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Historische Novelle.
Am Abend des 25. September 1808 saßen in dem niedrigen Gastzimmer eines einfachen Wirthshauses unmittelbar vor dem Thore Jena's zwei Männer; große, ernste Gestalten. In ihrer Haltung lag etwas Militärisches, welches durch den starken Schnauzbart, den beide trugen, noch mehr hervorgehoben wurde. Vor ihnen standen einige Gläser mit Wein, sie schienen indeß wenig Lust zum Trinken zu haben, nur dann und wann thaten sie, ungeduldig auf etwas harrend, einen raschen Zug aus den Gläsern und richteten dann wieder ihren Blick auf das nahe Thor der Stadt.
Der eine hatte bereits greises Haar und konnte ein Sechziger sein, während der andere vielleicht kaum vierzig Jahre zählte.
»Er läßt verdammt lange auf sich warten!« rief der Aeltere endlich, indem er aufsprang und mit raschen Schritten das Zimmer einige Male durchmaß. »Der Bursch hat nichts zu thun,« fuhr er fort, »schon vor einer Stunde könnte er hier gewesen sein, aber in den Jungens steckt keine militärische Zucht und kein Gehorsam!«
»Ich bin auch jetzt noch der Ueberzeugung, daß wir besser gethan hätten, unser Vorhaben allein auszuführen,« erwiederte sein Begleiter. »Daß wir ein gefahrvolles Werk vorhaben, welches vielleicht uns beiden das Leben kosten wird, darauf bin ich vollständig vorbereitet; aber ich habe wenig Lust, durch die Unvorsichtigkeit oder den Verrath eines dritten zu Grunde zu gehen!«
»Verrath!« wiederholte der Aeltere, indem er seinen Begleiter starr anblickte! »Verrath! Der Bursch verräth uns nimmermehr, ich kenne ihn. Und wir haben ihn nöthig. Nach Erfurt dürfen wir uns nicht wagen und würden dort auch kaum Gelegenheit haben – Halt – dort kommt er!« rief er lebhaft, indem er durch das Fenster auf einen jungen Burschen, augenscheinlich einen Studenten, zeigte, der sich mit raschen Schritten dem Wirthshause nahte. »Das ist er, und wahrhaftig, der sieht nicht aus, wie ein Verräther.«
Sein Begleiter schwieg.
Wenige Augenblicke darauf trat der junge Mann in's Zimmer und eilte überrascht auf den älteren der beiden Männern zu.
»Ah, Herr Major, Sie sind es!« rief er und streckte ihm die Hand entgegen.
»Still, still:« wehrte dieser zurück. »Hier bin ich nicht Major und heiße auch nicht Hers, sondern bin Gutsbesitzer und heiße Röver, und dieser hier, mein Freund, der Lieutenant von Goette, ist hier gleichfalls Gutsbesitzer und heißt Darve.«
Der junge Bursch, ein Student Namens Wilhelm Demmer, blickte den Major erstaunt an, denn er begriff nicht, was dies Alles bedeuten sollte.
»Wir haben Grund, unsere Namen und Persönlichkeiten geheim zu halten,« klärte ihn der Major auf. »Es darf Niemand ahnen, wer wir sind, und noch weniger, was wir vorhaben. Und hierzu solltest Du uns behilflich sein.«
»Ich? – Wozu?,« fragte Wilhelm.
»Du weißt, daß Napoleon zu einer großen Conferenz mit dem Kaiser von Rußland in Erfurt zusammenkommen wird?« fragte der Major.
»Ja, Alexander wird heute oder morgen schon in Weimar erwartet. Der Großfürst Constantin ist bereits gestern dort eingetroffen,« entgegnete Wilhelm.
»Wir wissen es,« warf der Major ein. »Wie Du wissen wirst, wird auch Dein Vater als Secretär des preußischen Gesandten nach Erfurt kommen, wirst Du ihn dort besuchen? Du hast dort Gelegenheit, Napoleon zu sehen, und wenn ich nicht irre, bist Du einer seiner Verehrer und Bewunderer.«
»Ich – nein! Ich weiß nicht, ob ich nach Erfurt reisen werde,« entgegnete Wilhelm nicht ohne Verlegenheit.
»Du weißt es,« fiel ihm der Major in die Rede, »zum Wenigsten sagt es dieser Brief bestimmt.« Er zog einen Brief aus der Tasche und hielt ihn Wilhelm entgegen.
Dieser vermochte seine Unruhe nicht zu verbergen, als er ihn erblickte.
»Woher haben Sie den Brief?« fragte er hastig.
»Diese Frage will ich Dir später beantworten. Freue Dich, daß der Zufall ihn mir in die Hände geworfen hat, sonst würde ihn die französische Polizei sicher erhalten haben und Du säßest in diesem Augenblicke vielleicht schon im Gefängnisse. Wie kannst Du solchen Brief zu schreiben und durch die Post zu versenden wagen! Jugendleichtsinn!«
»Ich hatte keine Ahnung, daß selbst hier die Briefe erbrochen werden,« stotterte Wilhelm.
»Hier, – überall, – so weit eine Hand der französischen Macht reicht,« rief Hers. »Der Brief sagt, daß Du nach Erfurt zu reisen gedenkst und hoffst, dort werde irgend eine entschlossene Hand den Unterdrücker und Feind Deutschlands für immer unschädlich machen. Weißt Du, ob Jemand die Absicht hat?«
»Nein! Es war nur mein Wunsch und ist es noch. In mir und in der Brust meines Freundes, an welchen der Brief gerichtet ist, ist wohl die Idee aufgetaucht, es selbst zu thun, wir haben sie indeß aufgegeben.«
»Ihr habt wohl daran gethan,« unterbrach ihn der Major. »Eine solche That erfordert, wenn sie gelingen soll, den ruhigen und besonnenen Sinn eines Mannes. Ihr wäret verloren gewesen, ehe Ihr Euer Vorhaben ausgeführt. Aber es hat Jemand die Absicht, all der Qual, welche Napoleon über Deutschland gebracht hat, mit einem Male ein Ende zu machen, sein Tod ist beschlossen und Du – Du sollst dabei behilflich sein.«
Wilhelm trat unwillkürlich einen Schritt zurück, denn dieses Ansinnen machte einen gewaltigen Eindruck auf ihn.
