Rufe Grete zu Dir und behalte sie hier, bis ich zurückkehre, denn ich habe auch mit ihr zu sprechen.«
Er eilte fort und Ella hielt ihn nicht zurück, sie ahnte das Kommende, denn aus seinen Augen leuchtete Freude und Glück.
Als Arthur in Hermann's Zimmer trat, fand er denselben am Fenster sitzend, den Kopf auf die Hand gestützt.
Wie in Gedanken versunken, blickte Hermann auf, sein Gesicht war bleich. »Hermann, ich komme nur, um mich Dir als Secundanten anzubieten!« rief der Baron, mit Mühe das Lachen zurückhaltend.
Hermann sprang auf.
»Woher weißt Du?« rief er.
»Von Reden selbst. Ich habe Alles schon mit ihm abgemacht, Ihr wechselt so lange Kugeln, bis einer von Euch beiden todt ist. Bist Du damit einverstanden?«
Hermann hatte die Lippen fest aufeinander gepreßt und schwieg, denn das Gesicht seines Vaters verrieth ihm zu deutlich, daß derselbe scherzte.
»Weshalb willst Du ihn denn eigentlich fordern?« fuhr Arthur fort.
Der Gefragte schwieg noch immer.
»Nun antworte mir. Weshalb willst Du ihn fordern?« drängte der Baron.
Man konnte sehen, wie es in Hermann's Brust stürmte, auf seinem Gesichte wechselte Röthe und Blässe. Der scherzende Ton seines Vaters peinigte ihn.
»Er soll Grete nicht heirathen!« preßte er endlich hastig hervor.
»Also deshalb – deshalb!« rief der Baron lachend. »Deshalb willst Du Dich also mit ihm schießen und ihn natürlich tödten, Du Hitzkopf! Es giebt aber noch ein anderes und viel sichereres Mittel, weshalb willst Du denn dies nicht wählen?«
Hermann blickte ihn fragend an.
»Ist Dir dies Mittel denn nicht in den Sinn gekommen?«
Hermann schwieg, er schien die Frage kaum zu verstehen.
»Nimm Du Grete doch selbst zum Weibe, dann kann sie Reden nicht heirathen!« rief Arthur.
Hermann zuckte zusammen, eine dunkle Röthe übergoß sein Gesicht. Diese Worte seines Vaters klangen nicht wie Scherz.
Die Brust schien ihm zu eng zu werden und drohte ihm zu zerspringen.
»Und Grete?« fragte er nur.
»Nun, Du Hitzkopf mußt blind sein, sonst würdest Du längst bemerkt haben, daß sie Dich liebt.«
»Papa! Papa!« rief Hermann laut und warf sich ungestüm an die Brust seines Vaters.
Es war ihm, als ob sich plötzlich der blaue Himmel über ihm geöffnet habe und all' sein Licht auf ihn niederströmen lasse.
Der Baron hielt ihn fest umschlungen.
»Nun komm,« sprach er endlich, Hermann's Hand erfassend.
Er zog ihn mit sich in Ella's Zimmer.
Als Hermann Grete erblickte, blieb er unwillkürlich stehen. Sein Herz schlug hörbar laut, seine Brust rang nach Athem.
»Nun erzähle Grete doch, weshalb Du Dich mit Reden schießen wolltest,« sprach der Baron.
Eine Secunde lang stand Hermann noch zögernd da, dann eilte er auf das geliebte Mädchen zu und schloß es umgestüm in seine Arme, küßte es und hob es in der Ueberfülle seines Glückes mit beiden Händen empor.
»Du bist mein – mein!« rief er und eilte dann zu Ella, die er glücklich umschlang.
Während Hermann und Grete sich einander selig in die Augen blickten, war Arthur zu Ella getreten und hatte still deren Hand erfaßt. Auch ihre Herzen hatten einst diese glücklichste Minute durchlebt.
»Nun, willst Du Dich noch mit Reden schießen?« fragte der Baron endlich lächelnd.
»Nein, nein!« rief Hermann.
»Du Tollkopf hast ihn aber beleidigt.«
»Dann eile ich heute noch zu ihm, um ihn um Verzeihung zu bitten. Nun Grete mich liebt, nun sie mein ist – nun will ich auch ihn gern in meine Arme schließen! Ich befürchtete ja nur, daß Du ihn lieben könntest,« fügte er zu Grete hinzu.
»Ich kann ja nur Dich lieben,« erwiederte das glückliche Mädchen flüsternd. »Hast Du denn das nicht längst gemerkt?«
»Nein! Ich glaubte, Du habest mich nicht mehr gern, weil Du nicht mehr wie einst mit mir spielen wolltest. Und ich war doch schon als Knabe so glücklich, wenn ich mit Dir über den Rasen und durch den Park hinspringen konnte!«
»Und ich glaubte, Du erblicktest nur die Jugendgespielin in mir,« erwiederte Grete. »Das kränkte mich, denn mein Herz empfand ganz anders; es schlug ja nur für Dich – aber jetzt, jetzt bin ich Dein und ich will Dir immer ein guter Kamerad sein!«
Auf dem Gute des Barons gab es nur heitere Gesichter. Es war, als ob das Glück Hermann's und Gretens, sowie Arthurs und Ellas sich in Allen, welche sie umgaben, wiederspiegelte.
Grete würde jetzt gern mit Hermann gespielt haben, dieser hatte jedoch die Lust dazu verloren. Er war glücklich, wenn er still an ihrer Seite saß und ihre Hand in der seinigen hielt, oder wenn er Arm in Arm mit ihr durch den Park hinschritt und das Glück der Zukunft ihr ausmalte.
Mit Reden hatte er sich völlig ausgesöhnt, und wenn der junge Gutsbesitzer auch den Baron nicht besuchte, weil der Anblick Grete's ihn noch zu schmerzlich berührte, so ritten Arthur und Hermann doch öfter zu ihm.
Ella war bereits mit der Aussteuer für ihre Kinder beschäftigt, denn es war sowohl ihr wie Arthur's Wunsch, daß die beiden glücklichen jungen Herzen bald für immer vereint werden möchten. Da erhielt Arthur eines Tages einen Brief von dem früheren Polizeicommissar Ruge, der in den vergangenen Jahren sich zum Polizeidirector emporgearbeitet hatte, in welchem er um einen Besuch in der Stadt gebeten wurde, da Ruge ihm eine Mittheilung zu machen habe.
Ella war zugegen, als er diesen Brief empfing. Sie glaubte auf dem Gesichte ihres Gatten den Schatten einer Besorgniß aufsteigen zu sehen und fragte nach dem Grunde.
»Es ist nichts,« entgegnete Arthur. »Der Polizeidirector bittet mich, ihn zu besuchen, weil er mir eine Mittheilung zu machen habe. Es stieg der Gedanke in mir auf, daß er vielleicht endlich entdeckt haben könne, in welcher Weise unser Kind einst das Leben verloren – es ist Thorheit, daran zu denken. Das Geheimniß, welches so lange Jahre unerforscht geblieben, wird wohl Niemand mehr enthüllen und es ist gut so. Wozu soll, was der Vergangenheit angehört, noch einmal wachgerufen werden!«
»Und wenn es dennoch so wäre,« warf Ella ein.
»Nein, nein!« fuhr Arthur fort. »Giebt es nicht tausend andere Veranlassungen, weshalb der Polizeidirector mich zu sprechen wünschen kann? Würde er, wenn es etwas Aehnliches wäre, nicht in dem Briefe eine Andeutung gemacht haben, um mich vorzubereiten? Es wird irgend eine geschäftliche Angelegenheit sein?«
»Stehst Du mit ihm in geschäftlicher Verbindung?« fragte Ella.
»Das nicht, trotzdem ist eine solche Mittheilung jedoch möglich. Ich werde heute noch zur Stadt fahren, da ohnehin einige nothwendige Besorgungen mich dorthin rufen.«
Eine Stunde später fuhr er schon der Stadt zu. Zurückgelehnt in dem offenen Wagen, blickte er in Gedanken versunken vor sich hin. Es war nicht Neugierde, was ihn beunruhigte, sondern der Gedanke wolle nicht von ihm weichen, daß die Mittheilung, welche ihm gemacht werden sollte, auf sein ganzes Leben Einfluß habe. Er hob entschlossen den Kopf empor, um sich von dem auf ihm lastenden Drucke zu befreien, allein wie ein Gespenst drängte sich der Gedanke immer und immer wieder an ihn heran.
In der Stadt angelangt, begab er sich sofort zum Polizeidirector.
»Herr Baron,« sprach Ruge, »ich würde selbst zu Ihnen gekommen sein, wenn ich Ihnen den Weg zur Stadt dadurch hätte ersparen können. Was ich Ihnen mitzutheilen habe, erfordert aber Ihre Anwesenheit.«
»Sie machen mich sehr gespannt,« warf Arthur ein, der ein Gefühl der Unruhe nicht verbergen konnte.
»Bitte, setzen Sie sich zunächst, Herr Baron, und dann hören Sie mich wenige Minuten lang ruhig an.«
Der Baron ließ sich nieder, der Polizeidirector nahm ihm gegenüber Platz.
»Vor einigen Tagen wurde eine Frau und ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren verhaftet, weil sie dringend verdächtig waren, einen Diebstahl ausgeführt zu haben. Beide treiben einen kleinen Hausirhandel. Die wenigen bei ihnen gefundenen Sachen lassen indessen vermuthen, daß sie weniger vom Handel als vom Betteln, vielleicht auch noch in anderer Weise gelebt haben. Die Frau hat den Bauern auch aus den Linien der Hand die Zukunft enthüllt.
Heute morgen früh ließ mich die Frau, welche schon seit zwei Tagen erkrankt ist, zu sich rufen und machte mir, als ich ihrem Rufe folgte, folgendes Geständniß: Der junge Mann, den sie Anfangs für ihren Sohn ausgegeben habe, sei nicht ihr Kind, sondern Ihr Sohn, Herr Baron, den Sie vor so vielen Jahren verloren.«
Arthur sprang, auf das Höchste erregt, auf.
»Unmöglich!« rief er. »Mein armes Kind wurde ja todt – im Flusse ertränkt – aufgefunden.«
»Die Frau behauptet, das sei ihr eigenes Kind gewesen, dem sie die Kleidung Ihres Knaben angezogen habe. Die Gründe, welche sie dafür anführt, klingen glaubhaft und unwahrscheinlich zugleich, ich bin noch nicht im Stande, mir eine feste Meinung darüber zu bilden. Ich sah mir zunächst den jungen Mann an und muß gestehen, daß er Ihnen, Herr Baron, in auffallender Weise ähnlich.«
»Er sieht mir ähnlich!« rief Arthur mit einem aus Erschrecken und Freude gemischten Gefühle. »Wo ist er? Lassen Sie mich ihn sehen?«
»Sie sollen ihn sehen, Herr Baron, indessen nicht sofort. Ich bitte Sie, diese Angelegenheit mit möglichster Ruhe zu behandeln. Die Aehnlichkeit mit Ihnen ist auffallend, könnte die Frau indessen nicht dieselbe benutzt haben um sich und ihrem Sohne Nutzen daraus zu verschaffen? Kann ihre ganze Erzählung, obschon dieselbe bis in das Einzelne geht, nicht erfunden sein? Wir müssen sehr vorsichtig verfahren und wenn es auch nur deshalb wäre, um Ihnen eine unnöthige Aufregung zu ersparen.«
»Lassen Sie mich zu ihm, ich werde sofort erkennen, ob es mein Sohn ist,« rief Arthur. »Zu getreu steht des Knaben Bild, sein Auge noch vor mir.«
»Herr Baron, Sie vergessen, daß mehr denn zwanzig Jahre seitdem verschwunden sind.«
»Glauben Sie, daß ein Vater selbst nach so vielen Jahren sein Kind nicht sofort wieder erkennen wird?«
»Ich bezweifle es, denn es sind so viele körperliche und geistige Eindrücke möglich, welche einen Menschen vollständig umgestalten können. Hatte Ihr Knabe nicht irgend ein Merkmal, an welchem Sie ihn mit Gewißheit wieder erkennen würden?«
»Doch, doch!« rief Arthur lebhaft. »Hier auf der linken Schulter hatte er einen dunklen Fleck, ein Muttermal, welches er mit auf die Welt brachte, und dann hatte er unten am rechten Arme eine starke Narbe, welche von einer heftigen Verletzung herrührte, die er sich zugezogen, als er kaum drei Jahre alt war. Er fiel unglücklich, schlug dabei mit dem Arme in ein Fenster und riß sich an dem scharfen Glase den ganzen Arm hier auf. Monate vergingen, ehe die Wunde trotz aller Sorgfalt und Pflege wieder heilte, sie hinterließ eine sehr starke Narbe, welche selbst nach vielen Jahren nicht völlig verschwunden sein kann. Jetzt sagen Sie mir, wo ist er? ich werde ihn erkennen!«
»Hören Sie erst die Erzählung der Frau an, Sie ersparen sich vielleicht eine Täuschung dadurch.«
»Weiß der Verhaftete bereits, daß er mein Sohn ist?«
»Ich habe ihm nichts gesagt. Er erzählte mir nur, daß er der Sohn der Frau sei. Als ich eingehender in ihn drang, bemerkte er freilich, daß er als kleines Kind andere Eltern gehabt habe; wer sie gewesen seien, wisse er nicht!«
»Sehen Sie, er hat seine Eltern noch nicht vergessen, sein Gedächtniß ist treu geblieben!« rief Arthur. »Zweifeln Sie auch jetzt noch?«
»Kann es nicht möglicher Weise ein schlau ausgesonnener Plan sein, um Sie auszunützen? Es liegt mir deshalb daran, daß Sie die Frau erst hören, daß sie Ihnen Alles mittheilt. Die Wahrheit werden wir dann hoffentlich bald erforschen und ist es ein versuchter Betrug, so werde ich Sorge tragen, daß die Betrüger bestraft werden.«
Arthur folgte dem Polizeidirector in das Zimmer, in welchem die Frau lag. Es war ein enger, unfreundlicher Raum, in welchen das hoch angebrachte kleine Fenster nur ein spärliches Licht warf.
Die Kranke lag auf einer Matratze und versuchte sich aufzurichten, als sie Arthur eintreten sah. Eine herabgekommene, elende Gestalt, aus deren bleichen Zügen Noth und Entbehrung sprach.
»Hier ist der Herr Baron, den zu sprechen Sie verlangt haben,« sprach der Polizeidirector.
Die Kranke blickte zu Arthur mit einem halb bangen, halb schmerzlichen Ausdruck auf.
»Ich habe Ihnen viel – viel Leid zugefügt,« sprach sie.
»Nun erzählen Sie Alles, aber die reelle Wahrheit,« mahnte der Director. »Verschweigen Sie nichts.«
»Ich werde nichts verschweigen,« versicherte die Frau.
»Weshalb sollte ich es auch thun, denn die Strafe brauche ich nicht zu befürchten, da sie mich nicht mehr ereilen wird.«
Arthur und der Director hatten sich neben der Kranken, welche all ihre Kräfte zu sammeln schien, niedergelassen.
»Ja, ich habe Ihnen ein schweres Leid zugefügt,« wiederholte sie, ihre Erzählung beginnend, »und ich mag nicht sterben, ohne daß ich so viel wie möglich wieder gut zu machen suche. Ihr Kind habe ich Ihnen geraubt – Sie sollen es zurückhaben.«
»Erzählen Sie genau, wie Sie das Kind geraubt haben,« unterbrach sie Ruge.