Der Major bemerkte es und lachte laut auf. »Wie hättest Du die That ausführen wollen, wenn Du schon jetzt bange zurückbebst! Beruhige Dich – Du läufst wenig Gefahr, nur mittelbar sollst Du mitwirken, sollst nur nach Erfurt reisen, um uns von dort genau Nachricht über Alles zugehen zu lassen. Die Stellung Deines Vaters wird Deine Anwesenheit von jedem Verdacht befreien – wir dürfen es nicht wagen, Erfurt zu betreten.«
Wilhelm schwieg.
»Oder glaubst Du ein Unrecht zu begehen, wenn Du an dem Untergange eines Menschen Theil nimmst, auf dem der Fluch von Millionen ruht?« fuhr Hers fort. »Du bist noch jung, hast noch nicht erfahren, wie weh die Schmach thut, sich solchem Tyrannen beugen zu müssen, wie es schmerzt, das Vaterland, das man liebt, durch ihn mit Absicht zu Grunde gerichtet zu sehen. Ich hasse diesen Menschen. Ich kenne ihn. Ich habe ihn gesehen und seinen frechen Hochmuth gehört, mit dem er meinen König und meine Königin behandelt, und doch ist er nicht werth, den Kleidessaum dieser hohen Frau zu küssen. Ich würde ihm vergeben, daß er Preußen fast vernichtet hat, das Glück ist ihm günstig gewesen und hat ihn unersättlich gemacht, aber daß er die Besiegten, die vom Unglück Verfolgten mit Hohn behandelt, daß er sie in ihren heiligsten Gefühlen zu verletzen sucht, daß er mit höhnender Schadenfreude den Fuß auf den Nacken der Unterjochten setzt; sieh, das – das soll er mit dem Tode büßen und zwar bald, in Erfurt, wohin er nur kommt, um seinem Ehrgeize und schadenfrohen Herzen einen neuen Triumph zu bereiten. In Erfurt will er sich auf dem Gipfel seiner Allmacht zeigen, er will sich an dem Anblicke weiden, wie Fürsten und Könige ihren Nacken vor ihm beugen. Sieh, – sieh her, Pariser Schauspieler läßt er nach Erfurt kommen, in diesem Briefe aus Paris steht es und es steht auch darin, daß er zu einem französischen Schauspieler spöttisch gesagt hat, er möge sich zusammennehmen, denn hier werde er vor einem Parterre von Königen spielen! Er mag sie kommen lassen, aber aus der Komödie soll ein Trauerspiel werden, in welchem er selbst die wichtigste Rolle übernimmt – von unserer Hand soll er sterben!«
»Herr Major!« rief Wilhelm unwillkürlich.
»Still! Nenn' mich nicht mit diesem Namen. – Unser Entschluß steht fest. Wir wissen, daß wir einen Mord begehen. Man wird uns verurtheilen, wir werden unsere That wahrscheinlich mit unserem Leben bezahlen – wir sind darauf gefaßt – aber sprich – sprich, wiegt das Unglück von Millionen, wiegt die Schmach, welche ganz Deutschland widerfahren, nicht schwerer als dieser Mord? Mein Gewissen wird keine Minute lang Reue empfinden und Hunderttausende werden im Herzen meine Thut segnen. – Sprich, willst Du uns beistehen!«
Er hatte mit Begeisterung gesprochen, seine Stimme hatte leise gebebt und Wilhelm war mächtig dadurch erregt. Entschlossen streckte er ihm die Rechte entgegen.
»Ich will es,« erwiderte er fest entschlossen.
Hers erfaßte seine Hand und blickte ihm einen Augenblick schweigend in's Auge.
»Gut,« sprach er dann. »Tausende werden Dir einst für diesen Entschluß danken. Ich will Dich nicht durch einen Eid binden, wer ein Verräther an seinem Vaterlande werden will, läßt sich auch durch zehn Eide nicht abschrecken, bei Dir ist er nicht nöthig. Nur eins laß mich Dir an's Herz legen, um des Gelingens unseres Vorhabens und um Deines eigenen willen, sprich gegen Niemand von dem, was Du so eben erfahren und was ich Dir noch mittheilen werde. Laß Niemand ahnen, daß ein solcher Anschlag auf des Tyrannen Leben besteht, denn dies würde schon hinreichen, um ihn zur Unmöglichkeit zu machen. Du selbst hast noch keine Ahnung, wie fast in jedem Hause ein Ohr französischer Spione horcht. Wer in jetzigen Zeiten ganz sicher sein will, darf selbst seinem Freunde nicht trauen. Hier – in der Brust ruht jedes Geheimniß am sichersten.«
Wilhelm versprach, daß er auf das Vorsichtigste zu Werke gehen wolle. Auch der Jüngere der beiden Männer reichte ihm nun die Hand. »Mag unser Vorhaben ablaufen wie es will,« sprach er, »von mir wird Niemand erfahren, daß Sie darum gewußt und es unterstützt haben. Die Gewalt kann mir den Mund öffnen, aber keine Macht ist groß genug, meine Zunge gegen meinen Willen zum Sprechen in bringen!«
Hers theilte Wilhelm nun mit, daß er schon am folgenden Tage nach Erfurt gehen und dort von Napoleon und seinem Vorhaben so viel als möglich in Erfahrung zu bringen suchen solle. Namentlich sei ihnen daran gelegen, zu wissen, wann und unter welcher Begleitung Napoleon, der sicherlich eine Jagd oder dergleichen veranstalten werde, Erfurt verlassen werde. Sie dürften ihr Vorhaben dem Zufall nicht anheimgeben. Scheitere es, so würde Napoleon, der schon jetzt sehr für sein Leben besorgt, in Zukunft Niemand mehr in seine Nähe gelangen lassen. Seien doch schon jetzt eine Menge geheimer Polizeicommissäre von Paris nach Erfurt und dessen Umgegend gekommen, um ganz im Stillen zu erforschen, ob der Boden für den Kaiser auch sicher sei, ob sich auch nirgend eine Verschwörung oder dergleichen, das ihm Gefahr bringen könne, rege. Er selbst wisse dies von einer zuverlässigen und vertrauten Freundin, welche Gesellschafterin bei der ersten Schauspielerin, der Bourgoin, in Paris sei. Beide würden nach Erfurt kommen, da die Bourgoin dort »vor einem Parterre von Königen!« spielen solle.