»Ich selbst habe es nicht gethan, sondern mein Mann, ich wußte indessen darum und habe eingewilligt, es zu behalten, als er es mir brachte. Mein Mann betrieb einen Handel mit Nägeln und zog von Dorf zu Dorf durch das ganze Land. Es war ein trauriges Brot. Er zwang mich, ihn mit meinem Kinde, einem Knaben, zu begleiten, weil die Leute Mitleid mit uns hatten und uns Manches schenkten. Wir lebten eigentlich nur durch Betteln. Ich gewöhnte mich zuletzt so sehr an dieses umherziehende und arbeitslose Leben, daß ich es nicht mehr aufgeben mochte. Wir kamen damals, es sind nun über zwanzig Jahre her, durch diese Gegend und unser Kind – der Knabe war damals fünf Jahre alt – war bei uns. Es ging uns schlecht, mein Mann verkaufte sehr wenig und die Bauern wiesen uns meistens von der Thür fort, wenn wir um ein Stück Brot baten. Wir hatten oft nicht soviel, daß wir unsern Hunger stillen konnten, denn das Wenige, was mein Mann verdiente, vertrank er. Er war kein Trinker, sondern trank nur dann und wann, wenn die Noth all zu bitter an uns herantrat, und wenn er halb berauscht war, wußte er nicht, was er that. Er war zornig und hatte ein heißes Blut und der Zorn konnte ihn zu Allem hinreißen. Um diese Gegend sobald als möglich wieder zu verlassen, hatten wir einen weiten Marsch gemacht und lagerten uns gegen Abend in der Nähe des Gutes am Saume eines Waldes. Mein Mann war berauscht und in erbitterter Stimmung, weil er den nicht leichten Karren durch den sandigen Boden der Haide hatte schieben müssen. Ich wollte zum Gute gehen und um ein Stück Brot bitten, der Knabe war zu ermüdet, um mitgehen zu können, mein Mann bestand indessen darauf, weil er wußte, daß das Kind das Mitleid erregte. Das Kind weigerte sich, da sprang mein Mann auf, ergriff im Zorne einen neben ihm liegenden Hammer und drang auf das Kind ein. Ich wollte ihm wehren, kam indessen zu spät, er hatte bereits zugeschlagen und der Schlag war ein nur allzu unglücklicher, er halte den Kopf des Kindes getroffen, welches lautlos niedersank. Ich warf mich über den Knaben und wollte ihn emporheben, er rührte sich nicht, ich hielt ihn nur für ohnmächtig, mein Mann, der dies nicht gewollt hatte, wusch ihm die Stirn mit Branntwein, es half Alles nichts, das Kind war todt, der Schlag hatte es in die Schläfe getroffen.
Ich war außer mir vor Schmerz, denn da erkannte ich erst, wie lieb ich das Kind gehabt hatte. Auch mein Mann war auf das Heftigste bestürzt, denn auch er hatte das Kind lieb, wennschon er öfter sagte, daß es ihm zur Last sei. Zu dem Allen gesellte sich noch die Furcht vor der Strafe. Wir blieben im Walde bei dem Kinde. Es war eine traurige Nacht. Ich dachte nur an meinen Schmerz und mein Mann sann nach, wie er seine That verbergen könne. Wir hätten den Todten dort im Walde begraben können. Allein es würde aufgefallen sein, wenn wir ohne Kind weiter gezogen wären, denn in mancher Gegend kannte man uns ganz gut. Der Morgen kam und wir waren immer noch gleich rathlos. Am Nachmittage machte mein Mann sich auf den Weg zum Gute, um dort ein Stück Brot zu erbitten, denn wir hatten seit dem Tage zuvor nichts gegessen. Schon nach kurzer Zeit kehrte er zurück und hatte einen Knaben auf dem Arme, der ungefähr so alt war wie unser eigener. In dem Walde hatte er ihn spielend erblickt und sofort war der Gedanke in ihm aufgestiegen, das Kind zu rauben, es für das unsrige auszugeben und dadurch seine That zu verbergen. Er ließ mir nicht Zeit zum Ueberlegen, denn wir mußten erwarten, daß das Kind bald vermißt und gesucht werde. Schnell wurde der Todte auf den Karren geladen und mit einem Rocke bedeckt; so brachen wir auf. Als wir eine kurze Strecke in der Haide gegangen waren, weigerte sich das Kind weiter zu gehen, es schrie laut, da nahm ich es auf den Arm und trug es. Mein Mann lief fast und ich vermochte nur mit größter Anstrengung ihm zu folgen.«
Mit athemloser Spannung war der Baron der Erzählung der Frau gefolgt.
»War der Knabe gutwillig mit Ihrem Manne gegangen?« fragte er.
»Nein, mein Mann hatte ihn gewaltsam mit sich gezogen.«
»Hatte das Kind nicht geweint?«
»Doch, mein Mann hatte ihm Anfangs den Mund zugehalten und es dann durch Drohungen gezwungen ruhig zu sein! – Am Abende erreichten wir einen Wald und blieben dort einige Stunden, um uns auszuruhen, weil wir gänzlich erschöpft waren. Mein Mann hatte den Gedanken, den Knaben für den unsrigen auszugeben, unterwegs weiter verfolgt. Die hübsche Kleidung durfte das Kind nicht behalten, das würde sofort aufgefallen sein. Wir zogen ihm dieselbe aus, kleideten es in die ärmlichen Hüllen unseres Kindes, zogen dem Todten dann die hübsche Blouse und die anderen Kleider an, und mein Mann trug ihn zum nahen Flusse und versenkte ihn darin, indem er ihn durch einen Stein beschwerte. Wenn das Kind vielleicht erst in Wochen gefunden wird, sagte er, so wird es Niemand erkennen, nur nach der Kleidung wird man vermuthen, daß es das Kind des reichen Herrn ist. Das wird unser Vorhaben erleichtern, denn man wird dann weniger nachforschen.«
»Also nicht mein, nicht mein Kind haben Sie in dem Flusse ertränkt?« rief der Baron.
»Nein, unser eigenes, todtes Kind hat mein Mann in den Fluß versenkt,« gab die Frau zur Antwort.
»Und was ist aus meinem Kinde geworden?« forschte Arthur weiter.
»Als mein Mann von dem Flusse zurückkehrte, war das Kind, durch die Angst und das Gehen ermüdet, eingeschlafen. Er drängte zum Weitereilen, weil er die Verfolgung fürchtete. Das Kind wurde auf den Karren gelegt und wir zogen weiter, die ganze Nacht hindurch. Das Kind war sehr unruhig und ich mußte es wiederholt auf den Rücken nehmen und tragen, es verlangte unablässig nach seinen Eltern und wurde erst gegen Morgen ruhiger. Als es Tag geworden war, bemerkte ich an der glühenden Stirn und dem starren Blicke des Knaben, daß er heftig fieberte. Die Aufregung sowie die Kühle und Feuchtigkeit der Nacht mochten das Fieber hervorgerufen haben. Der Knabe sprach kein Wort. Tagelang zogen wir mit dem Kinde noch weiter, weil wir immer noch eine Entdeckung fürchteten, endlich zwang uns der Zustand desselben, in einem alleinstehenden Bauerngehöft Schutz zu suchen. Man wies uns mitleidig einen Stall an; aus Heu und Stroh machte ich dem Kranken ein Lager zurecht.
»Allmächtiger Gott! Das arme, arme Kind!« unterbrach sie der Baron, von Schmerz überwältigt. Er dachte daran, welche Sorgfalt und Pflege das Kind bei ihm genossen hatte.
»Ich habe es nicht an Pflege fehlen lassen,« fuhr die Frau fort, »ich fühlte ja selbst Mitleid mit dem Kinde, welches an ein besseres Leben gewöhnt war. Tage und Nächte lang habe ich neben ihm gesessen und bei ihm gewacht. Mein Mann zog umher, um das nothdürftigste Brot für uns zu verdienen. Wochen vergingen, ehe das Kind der Gefahr entrückt war, und noch Wochen verflossen, ehe es so weit wieder genesen war, daß wir weiter ziehen konnten. Hätten die Bauern mit dem Kinde nicht Mitleid gehabt und uns so lange behalten, so würde es schwerlich am Leben geblieben sein.
Die Krankheit hatte auf den Knaben einen großen Einfluß geübt, sie schien sein Gedächtniß getrübt zu haben. Die Erinnerung an seine Eltern lebte nur noch dunkel in ihm und er schloß sich mir schnell an, wenn er auch gegen meinen Mann noch Jahre lang Scheu zeigte. Ich hatte ihn lieb gewonnen, ich sagte mir, daß ich sein Leben nur durch die ausdauernde Pflege gerettet hatte, es erfüllte mich das Gefühl, daß er dadurch zu meinem Kinde geworden sei, daß er nun mir gehöre.«
Sie hielt erschöpft inne.
»Und was ist weiter aus dem Knaben geworden?« fragte der Baron.
»Er begleitete uns auf unseren Fahrten, wie früher unser eigenes Kind, und seine schwache Gesundheit kräftigte sich schnell. Er gewöhnte sich auch bald an uns und das unstäte Leben, er schien Gefallen daran zu finden. Denn er wurde heiter und ertrug später die größten Beschwerden mit Leichtigkeit. Er mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, als mein Mann starb und nun zog ich allein mit ihm umher, denn wir Beide hatten uns an dies Leben so gewöhnt, daß wir es nicht aufgeben mochten. Er mochte mich auch nicht verlassen, da er mich lieb gewonnen hatte.«
»Hat er später nie mehr an seine Eltern gedacht und nach ihnen gefragt?« warf Arthur ein.
»O ja. Wir redeten ihm ein, daß dies nur ein Gebilde seiner Phantasie sei; ich erzählte ihm, daß dieser Gedanke wahrscheinlich dadurch in ihm entstanden sei, daß vor Jahren, als er schwer erkrankt sei, eine vornehme Dame und ein Herr an sein Lager getreten seien.«
»Glaubte er Ihnen?«
»Nur zum Theil; wir boten indessen Alles auf, um die Ueberzeugung bei ihm zu erwecken, daß er unser Kind sei. Wir zeigten ihm seinen Taufschein, den wir uns nach der Geburt unseres Kindes hatten ausstellen lassen, wir gingen mit ihm an den Ort, wo er geboren war, trotzdem hielt sein Gedächtniß diese eine Erinnerung fest, er hat jedoch nie deshalb bei Anderen nachgeforscht.«
»Hat er Ihnen nie seinen Namen gesagt?«
»Doch! Er sagte sogleich am ersten Tage, daß er Erwin von Golenz heiße, nach seiner Krankheit hatte er seinen Namen vergessen.«
»Und wie – wie haben Sie ihn genannt?«
»Wilhelm Strauch.«
»Hat er nie die Schule besucht?« forschte Arthur weiter.
»Nein, er kann jedoch lesen und schreiben. Der Vater meines Mannes war Schullehrer gewesen, mein Mann hatte tüchtige Kenntnisse und nur die Unlust zur Arbeit hatte ihn so weit herabgebracht, er hat den Knaben das Lesen und Schreiben gelehrt, denn es machte ihm Vergnügen, wie schnell derselbe lernte. Mehr hat er freilich nicht gelernt, aber er ist ein schlauer Kopf!«
Der Baron schwieg. In Gedanken versunken blickte er starr vor sich hin. Sein Sohn, über den er einst alle Hände gebreitet, der sein Stolz gewesen war, auf den er die kühnsten Hoffnungen gebaut – auf der Bildungsstufe eines Bettlers.
»Gestatten Sie mir noch einige Fragen an die Frau,« wandte sich der Polizeidirector, der mit der größten Aufmerksamkeit der Erzählung gefolgt war, an ihn.
Der Baron nickte zustimmend mit dem Kopfe.
»Sind Sie nie mit dem Knaben wieder in diese Gegend gekommen?«
»Nein, wir befürchteten immer noch, daß er erkannt werden könne.«
»Haben Sie nie daran gedacht, den Knaben seinen Eltern zurückzugeben?«
»Ja wohl, ich dachte öfter daran, als mein Mann gestorben war; ich fürchtete indessen die Strafe und mochte mich auch nicht von ihm trennen.«
»Was hat Sie jetzt hierher getrieben.«
»Ich weiß es selbst nicht. Halb die Neugierde, ob er wohl einige Stätten, an denen er als Kind gewesen war, wieder erkennen werde.«
»Hat er sie wieder erkannt?«
»Er hat sie noch nicht gesehen, denn wir wurden verhaftet, ehe wir das Gut und dessen Umgebung erreichten?«
»Sie wußten, daß er mit dem Herrn Baron eine große Aehnlichkeit hat?«
»Nein, ich habe den Herrn ja nie gesehen.«
»Sollten Sie das wirklich nicht gewußt haben?«
»Nein.«
»Können Sie irgend ein Merkmal angeben, an welchem der Knabe wieder zu erkennen wäre.«
»Ich weiß keins.«
»Haben Sie nicht irgend einen Gegenstand, welchen er damals, als Ihr Mann ihn entführte, bei sich trug, als Andenken aufbewahrt?«
»Nein.«
»Er sah doch anders aus als Ihr Kind – ist dies damals Niemand aufgefallen?«
»Wir besuchten während des ersten Jahres nur Gegenden, in denen das Kind noch nicht gewesen war.«
»Hatten Sie damals gar kein Heimwesen mehr?«
»Nein!«
»Der Knabe muß doch confirmirt sein?«
»Das geschah an einem Orte, wo ein Freund meines Mannes wohnte und wo wir deshalb fast ein ganzes Jahr lang blieben.«
»Was hat Sie jetzt dazu getrieben, dem Herrn Baron und mir dies Geständniß abzulegen?«
»Ich fühle, daß ich nicht lange mehr leben werde«
»Der Arzt hält Ihre Krankheit nicht für gefährlich.«
»Dann täuscht er sich; ich fühle, daß meine Tage gezählt sind.«
»Würden Sie dies Geständniß auch abgelegt haben, wenn Sie nicht erkrankt wären?«
»Nein – ich glaube es nicht.«
Der Polizeidirector beendete sein Verhör, da die Frau auf das Aeußerste erschöpft war. Sie war kaum noch im Stande gewesen, zu antworten. Er erhob sich.
»Haben Sie auf der linken Schulter des Knaben einen Flecken, ein Muttermal bemerkt?« rief der Baron, dessen Aufregung auf das Höchste gestiegen war.
Die Kranke blickte zu ihm auf, ablehnend schüttelte sie mit dem Kopfe.
»Bitte, kommen Sie,« sprach Ruge, indem er den Arm des Barons erfaßte und ihn langsam aus dem Zimmer zog.
»Es ist mein Sohn!« rief Arthur erregt. »Die Frau kann dies nicht Alles erfunden haben!«
»Auch ich vermuthe es jetzt, denn die Frau würde Manches anders ausgesagt haben, wenn sie es auf eine Täuschung abgesehen hätte,« gab der Director zur Antwort. »Und doch ist noch nicht jeder Zweifel gehoben. Sollte sie wirklich nie das Muttermal auf des Knaben Schulter bemerkt haben?«
»Sie schien meine Frage kaum zu verstehen.«
»Sie hat sie verstanden, denn ihre Antworten waren sämmtlich klar und wohl überlegt, ihr Geständniß erinnerte sich ja in allen übrigen Punkten der größten Geringfügigkeiten. Doch wir wollen in wenigen Minuten Gewißheit haben, denn die Zeichen an der Schulter und am Arme müssen die Wahrheit ausweisen. Lassen Sie mich die Untersuchung anstellen, Herr Baron; ich sehe, wie erregt Sie sind, nur wenige Minuten bleiben Sie hier, dann bin ich zurück.«
Arthur nickte zustimmend mit dem Kopfe. In größter Aufregung schritt er, als Ruge das Zimmer verlassen hatte, auf und ab. Der Gedanke, daß sein Sohn noch lebe und ihm wieder gegeben werden solle, erfüllte ihn mit Freude, und doch drängte sich ihm ein banges, beengendes Gefühl auf. Wie war sein Kind geworden? Es hatte nicht einmal Schulunterricht genossen, war aufgewachsen als Bettler und hatte als Hausirer das Land durchzogen.
Er preßte die Hand vor die Stirn, um sich Ruhe und Fassung zu erringen.
Der Polizeidirector trat wieder ein. Fragend blickte Arthur ihn an.
»Herr Baron – er ist Ihr Sohn!« sprach Ruge. »Das Muttermal auf der Schulter ist noch deutlich zu sehen, die Narbe am rechten Arme noch zu erkennen.«
»Mein Sohn! mein Sohn!« rief Arthur, in dem die Freude aufwallte.
»Er wird sogleich hierher kommen,« fuhr Ruge fort. »Herr Baron, täuschen Sie sich über Eines nicht. Er ist ein Anderer geworden, als wenn er bei Ihnen aufgewachsen wäre. Sie haben sich vielleicht einst ein Bild gemacht, wie Ihr Kind aussehen müsse, wenn es erwachsen sei, Sie haben dies Bild vielleicht in sich bewahrt. Sie dürfen es nicht länger festhalten.«
»Ich weiß – ich weiß, daß er keine Bildung genossen bat,« entgegnete Arthur. »Haben Sie ihn vorbereitet ihm gesagt, daß er mein Sohn sei?«
»Ja ich hielt es für nöthig, um Ihnen einige vielleicht peinigende Minuten zu ersparen.