»Ich werde Dir einen Empfehlungsbrief an meine Freundin geben, der Dir ihr unbedingtes Vertrauen erwerben wird,« fügte er hinzu. »Du wirst auch die Bourgoin kennen lernen, und Alle, die sie gesehen haben, können ihr Talent und ihre liebenswürdigen Reize nicht genug loben. Napoleon ist sehr intim mit ihr und es passirt am Hofe nichts, wovon sie nicht Kunde erhält. Benutze diese Verbindung vorsichtig, sie kann uns vielleicht viel nützen. – Und nun noch Eins – hier hast Du die Zeichen einer Geheimschrift, wenn Du uns schreiben mußt, da wir indeß in Erfurts Nähe uns aufhalten werden, kannst Du uns mündlich mittheilen, wenn Du irgend etwas Wichtiges erfahren hast.«
Wilhelm sah in diesem Auftrage, sobald er mit Vorsicht verfuhr, wenig Gefahr und willigte um so freudiger darein, da für ihn ein abenteuerlicher Reiz darin lag, an solch einem bedeutungsvollen Unternehmen mitzuwirken und in Erfurt das großartige Treiben, welches dort vorbereitet wurde, in der Nähe kennen zu lernen.
Einige Gäste traten in's Zimmer und nöthigten sie, dies Gespräch abzubrechen. Hers begleitete Wilhelm nach der Stadt, um ihm noch einmal die größte Vorsicht einzuprägen und noch einige Mittheilungen zu machen. Noch in derselben Nacht sollte Wilhelm abreisen.
Aufgeregt kam er in seinem Zimmer an. Die verschiedenartigsten Gedanken durchstürmten ihn, er hatte indeß nicht Zeit, einen derselben zu verfolgen, da die nahe Abreise einige Vorbereitungen erforderte. Hers' Festigkeit und Zuversicht ließ den Gedanken, daß Alles fehlschlagen könne, in ihm nicht aufkeimen, nicht Furcht für sein Leben bewegte ihn und doch beschlich ihn unwillkürlich ein Bangen vor den gewaltigen unabsehbaren Folgen, welche aus dieser That hervorgehen mußten. Auf dem Gipfel seiner Macht sollte Napoleon fallen; er haßte ihn als übermüthigen Tyrannen, dessen ganzes Streben darauf gerichtet war, jeden freien Geisteshauch in Deutschland zu vernichten, und doch war er noch zu jung und in des Lebens Stürmen zu wenig abgehärtet, als daß er ein menschliches Mitgefühl, das in ihm erwachte, hätte zurückweisen können. Sein Hers gegebenes Wort band ihn und doch durfte er diesem Gefühle keinen weitern Raum gestatten, um in seinem Entschlusse nicht wankend zu werden.
Nach Mitternacht verließ er Jena. Als er in Erfurt eintraf, überraschte und berauschte ihn fast die gänzliche Umgestaltung der Stadt. Sonst ziemlich öde und unter der französischen Herrschaft äußerst schwer heimgesucht, bot sie einen Anblick dar, als ob sie die reichste Stadt von ganz Europa sei.
Alles war zum Empfange Napoleon's vorbereitet, der jeden Augenblick eintreffen konnte. Alle befanden sich in der Ungeduld der Erwartung oder in der Eile, mit der noch die letzten Vorbereitungen zum Empfange des Kaisers vollendet werden sollten. Die ganze Stadt war von französischen Decorateurs, welche eigens deshalb von Paris hierhergesandt waren, auf die glänzendste Weise und mit ungeheuren Kosten geschmückt. Französische Gardegrenadiere und die Elite anderer französischer Truppen füllten die Straßen. Auch sie waren zum größten Theile nur deshalb von Paris hierhergeschickt, um die Macht und den Glanz ihres Kaisers in auffallendster Weise zu zeigen.
Zu ihnen gesellte sich die äußerst zahlreiche Begleitung der deutschen Fürsten und der Diplomatie, welche zum Theil schon vor ihren Herren hier eingetroffen war, um die nöthigen Vorkehrungen zum Unterkommen zu treffen.
Wilhelm war oft in Erfurt gewesen, dennoch erkannte er die Stadt kaum wieder. In der größten Aufregung schien Alles durch einander zu wogen. Er gab es auf, in dieser allgemeinen Unruhe seinen Vater aufzusuchen; langsam durchwanderte er die Straßen.
Da hieß es, es war in der zehnten Stunde, »der Kaiser kommt,« und Tausende drängten dem Thore zu, durch welches er seinen Einzug halten mußte. Auch Wilhelm ließ sich mit fortdrängen. Das Thor und die nächsten Straßen waren, um sie frei zu erhalten, vollständig mit französischem Militair besetzt, dennoch errang sich Wilhelm einen Platz von dem aus er den ganzen Zug sehen konnte.
Ein endloser Jubelruf, in den mehr als zehntausend Soldaten einstimmten, kündigte des Kaisers Ankunft vor dem Thore an. In einem mehr als königlichen Staate, umringt von Königen, Fürsten, Ministern und Generalen, zog er in Erfurt ein. Begleitete ihn doch die Mehrzahl Derjenigen, welche zu jener Conferenz nach Erfurt kamen, und die Stadt sah in jenen Tagen außer den beiden Kaisern von Frankreich und Rußland, außer den Königen von Westfalen, Baiern, Sachsen und Würtemberg und den Großherzögen von Baden und Würzburg nicht weniger als zweiundvierzig Fürsten und Prinzen, sechsundzwanzig Staatsminister und über ein halbes Hundert Generäle.
Sie alle bildeten eigentlich nur das Gefolge des französischen Herrschers, der in übermüthigster Weise sie kaum der Beachtung für würdig hielt.
Wilhelm war durch die wahrhaft kaiserliche Pracht geblendet, dennoch empörte es ihn im Innersten, als er bemerkte, wie sehr die deutschen Fürsten sich dadurch erniedrigten, daß sie dem Tyrannen ihres Vaterlandes folgten und zufriedengestellt waren, in seinem Gefolge denselben Rang einzunehmen wie jeder französische General.
Langsam schritt er durch eine der mit Menschen fast überfüllten Straßen. Eine junge, elegant gekleidete Dame fiel ihm auf und unwillkürlich zog es ihn derselben nach. Aus ihrer Unterhaltung mit einer älteren Begleiterin vernahm er, daß sie eine Französin war, und so sehr er sonst auch jedes französische Blut haßte, in diesem Augenblicke dachte er nicht daran.
Unter den Wagen der zahlreichen, zu diesem Schauspiel nach Erfurt gekommenen Fremden war eine Stockung entstanden. Die Hast, mit der ein Jeder daran dachte, nur sich aus dem Wagenknäuel loszumachen, vermehrte die Verwirrung. Da wurden ein Paar der Pferde wild, gingen durch und stürmten die Straße herab. Alles stürzte zur Seite, um ihnen auszuweichen, der Gefahr sie aufzuhalten, mochte sich Keiner unterziehen. Nur auf die schöne Dame achtend, hatte Wilhelm die Pferde nicht bemerkt, er sah sie erst, als sie ihm bereits nahe waren: Auch er wollte zur Seite springen, da drang ein leiser Schrei in sein Ohr und er sah, wie die Dame, der er gefolgt war; während auch sie den scheuen Thieren entfliehen wollte, gestrauchelt und zur Erde gefallen war.
Mit einem Sprunge stand Wilhelm neben ihr und riß sie gewaltsam empor. In demselben Augenblicke sprengten die scheuen Pferde mit dem Wagen vorüber. Nur eine halbe Minute später und sie würde von den Hufen der Thiere und den Wagenrädern vielleicht zerschmettert gewesen sein.
Wilhelm hielt sie in seinen Armen, er fühlte ihr Herz klopfen, seine Augen ruhten auf ihrem lieblichen Gesicht. Sie war einer Ohnmacht nahe, suchte sich indeß mit allen Kräften zu fassen. Dennoch zitterte sie heftig. Ihre Begleiterin eilte bestürzt herbei und richtete sie empor.
Sie warf einen dankenden Blick auf Wilhelm und wollte einige Worte hinzufügen, aber die Lippen versagten ihr. Noch war sie nicht im Stande, den Schreck zu überwinden. Wilhelm bot ihr den Arm zur Unterstützung, um sie nach ihrer Wohnung zu begleiten, und schweigend nahm sie ihn an.
Erst als sie das Menschengewühl verlassen und eine stillere Straße erreicht hatten, gewann sie ihre volle Fassung wieder und lachte jetzt selbst über ihren Schrecken.
»Ich habe mir immer eingebildet, daß ich zum Sterben noch viel zu jung sei,« sprach sie mit einem Lächeln, welches Wilhelm noch mehr bezauberte, »deshalb hat mir die Gefahr auch alle Fassung geraubt. Ich wäre ein schlechter Soldat geworden.«
Wilhelm vermochte kaum einige Worte zu erwiedern, er befand sich ihr gegenüber in einer Befangenheit, welche er sich selbst nicht zu erklären vermochte. Das ganze Treiben ringsum hatte allen Reiz für ihn verloren. Der laute Jubel, mit dem der Kaiser in allen Straßen, durch welche er kam, empfangen wurde, drang wiederholt zu ihm. Er hörte es nicht. Was kümmerte ihn der Kaiser, was all die Fremden der Stadt. Für sie allein nur hatte er Augen und Ohren. Ihre Kleidung war elegant, sogar kostbar, und aus ihrem leichten und doch feinen und sichern Benehmen glaubte er zu errathen, daß sie den höheren Ständen angehören mußte. Sie hatte sich von ihrem Schreck völlig erholt und unterhielt ihn mit einer Unbefangenheit und Liebenswürdigkeit, die ihn entzückte.
Als sie vor ihrer Wohnung ankamen, durchzuckte es ihn schmerzhaft, daß er sie verlassen sollte, vielleicht sah er sie nie wieder. Wußte er doch nicht einmal ihren Namen, und er hatte nicht den Muth, sie danach zu fragen. Da forderte sie ihn auf, mit in ihre Wohnung einzutreten. Eine freudige Röthe schoß über seine Wangen, und dennoch folgte er willenlos. Er würde Alles gethan haben, was sie von ihm verlangt hätte.
Er bemerkte kaum die prächtige und zugleich sinnige Einrichtung ihrer Zimmer, die herrlichen Blumen und kostbaren Vasen und Vorhänge, mit denen sie geschmückt waren. Ihn überkam ein Gefühl, als ob er in einen Feentempel getreten sei, und es konnte in ihrer Nähe nicht anders sein.
Sie lächelte scherzend über seine Befangenheit.
»Nun müssen Sie mir Ihren Namen nennen,« rief sie. »Ich muß doch wissen, wem ich meine Rettung verdanke!«
Wilhelm nannte ihn und fügte hinzu, daß er in Jena studire. »In Jena!« rief sie. »Dort, wo mein Kaiser vor zwei Jahren die Schlacht gewonnen! Dort! Dort! Und Sie sind Student?« – Sie stellte sich vor ihn und betrachtete ihn mit dem reizendsten Lächeln. »In Frankreich habe ich mir ein anderes Bild von einem deutschen Studenten gemacht! Sie sehen gar nicht so wild aus! Sie haben keinen langen Bart und keinen Schläger an der Seite!«
Unwillkürlich mußte Wilhelm lächeln.
»Und wissen Sie, wer ich bin?«
Wilhelm verneinte es.
»Ah, dann möchte ich Sie in Ungewißheit lassen, bis Sie mich vielleicht schon in wenigen Tagen an einem andern Orte wiedersehen! Doch nein – ich verdanke Ihnen zu viel – Sie sollen es wissen. Mein Kaiser hat mich hierher befohlen, um ihn und all die Könige und Fürsten, welche hierher kommen, zu unterhalten; ich soll spielen vor ihnen, denn ich bin Schauspielerin und mein Name ist Claire Bourgoin.«
»Bourgoin?« rief Wilhelm überrascht. »Bourgoin!«
»Sie kennen mich?« fragte Claire.
»Und Sie sind Marie Gärtner?« wandte sich Wilhelm, ohne diese Frage zu beantworten, an ihre Begleiterin. Diese bejahte es.
»Dann hat mir das Glück heute einen doppelt großen Dienst erwiesen,« fuhr er fort, »denn an Sie habe ich ein Empfehlungsschreiben, um durch Sie die Künstlerin kennen zu lernen, welche von Allen verehrt wird, die sie nur einmal gesehen, welche selbst ihre Feinde lieben müssen!«
Der Major Hers hatte ihm diese Weise, sich einzuführen, angerathen, um die Bourgoin über den eigentlichen Zweck des Empfehlungsbriefes zu täuschen, und er sprach diese Worte um so überzeugender, da er es wirklich für ein Glück hielt, die Schauspielerin kennen gelernt zu haben. Er überreichte Marie den Brief des Majors.