»Wie nahm er die Mittheilung auf?«
»Er war sehr erfreut.«
»Und es trieb ihn nicht sofort zu mir zu eilen?«
»Herr Baron, Sie vergessen, daß Sie ihm fremd geworden sind – selbst seinem Herzen.«
Die Thür wurde in diesem Augenblicke geöffnet und ein junger, dürftig gekleideter Mann trat ein. Es war eine große, kräftig gebaute Gestalt, der man ansah, daß sie gewohnt war, Wind und Wetter zu trotzen. Die Gesichtszüge des jungen Mannes glichen denen des Barons in auffallender Weise, obschon ihr Ausdruck ein durchaus verschiedener war. Die großen dunklen Augen blickten scheu und dreist, listig und verschlagen zugleich; aus den buschigen Brauen sprach Trotz. Kein geistiger Hauch veredelte diese hübschen regelmäßigen Züge.
Einige Secunden lang hielt Arthur den Blick auf den Eingetretenen geheftet, er erkannte die Aehnlichkeit der Züge, in seinen Augen suchte er einen Blick der Liebe zu lesen, von seinen Lippen hoffte er das Wort Vater zu hören – vergebens. Da breitete er die Arme aus und eilte auf ihn zu.
»Erwin – Erwin! Mein Sohn!« rief er und preßte den Wiedergefundenen an sein Herz.
Ueber das Gesicht des jungen Mannes glitt ein verlegenes Lächeln. Er erwiederte die Umarmung seines Vaters nicht, sondern ließ sie über sich ergehen als etwas sehr Fremdes und Gleichgiltiges.
Der Baron erfaßte seine beiden Hände und blickte ihm in die Augen.
»Erwin! Erkennst Du mich wieder?« rief er.
»Ja,« entgegnete der Gefragte, obschon das Lächeln, welches über sein Gesicht hinglitt, deutlich bewies, daß er nicht die Wahrheit sprach, sondern sich von schlauer Berechnung leiten ließ.
»Ja – ja?« wiederholte der Baron freudig, indem er ihn nochmals in seine Arme schloß. »Sieh, auch ich würde Dich wieder erkannt haben und wenn Du mir unter tausend Menschen begegnet wärest. Dies sind noch Deine Augen und ist noch Deine Stirn.«
Er strich ihm mit der Rechten das Haar aus der Stirn.
»Nun bleibe ich wohl nicht länger hier in Haft sitzen?« fragte der Wiedergefundene. Ein Wort der Zärtlichkeit oder der Freude hatte er nicht gefunden, all seine Gedanken waren sofort darauf gerichtet, welche Vortheile er aus seiner so plötzlich und günstig veränderten Lebenslage ziehen könnte.
»Nein« erwiederte der Polizeidirector. »Sie sind bereits frei.«
»Du kommst mit mir!« rief der Baron. »Bei mir sollst Du leben, auf meinem Gute, in meinem Hause! Nur heute kann ich Dich noch nicht mit nehmen. Deine Mutter hat keine Ahnung, daß ich Dich wiedergefunden habe, sie hält Dich für todt und ich muß sie erst darauf vorbereiten, ehe ich Dich zu ihr führe. Aber morgen – morgen! – Bester Freund,« wandte er sich an den Polizeidirector. »Sie erweisen mir den Dienst und führen meinen Sohn morgen zu mir.«
»Mit Vergnügen,« versicherte Ruge.
»Ich werde das Gut auch allein finden,« warf Erwin ein, dem die Begleitung des Polizeidirectors nicht angenehm zu sein schien. Er hatte von Jugend auf vor Jedem, der mit der Polizei im Zusammenhang stand, ein Gefühl der Scheu gehabt.
»Erwin, dieser Mann ist mein Freund;« bemerkte Arthur. »Du kannst ohnehin nicht so, wie Du bist, vor Deine Mutter hintreten. – Herr Director, tragen Sie Sorge, daß er mit Allem ausgestattet wird, was seine Stellung und sein Name erfordern. Kaufen Sie ihm, was Sie für nothwendig halten, scheuen Sie keine Kosten, er soll sofort empfinden, daß er mein Sohn ist! Erwin, Du wirst diese Nacht in einem Hotel zubringen – hier – hier!«
Er drückte ihm seine Börse in die Hand.
Die Augen des jungen Mannes leuchteten freudig auf, denn soviel Geld hatte er nie besessen.
Arthur zog den Polizeidirector zur Seite.
»Nehmen Sie sich seiner an!« bat er. »Theilen Sie ihm alle Verhältnisse, wie sie in meinem Hause sind, mit, ich kann es heute nicht, denn ich bin zu erregt. Es treibt mich hin, um meiner Frau die Nachricht zu überbringen!«
Der Polizeidirector versprach, die Bitte gern und gewissenhaft zu erfüllen.
Noch einmal schloß Arthur den Wiedergefundenen in die Arme, dann eilte er fort, um heimzukehren.
Erst als er die Stadt verlassen hatte und der Wagen zwischen den Feldern hinfuhr, wurde er ruhiger und erst jetzt dachte er an das eigenthümliche Verhältniß, welches durch Erwin's Wiederauffinden in seinem Hause eintrat. Erwin wie Hermann, beide hatten gleiche Berechtigung auf das Gut und sein Vermögen. Erwin's Ansprüche waren die natürlichen und älteren, durfte er ihn beeinträchtigen? Und konnte er Hermann, den er so innig liebte, der ihm so viele Freude bereitet hatte, zurücksetzen?
Sein Herz gerieth in einen Zwiespalt, aus dem es keinen Ausweg fand. Machte er sich doch schon Vorwürfe, daß er Hermann inniger liebte, als den Wiedergefundenen. Gehörte diese Liebe nicht Erwin?
Es war gut für ihn, daß der Wagen auf dem Gute anlangte und er dadurch aus seinem Brüten und Zweifeln gerissen wurde. Ella kam ihm im Parke entgegen. Es war ihm unmöglich, seine Aufregung zu verbergen, er wollte Ella langsam vorbereiten, aber die Frage: »Arthur, hast Du Etwas über unser Kind gehört?« mit der sie ihm entgegenkam, vernichtete seinen Entschluß, er konnte nicht länger verbergen, was ihm die Brust fast zu zerspringen drohte.
»Ella, er lebt – er lebt!« rief er.
Die Baronin zuckte freudig zusammen. »Er lebt!« wiederholte sie, dann glitt eben so schnell ein schmerzlicher Zug über ihr Gesicht hin. »Es ist ja unmöglich!« fuhr sie fort.
»Ist Erwin nicht damals im Flusse aufgefunden? Hast Du ihn nicht selbst gesehen?«
»Es ist ein anderer Knabe gewesen!« rief Arthur. »Er lebt – er lebt, Ella – ich – ich habe ihn bereits gesehen!«
Ella schrie freudig auf und warf sich an seine Brust, sie umklammerte ihn fest, ihr Kind, ihr Sohn lebte.
»Du hast ihn gesehen? Wo ist er? Weshalb hast Du ihn nicht mitgebracht?« bestürmte sie ihn mit Fragen.
Es wurde Arthur schwer, ihr Alles zu erzählen, er mußte sie darauf aufmerksam machen, daß ihr Sohn ohne Bildung aufgewachsen sei, daß er als völlig Fremder ihr entgegentreten werde.
»O Gott! Unser Kind als Bettler aufgewachsen!« rief sie erschüttert. Es war nicht allein das Gefühl des Schmerzes und des Mitleids, welches sie erfüllte, sie ahnte bereits die Conflicte, welche ihrem Herzen daraus erwachsen mußten.
Arthur geleitete sie zu einem Stuhle und ließ sich neben ihr nieder. Er erzählte ihr jede Einzelheit, schilderte Erwins Aussehn, seine hübschen Züge, seine kräftige Gestalt.
»Also Dir gleicht er,« bemerkte Ella ruhiger. »Erinnerst Du Dich, daß ich schon, als er noch ein kleines Kind war, behauptete, er würde Dir einst gleichen? Du glaubtest damals meine Züge in denen des Kindes zu erkennen. Wenn nur auch sein Herz dem Deinigen gleicht, wenn es so gut und edel ist!«
Arthur schwieg. Hatte sich nicht auch schon ihm diese Befürchtung aufgedrängt?
»Sieh, Arthur,« fuhr Ella fort, »Du weißt, wie unsagbar ich unser Kind geliebt, wie namenlos mein Schmerz war, als wir es verloren, ich habe es ja nie – nie vergessen, und doch würde ich, wenn es schlecht geworden wäre, lieber wünschen, daß wir es nie wieder gesehen.«
»Nein – nein, er wird, er kann nicht schlecht sein!« fiel Arthur ein. »Er war ja ein gutes und liebes Kind; wäre es möglich, daß er sich so ganz verändert haben könnte?«
»Wie wird nun das Verhältniß zwischen ihm und Hermann sein?« fragte Ella.
»Wir haben jetzt drei Kinder,« fuhr Arthur fort, indem er zu verbergen suchte, daß er schon mit Besorgniß hieran gedacht hatte. »Unser Haus ist ja groß genug und unser Herz wird es auch sein.«
»Wirst Du Hermann heute noch Alles mittheilen?«
»Ja,« gab Arthur zur Antwort. »Ich kann vor ihm kein Geheimniß haben und ich kenne ihn zu gut, er wird sich freuen, daß er einen Bruder gefunden hat.«
Große Aufregung herrschte am Morgen des folgenden Tages auf dem Gute – die Ankunft Erwin's wurde erwartet. Ella befand sich in einem Zustande fast fieberhafter Erregung zwischen Hoffen und Bangen. Hundert Fragen drängten sich an sie heran. Ob die Erinnerung an sie wohl bei ihrem Sohne geblieben war? Ob er sie nach so langer Entfernung noch lieben konnte? Ob er sich leicht hinein fand in ein geordnetes Leben und die Anschauungen der Bildung? In dem Mutterherzen stiegen so viele Wünsche und Bedenken auf.
Arthur schritt mit Hermann im Parke langsam auf und ab. Hermann hatte die Nachricht von Erwin's Wiederfinden mit offener Freude aufgenommen.
»Nun bekomme ich einen Bruder,« hatte er gerufen und seine ehrlichen Augen hatten verrathen, daß er es aufrichtig meinte. Nicht der leiseste Gedanke der Mißgunst, weil das Gut ihm einst nun nicht allein zufalle, hatte ihn beschlichen.
Arthur sprach auch jetzt mit ihm über den Erwarteten.
»Hermann, schließ dich ihm eng an,« bat er. »Laß Dich nicht zurückschrecken, daß er keine Bildung besitzt, es ist ja nicht seine Schuld. Du wirst wahrscheinlich einen größeren Einfluß auf ihn ausüben können, wie ich, denn Ihr seid Euch an Alter ziemlich gleich und in Eurem Alter erfüllen ja dieselben Wünsche und Hoffnungen die Brust.«
»Papa, es bedarf dieser Bitten nicht,« entgegnete Hermann. »Mit offenen Armen und Herzen werde ich ihm entgegenkommen und durch Liebe an ihm zu sühnen suchen, daß ich so lange Jahre seine Stelle und seine Rechte eingenommen, daß ich die Liebe von Euch genossen habe, die ihm gebührte.«
»Hermann, die Stelle, welche Du Dir in unseren Herzen errungen, wirst Du immer behalten!« unterbrach ihn Arthur. »Du bist unser Sohn und bleibst es, Eltern können ja mehrere Kinder gleich innig lieben.«
Der Polizei-Director fuhr während dessen in einem offenen Wogen nach dem Gute. Man würde Erwin kaum wiedererkannt haben, so vortheilhaft hatte er sich durch die feine Kleidung verändert, er erschien darin noch stattlicher und männlicher und schien dies selbst zu finden, denn seine Freude darüber trat offen hervor. Ruge hatte ihm auf seinen Wunsch auch eine Uhr gekauft, und wie ein Knabe zog er dieselbe immer und immer wieder hervor um sie anzuschauen. Sonst freilich war kaum noch ein kindlicher Zug in ihm zu entdecken.
Ruge machte ihn auf die Gegend aufmerksam, um zu sehen, ob nicht eine Erinnerung daran in seinem Gedächtnisse auflebte. Erwin zeigte nicht das geringste Interesse. Es schien ihm gleichgiltig zu sein, ob er die Stätte, an der er geboren war, wieder sah oder nicht. Edlere Regungen schienen in seinem Herzen keinen Raum zu finden. Als Ruge ihn, ehe sie die Stadt verlassen, gefragt hatte, ob er die Frau, welche er so lange Jahre als Mutter angesehen hatte und welche nach ihm verlangte, weil sie ihr Ende herannahen fühlte, noch einmal sehen wollte, hatte er dies kalt abgelehnt und hinzugefügt, sie sei ja seine Mutter nicht mehr. Er könne sie auch nicht mehr lieben, denn wenn sie ihn nicht entführt hätte, würde er jedenfalls eine bessere und freudigere Jugendzeit verlebt haben, als an ihrer Seite.
Auf des Barons Wunsch theilte Ruge ihm während der Fahrt, die Verhältnisse, welche auf dem Gute herrschten, mit. Er erzählte ihm, daß der Vater ein anderes Kind als Sohn angenommen habe und daß er nun in Hermann einen Bruder finden werde.
Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte Erwin zu, sein lebhaftes, leuchtendes Auge verrieth, daß ihm kein Wort entging und daß er sofort überlegte, ob dies mit seinen Interessen sich vereinigen lasse.
»Hoffentlich hat es nun keine Geltung mehr, daß mein Vater den fremden Knaben als Sohn angenommen hat,« bemerkte er und diese wenigen Worte verriethen seine Gedanken hinlänglich.
»Gewiß« versicherte e »Er bleibt der Sohn Ihres Vaters, da er in dessen Rechte eingesetzt ist. Sollte es Ihnen nicht lieb sein, einen Bruder in ihm zu bekommen?«
Erwin schwieg, er mochte aus dem Tone, mit welchem der Polizeidirector diese Worte gesprochen hatte, gehört haben, daß derselbe durch seine Frage unangenehm berührt war.
»Sie erblicken vielleicht in Hermann eine Beeinträchtigung Ihrer Rechte,« fuhr Ruge fort. »Vergessen Sie nicht, daß Ihre Eltern den Knaben annahmen, als sie fest glaubten, daß Sie todt seien, sie suchten einen Ersatz für ihren Verlust.«
Erwin schwieg auch jetzt noch, nur einen flüchtigen, lauernden Blick warf er auf den ihm zur Seite sitzenden Mann.
Der Wagen näherte sich dem Gute.
»Erkennen Sie das Gut wieder?« fragte der Direktor. »Dort die Gebäude zwischen den hohen Linden, haben sie sich Ihrer Erinnerung nicht eingeprägt?«
»Ja wohl,« gab der Gefragte zur Antwort. Allein er sprach die Worte kalt, er richtete den Blick kaum auf die ihm entgegenschimmernden Gebäude, kein Zug inniger Freude zuckte über sein Gesicht hin. Es unterlag keinem Zweifel, er erkannte sie nicht wieder. »Ist das Gut groß?« fügte er hinzu.
»Nein.«
»Hat mein Vater noch mehrere Güter?« forschte er weiter.
»Auch das nicht.«
»Es ist mir, als ob ich als Kind gehört hätte, er sei sehr reich.«
»Ich weiß es nicht,« gab der Polizeidirector, welcher die Absicht dieser Fragen richtig erkannte, zur Antwort. »Sollte ihr Gedächtniß dies wirklich aufbewahrt haben? Ein Kind von dem Alter, in welchem Sie sich damals befanden, hat noch keinen Begriff von Reichthum, es dünkt sich reich, wenn es viel Spielzeug besitzt.«
»Es ist möglich, daß ich mich irre,« gab Erwin zur Antwort und schwieg.
In wenigen Minuten hatte der Wagen das Gut erreicht. Vor dem Hause standen Erwin's Eltern, Hermann und Grete, auf dem Hofe hatten sich die Dienerschaft, die Knechte und Arbeiter versammelt, denn daß der verloren Geglaubte, daß der Sohn des Barons wieder gefunden war und erwartet wurde, war kein Geheimniß geblieben.
Arthur eilte auf den Wagen zu und schloß Erwin in seine Arme.
»Hier – hier, Erwin ist Deine Mutter!« rief er, indem er ihn zu Ella führte.
Auf Hermann's Arm gestützt hatte Ella den Wiedergefundenen aussteigen sehen. Das – das war ihr Sohn! Vor ihrem Geiste stand noch das heitere Kind, jetzt sah sie sich einem jungen Mann gegenüber. Sie konnte ein Gefühl der Befremdung nicht überwinden, obschon ihr Herz so laut und stürmisch schlug. Einen Augenblick stand sie noch leise zitternd da, dann eilte sie dem Sohne entgegen.
»Erwin, Erwin, mein Kind!« rief sie und schloß den Sohn in die Arme. Sie weinte vor freudiger Erregung, sie erfaßte seine Hände und blickte ihm ins Gesicht, in die Augen. Waren dies die Augen ihres offenen heiteren Jungen? Sie blickten sie halb verlegen, halb kalt lächelnd an.
Hatte sein Mund kein zärtliches Wort für sie? Hatte er verlernt, sich an sie zu schmiegen, wie er so oft und so gern als Kind gethan?
Ein schmerzliches Gefühl durchzuckte sie, sie drängte es gewaltsam zurück, um diese Minute des Wiedersehens durch nichts stören zu lassen. Sie war ihm ja fremd geworden, das Gedächtniß des Kindes konnte nicht so treu ihr Bild bewahrt haben, wie sie das seinige.
»Erwin, erkennst Du mich nicht wieder?« fragte sie. »Taucht nicht eine Erinnerung in Dir auf?«
»Doch!« erwiederte er mit demselben Lächeln.
»Nein, nein, sonst würde Dein Auge freudiger leuchten!« rief Ella. »Wie habe ich Dich geliebt, wie unsagbar viel Thränen vergossen, als ich Dich verloren, mein ganzes Lebensglück glaubte ich erstorben für immerdar! Ich hielt Dich ja für todt. Nun – nun habe ich Dich wieder und ich will Dich lieben, als ob Du mir nicht einen Tag lang entrissen wärst, als ob ich Dir täglich ins Auge geschaut, als ob ich gesehen, wie Du gewachsen! Du bist groß geworden – Du gleichst Deinem Vater, Erwin, nun sei auch gut und edel, wie er es ist!«
Sie zog ihn auf's Neue an ihr Herz.
Arthur erfaßte ihre Hand.
»Gönne ihm Ruhe, Ella,« bat er leise. »Er fühlt sich noch fremd, die unbekannten Gesichter, die neuen Eindrücke machen ihn befangen, zu schnell stürmt Alles auf ihn ein.
Er muß sich erst selbst wiederfinden.«
Hermann eilte mit offenen Armen auf Erwin zu.
»Erwin, nimm mich als Bruder an, wie Deine Eltern mich als ihren Sohn angenommen haben!« rief er. »Das Eine gelobe ich Dir, ich will treu zu Dir halten, wie Bruder zum Bruder. Das Blut bildet kein Band zwischen uns, laß es die Liebe thun, es ist ja noch fester und dauernder!«
Zum ersten Male wich das Lächeln von Erwin's Gesicht, er trat einen Schritt zurück, als möge er mit dem nichts zu thun haben, der ihm so freundlich entgegenkam. Seine Brauen hatten sich zusammengezogen und ein unfreundlicher Blick traf Hermann.
»Erwin, willst Du Deinen Bruder nicht begrüßen!« rief Arthur! »Er ist ja unser Kind wie Du!«
Erwin schien zu fühlen, daß er sich zu wenig beherrscht hatte. Er trat auf Hermann zu und reichte ihm die Hand; ebenso begrüßte er Grete. Er hatte jedoch zu wenig gelernt, sich zu verstellen; deutlich las man auf seinem Gesichte, daß er es ungern that.
Es bildete dies einen bitteren Tropfen in dem Becher des Glückes. Hermann's Wangen waren bleicher geworden, als er diese kalte Erwiederung seines so innigen Entgegenkommens empfand; sobald er indessen den bangen, schmerzvollen Ausdruck in den Mienen seiner Eltern bemerkt, kämpfte er die eigene Empfindung gewaltsam nieder. Er zwang sich heiter zu sein, nur um den trüben Schatten bei seinen Eltern zu verscheuchen. Sollten sie für die Liebe, welche sie ihm geschenkt, Schmerzen ernten?
In das Zimmer wurde Erwin geführt, welches für ihn hergerichtet und bestimmt war. Er hatte nie so viel Luxus gesehen, Arthur erwartete, daß er unbefangen wie ein Knabe frohlocken werde, er schien sich auch zu freuen, blieb jedoch ruhig. Die Gegenstände erfreuten ihn, nicht die Liebe, welche dies Alles so schnell für ihn hergerichtet.
Während Ella und Hermann bei ihm blieben, während sie durch ihr liebevolles Entgegenkommen sein Vertrauen zu erwecken sich bemühten, suchte Arthur den Polizeidirector auf, der in den Park getreten war, um durch seine Gegenwart bei dem Wiedersehen nicht zu stören. Wie dasselbe gewesen war, las er auf der umwölkten Stirn Arthurs. Er hatte den Wiedergefundenen schon hinlänglich erkannt.
»Sie haben ihm Alles mitgetheilt,« sprach Arthur, indem er die Hand in Ruge's Arm legte, »wie nahm er es auf?«
»Er schien sich in die ihm neuen Verhältnisse nicht so schnell hinein finden zu können,« erwiederte der Polizeidirector ausweichend. Durfte er dem Baron seine Befürchtungen mittheilen? Lernte derselbe nicht noch allzufrüh den Charakter des Sohnes kennen?
»Bester Freund, sagen Sie mir die offene und volle Wahrheit,« bat Arthur.
»Sie werden Geduld mit ihm haben müssen,« gab Ruge zur Antwort. »Der Wechsel ist ein zu großer und plötzlicher für ihn, selbst ein Traum vermag ihn nicht in der Weise zu schaffen. Lassen Sie ihm Zeit, um sich in die neue Stellung hinein zu leben, es wird ihm hoffentlich gelingen.«
»Sie weichen mir aus,« bemerkte Arthur. »Ihr scharfes Auge sollte nicht tiefer geblickt haben? Es steht mir eine schwere Aufgabe bevor und noch weiß ich nicht, wie ich dieselbe lösen soll. Erwin's Bildung ist vollständig vernachlässigt, ich muß ihn erziehen, um das Versäumte nachzuholen, allein er ist kein Knabe mehr, sondern erwachsen. Ich bin entschlossen, ihm das vollste Vertrauen und die größte Liebe entgegenzubringen, wird er dieselbe verstehen und würdigen? Ich bin glücklich, daß ich meinen Sohn wiederhabe, allein in dieses Glück mischt sich die bange Besorgniß, daß mein Streben scheitern könnte! Wird es mir gelingen, die Einflüsse, welche so lange Jahre auf ihn eingewirkt haben, zu verwischen? Und wenn er sich auch nie viel Kenntnisse erwerben wird, wird er empfänglich sein für die Bildung des Herzens und des Gemüths?«
»Herr Baron, verzagen Sie nicht, ehe Sie Ihre Aufgabe begonnen haben,« fiel Ruge beruhigend ein, obschon er all die Befürchtungen theilte.
»Ich verzage nicht, meine Gedanken eilen indessen weiter, ich denke an meine Frau, an ihren Schmerz, wenn ihr Kind sich ihrer und meines Namens unwürdig erwiese. Sie würde es nicht ertragen!«
»Herr Baron, Sie wissen, wie aufrichtig ich an Ihrem Geschicke Theil nehme,« sprach der Polizeidirector, »ich vermag mich ganz in Ihre Lage hinein zu denken. Wollen Sie mir einen offenen und ehrlich gemeinten Rath gestatten?«
»Ich werde Ihnen sogar dankbar dafür sein.«
»Dann seien Sie gegen Ihren Sohn streng von Anfang an, betrachten Sie ihn als einen Knaben, der Ihrer Erziehung anvertraut ist, dessen Bestes Sie wollen, selbst wenn es sich nur hier und da mit Härte erreichen läßt.«
»Werde ich dadurch sein Vertrauen und seine Liebe nicht einschüchtern? Es liegt mir Alles daran, beides zu gewinnen.«
»Es giebt Charactere, denen sich Liebe nur durch Strenge abgewinnen läßt.«
»Ich glaube, daß Sie Recht haben!« entgegnete Arthur, »ich befürchte nur, daß mein eigener Charakter dieses Mittel nicht durchführen kann. Ich habe verlernt strenge zu sein. Bei Hermann und Grete habe ich Strenge schon seit Jahren nicht mehr anwenden können, sie wußten, das ich sie liebte und sie vermieden Alles, was mich hätte betrüben können. Ich finde jetzt meinen verloren geglaubten Sohn nach langen Jahren wieder, mein Herz sehnt sich, ihm die Liebe entgegenzutragen, die er so lange entbehrt hat, ich kann nicht strenge gegen ihn sein!«
»Ist es nicht möglich, ihn auf einige Zeit in eine Pension geben?« warf Ruge ein.
»Ich werde es überlegen, ich befürchte nur, daß es meiner Frau schwer werden würde, sich so schnell wieder von ihm zu trennen. Es ist unser erster und sehnlichster Wunsch, uns seine Liebe zu erwerben!«
»Nun denn, versuchen Sie diesen Weg,« bemerkte Ruge beruhigend. »Ich werde mich aufrichtig freuen, wenn es Ihnen gelingt.«
»Wie befindet sich die Frau, welche uns so viele Schmerzen zugefügt hat?« fragte Arthur.
»Sie wird den heutigen Tag wohl nicht überleben.«
»Wenn Sie es thut, bitte, dann lassen Sie es ihr nicht an Pflege fehlen, ich werde gern die Kosten tragen.«
Ruge versprach es.
»Hat mein Sohn Abschied von ihr genommen?« forschte Arthur weiter.
»Nein.«
»Weiß er, daß ihr Ende bevorsteht?«
»Und trotzdem hat es ihn nicht zu ihr gezogen, da er sie so lange Jahre als seine Mutter angesehen hat?«
Der Polizeidirector zögerte mit der Antwort. Sollte er ihm Erwin's Worte mittheilen? Er schwankte, weil er wußte, daß sie ihn tief erschüttern würden und doch entschloß er sich dazu, um ihm einen Wink über Erwin's Charakter zu geben.
»Die Frau wünschte ihn zu sehen, er lehnte es ab und fügte hinzu, sie sei ja seine Mutter nicht mehr!«
»Das hat er gesagt?« rief Arthur erschreckt.
»Ja. Ich habe Ihnen diese Aeußerung mitgetheilt, nicht um Ihnen wehe zu thun, sondern damit Sie in Ihrer Milde nicht zu weit gehen. Nun streifen Sie die Sorgen von sich ab. In die Zukunft vermag Niemand zu sehen, und schon manche Befürchtung hat sich als eitel erwiesen. Hoffen Sie das Beste, ich vertraue wenigstens auf das Eine viel, sehr viel, daß Ihr edles Beispiel einen mächtigen Einfluß ausüben wird. Das Vorbild wirkt ja auf den ungebildeten Menschen hundert mal mehr, als alle Lehren!« –
Es vereinten sich Alle, um Erwin den in seinem Leben eingetretenen Wechsel so leicht als möglich zu machen, sie trugen ihm Liebe entgegen, um seine Liebe zu gewinnen. Und er schien sich sehr schnell in die neue Lage zu finden, denn seine Verlegenheit schwand sehr bald, er fühlte sich bereits als Baron.
Arthur suchte ihn soviel als möglich an sich zu fesseln, um durch den Umgang bildend auf ihn einzuwirken und seinen Charakter kennen zu lernen. Erwin war gegen ihn sowohl wie gegen Ella artig und zuvorkommend, benutzte jedoch jede Gelegenheit, um ihnen auszuweichen und allein den Wald und die Umgegend zu durchstreichen. Zu dem Diener und zu gewöhnlichen Arbeitern fühlte er sich mehr hingezogen. Er war stolz auf seine hübsche Kleidung, auf seine Uhr und seine gefüllte Börse, sonst kannte er keinen Stolz.
Arthur machte ihn in milder, liebevoller Weise darauf aufmerksam, das es sich für seine neue Stellung nicht schicke, mit solchen Leuten in vertraulicher Weise zu verkehren, Erwin versprach, es zu unterlassen, ohne daß er Wort hielt.
Es trat bei ihm trotz seiner gewöhnlichen Freundlichkeit immer mehr ein schlauer und hinterlistiger Characterzug hervor. Sachen, über welche sein Vater ihm offen Mittheilung gemacht haben würde, wenn er ihn darum befragt hätte, suchte er heimlich und auf Umwegen zu erfahren, und es war zu erstaunen, welche Kenntniß aller Verhältnisse er sich schon nach wenigen Tagen verschafft hatte, ohne daß auf dem Gute Jemand wußte, durch wen.
Am Tiefsten schmerzte es Ella, daß es ihr trotz aller Liebe und Freundlichkeit nicht gelang, sein Vertrauen zu gewinnen, sie benutzte jede Gelegenheit, um sich ihm zu nähern, er blieb ihr fremd gegenüber stehen. Sie setzte sich zu ihm, erzählte ihm von seiner Jugend, er hörte aufmerksam zu, allein es schien ihn nicht im Geringsten zu interessiren. Immer mehr erkannte sie, daß es ihm an Gemüth fehlte und daß seine Freundlichkeit nur erzwungen sei.
Bekümmert sprach sie sich gegen Arthur darüber aus.
»Laß ihm Zeit,« suchte dieser sie zu beruhigen. »Er kann die Einflüsse langer Jahre nicht so schnell abstreifen.«
»Sie werden nie bei ihm schwinden,« warf Ella ein. »Noch habe ich keinen liebevollen und zärtlichen Blick seines Auges gesehen und doch bemühen wir alle uns, jeden seiner Wünsche zu erfüllen. Er bleibt verschlossen.«
»Es wird anders werden,« versicherte Arthur, und doch wagte er selbst es kaum noch zu hoffen, denn Erwins Character war schon zu fest ausgeprägt, um sich noch bilden zu lassen.«
Tage waren hierauf verflossen. Erwin war derselbe geblieben, nur daß er sich von den Seinigen mehr und mehr abschloß. Halbe Tage lang blieb er fort, und als der Baron ihm nachforschte, entdeckte er, daß er in einem im Walde gelegenen Wirthshause mit gewöhnlichen Arbeitern zechte und spielte. Er wollte ihn aufsuchen und ihm hierüber Vorstellungen machen, als ihn Hermann mit den Zeichen der größten Aufregung im Park begegnete.
»Was hast Du«? fragte er ihn.
»Nichts – nichts,« gab Hermann zur Antwort, obschon seine bleichen Wangen verriethen, daß er nicht die Wahrheit sprach.
»Hermann, hast Du kein Vertrauen mehr zu mir?« fuhr der Baron fort. »Es gab eine Zeit, wo Du kein Gebeimniß vor mir haben konntest, wo Du mich in Dein Inneres schauen ließest, wie in ein klares Wasser und diese Zeit gehörte mit zu den glücklichsten meines Lebens.«
Vor sich hinstarrend stand Hermann da, er zögerte, er schwankte. Dann warf er sich leidenschaftlich an die Brust seines Vaters.
»Ich habe ja noch dasselbe Vertrauen zu Dir – es kann durch nichts erschüttert werden!« rief er.
»Nun dann sage mir, was Dich erregt hat.«
»Ich ging soeben durch den Park. Erwin begegnete mir. Ich bin ihm in den letzten Tagen so viel als möglich ausgewichen, weil er noch keinen freundlichen Blick für mich gehabt hat, weil ich weiß, daß er mich nicht liebt. Ich trat ihm heute freundlich entgegen und reichte ihm die Hand zum Gruße. Da stieß er mich zurück und rief mir zu, ich sei nicht sein Bruder, er hasse mich, denn ich wolle ihn um die Hälfte seines Vermögens betrügen, allein ich solle es nimmermehr haben.«
»Das ist unmöglich!« rief Arthur erschreckt. »Hermann, dies – dies hat er Dir gesagt?«
Der junge Mann nickte bejahend mit dem Kopfe.
»Oh, meine Befürchtung ist nur zu bald eingetroffen,« fuhr Arthur erschüttert fort. »Er liebt Dich nicht, wie er uns Alle nicht liebt, er hat kein Herz. Dies – dies muß ich vom eigenen Kinde sagen!«
Er preßte die Hand vor die Augen.
Schmeichelnd, beruhigend umfaßte ihn Hermann.
»Er muß sich ändern!« sprach der Baron. »Wenn er nicht in Frieden und Freundlichkeit mit Dir leben will, wenn er Dir mißgönnt, worauf Du einen ebenso gerechten Anspruch hast, wie er, denn Du bist unser Kind und verdienst unsere Liebe – dann – dann mag der eigene Sohn eher aus meinem Hause scheiden!«
»Papa, halt ein!« unterbrach ihn Hermann bittend. »Laß mich gehen, mir steht die Welt offen, denn ich habe mir Kenntnisse erworben, ich gehe gern, denn ich weiß, daß Eure Liebe mir bleibt.«
»Nein, nein, Du bleibst!« rief der Baron. »Sollen wir unsres Glückes und unsrer Freude eines Undankbaren wegen beraubt werden. Wo ist Erwin?«
»Sage ihm nichts,« bat Hermann.