»Sie bedürfen keiner Empfehlung mehr,« erwiderte Claire, durch seine Worte geschmeichelt, lächelnd, »oder glauben Sie, daß ich gegen den von einem mir Fremden Empfohlenen freundlicher sein würde als gegen den Retter meines Lebens? Und auch ich bin ja mit dem Geschick zufrieden, das gerade Sie zu meinem Retter bestimmt hat.«
Mit verführerischem Lächeln reichte sie ihm ihre kleine, schöngeformte Hand, und er erfaßte sie mit einer Innigkeit, vor der er selbst fast erschrak. Um den vollen Sinn ihrer Worte zu fassen, war er zu aufgeregt, und erst am Abend, als er allein in dem engen Zimmer eines Wirthshauses auf das Bett ausgestreckt lag und das Erlebniß des heutigen Tages, sein Zusammentreffen mit Claire, als er jedes ihrer Worte sich ins Gedächtniß zurückrief und im Geiste noch einmal durchlebte, ward ihm der Sinn dieser Worte klar und er hätte laut aufjubeln mögen.
Konnte er nicht aus diesen Worten entnehmen, daß auch er ihr nicht gleichgiltig geblieben sei? Er wagte dies nicht zu glauben und doch! – wie freundlich hatte sie ihm beim Abschiede die Hand gereicht, und hatte sie ihm nicht gestattet, sie am folgenden Morgen wieder besuchen zu dürfen, hatte sie ihn nicht gebeten, sie während ihrer Anwesenheit in Erfurt öfter auf ihren Spaziergängen zu begleiten, da sie es liebte, sich zu Fuß in das volle Leben und Treiben der Menschen zu mischen! Er fühlte, daß dies Mädchen eine Gewalt auf ihn ausübte, wie noch nie ein weibliches Wesen, und es schmeichelte ihm, daß es so war. Halb träumend schon suchte er ihr Bild vor sein geistiges Auge zu zaubern. Selbst die Bewunderung und fast maßlose Verehrung, mit der sie von Napoleon sprach, war ihm nicht unangenehm gewesen; in ihrer Nähe hatte er vergessen, daß er diesen Menschen haßte, daß er hierher gekommen war, um zu seinem Untergange die Hand zu reichen.
Ehe er seinen Vater aufsuchte, ging er am andern Morgen wieder zur Bourgoin. Sie empfing ihn mit derselben Freundlichkeit. In leicht scherzender, halb übermüthiger und trotzdem reizender Weise schilderte sie ihm das Zusammentreffen Napoleon's mit dem Kaiser von Rußland am Tage zuvor unter einem Birnbaum zwischen den Dörfern Ottstedt und Nohra. Lachend fügte sie hinzu: »Beide Kaiser sind sich in der zärtlichsten Weise in die Arme gesunken, mein Kaiser hat für den Russen ein Pferd bereit halten lassen, welches ganz so aufgeschirrt gewesen ist, wie das, welches er in Petersburg zu reiten pflegt. Um ihm diese Aufmerksamkeit erweisen zu können, ist Jemand von Paris nach Petersburg gesandt, nur zum Zweck, eine genaue Zeichnung des Sattelzeugs sich zu verschaffen. Ha ha! Und Napoleon liebt den Russen nicht! Er hat ihn umarmt, aber ich weiß, daß er ihn eher haßt; ja er haßt ihn, weil er der einzige Fürst ist, der nicht glaubt nöthig zu haben, sich vor ihm zu beugen. – Sie kennen Napoleon nicht. Er kann furchtbar sein, aber er ist der liebenswürdigste Mann, den ich kenne, wenn es in seiner Absicht liegt, liebenswürdig sein zu wollen. Seine Aufmerksamkeiten sind zart und sinnig.«
Wilhelm erinnerte sich in diesem Augenblicke an Hers' Worte: »Napoleon ist sehr intim mit ihr,« – ein Argwohn, ein eifersüchtiger Verdacht stieg in ihm auf – doch nein – es konnte nicht sein. Dies Mädchen war zu unbefangen in ihren Aeußerungen, sie mußte unschuldig sein! Er konnte diesem Gedanken nicht länger nachhängen, da Claire die Unterhaltung bald auf einen andern Gegenstand führte und seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Am Abende dieses Tages sollte die erste Vorstellung im Theater stattfinden, Claire trat darin auf. Das Publikum für die Vorstellungen war ein sorgfältig ausgewähltes und zum großen Theil vom Kaiser selbst bestimmtes. Er hatte die Rangordnung festgesetzt und sie mußte auf's Strengste innegehalten werden, da er den kleinsten Verstoß dagegen bemerkt und auf die strengste, schonungsloseste Art geahndet haben würde. Die Plätze für die Könige und souveränen Fürsten waren in angemessener Entfernung von den Sesseln der beiden Kaiser und auch einfacher. Der Kaiser selbst hatte es so angeordnet, und es lag eine absichtliche Geringschätzung und Demüthigung darin. Nur für den Kaiser von Rußland hatte er Aufmerksamkeit, weil er ihn für seine Pläne zu stimmen hoffte, alle übrigen Fürsten würdigte er kaum der Beachtung; er sah sie als seine Untergebenen an.
Ging die Geringschätzung der deutschen Fürsten doch sogar so weit, daß beim Vorfahren ihrer Wagen vor dem Theater nur einmal getrommelt wurde, während ein dreimaliger Trommelwirbel die Ankunft jedes der beiden Kaiser verkündete, und daß ein französischer Offizier, als die Wache, durch das Aeußere des Wagens des Königs von Würtemberg getäuscht, bei dessen Ankunft dreimal die Trommeln rührte, übermüthig Einhalt gebot und laut rief: » taisez vous, ce n'est qu'un roi!«
Claire hatte Wilhelm mit diesen Anordnungen zum Theil bekannt gemacht und versprach ihm, da er keinen Platz in dem Theater bekommen würde, einen solchen zu verschaffen.
»Mir darf er nicht abgeschlagen werden,« sprach sie, »ich würde mich beim Kaiser selbst darüber beschweren. Sie müssen mich heute Abend sehen, und heute Nachmittag sende ich Ihnen ein Billet. Erst übermorgen kann ich Sie indeß wiedersehen, kommen Sie nicht eher« – und sie betonte dies Wort besonders stark – »dann mögen Sie mir sagen, wie ich Ihnen gefallen habe.«
Zum Abschiede reichte sie ihm wieder mit ihrem bezaubernden Lächeln die Hand. Ihre Gesellschafterin geleitete Wilhelm zum Zimmer hinaus und winkte ihm, ihr in ein anderes Gemach zu folgen. Er folgte, aber mit einer übervollen, ungeduldigen Brust, denn ihn verlangte, in's Freie zu treten, allein zu sein, um der Freude, welche sein Herz erfüllte, ungestört Raum zu schaffen.