»Doch, ich muß ihm mit aller Strenge Vorwürfe machen. Darum – Darum mußten wir ihn wieder finden!«
Er eilte erregt fort.
Im Parke, auf dem Rasen ausgestreckt, traf er Erwin. Derselbe sah ihm mit trotzigem Auge entgegen, er schien zu wissen, was ihm bevorstand und darauf vorbereitet zu sein.
»Erwin, was hast Du Hermann gethan?« rief Arthur vorwurfsvoll.
»Er ist mein Bruder nicht,« entgegnete Erwin.
»Er ist es. Als Sohn habe ich ihn angenommen und ich habe es nie bereut, denn er hat unsere Liebe uns mit Liebe vergolten, er ist gut und brav geworden! Auch Dir sind wir mit Liebe entgegengekommen, allein immer mehr weichst Du uns aus, um Dir eine Gesellschaft aufzusuchen, welche sich nicht für Dich eignet.«
»Sie gefällt mir am Besten,« gab Erwin in dreister Weise zu Antwort.
»Leider entspricht sie Deiner Bildung. Ich hoffte, Du würdest von selbst das Streben zeigen, Dich weiter zu bilden, Du hast keine Neigung dazu.«
»Ich habe ja nicht nöthig noch zu lernen, da ich ohne dies leben kann.«
Diese dreiste, kalte Art und Weise empörte den Baron am Meisten.
»Sei ruhig!« unterbrach er ihn streng. »Du bist unwürdig unserer Liebe. Ich hoffte Dich mit Güte und Milde erziehen zu können, ich wollte Dich bei mir behalten, unser Herz war so glücklich, daß wir endlich den Sohn wiedergefunden. Du selbst machst es unmöglich. Ich werde Dich in die Stadt in eine Pension bringen, damit Du nachholst, was Du versäumt hast!«
»Ich bleibe hier!« entgegnete er. »Ich bin kein Knabe mehr, der sich in eine Pension oder eine Schule schicken läßt!«
»Du wirst mir gehorchen!«
»Nein, denn ich will nicht, daß Ihr alle Liebe und Güte auf Hermann häufen sollt!«
»Haben wir Dir nicht ebensoviel Liebe erwiesen?« rief der. Baron.
»Ebensoviel!« wiederholte Erwin. »Er hat kein Anrecht darauf; er ist Euer Sohn nicht, sondern das Kind eines Bettlers! Ich weiß es, wenn Du es mir auch nicht, gesagt hast. Hier hinter dem Parke wäre seine Mutter gestorben, wenn Ihr sie hättet liegen lassen – und auch er!«
»Erwin, Erwin!« unterbrach ihn der Baron entrüstet. »Ich weiß, weshalb Du ihn hassest. Du gönnst ihm nicht den Antheil meines Vermögens, den er einst erhalten wird. Du glaubst Dich dadurch beeinträchtigt, allein noch gehört mir, was ich besitze, ich habe darüber zu verfügen und ich werde es thun, wie das Recht und mein Herz mir vorschreibt. Treibe mich nicht zum Aeußersten!«
Erwin zuckte leise mit der Schulter, die Worte schienen wenig Eindruck auf ihn zu machen.
»Du kannst mich nicht aus dem Hause treiben, denn ich würde wieder Bettler werden und einem Baron, der ich bin, würde das schlecht anstehen,« erwiederte er. »Ich habe nichts gelernt und ich will auch nichts lernen, denn ich habe es nicht nöthig. Weshalb geht Hermann nicht fort? Du hast mir seine Kenntnisse ja so oft gerühmt!«
»Schweig!« unterbrach ihn der Baron, dessen Geduld erschöpft war. »Wenn Du Dich nicht änderst, so zwingst Du mich zur Strenge und ich werde sie anwenden, da Du gegen Liebe und Güte unempfänglich bist!«
Beide Hände in den Taschen, mit gleichgültiger Miene, ging Erwin fort.
Arthur zögerte, in das Haus zurück zu kehren. Er ließ sich auf eine Bank nieder und preßte beide Hände vor das Gesicht. Das war sein Sohn, auf den er einst so große und stolze Hoffnungen gebaut! Seine Freundlichkeit war bisher nur Maske gewesen, jetzt hatte er dieselbe abgeworfen und sein wahrer Character trat hervor.
Er fürchtete sich, Ella entgegen zu treten, er mußte ihr das Vorgefallene geheim halten und doch – wie lange konnte es ihr verborgen bleiben? Hatte sie Erwin's Character nicht schon erkannt? Wie viel Kummer stand ihnen durch den Undankbaren noch bevor!
Jetzt begriff er die Mahnung des Polizeidirectors, von Anfang an strenge zu sein, sein Herz hatte es nicht vermocht und doch würde er besser gethan haben. Welchen Weg sollte er einschlagen, um den Mißrathenen zu ändern und zu bessern? Vergebens sann er darüber nach. Gegen Liebe und Güte hatte er sich unempfindlich bewiesen, ob er es nicht auch gegen Strenge war? Konnte er gegen den Erwachsenen noch Gewalt und Strafen anwenden?
Er fand keine Antwort auf all' diese Fragen. Gewaltsam raffte er alle Kräfte zusammen, um sich Ruhe zu erringen und Ella das Geschehene geheim zu halten, und doch vermochte er seinen Entschluß nicht durchzuführen, als der Tag schwand, ohne daß Erwin zurückkehrte, als sie ihn spät am Abende noch vergebens erwarteten. Ella ängstigte sich, sie befürchtete, daß Erwin ein Unglück zugestoßen sei; da erzählte er ihr, daß er trotzig von ihm gegangen sei und wodurch dieser Trotz hervorgerufen war.
Es war eine bittere Erfahrung, welche die beiden Eltern machten. Schwerer hätten sie nicht geprüft werden können. Der eigene Sohn mißrathen – und sie mußten sich gestehen, daß dies nicht geschehen sein würde, wenn er unter ihrer Leitung aufgewachsen wäre, denn er war als Kind lieb und gut gewesen.
»Arthur,« sprach Ella endlich, »würde es nicht doch besser sein, wenn Hermann auf einige Zeit uns verließe? Er wird es gern thun, wenn wir es wünschen, denn er weiß, daß unsre Liebe ihm unverändert bleibt. Vielleicht gelingt es uns dann eher, Erwin zu ändern. Ich glaube, er geht nur deßhalb so häufig fort, um Hermann auszuweichen. Wenn es uns gelingt, ihn mehr an uns und das Haus zu fesseln, so wird er sich auch bessern.«
Zweifelnd und ablehnend schüttelte der Baron mit dem Kopfe.
»Haben wir es nicht vergebens mit der größten Liebe versucht, ihn zu fesseln?« entgegnete er. »Hermann darf nicht fort, denn jedes Nachgeben gegen Erwin halte ich für einen Fehler. Ist er nicht auch gegen Grete kalt und lieblos, mißgönnt er oft nicht auch ihr die Stätte welche sie in unsrem Hause und in unsren Herzen gesunden hat! Ich würde ihn in Schutz nehmen, wenn er aus Eifersucht auf unsre Liebe dazu getrieben würde, es leitet ihn jedoch nur der Gedanke, daß er unser Vermögen einst nicht allein und ungeschmälert erhält!«
»Hermann und Grete leiden unendlich dadurch,« bemerkte Ella. »Wohl hat ihr Mund noch keine Klage gegen mich ausgesprochen, sie suchen ja Alles von uns fern zu halten, was uns betrüben könnte, ich lese es nur aus ihren Mienen. Ihr Glück ist getrübt, sie sind nicht mehr so heiter, es liegt drückend auf ihnen und doch trifft sie nicht die geringste Schuld, denn sie sind Erwin freundlich und liebevoll entgegengekommen.«
Der Baron schritt erregt im Zimmer auf und ab.
»Es muß anders werden und doch sehe ich noch kein Mittel, wodurch ich es erreichen kann, denn Erwin hat gar nicht den Willen, sich zu ändern. Er muß eine schwere und traurige Vergangenheit gehabt haben, weil jedes edlere Gefühl in ihm erstorben ist; es tritt immer der Gedanke an mich heran, daß nicht ihn die Schuld trifft, sondern allein die, welche ihn uns entrissen und seine Erziehung vernachlässigt haben, er ist ein unglücklicher Mensch, der mein Mitleid wach ruft und dies hindert mich wieder, mit aller Strenge gegen ihn zu verfahren. Ella, versuche Du es noch einmal, auf ihn einzuwirken, vielleicht gelingt es Dir leichter, sein Vertrauen zu gewinnen.«
Ella versprach es, obschon sie wenig Hoffnung hegte; hatte doch schon ihr eigenes Herz dies versucht und ihre Bemühung war gescheitert.
Erwin kehrte erst am folgenden Morgen heim. Die Baronin sah ihn und war durch sein Aussehen erschreckt. Sein Gesicht war bleich und wüst, seine Kleidung beschmutzt und zerrissen. Er hatte in der Waldschenke die Nacht durchzecht und durchspielt, er hatte eine Rauferei begonnen und war schließlich zur Schenke hinausgeworfen. Sie trat zurück, weil sie ihn in diesem Zustande nicht sprechen konnte, sie sah, daß die Dienerschaft über ihn lachte und ein unsagbarer Schmerz erfüllte sie. Ihr Sohn der Spott der Dienerschaft! Ihr fein fühlendes Gemüth war abgeschreckt, sie fühlte, daß sie den Sohn nicht lieben konnte, wie ein Mutterherz ihn lieben mußte und wie ihr Herz verlangte; sie peinigte sich mit Vorwürfen, sie wollte ihr Herz zwingen und doch fühlte sie sich durch das Rohe und Unnatürliche abgestoßen.
Alle Versuche, Erwin zu bessern, blieben erfolglos, sein roher, trotziger und schwer zu bändigender Character trat im Gegentheil mit jedem Tage schroffer hervor. Er hatte eine Anzahl roher Burschen gefunden, mit denen er zechte und die zu ihm hielten, weil er Geld besaß. Vergebens waren alle Vorstellungen des Barons, vergebens die Drohung, ihn aus dem Hause zu weisen. Erwin war schlau genug zu errathen, daß dies nicht geschehen werde, da er den Namen seines Vaters trug und dieser jede Schmach von diesem Namen fern zu halten suche.
Der Baron gab ihm endlich kein Geld mehr, allein auch dies machte keinen Eindruck auf ihn, er setzte dasselbe wüste Leben fort und machte Schulden.
Es war natürlich, daß Arthur's und Ella's Herzen sich um so enger an Hermann und Grete schlossen; um so schroffer und feindseliger trat Erwin diesen entgegen. Er gab sich gar nicht mehr die Mühe, seinen Groll zu verbergen.
»So lange Hermann im Hause ist, will ich nicht anders werden!« rief er dem Baron entgegen, als dieser ihm Vorwürfe machte. »Er hat kein Recht hier zu sein, denn er ist der Bube eines Bettlers, mehr nichts. Er soll fort, und wenn er nicht freiwillig geht, so werde ich schon Mittel finden um ihn zu vertreiben!«
Hermann hatte diese Worte gehört und bestürmte vergebens seine Eltern, ihm zu gestatten, sie zu verlassen.
»Nein,« entgegnete der Baron mit Entschiedenheit. »Sollen wir Dich des Ungerathenen wegen verlieren!«
Hermann schien sich zu fügen, allein in seiner Seele keimte der Entschluß, das väterliche Haus zu verlassen und sich selbst eine Lebensstellung zu gründen. Es konnte ihm ja nicht schwer werden bei seinen Kenntnissen. Er hielt diesen Entschluß geheim, auch Grete sollte ihn erst erfahren, nachdem er ihn bereits ausgeführt und doch vermochte er nicht, ihr denselben zu verschweigen. Ihr Herz war mit dem seinigen so innig verwachsen, sie hegte ein so unbedingtes Vertrauen zu ihm, daß er überzeugt war, sie werde seinen Entschluß billigen.
Wohl schreckte sie zurück, als er ihr denselben mittheilte, sie warf sich an seine Brust, umklammerte seinen Nacken und rief schluchzend, daß sie ihn nicht verlassen werde, daß sie mit ihm gehe, wenn er scheiden wolle.
»Höre mich ruhig an, Grete,« bat er, mit Gewalt seine Kräfte zusammenraffend. »Glaubst Du, dieser Entschluß sei mir leicht geworden! Seit Tagen und Nächten habe ich mit mir selbst gerungen. Tausend Bande halten mich hier ja zurück, ich bin hier so unsagbar glücklich gewesen; jede Stätte, jeder Gegenstand erweckt die Erinnerung an Freuden in mir. Ich weiß, daß mir Thränen nachfließen werden, mein Herz zuckt schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken, daß es sich von Dir trennen soll und doch muß ich meinen Entschluß ausführen. – Sieh: Erwin haßt mich und ich weiß, daß es mir nie gelingen wird, ihn zu versöhnen, denn er mißgönnt mir all' das Gute, was ich hier empfangen habe. Er haßt mich, weil er befürchtet, ich werde einen Theil des Vermögens bekommen, auf welches er allein ein Anrecht zu haben glaubt. Er hat wilde Drohungen gegen mich ausgestoßen und ich bin überzeugt, er würde sie ausführen, wenn ich hier bliebe. Ich selbst habe keine Furcht vor ihm, allein ich weiß, daß unsere Eltern dadurch zu Grunde gehen würden. Ihnen verdanken wir Alles, was wir sind; wir haben nur Liebe von ihnen empfangen und sind ihnen Dank schuldig. Ich weiß, wie unsagbar sie schon jetzt leiden! Wohl suchen sie es gegen uns zu verbergen, allein ihre kummervollen Gesichter verrathen es nur zu deutlich. Wo ist das Glück geblieben, welches hier noch vor einigen Wochen wohnte? Wir Alle waren so heiter, kein Mißklang trat zwischen uns – das Alles, Alles ist dahin, und ich sehe voraus, daß es noch schlimmer werden wird!«
»Nein, nein!« rief Grete, »Erwin kann so nicht bleiben, er wird anders werden!«
»Ich glaube es nicht,« fuhr Hermann fort, »Sieh', Grete, es war der Wunsch unserer Eltern, daß wir bald für immer verbunden sein möchten, sie wollten sich freuen über unser Glück und daran Theil nehmen. Ich habe mir die Zukunft an Deiner Seite so goldig ausgemalt, mit den Eltern in demselben Hause wohnen, mit ihnen immer vereint zu bleiben, ich hatte keinen theureren Wunsch – auch der ist dahin! Möchtest Du die meine werden und hier mit mir leben, so lange Erwin hier ist? Soll er unser Glück trüben? Soll er jede Freude, die wir hier genießen würden, uns mißgönnen? Das würde ich nicht ertragen. Ich muß fort, um mir selbst eine Lebensstellung zu gründen und ich werde alle meine Kräfte dazu aufbieten. Ich schrecke vor dieser Aufgabe nicht zurück, denn ich sehne mich nach Arbeit; der Lohn derselben bist Du.«
»Wohin willst Du Dich wenden?« warf Grete ein.
»Nach Amerika.«
Das arme Mädchen fuhr bei diesem Gedanken erschreckt zurück.
»Dort hoffe ich das, was ich wünsche, am schnellsten zu erreichen,« fuhr Hermann fort, »Kein Vorurtheil tritt dort mir und meinem Namen entgegen, dort gilt allein die Kraft und die Arbeit, und auf beide vertraue ich!«
»Ich kann nicht leben ohne Dich!« rief Grete, sich schluchzend an seine Brust werfend.
»Doch, doch, Grete,« sprach er beruhigend, »Du bleibst hier bei den Eltern, die würden sonst ganz freudenleer dastehen und Du hilfst ihnen tragen, was nicht zu ändern ist, und dann zählst Du Woche um Woche und Tag um Tag, und jeden Abend, wenn die Sonne sich im Westen senkt, darfst Du Dir sagen, daß wir unserem Glücke um einen Tag näher gerückt sind, und dasselbe werde auch ich mir jeden Abend sagen, das wird meine Kraft anspornen und ihr Ausdauer verleihen! Und nicht für Dich allein will ich arbeiten, auch für die Eltern. Laß ein Jahr vergangen sein und Erwin, dessen Herz keine Liebe und edlere Empfindung kennt, wird auf ihren Tod lauern, um in den Besitz dieses Gutes zu kommen und von Niemand mehr abhängig zu sein. Uns beide haben sie einst zu sich genommen, sie haben uns geliebt und gepflegt, und ich kenne keinen schöneren Gedanken, als ihnen eine Stätte zu bereiten, wo sie glücklich den Abend ihres Lebens bei uns beschließen!«
Es gelang ihm endlich, die Geliebte zu beruhigen und ihre Einwilligung zu erlangen. Heimlich trafen sie die Vorkehrungen zur Abreise. Wohl verriethen Grete's Augen mehrere Male, daß sie geweint hatte, und Ella drang in sie. Sie bewahrte indessen das Geheimniß.
Drei Tage später, am Abende, als es in dem Hause bereits still geworden war, da sich Alle zur Ruhe begaben, verließen Hermann und Grete das Haus, und eilten durch den Park hin. Nun die Stunde der Trennung kam, fühlte Grete doch, daß sie ihre Kräfte überschätzt hatte. Fest, fest klammerte sie sich an den Geliebten um ihn nicht von sich zu lassen.
»Ich kann – ich kann ohne Dich nicht leben!« rief sie schluchzend.
Auch Hermann's Herz bebte und er mußte alle Kräfte zusammen nehmen, um stark zu bleiben.
»Grete, ertrage es!« flehte er. »Mein Herz bleibt ja hier, bei Dir! Denk Dir, ich träte eine längere Reise an und wenn ich zurückkehre, dann – dann werden wir vereint, um uns nie wieder zu trennen!«
»Und wenn Du nun nicht zurückkehrst?« warf Grete ein.
»Ich kehre zurück. Diese Zuversicht lebt so fest in mir, daß noch nicht der leiseste Zweifel in mir aufgestiegen ist. Nun fasse Dich – lebe wohl Grete! Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß mein Herz Dir treu bleiben wird, denn Du weißt, daß ich von Dir nicht lassen kann!«
»Nein – nein, noch darfst Du nicht scheiden!« rief Grete leidenschaftlich.
»Ich muß – ich muß,« drängte Hermann, der seine Fassung schwinden fühlte. »Grete, lebe wohl – lebe wohl, grüße die Eltern!«
Er preßte sie noch einmal an seine Brust, küßte sie, ließ sie auf eine Bank nieder und sprang dann schnell davon, stürmte aus dem Parke in den Wald. Dort stand er still und preßte einen Augenblick lang die Hand vor die Stirn. Es war ihm doch schwerer, als er vermuthet hatte. Die Brust war ihm so eng – so eng! Er hätte sich niederwerfen und die Erde küssen mögen, auf der er so viel Liebe genossen.
Mit festem Muthe war er an die Ausführung des einmal gefaßten Entschlusses gegangen, jetzt drängte sich ihm der bange Gedanke auf: wenn du diesen Ort nie wiedersiehst, wenn du die Lieben, welche du verlassen, nie wieder an dein Herz drückst! Konnte er nicht in der Ferne scheitern und untergehen!
»Nein, nein!« rief er laut, sich zusammenraffend. Das Herz der Geliebten, welches so fest an ihn glaubte und in die Zukunft blickte, konnte so schrecklich nicht getäuscht werden.
Er eilte weiter. Als Bettler war er einst an der Pforte des Parkes gefunden, arm und verlassen; was er jetzt mit fortnahm, war nur wenig, einige Ersparnisse, die er von den reichen Geschenken seines Vaters gemacht, und ein kleines Bündel nothwendiger Sachen. Allein in seinem Innern trug er einen reichen Schatz an Kenntnissen und Bildung, und diesen Schatz, der ihm der sicherste Führer durch das Leben war, verdankte er allein denen, die dem verlassenen Knaben so liebe Eltern geworden waren.
Er hatte den Wald bereits durchschritten und die Landstraße erreicht, als Grete sich langsam, wie aus einer Ohnmacht erwachend, erhob. Sie blickte sich um, sie fühlte sich verlassen, es war ihr, als ob sie auf schwankendem Fahrzeuge allein durch die Wogen des Meeres dahingetragen werde, als ob der letzte Stern, der hell über ihr schimmerte, plötzlich erloschen sei.
Langsam wankte sie dem Hause zu und begab sich auf ihr Zimmer, sie legte sich zur Ruhe, allein die Morgensonne schien bereits in das Zimmer hinein, als der Schlaf ihrem armen, verlassenen Herzen endlich wirklich Ruhe brachte. –
Einige Stunden später traten Arthur und Ella bestürzt, bleich in ihr Zimmer. Arthur, welcher Hermann am Morgen vermißt hatte, war auf dessen Zimmer gegangen und hatte den Brief, den Hermann zurückgelassen und in welchem er die Gründe seines Fortgehens mitgetheilt, gefunden. Er hielt es noch nicht für möglich, daß der Brief die Wahrheit sprach.
»Grete, wo ist Hermann?« rief er.
Die kaum Erwachte sah den Brief in seinen Händen; seine Bestürzung verrieth ihr, daß er bereits Alles wußte.
»Er ist fort,« sprach sie.
»Fort, fort!« wiederholte der Baron schmerzvoll. »Also ist es doch wahr, was ich für unmöglich hielt. Du hast darum gewußt?«
»Ja.
»Und Du hast nicht Alles aufgeboten, um ihn zurückzuhalten?« fiel Ella ein. »Weshalb hast Du es uns nicht gesagt, unseren Bitten würde er wohl nicht widerstanden haben!«
»Ich konnte seine Absicht nicht mißbilligen,« gab Grete zur Antwort. »Es ist ihm schwer geworden, ohne Abschied von Euch zu gehen, das letzte Wort, welches er mir zurief, war ein Gruß für Euch!«
»Erwin hat ihn fortgetrieben!« rief der Baron. »Oh, haben wir deshalb den Sohn wiedergefunden, um den, der unserm Herzen am Nächsten steht, zu verlieren. Er darf seinen Entschluß nicht ausführen, ich reise ihm nach, um ihn zurückzuholen! Er ist unser Kind und will auf die Rechte desselben freiwillig verzichten, weil Erwin ihm dieselben mißgönnt. – Wohin hat er sich gewandt?«
»Ich weiß es nicht,« gab Grete zur Antwort. »Er verschwieg es mir, damit Niemand ihn an der Ausführung seines Entschlusses hindere.«
Ella war erschüttert, erschöpft auf einen Stuhl gesunken.
»Hole ihn zurück, Arthur!« rief sie. »Wenn dies Haus nicht groß genug ist für beide, dann mag – dann mag Erwin aus demselben scheiden! O Gott, daß mein Mund dies gegen mein eigenes Kind aussprechen muß!«
»Ich werde es thun,« entgegnete Arthur und alle Bitten Grete's vermochten seinen Entschluß nicht zu ändern.
Er befahl, daß die Pferde angeschirrt würden und der Wagen vorfahre.
»Er wird versuchen, sich in Hamburg einzuschiffen,« sprach er zu Ella, »ich hoffe ihn zu erreichen, ehe er das Schiff betritt und dann – dann bringe ich ihn zurück!«
In dem Hause war Hermann's Fortgang bereits bekannt geworden und Bestürzung herrschte unter der Dienerschaft, welche an Hermann hing.
Ruhig schritt Erwin im Parke auf und ab. Erbittert trat der Baron auf ihn zu.
»Weißt Du, daß Hermann fort ist?« rief er.
»Ja, ich habe es gehört,« erwiderte Erwin sichtbar erfreut.
»Du, nur Du hast ihn fortgetrieben!« fuhr der Baron fort. »Deinem Haß ist er gewichen! Er würde Dir ein treuer Bruder gewesen sein. Du hast es nicht gewollt. Ich will versuchen, ihn einzuholen und zurückzubringen – mißlingt es mir – dann – dann hat mein Haus auch für Dich nicht mehr Raum!«
»Es hat nur Raum für Fremde gehabt!« warf Erwin höhnend ein.
»Schweig!« unterbrach ihn Arthur heftig. »Mit Freude und Liebe haben wir Dich wieder aufgenommen – mit Undank lohnst Du es uns. Alle meine Bitten sind vergebens gewesen – Du wirst mich dazu treiben, Dich wieder zu verstoßen!«
»Damit der Bettelknabe Alles bekommt!« rief Erwin. »Hole ihn nicht zurück – es wird nicht gut sein. Haha! Ich bin ja auch so lange Jahre fort gewesen!«
Ohne die Antwort seines Vaters abzuwarten, eilte er fort.
Der Baron ließ sich durch die Drohung nicht zurückschrecken; ehe eine Stunde verflogen war, fuhr er bereits der Stadt zu, um den nächsten Zug der Eisenbahn zu benutzen.
Tage vergingen, ohne daß eine Nachricht von Arthur anlangte. Erwin hatte gegen seine Mutter, als sie ihm Vorwürfe machte, in roher Weise die Drohung wiederholt.
»Kommt er zurück,« hatte er gerufen, »so werde ich ihm zeigen, wer von uns beiden das meiste Recht hat; hier soll er nicht bleiben!«
Ella und Grete schwebte zwischen Hoffen und Bangen.
Ella wünschte Hermann's Rückkehr und doch blickte sie derselben mit Besorgniß entgegen, denn Erwin's Haß war zu tief gewurzelt und sein roher, leidenschaftlicher Character zu einer Gewaltthat fähig.
Nach fast vierzehn Tagen kehrte der Baron allein zurück, seine Bemühungen waren erfolglos gewesen, er hatte keine Spur Hermanns entdeckt. Es war ihm, als ob mit Hermann alles Glück aus dem Hause geschwunden sei, sein heiterer Sinn fehlte.
Grete war still geworden und aus Ella's Zügen las er nur zu deutlich, wie schmerzlich sie den Liebling vermißte. Sie klagte nicht, sondern ertrug still das ihr Auferlegte, aber ihre ohnehin schwache Gesundheit wurde auf's Neue erschüttert.
Arthur grollte Erwin. Er bezwang sich jedoch und versuchte noch einmal auf ihn einzuwirken, um ihn zu bessern, seine Bemühungen blieben erfolglos. Erwin verhehlte seine Freude über Hermann's Fortgang nicht im geringsten, er sah sich nun als den alleinigen Erben des Gutes an und sein ausschweifendes Leben wurde immer schlimmer. Tagelang blieb er fort und trieb sich mit rohen Gesellen in der Umgegend umher, auf seinen Namen gelang es ihm nur zu leicht, Schulden zu machen.
Arthur bezahlte die Schulden, um noch eine größere Schmach abzuwenden. Die kurze Zeit nach Erwin's Heimkehr hatte eine große Veränderung in ihm hervorgebracht. Sein freundlich heiterer Sinn war geschwunden, er schien an der Wiederkehr des Glückes zu verzweifeln und ließ, da ihm kein Mittel mehr zur Verfügung stand, mit dumpfer Gleichgültigkeit Alles geschehen. Selbst die Bewirthschaftung des Gutes gewährte ihm keine Freude und Zerstreuung mehr.
Kam Erwin nach Hause, so wich er ihm möglichst aus – er mochte den eigenen Sohn nicht mehr sehen. Als der Mißrathene aber eines Tages auch seinem Hasse gegen Grete freien Lauf ließ, als er ihr zurief, er werde nicht eher ruhen, als bis auch sie das Haus seines Vaters verlassen habe, da loderte Arthur's Zorn auf. Er mußte das arme Mädchen schützen. Erbittert stieß er Erwin aus dem Hause und mit einer Drohung ging derselbe fort.
Arthur war durch diesen Schritt so schmerzlich erschüttert, daß er erschöpft niedersank. Was er nie für möglich gehalten, war geschehen, er hatte den eigenen Sohn aus dem Hause gestoßen! Ella war gefaßter als er selbst.
»Laß uns das Glück retten, welches wir so lange Jahre genossen haben,« sprach sie, ihn beruhigend. »Das Geschick legt uns harte, herbe Prüfungen auf. Als Du mir einst, als wir unser Kind verloren hatten, sagtest, die Zeit werde meinen Schmerz lindern, glaubte ich es nicht, weil ich es für unmöglich hielt, und heute muß ich Dir leider beistimmen, daß Du unseren Sohn aus dem Hause gewiesen!«
Sie schien ruhiger zu sein als Arthur, es war in der That nur ein Schein, denn bald darauf brach sie vollständig zusammen.
Trübe und stille Wochen waren vergangen. Der Baron war um seine Frau besorgt und Ella raffte alle Kräfte zusammen, um Arthur nicht zu zeigen, wie sehr sie litt. In schweigendem Uebereinkommen erwähnte keiner von beiden Erwin's Namen. Sie wußten nicht, wo er war, sie hegten nur die stille Befürchtung, daß er zurückkehren werde.
Da kam eines Tages der Polizeidirector in einem Wagen und brachte Erwin mit. Arthur fuhr erschreckt zurück, als er den Sohn erblickte. Die Kleidung desselben war beschmutzt und zerrissen, das Gesicht verrieth, wie wüst und ausschweifend er gelebt hatte. Es war ihm unmöglich, ihm entgegenzutreten; durch den Diener ließ er ihm sagen, daß er sich auf sein Zimmer begeben möge.
Der Polizeidirector trat zu ihm.
»Es ist eine traurige Pflicht, welche mich heute zu Ihnen führt,« sprach er. »Ich bringe Ihren Sohn zurück.«
Die Größe des Schmerzes ließ Arthur ruhig erscheinen.
»Hat er sich an Sie gewandt?« fragte er, in der stillen Hoffnung, daß Erwin, durch die Noth getrieben, die Vermittlung des Polizeidirectors aufgesucht habe.
»Nein, nein,« erwiederte Ruge; es wurde ihm schwer, die volle Wahrheit zu sagen.
»Sprechen Sie offen,« fuhr Arthur fort. »Was Sie mir auch mittheilen mögen, es ist nicht im Stande, mich noch zu erschrecken. Ich habe aufgehört, an das Glück zu glauben und Hoffnungen zu hegen; mein unglückseliger Sohn scheint nur bestimmt zu sein, seinen Eltern Schmerzen zu bereiten. Sprechen Sie offen.«
Einen Augenblick lang zögerte der Polizeidirector dennoch. Wie alt der Baron in der kurzen Zeit geworden war, bemerkte er erst in diesem Augenblicke. Auf dem sonst so heiteren Gesichte lag ein Zug tiefen Grames, die Augen blickten, als ob sie abgeschlossen hätten mit dem Glücke, und doch halb ängstlich. Noch war der Becher des Schmerzes ja nicht bis zum Rande gefüllt.
»Sprechen Sie,« drängte der Baron.
»Ihr Sohn ist mir durch die Polizei zugeführt,« sprach Ruge endlich, »sie hat ihn aufgegriffen, weil er sich seit Wochen ohne Mittel, ohne Obdach in der Gegend umhertreibt.«
»O Gott!« rief der Baron erschreckt und preßte die Hand vor die Augen. Dies war mehr, als er befürchtet hatte. Sein Sohn aufgegriffen, als Vagabond!
Er drohte umzusinken und stützte sich mit der Linken auf einen Tisch.
»Ich konnte und durfte es Ihnen nicht verschweigen,« bemerkte Ruge.
»Ich bin Ihnen dankbar für die Offenheit,« sprach der Baron, indem er die Hand langsam wieder sinken ließ. Sein Gesicht war bleich. Er glich einem Manne, der ruhig ist, weil er das Schlimmste, was ihn nach seiner Ansicht treffen kann, erlebt hat. Gab es denn noch Schlimmeres für ihn? Konnte sein Name noch tiefer herabgezogen werden? »Herr Polizeidirector,« fuhr er langsam fort, »so wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben! Meinen Sohn hat der Mißrathene bereits fortgetrieben, jetzt stehen ihm gegenüber drei Leben auf dem Spiele: das meiner Frau, das Leben meiner Pflegetochter und mein eigenes. Wir gehen zu Grunde, nun geben Sie mir einen Rath, wie ich uns errette! Ich darf mit dem eigenen Sohne kein Mitleid mehr empfinden, mein Herz kann es ohnehin längst nicht mehr! Rathen Sie mir, mein Kopf ist arm geworden, ich sinne jetzt oft und bin nicht im Stande, den einfachsten Gedanken zu fassen. Vor Jahren glaubte ich, es gebe nichts Schlimmeres, als den Tod eines Kindes zu beweinen – jetzt weiß ich, was heftiger schmerzt, was das Herz nicht allein zerreißt, sondern zur Verzweiflung treibt: daß ist ein mißrathenes Kind betrauern!«
»Als ich Ihren Sohn zu Ihnen brachte, befürchtete ich, daß es so kommen werde,« entgegnete Ruge. »Ich wagte es Ihnen nicht zu sagen, weil ich Ihre Freude nicht trüben mochte, allein deshalb gab ich Ihnen den Rath, von Anfang an streng gegen ihren Sohn zu sein.«
»Ich bin ihm mit Liebe und Güte entgegen gekommen, ich habe Alles aufgeboten, um sein Vertrauen zu gewinnen, es ist mir nicht gelungen. Jetzt weiß ich, daß auch die Strenge nicht geholfen haben würde und ich kann mir deshalb keinen Vorwurf machen. Die Erziehung des Unglücklichen ist gänzlich vernachlässigt und jetzt ist er bereits zu alt, um sich zu ändern, zumal da ihm die Einsicht und der Willen fehlt. Er hat nur sein eigenes Interesse im Auge, Hermann hat er bereits fortgetrieben, er hat auch meine Pflegetochter zu vertreiben versucht, da endlich ist meine Geduld erschöpft und ich habe ihn aus dem Hause gestoßen. Jetzt rathen Sie mir, was ich thun soll. Das Glück hat er von uns gescheucht, meine Frau geht aus Gram über ihn zu Grunde – und auch ich ertrage es nicht länger.«
Der Polizeidirector sann nach.