Marie Gärtner mochte ungefähr dreißig Jahre zählen. Ihr Gesicht war durchaus nicht hübsch, dennoch interessirte sie durch ihr äußerst lebhaftes, scharf fixirendes Auge und durch die Sicherheit und Selbständigkeit ihres Benehmens. Ueber die meisten Menschen, mit denen sie zusammenkam, machte sie sofort ein gewisses geistiges Uebergewicht geltend und vorzugsweise durch den beherrschenden Blick ihrer Augen. Auch bei Wilhelm schien sie dies in diesem Augenblick zu versuchen, denn sie richtete einen so forschenden durchbohrenden Blick auf ihn, als ob sie bis in das Innerste seines Herzens hätte dringen wollen. Wilhelm bemerkte es kaum, seine Gedanken weilten noch bei Claire.
»Ist der Major Hers hier in der Nähe?« fragte Marie endlich kurz und bestimmt.
Wilhelm antwortete ausweichend.
»In seinem Empfehlungsbrief schreibt er mir,« fuhr sie fort, »daß ich Ihnen vollständig vertrauen könne – theilen Sie mir zuvor mit, zu welchem Zwecke er Sie hierhergesandt hat!«
»Hierhergesandt,« rief Wilhelm fast verletzt. »Aus freiem Entschlusse bin ich nach Erfurt gekommen.«
»Und die Empfehlung hätte nur den Zweck gehabt, Ihnen den Weg zu Claire Bourgoin zu bahnen? Ich kenne Hers zu gut, als daß er sich zu solchem Zwecke für Sie verwenden würde.«
Wilhelm schwieg.
»Sie wollen mir nicht vertrauen,« fuhr Marie fort, indem sie an ihn herantrat und ihre Stimme fast bis zum Flüstern mäßigte. »Gut, so will ich den ersten Schritt thun: Hers hat einen Anschlag auf Napoleon's Leben im Sinn und Sie sollen ihm dazu behilflich sein!«
Wilhelm erschrak. Hatte sie das Geheimniß errathen, oder war sie von Hers selbst davon in Kenntniß gesetzt?
Das Erstere war kaum möglich, da er sich noch nicht die geringste Blöße gegeben hatte, welcher einen solchen Verdacht hätte hervorrufen können. Er leugnete es nicht.
»Der Major geht schon lange mit einem solchen Plane um,« sprach Marie. »Hier kann er vielleicht gelingen, lassen Sie ihn indeß wissen, daß er auf das Vorsichtigste zu Werke geht. Der Kaiser ist vor einem solchen Anschlage auf sein Leben gewarnt, er weiß nicht, von wem er ausgehen soll, aber die Warnung ist hinreichend gewesen, um alle Kräfte zu seiner Sicherheit aufzubieten. Ich weiß, daß Hunderte geheimer Polizeiagenten und Spione unter den verschiedensten Masken, selbst unter der der vornehmsten Leute, hier in Erfurt und in der Nähe ringsum verbreitet sind, und es kann kaum ein unvorsichtiges Wort gesprochen werden, welches nicht zu den Ohren der Polizei und des Kaisers kommt. Hers ist doch nicht etwa in Erfurt selbst?«
Wilhelm verneinte dies und fügte hinzu. daß er nicht hierherkommen werde, weil er für seine Sicherheit fürchte.
Noch einmal empfahl sie ihm die größte Vorsicht. »Die Bourgoin ist sehr für Sie eingenommen,« sprach sie. »Sie ist ein eigenthümliches Mädchen, zu verwöhnt, um sich irgend einen Wunsch versagen zu können. Hat sie zu Jemand eine Neigung gefaßt, so zeigt sie dieselbe unverhohlen. Bei jedem andern Mädchen würde das verletzend, ja abstoßend auffallen, sie fesselt doppelt dadurch. Benutzen Sie diese Neigung, sie dient Ihnen zugleich für Ihre eigene Sicherheit, seien Sie aber namentlich gegen sie vorsichtig, lassen Sie auch nicht die leise Aeußerung über den Kaiser fallen, die Ihre Ansicht über ihn verrathen könnte. Stellen Sie sich, als ob Sie seinem Genie huldigten!«
Kaum befand sich Wilhelm allein, auf der Straße, als er an diese Warnungen bereits nicht mehr dachte. Die Liebe zu der Schauspielerin hatte sich bei ihm zur wirklichen Leidenschaft gesteigert und ihm klangen nur die Worte im Ohre wieder: »Die Bourgoin ist für Sie eingenommen.« Sie berauschten ihn. Er träumte von einem Glück, an welches er bis dahin kaum zu denken gewagt hatte. Im Stillen wünschte er sogar, nie seine Unterstützung zu einem so gefahrvollen Unternehmen zugesagt zu haben. Er wußte, wie verhaßt die französische Herrschaft in ganz Deutschland war. Der Tod des Kaisers konnte nur das Signal zur allgemeinen Erhebung des Volkes sein, um dies Joch abzuwerfen und die übermüthigen Eroberer aus den deutschen Landen zu vertreiben. Welche schwere Folgen, welche Gefahren mußten auch für Claire daraus hervorgehen. Wurde er durch jene That nicht zugleich von ihr getrennt, um sie vielleicht nie wiederzusehen? Hatte doch sogar das geliebte Mädchen durch seine Bewunderung und Verehrung des Kaisers ihn selbst gegen denselben milder gestimmt.
Er faßte den Entschluß, vor der Hand weder an Hers zu schreiben, noch ihn aufzusuchen. Konnte er die That vielleicht auch nicht hindern, denn ein Gedanke an Verrath lag ihm fern, so wollte er sie doch zum wenigsten hinausschieben, so lange als dies möglich war. Vielleicht ging die günstige Gelegenheit zur Ausführung dadurch unbenutzt vorüber.
Wie Claire versprochen, erhielt er am Nachmittage ein Billet zu der Vorstellung am Abend. Mit Ungeduld sah er die wenigen Stunden bis zum Abend schwinden. Fast der Erste in dem Zuschauerraum sah er dem Beginn der Vorstellung entgegen. Die Zeit bis dahin wurde ihm nicht lang, denn mehr und mehr füllte sich das Haus mit den Königen, Fürsten, Ministern und Generälen, welche in Erfurt anwesend waren. Der Glanz der vielen kostbaren Uniformen blendete ihn fast. Vielleicht sind nie so viele glänzende Trachten in einem Raume vereint gewesen. Alle zu der Vorstellung Eingeladenen waren schon gegenwärtig, selbst der Kaiser Alexander hatte bereits seinen Sitz eingenommen und noch nicht ein Zeichen zum Beginn der Vorstellung war zu bemerken. Selbst das Orchester schwieg noch.