»Sind Sie bereit, ein Geldopfer zu bringen?« fragte er.
»Jedes, wenn es meine Kräfte nicht übersteigt.«
»Dann geben Sie ihm einige Tausend Thaler und senden Sie ihn damit nach Amerika.«
»Wird er dies thun?«
»Ich müßte mich sehr in ihm irren, wenn der Gedanke, eine große Summe in die Hände zu bekommen, nicht bestimmend auf ihn einwirken sollte.«
»Und wenn er das Geld dort durchgebracht, wird er dann nicht zurückkehren? Glauben Sie, daß er das Geld anwenden wird, um sich dort eine Lebensstellung zu gründen?«
»Nein,« gab Ruge zur Antwort. »Er wird auch nicht zurückkehren. Der Gedanke hieran wird nicht früher in ihm aufsteigen, als bis es zu spät ist, bis er das Geld ausgegeben hat und ihm die Mittel zur Rückkehr fehlen. Sich dieselben zu erwerben, besitzt er nicht die Fähigkeit und auch nicht die Lust.«
»Und was wird dann aus ihm werden?« warf der Baron ein.
Der Polizeidirector zuckte ausweichend mit der Achsel.
»Vielleicht zwingt die Noth ihn zur Arbeit, und Arbeit halte ich für das einzige Mittel, welches im Stande ist, ihn zu bessern,« bemerkte er.
»Oder er geht unter, wie dort bereits so Mancher untergegangen ist,« fügte Arthur hinzu. »Herr Polizeidirector, es ist ein schmerzliches Gefühl, sein Kind dem fast gewissen Untergange entgegenzusenden! Gott, wie freute ich mich, als mir der Knabe geboren war! Wie hob ich ihn empor und küßte ihn auf die kleine Stirn, die Erde erschien mir noch einmal so groß und schön und jetzt – und jetzt soll ich ihn dem Untergange entgegentreiben!«
Er preßte die Hand auf die Stirn.
»Ich begreife, wie schmerzlich dies ist,« sprach Ruge, »allein liegt es in Ihrer Macht, ihn zu retten? Geht er nicht auch hier dem Untergange entgegen? Wird er nicht früher oder später seinem wüsten Leben unterliegen? Herr Baron, es tritt eine andere Pflicht an Sie heran, die Sorge für Ihre Frau Gemahlin, für Sie und für Ihre Tochter!«
»Sie haben Recht,« unterbrach ihn der Baron, sich zusammenraffend. »Ich weiß, daß Sie es aufrichtig mit mir meinen. Sie haben mir bereits mehr als einen guten Rath ertheilt, ich will Ihnen deshalb folgen. Es bleibt mir nichts weiter übrig, als von zwei Uebeln das kleinere zu wählen! – Wollen Sie mich zu dem Mißrathenen geleiten?«
»Gern. Verfügen Sie überhaupt über mich, wo Sie meine Unterstützung gebrauchen zu können glauben!«
Sie schritten zu Erwin's Zimmer. Derselbe hatte sich in eine Ecke des Sophas geworfen und blickte ihnen finster entgegen, als sie eintraten.
»Unglücklicher, so weit bist Du gesunken, daß die Polizei Dich wegen Umhertreiberei aufgegriffen hat!« sprach der Baron erschüttert. »Du häufest Schmach auf Schmach auf meinen Namen, all meine Bemühungen, Dich zu bessern, sind gescheitert, es ist Dir gleichgültig, daß Du Deine Eltern zur Verzweiflung treibst.«
Erwin blickte schweigend vor sich hin. Die Worte seines Vaters schienen nicht den geringsten Eindruck auf ihn zu machen. »Ich will nun das Letzte für Dich thun,« fuhr der Baron fort. »Ich will Dir die Mittel gehen, um nach Amerika zu gehen. Nicht arm sollst Du dort anlangen, in Deine Hand will ich es legen, dort ein anderes, besseres Leben zu beginnen und Dir eine Lebensstellung zu gründen. Zehn Tausend Thaler will ich Dir geben. Wenige treffen mit so viel Mitteln dort ein und doch haben viele Tausende sich emporgerungen und sind zu geachteten und reichen Männern geworden!«
Erwins Auge leuchtete auf, als er die ihm verheißene Summe hörte. Es lag unendlich viel Verlockendes für ihn darin. Prüfend richtete er den Blick auf seinen Vater und dann auf den Polizeidirector, er schien zu schwanken, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht hin.
»Ich gehe nicht nach Amerika,« sprach er.
»Du weisest mein Anerbieten zurück?« rief der Baron.
»Ja, denn ich will hier bleiben!«
»Weshalb?«
»Ich will mich nicht mit dem Gelde abfinden lassen, damit die Fremden das Gut und Dein Vermögen erhalten. Glaubst Du, ich errathe nicht, weshalb ich nach Amerika geschickt werden soll? Ich bin Euch hier im Wege, ich soll Denen Platz machen, die schon seit Jahren meine Stelle eingenommen haben. Ich wäre ein Thor, wenn ich fortginge, denn wenn ich hier bleibe, bekomme ich einst mehr.«
»Du irrst,« unterbrach ihn der Baron. »Es steht in meiner Macht, Dich zu enterben und ich werde es thun!«
»Ganz kannst Du mich doch nicht enterben,« entgegnete Erwin. »Und wenn Du es thust, werde ich immer noch mehr bekommen, ich weiß es genau, denn ich habe einen Advocaten darum befragt.«
»Oh, oh! Soweit bist Du schon gegangen!« rief der Baron erschüttert.
»Hat der Advocat Ihnen auch gesagt, daß Sie Ihre Erbschaft erst nach dem Tode Ihres Vaters antreten würden?« warf der Polizeidirector ein.
»Das Gut stammt von meiner Mutter,« gab der Gefragte zur Antwort.
»Noch lebt Ihre Mutter und sie wird hoffentlich noch lange leben,« fuhr Ruge fort. »Noch haben Sie keinen Anspruch auf das Gut – was wollen Sie beginnen, wenn Ihr Vater seine Hand von Ihnen zieht?«
Erwin schwieg.
»Wollen Sie sich auf's Neue umhertreiben? Hüten Sie sich, daß Sie nicht zum zweiten Male in die Hände der Polizei fallen, Sie werden sonst die Bekanntschaft des Arbeitshauses machen!«
»Ich glaube nicht, daß mein Vater dies über seinen Namen und seinen Sohn ergehen lassen wird,« gab Erwin ruhig zur Antwort.
»Ich werde es thun!« rief der Baron. »Du hast meinen Namen bereits so sehr beschimpft, daß ich das Letzte auch nicht mehr zu fürchten brauche!«
»Ich werde es auch ertragen, denn ich habe schon Zeiten durchlebt, welche nicht besser waren.«
»Weisen Sie das Anerbieten Ihres Vaters nicht von der Hand,« mahnte Ruge.
»Nein, ich will nicht nach Amerika« rief Erwin heftig, sprang auf und eilte aus dem Zimmer.
»Auch das ist gescheitert!« sprach der Baron. »Ich weiß nicht mehr, was ich beginnen soll.«
»Es bleibt Ihnen nur noch das Eine: den Antrag zu stellen, daß er in eine Besserungsanstalt aufgenommen wird.«
»Nein – nein!« rief Arthur hastig. »Das kann ich nicht, das werde ich nie thun, lieber werde ich mit ihm untergehen. Mein Sohn – ein Baron von Golenz im Besserungshause! Nie – nie!«
Er sank erschöpft auf einen Stuhl.
Voll Mitleid ruhte das Auge des Polizeidirectors auf ihm.
»Ich will ihn aufsuchen und noch einmal all meine Ueberredungskunst anwenden, um ihn zu bewegen nach Amerika zu gehen,« sprach er und verließ, da der Baron nicht antwortete, das Zimmer.
Arthur begab sich in sein Gemach, er hatte nicht den Muth, zu Ella zu gehen. Als nach einiger Zeit Ruge wieder zu ihm trat, blickte er ihn fragend an.
»Ich habe ihn nicht getroffen,« sprach der Director.
»Lassen Sie – sparen Sie Ihre Mühe, sie würde doch erfolglos gewesen sein – ich kenne ihn ja!« entgegnete Arthur, indem er sich langsam erhob. »Ich will abschließen mit jeder Hoffnung und es kommen lassen, wie es kommt!«
»Noch einen anderen Versuch lassen Sie mich machen,« sprach Ruge. »Ich kenne in der Stadt einen jungen Mann, der bereits einmal in Amerika war und sich dorthin zurücksehnt, weil er hier mit den Gesetzen bereits mehrere Male in Conflict gerathen ist. Es fehlt ihm das Geld zur Rückkehr nach Amerika. Wenn Sie es ihm geben würden, würde ich ihn hierhersenden, damit er die Gesellschaft Ihres Sohnes aufsuche, mit ihm zeche und spiele, sein Vertrauen zu gewinnen suche und ihn dann überrede, ihn nach Amerika zu begleiten. Ich bin überzeugt, daß es ihm gelingen wird, denn er ist klug und gewandt, er besitzt sogar ziemlich viel Kenntnisse, allein Unlust zur Arbeit und Neigung zu einem leichtsinnigen abenteuerlichen Leben haben ihn herabgebracht.«
»Ich werde ihm mehr geben als das Geld zur Reise, wenn es ihm gelingt, meinen unglücklichen Sohn mit sich zu nehmen,« erwiederte der Baron. »Geben Sie ihm dies Geld – und sagen Sie ihm, daß ich dankbar gegen ihn sein werde.«
»Behalten Sie Ihren Sohn hier,« fuhr Ruge fort, »und verrathen Sie nichts von unserer Absicht; an seinem trotzigen Sinn könnte dieselbe leicht scheitern.«
Arthur drückte dem Polizeidirector dankend die Hand. Es war freilich nur eine schwache Hoffnung, welche in ihm aufstieg, dennoch klammerte er sich an sie fest. Auch sie betrog ihn.
Erwin blieb auf dem Gute und nahm sofort sein früheres Leben wieder auf. Die Nächte durchzechte er mit rohen Gesellen und wenn er zum Gute zurückkehrte, wich er seinen Eltern aus. Der Baron bezahlte die Schulden, welche er machte.
Wochenlang verkehrte der junge Mann, auf welchen der Polizeidirector seine Hoffnung gebaut hatte, mit ihm in der Waldschenke, es gelang ihm, Erwin's volles Vertrauen zu gewinnen, er schilderte ihm das Leben in Amerika mit den verlockendsten Farben! seine Bemühungen scheiterten dennoch. Erwin war nicht zu bewegen, ihn zu begleiten.
»Ich gehe nicht fort!« entgegnete er mit Entschiedenheit. »Meine Eltern wünschen mich aus dem Wege zu schaffen, sie wollen mich mit einigen Tausend Thalern abfinden, nur damit das Vermögen, welches mir gehört, den Fremden zufalle, die sie zu sich genommen, und an welche sie ihre Liebe verschwendet haben. Ich bleibe hier, bis ich einst meine Erbschaft antreten kann; was ich dann thun werde, weiß ich noch nicht!« –
Traurige Zeiten kamen. Von Hermann lief keine Nachricht ein und Arthur und Ella's Sorgen wuchsen von Woche zu Woche. Sie konnten die Befürchtung nicht unterdrücken, daß ihm ein Unfall begegnet sei. Nur Grete war ruhig, wenn sie die Trennung von dem Geliebten auch schwer empfand. In ihr lebte die unerschütterliche Zuversicht, daß es ihm nicht schlecht ergehen könne.
»Er wird nicht eher schreiben, als bis er sich durchgerungen und sein Ziel erreicht hat,« sprach sie.
Ella schwieg, sie wagte nicht die Zuversicht des Mädchens zu erschüttern. In sich verschloß sie das stille Sehnen nach ihrem Lieblinge, wie den Gram um Erwin. Wie sehr sie litt, verriethen nur ihre bleichen Wangen und ihr körperlicher Zustand. Wochenlang war sie nicht im Stande, das Zimmer zu verlassen. Als treue Pflegerin und Gesellschafterin saß dann Grete bei ihr, um jeden Wunsch der Kränkelnden im Voraus zu errathen und zu erfüllen.
Arthur kam seltener, als früher, in das Zimmer seiner Frau; er liebte sie noch ebenso innig, wie früher, allein er konnte ihren stillen Gram nicht ertragen, es schnitt ihm tief in's Herz hinein, wenn er sah, wie sehr sie in der kurzen Zeit gealtert war.
Er selbst war alt und müde geworden, es war ihm, als ob sein Leben kein Ziel und keinen Zweck mehr habe. Er lebte abgeschlossen von Allen, mit keinem seiner früheren Bekannten kam er mehr zusammen; die Scham über seinen Sohn hatte ihn menschenscheu gemacht. Seine Pferde standen im Stalle, ohne daß er sie benutzte, die Bewirthschaftung des Gutes machte ihm keine Freude mehr, er sah Manches zerfallen, – es war ihm gleichgiltig, war doch auch sein Glück zerfallen und vernichtet.
Selbst den lustigen Herrn von Reden nahm er nicht mehr an, wenn derselbe zum Besuche kam – er wollte allein sein.
Erwin war derselbe geblieben. Selten befand er sich des Nachts im Hause. Er kehrte meist des Morgens zurück, um seinen Rausch auszuschlafen. Mehr und mehr benahm er sich schon als Herr des Gutes, denn er befahl den Dienern und den Knechten. Seine Gesundheit schien unverwüstlich zu sein; hatte auch das wüste ausschweifende Leben in sein jugendliches Gesicht tiefe Furchen eingegraben, so schadete es ihm doch nicht, wenn er eine Nacht betrunken unter einem Baum zubrachte.
Der Baron ließ ihn ruhig gewähren, ohne sich um ihn zu bekümmern, da er wußte, daß er ihn doch nicht ändern konnte. Sollte er ihn wieder aus dem Hause stoßen, damit er zum zweiten Male durch die Polizei aufgegriffen würde? Sollte er die Schmach, welche Erwin auf seinen Namen häufte, dadurch noch in weiteren Kreisen bekannt machen? Er empfand nicht die geringste Liebe mehr für ihn und hätte man ihn eines Tages todt aufgefunden, so würde sein Auge nicht im Stande gewesen sein, eine Thräne um ihn zu weinen. Zu jäh hatte der Mißrathene sein ganzes Glück vernichtet, ohne die geringste Reue darüber zu empfinden. –
So waren länger als drei Jahre entschwunden, trübe, freudenleere Jahre. Hermann hatte noch immer keine Nachricht gesandt. War er todt? Selbst Grete's Zuversicht schien erschüttert zu sein, wenn sie es auch nicht eingestand, ihre bleichen Wangen verriethen es. Wie lustig hatten ihre Augen einst in die Welt hinein geschaut und wie trübe konnten sie jetzt vor sich hinstarren!
Ella war fast den ganzen Winter hindurch krank gewesen und erst der hereinbrechende Frühling hatte auch ihr Genesung gebracht. Als sie erst wieder am Fenster in den warmen Sonnenstrahlen sitzen und das Knospen und Blühen der Bäume im Parke betrachten konnte, schien es sich wie ein milderer, versöhnender Hauch auf ihren stillen Gram zu legen.
Erwin hatte sie während des ganzen Winters nicht gesprochen, es hatte ihn auch nicht zu ihr getrieben. Wenn sie starb, dann fiel ihm ja das Gut anheim. Ob er darauf hoffte? Wenn sie am Fenster sitzend ihn durch den Park hinschreiten sah, bog sie unwillkürlich den Kopf zurück – diese wüste Gestalt ihr Sohn! Ihr Gram wurde jedesmal neu wachgerufen.
Es war ein stiller, lauer Frühlingsnachmittag. Der letzte Blüthenschnee der Bäume war noch auf den Wegen zu bemerken, Bäume, Sträucher und Rasen, Alles prangte und duftete im üppigen Grün. Unter der Linde im Parke, welche schon mit hellgrünen, kleinen Blättern bedeckt war, saßen Ella, Arthur und Grete. Zum zweiten Male hatte die Genesende auf Grete's Bitten sich ins Freie hinausgewagt. Und es saß sich so schön unter der Linde, deren Laubdach die Sonnenstrahlen noch durchschimmern ließ. Die Vögel ringsum sangen und riefen einander zu; was wußten sie davon, welche Schmerzen ein Menschenherz in sich tragen kann.
Ella's Augen ruhen träumend auf dem grünen Rasenplatze. Derselbe belebte sich in ihrer Erinnerung; heitere Kindergestalten sah sie darauf spielen, sie glaubte das Lachen und Jauchzen derselben zu hören. Für kurze Zeit schien sie sich ganz in die Vergangenheit hinein zu leben, und erst als die Gegenwart sich wieder an sie herandrängte, athmete ihre Brust tief und schwer auf.
»Du fühlst Dich doch wohl?« fragte Arthur, ihre Hand erfassend.
»Ja,« erwiederte sie mit jenem Lächeln, das den Schmerz noch weit deutlicher durchschimmern läßt, als die Freude. »Die Luft kräftigt mich, die Ruhe thut mir wohl!«
»Du wirst nun bald wieder spazieren gehen können,« fiel Grete ein.
»Kind, mir thut es weniger Noth als Dir,« entgegnete Ella. »Auch Du hast sehr gelitten, weil Du mich allein gepflegt. Deine Wangen sind bleich.«
»Ich fühle mich wohl,« versetzte Grete und ihre Augen senkten sich unwillkürlich. Nicht die Pflege der Erkrankten, sondern ihr Hoffen und Bangen um den Geliebten hatten das Blut aus ihren Wangen getrieben. Als der Frühling kam, als die Vögel zurückkehrten, da hatte sie fest, fest gehofft, daß auch Hermann zurückkommen werde, und jetzt waren die Blüthen bereits von den Bäumen gefallen und ihre Hoffnung, auf die sie so fest gebaut, war mit ihnen gesunken.
Ein Mann kam in diesem Augenblicke durch den Park dahergeschritten. Ella erblickte ihn zuerst und die Hand schattend über die Augen haltend, um schärfer zu sehen, fragte sie: »Wer kommt dort?«
Grete blickte auf und sprang empor. Eine flüchtige Secunde lang stand sie leise zitternd da, dann stürzte sie mit dem Rufe: »Hermann! Hermann!« dem Nahenden entgegen und warf sich an seine Brust.
Ihr Auge hatte sich nicht geirrt. Die beiden Liebenden hielten sich fest umschlungen, ihr Mund sprach kein Wort.
Auch Arthur und Ella waren emporgesprungen und eilten dem endlich Heimgekehrten entgegen. Seit Jahren empfand ihr Herz wieder ein wirkliches Glück und selbst auf Ella's bleichen Wangen hatte die Freude einen röthlichen Hauch hervorgerufen.
»Ich wußte, daß Du wiederkehren werdest,« sprach Grete, deren Augen verklärt leuchteten und deren Hand Hermann's Rechte fest umschlossen hielt, mit leiser Stimme. All' die Sorgen, welche sie seinetwegen dennoch erduldet hatte, waren vergessen, ihr Herz hatte ihn ja wieder!
Mit feuchtem Blicke ruhten Ella's Augen auf dem Heimgekehrten. Welche Veränderung die wenigen Jahre bei ihm hervorgerufen hatten! Er war zum Manne gereift, sein Gesicht war gebräunt, ein voller Bart bedeckte dasselbe zur Hälfte. Seine Stimme verrieth den festen, entschlossenen und thatkräftigen Sinn, aber seine Augen blickten noch eben so offen und vertrauungsvoll, noch eben so lieb.
»Und Du hast uns nicht ein einziges Mal Nachricht von Dir zukommen lassen,« sprach der Baron. »Wußtest Du nicht, wie sehr wir um Dich besorgt waren?«
»Das wußte ich und doch konnte ich nicht anders handeln,« gab Hermann zur Antwort. »Als ich vor Jahren von hier fortging, da hatte ich den festen Entschluß gefaßt, entweder mein Ziel zu erreichen – oder unterzugehen. Sollte ich Hoffnungen in Euch erwecken, ehe ich bestimmt wußte, ob ich dieselben erfüllen konnte? Unablässig wollte ich mein Auge auf einen Punkt, auf mein Ziel richten, kein anderes Interesse sollte mich erfüllen, meine ganze volle Kraft wollte ich daran setzen. Wußte ich doch, daß, wenn ich einst zurückkehrte, ich die alte Liebe bei Euch fand, wie auch die meinige dieselbe geblieben ist.«
»Ja, die hast Du wiedergefunden!« rief der Baron. »Es war mit Dir Glück und Freude von uns geschieden. Wie haben wir gesehnt und gehofft – freilich ist mir oft der Muth zu hoffen gesunken, wenn ich es auch nicht auszusprechen wagte. Doch jetzt ist alles vergessen – wir haben Dich wieder!«
»Ich hatte mich in Manchem getäuscht, als ich fortging,« fuhr Hermann fort, »ich hoffte mein Ziel leichter zu erreichen, als es mir geworden ist. Meine Kräfte drohten mich mehr als einmal zu verlassen, immer aber wieder raffte ich mich empor, denn ich wußte, um welchen Preis ich rang. Nicht einen Tag drüben habe ich geruht; hier meine Hände können Euch beweisen, daß ich dort arbeiten gelernt habe. Ich habe mich indessen durchgerungen.«
»Du hast erreicht, was Du erstrebt?« fragte der Baron.
»Ja!« rief Hermann und seine Augen leuchteten freudig. »Ich habe es erreicht. Eine Maschinenfabrik war mein Verlangen! Als ich in Amerika anlangte, bin ich als Arbeiter in eine Fabrik getreten, an dem Amboß habe ich wochenlang gestanden, wenn mir die der Arbeit ungewohnten Hände auch zitterten. Ich wollte die Kenntnisse, welche ich mir erworben und die ich allein Euch verdanke, verwerthen. Höher und Höher habe ich mich empor gearbeitet. Es war mir gleichgiltig, ob ich mehr verdiente, als zum Leben nothwendig war, nur meine Kenntnisse wollte ich erweitern. Und jetzt – jetzt bin ich Mitbesitzer einer großen Maschinenfabrik, welche blüht und Namen hat. Ein reicher Kaufmann hatte mich kennen gelernt und in sein Herz geschlossen, er machte mir das Anerbieten, mit ihm vereint eine große Fabrik zu errichten. Er stellte sein großes Vermögen zu dem Zwecke zur Verfügung, er vertraute mir vollständig und er hat sich nicht getäuscht. Unser Unternehmen, welches mir zur Hälfte gehört, ist gelungen, schon jetzt beschäftigen wir mehrere Tausend Arbeiter, meine Zukunft ist gesichert. Da ließ es mich nicht länger drüben, es trieb mich, mir den Preis für meine Mühe zu holen – hier meine Grete!«
»Hermann, du willst uns wieder verlassen?« rief Ella erschreckt. »Wir sollen auch Grete noch verlieren?«
»Nein, ich trenne mich nicht wieder von Euch,« entgegnete Hermann. »Ihr – Ihr begleitet uns und nehmt Theil an unsrem Glücke!«
»Hermann, wir sind alt geworden,« warf der Baron ein. »Hier in Ruhe zu sterben, ist fast unser einziger Wunsch geblieben!«
»Ihr dürft mir diese Freude nicht rauben, denn an ihr hängt das Glück meines Lebens,« fuhr Hermann fort. »Seht, der Gedanke hat mich selbst in den trübsten und schwersten Stunden aufrecht erhalten, daß ich für uns alle eine Stätte des Glückes bereiten wollte. Arm und verlassen habt Ihr mich einst aufgenommen, Euch verdanke ich Alles, Ihr seid mir Eltern geworden, nun vernichtet mir die Freude nicht, Euch meinen Dank durch die That zu zeigen. Schon wird drüben Alles zu Eurem Empfange vorbereitet, meine letzte Thätigkeit war, dafür Sorge zu tragen. Ihr sollt dort leben, wie es Euch gefällt, ein freundliches Haus wird für Euch erbaut, in welchem Ihr allein wohnen sollt. Keine zehn Schritte trennen Grete und mich dann von Euch. Ich habe es wohl erwogen, ehe ich mich ganz diesem Gedanken hingab. Das neue Leben dort wird Euch verjüngen, alle trüben Erinnerungen laßt Ihr diesseit des Meeres, frei steigt Ihr dort ans Land und jubelnd will ich Euch in das neue Daheim führen. Ich weiß, daß Ihr es nie bereuen werdet, die Gegend und das Klima sind schöner als hier, es ist ein kleines Paradies, welches ich für Euch und uns ausgesucht habe!«
Ella's Brust hatte sich bei diesen Worten unwillkürlich gehoben. Wie verlockend trat der Gedanke an sie heran, mit ihren Kindern einem neuen Leben entgegen zu eilen und alle trüben Erinnerungen zurück zu lassen! Ihre Heimath war ja dort, wo ihre Kinder eine Heimath fanden.
Halb fragend und halb bittend blickte sie Arthur an. Sie wagte den Wunsch, der in ihr aufgekeimt war, nicht auszusprechen. Arthur verstand sie dennoch. Einige Minuten lang blickte er sinnend vor sich hin. Auch vor seinem Geiste zogen freundliche Bilder der Zukunft vorüber. Rief die Heimath nicht an jedem Tage schmerzliche Erinnerungen in ihm wach; – dort – dort sollte Alles vergessen sein.
Er sprang auf und streckte Hermann die Arme entgegen.
»Wir gehen mit dir!« rief er. »Wir folgen Euch, denn – denn ohne Euch giebt es doch kein Glück für uns!«
Jubelnd schloß Hermann die Eltern in die Arme.
»Nun verlange ich nicht mehr vom Glücke, als ich besitze!« rief er.
Der Baron sprach den Wunsch aus, daß ihm nur so taust 0. gelassen werden möge, bis er das Gut verkauft habe.
»Laß das Gut Erwin zurück,« bat Hermann. »Sieh, er ist mir nicht freundlich entgegengetreten und hat mich nicht als seinen Bruder anerkannt, dennoch bin ich ihm zu Dank verpflichtet. Er hat mich hier fortgetrieben, dadurch habe ich das Glück erlangt, welches ich jetzt mein nenne. Ich bin reich genug und das ist mir der freudigste Gedanke, daß ich – ich allein für Euch sorgen kann – von Euch habe ich ja Alles empfangen!«
Erwin trat in diesem Augenblicke rasch aus dem Gebüsche hervor, mitten in die glückliche Gruppe. Sein Gesicht war durch den Trunk geröthet, sein Auge glühte, als es Hermann erblickte.
Dieser sprang auf, um ihm die Hand zu reichen. Erwin stieß sie zurück.
»Du – du wieder hier!« rief er und aus seinen Worten klang noch der alte Haß. Er eilte fort in das Haus.
Nur ein schmerzliches Lächeln zuckte über Hermann's Gesicht hin.
»Geh ihm nach,« bat er seinen Vater. »Sage ihm, daß sein Erbtheil ungeschmälert bleiben wird, daß weder ich noch Grete ihn beeinträchtigen werden, dann wird er versöhnlicher gestimmt werden.«
»Ich werde ihn enterben!« rief der Baron erbittert.
»Nein, nein!« fiel Hermann bittend ein. »Ich kann mit seinem Unglücke nur Mitleid empfinden, Mir habt Ihr die Bildung und Liebe gegeben, die er empfangen haben würde, wenn er bei Euch geblieben wäre. Gebt ihm jetzt Euer Gut und Vermögen, denn Ihr bedürft desselben nicht mehr. Was ich jetzt ernte, sind ja nur die Früchte Eurer Saat!« – – –
Vier Wochen waren entschwunden, Hermann hatte die erste Zeit benutzt, um neue Geschäftsverbindungen in Deutschland anzuknüpfen, dann war er in der Kirche seiner Heimath mit Grete verbunden. Arthur und Ella hatten sich während der Zeit zur Reise gerüstet.
Anfangs hatte Arthur mit Bangen an die weite Reise gedacht, weil er befürchtete, daß seine Frau die Beschwerden derselben kaum ertragen werde; allein Ella hatte sich in der kurzen Zeit außerordentlich erholt. Das Glück ihrer Kinder verjüngte sie und ihr Auge hatte wieder den früheren Glanz erhalten. Jeder Gegenstand, den sie zur Reise vorbereitete, erfüllte sie mit freudiger Hoffnung.
Arthur hatte sich auf Hermann's Bitten entschlossen, das Gut Erwin zu überlassen. Als er dies dem Mißrathenen mittheilte, leuchtete dessen Auge freudig auf, allein kein Wort des Dankes kam über seine Lippen. So lange Hermann auf dem Gute weilte, kam Erwin selten nach Hause, er wich ihm aus, weil er den Haß gegen ihn nicht beherrschen konnte.
Der Morgen der Abfahrt vom Gute war endlich gekommen. Die Sachen waren bereits vor mehreren Tagen vorausgeschickt. Ueber Arthur und Ella kam doch ein wehmüthig schmerzliches Gefühl, als sie die Stelle verlassen sollten, an der sie so viel Glück und Schmerzen erlebt. Sie beide wußten, daß sie dieselbe nie wiedersehen würden. Arthur suchte zu verbergen, was in ihm vorging, allein die Unruhe, mit der er noch einmal die Räume des Hauses durchschritt, als ob er sie seiner Erinnerung fest einprägen wollte, verrieth es.
Ella saß auf ihrem Zimmer und blickte mit feuchtem Auge in den Park hinaus.
Die Dienerschaft hatten sie schon, zum großen Theile reich beschenkt, verabschiedet. Nur ein Diener war bis zum letzten Augenblicke geblieben.
Der Wagen, der sie zur Stadt bringen sollte, fuhr vor.
Arthur war zu Ella getreten. Noch ein Schmerz stand ihnen bevor – der Abschied von Erwin. Hatte er ihnen auch viel – viel Kummer bereitet, so war er doch ihr Sohn. Er wußte, daß sie abreisten und es berührte sie schmerzlich, daß er nicht kam, um von ihnen Abschied zu nehmen. Hatte er so wenig Liebe zu ihnen, daß es ihn nicht einmal trieb, die letzte Stunde mit ihnen zuzubringen?
»Ruf meinen Sohn!« befahl Arthur dem Diener.
Der Diener blieb verlegen stehen.
Noch einmal wiederholte Arthur den Befehl.
»Er ist fortgegangen,« gab der Diener zur Antwort.
»Fort – wann? wann?« fragte der Baron.
»Vor länger als einer Stunde.
»Unmöglich! Unmöglich!« rief Arthur bewegt. »Er weiß, daß wir abreisen – er wird wieder kommen.«
Der Diener schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.
»Ich machte ihn darauf aufmerksam,« sprach er. »Er erwiederte mir, er brauche nicht Abschied zu nehmen, denn er sei ja schon einmal von seinen Eltern ohne Abschied auf lange Jahre getrennt!«
»O Gott!« rief Ella in Thränen ausbrechend.. »Mein eigenes Kind will nichts von mir wissen und läßt mich ohne letzten Abschied abreisen!«
Es war noch ein bitterer Schmerz für sie.
Hermann und Grete umschlangen sie liebkosend mit den Armen.
»Wir – wir wollen dafür unsre Liebe verdoppeln!« rief Grete.
Ella zog beide leidenschaftlich an ihr Herz – ja dies waren ihre wahren Kinder!
Wenige Minuten später rollte der Wagen vom Gutshofe – er trug vier Menschen einem neuen und glücklichen Leben entgegen. Was sie gehofft hatten, fanden sie in Amerika, eine weite, glückliche Heimath. Sie hatten abgeschlossen mit der Vergangenheit, nichts trübte ihr Glück.
Erst nach Jahren erfuhren sie durch den Polizei-Director, daß Erwin in seinem tollen, wüsten Leben das Gut gänzlich vernachlässigt und mit Schulden überhäuft hatte.
Das Gut war verkauft und Erwin verschollen.
* * *