Er wandte sich an einen der reichbetreßten Diener, welche die gewöhnlichen Theaterdiener vertraten, und fragte, wann die Vorstellung beginne.
»Sobald der Kaiser erscheint,« lautete die Antwort.
Noch vor wenigen Tagen würde ihn diese Antwort erbittert und er einen absichtlichen Uebermuth darin erblickt haben, daß Napoleon all die hohen Personen warten ließ, gleichsam als wären sie seine Diener.
Endlich trat der Kaiser ein. Rasch schritt er an den Königen und Fürsten vorüber, nur mit einer leisen Beugung des Kopfes sie begrüßend. Dem Kaiser von Rußland allein reichte er die Hand zum Gruße dar und in der Unterhaltung mit ihm nahmen die sonst strengen, kalten Züge seines Gesichtes einen freundlichen, gewinnenden Ausdruck an.
Bei des Kaisers Eintreten hatte das Orchester mit der Musik begonnen – jetzt wurde der Vorhang aufgezogen.
»Oedip« wurde gegeben. Wilhelm hatte dies Stück noch nicht gesehen, es interessirte ihn wenig, weil er alle seine Aufmerksamkeit auf Claire Bourgoin wandte, welche ihm auf der Bühne doppelt reizend erschien. Selbst Talma, unstreitig der erste Schauspieler seiner Zeit, vermochte ihm wenig Interesse einzuflößen. Er wurde fast eifersüchtig auf den Beifall, welchen Claire im vollsten Maße erntete, und zugleich that er ihm wieder wohl bei dem Gedanken, daß er der Glückliche sei, dem die Gefeierte ihre Neigung geschenkt. Sein Selbstbewußtsein wuchs um ein Bedeutendes. Die höchsten Personen würden sich durch ihre Gunst beglückt gefühlt haben, sie hätte unter ihnen wählen können und es erschien ihm wie ein Räthsel, wie ein Traum, daß er der Bevorzugte war.
Nur Eins ging ihm durch den Sinn, weshalb sollte er am folgenden Tage nicht zu ihr kommen? Nach diesem Abende sehnte er sich doppelt stark nach ihr. Unmöglich konnte sie sich nach dieser Vorstellung so angegriffen fühlen, da ihr Spiel ein so leichtes und gleichsam flüssiges gewesen.
In Unruhe brachte er den folgenden Tag hin. Er sprach seinen Vater, der sich in bitterster Weise über den Hochmuth der Franzosen und namentlich des Kaisers aussprach, über seine Rücksichtslosigkeit gegen alle anwesenden deutschen Fürsten, gegen die er selbst verletzend wurde.
»Es liegt ihm daran, sie zu demüthigen,« sprach er, »es ist seine Absicht, ihnen zu zeigen, wie gering sie gegen ihn sind, wie ihre alten angestammten Rechte und Begriffe veraltet sind, wie er es ist, der sie über den Haufen geworfen, er, ein Parvenu, der ihnen jetzt Gesetze vorschreibt. Er ahnt indeß nicht, wie dies sein Benehmen in ihrer Brust einen Stachel zurückläßt, dessen Spitze sich einst gegen ihn richten und ihn vernichten wird. Er weiß, wie peinlich es mehreren Fürsten ist, daß sie ihn – als Parvenu, als einen Emporkömmling aus der Revolution – als sich gleichberechtigt und durch Macht über ihnen stehend anerkennen müssen, und hierauf hat er heute bei der Tafel eine neue beleidigende Demüthigung berechnet, welche schon im Munde aller hier anwesenden Franzosen ist und in wenigen Tagen im Moniteur stehen wird, damit ganz Frankreich über die deutschen Fürsten lächelt und den Verstand und die Geistesfreiheit seines Kaisers preist. Es ist heute bei der Tafel die Rede auf die goldene Bulle gekommen und Mehrere haben sich an den Fürst Primas mit der Frage, in welchem Jahre sie gegeben sei, gewandt. Dieser hat das Jahr 1409 als das Entstehungsjahr derselben bezeichnet. Keiner der anwesenden Fürsten hat ihn berichtigt, da sicher keiner das richtige Jahr gewußt hat. Nur Napoleon hat spöttisch gelächelt und gerufen: »Entschuldigen Sie, die goldene Bulle ist im Jahre 1356 gegeben.« Beschämung hat sich auf den Gesichtern der meisten Deutschen ausgeprägt, und als einige Franzosen den Kaiser erstaunt gefragt haben, woher er diese genaue Kenntniß der deutschen Geschichte habe, hat er fortgefahren: »Als ich noch Sous-Lieutenant der Artillerie war« – unwillkürlich hat sich ein verletztes Gefühl auf den Gesichtern der meisten deutschen Fürsten ausgeprägt. Der Kaiser hat es mit genugthuender Freude bemerkt und noch lauter und schärfer wiederholt: »Als ich noch Sous-Lieutenant der Artillerie war, stand ich drei Jahre in Valence und hatte das Glück, das Dachstübchen eines Gelehrten zu bewohnen, in dessen Bibliothek ich dieses und noch manches andere Nützliche lernte. Die Natur gab mir ein außerordentlich gutes Zahlengedächtniß.«
Auf Wilhelm machte diese Erzählung nicht den Eindruck, den sein Vater erwartet hatte. Sie stimmte zum Theil sogar mit dem Bilde überein, welches Claire ihm von dem umfangreichen Wissen des Kaisers entworfen hatte, denn auf sie kehrten seine Gedanken immer und immer wieder zurück.
Als der Abend hereingebrochen war, verlangte ihn zu wissen, ob Claire in ihrer Wohnung war, die erhellten Fenster derselben mußten es ihm verrathen. Langsam schritt er durch die Straße, in der sie wohnte. Ihre Zimmer waren erhellt, sie war also zu Haus und schon der Gedanke, daß er ihr nahe war, that ihm wohl. Mehrfach schritt er vor dem Hause auf und ab, ohne zu bemerken, daß eine große in einen Mantel gehüllte Gestalt ihm folgte. Endlich blieb er dem Hause gegenüber in Träumen versunken stehen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschreckt trat er einen Schritt zurück. Sein erster Gedanke war, daß Hers' Vorhaben entdeckt und der vor ihm Stehende ein Beamter der Polizei sei. Vergebens bemühte er sich, das Gesicht desselben zu erkennen.
»Folgen Sie mir,« sprach der Fremde und schritt ohne ein Wort noch hinzuzufügen die Straße hinab und bog in eine stillere Gasse ein. Nicht ohne Besorgniß folgte ihm Wilhelm. Das Ganze war ihm zu plötzlich, zu überraschend in seinen süßesten Träumen gekommen, als daß er im Stande gewesen wäre, irgend einen Entschluß zu fassen. Er folgte willenlos, selbst der Gedanke, sich durch die Flucht dem Fremden zu entziehen, fiel ihm nicht ein.
Der Fremde blieb stehen und trat dicht an ihn heran. Auch jetzt erkannte er ihn noch nicht.
»Major Hers läßt fragen, weshalb sie ihm noch keine Nachricht gesandt?« sprach er mit gedämpfter, leiser Stimme.
Wilhelm athmete frei auf und dennoch setzte ihn diese Frage in Verlegenheit, weil sie einen Gegenstand berührte, an den er nur ungern dachte und in Betreff dessen er sich nicht von jedem Vorwurfe freisprechen konnte.
»Wer sind Sie?« warf er fragend ein, weniger aus Neugierde, als um Zeit zur Fassung zu gewinnen.
»Ein Bote des Majors. Mein Name kann Ihnen gleichgültig sein,« erwiderte der Fremde. »Was soll ich dem Major mittheilen?«
Wilhelm zögerte mit der Antwort.
»Ich habe noch nichts erfahren,« sprach er endlich. »Sonst – sonst …« er stockte.
»Sie sind wiederholt mit der Bourgoin zusammengekommen,« warf der Fremde ein, »und sie erhält von Allem, was in des Kaisers Nähe vorgeht, die genaueste Kunde. Ich weiß, daß Sie selbst von ihr ein Billet für die Vorstellung gestern Abend erhalten haben. Und weshalb haben Sie dem Major die Warnung nicht mitgetheilt, welche Ihnen die Gesellschafterin der Bourgoin aufgetragen?«
Wilhelm's Verlegenheit steigerte sich. Wer war dieser Mann, der jeden seiner Schritte belauscht hatte, der selbst um das wußte, was ihm ganz im Geheimen mitgetheilt war? Vergebens suchte er sein Gesicht zu erkennen.
Halb stotternd brachte er einige Entschuldigungen hervor. Der Fremde schien darauf kaum zu hören. »Sie scheinen schon ganz in den Netzen der Schauspielerin zu sein und die Bourgoin ist eine Spionin des französischen Herrschers,« erwiderte er. »Lassen Sie sich warnen und vergessen Sie den Auftrag des Majors nicht. Ich werde Sie aufmerksam im Auge behalten.«
Ohne ein Wort noch hinzuzufügen, wandte sich der Fremde ab und schritt rasch, mit kaum hörbaren Schritten die Straße herab.
Einen Augenblick blieb Wilhelm noch überrascht stehen. Die Worte des Fremden hatten einen mächtigen Eindruck in ihm hervorgerufen. Dann stieg Unwillen in ihm auf. Wer war der Mann, der um Alles wußte, was er that, der wie eine unsichtbare Gestalt jedem seiner Schritte zu folgen schien? Er wollte ihm nacheilen, wollte ihn mit Gewalt zwingen, sein Gesicht zu zeigen und seinen Namen zu nennen – er hatte indeß seine Gestalt bereits aus den Augen verloren.
Erbittert stampfte er mit dem Fuße auf die Erde. Er erschien sich wie ein willenloses Werkzeug in anderer Hand und das wollte er nicht sein. Er ärgerte sich über des Fremden Worte, daß Claire eine Spionin des Kaisers sei – sie, das reizendste Wesen, welches er je gesehen. »Und wenn er mir auch jetzt wieder folgt,« sprach er unwillig, trotzig zu sich selbst, »ich werde dennoch zu ihr zurückkehren,« und schnell schritt er die Straße hinab und stand bald wieder dem Hause der Schauspielerin gegenüber. Er blickte zu den Fenstern auf, indeß aufgeregt wie er war, wollten seine früheren Träume nicht zurückkehren.
Da bemerkte er hinter den erhellten Fenstern die Schatten mehrerer Personen. In dem einen derselben glaubte er die Umrisse einer männlichen Gestalt zu erkennen. Eifersucht und Verdacht schärften seine Aufmerksamkeit und seinen Blick – er hatte sich nicht geirrt. Wie ein Stich fuhr diese Entdeckung durch sein Herz. Wer war der Mann, der bei dem Mädchen weilte, das er so leidenschaftlich, glühend liebte?
Hatte sie deshalb ihn gebeten, sie an diesem Tage nicht zu besuchen? Fürchtete sie, daß seine Gegenwart sie stören werde? Wollte sie diesen Besuch vor ihm verbergen? Fragen auf Fragen legte er sich selbst vor und auf keine einzige hatte er eine Antwort. Sie peinigten ihn, wie nur ein Verdacht ein eifersüchtiges Herz zu peinigen vermag. Wenn sie ihn täuschte, wenn sie nur ein eitles Spiel mit ihm trieb – Er eilte auf das Haus zu, wollte eintreten, die Treppe hinaufstürzen, mit Gewalt in das Zimmer treten, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, wer bei der Geliebten war. Zaudernd stand er vor der Hausthür still. Hatte er ein Recht dazu? Gehörte dies Mädchen ihm? Hatte sie ihm ihr Herz versprochen? Er glaubte es zu besitzen, aber er hatte keine Gewißheit darüber. Claire war ihm nicht verpflichtet, seine Eifersucht stand ohne jede Berechtigung da.
Mit erbitterten Gefühlen ging er heim, aber er fand keine Ruhe. Am folgenden Morgen ging er zu der Bourgoin – sie war nicht zu Haus. Er wiederholte diesen Besuch mehrmals an diesem Tage, immer mit demselben Erfolge und am Abend spielte sie. Selbst ihre Gesellschafterin traf er nicht. Wieder bestürmte ihn ein ganzes Heer wilder, zweifelnder Gedanken. Sollte sie seinem Besuche ausgewichen sein, sollte sie sich sogar zu Haus befunden und ihn nicht angenommen haben? In der liebenswürdigsten Weise hatte sie ihn bei seinem letzten Besuche entlassen und er war zu fremd in dieser Stadt, als daß ihn Jemand ihrem Herzen zu entfremden vermocht hätte. Aber ein anderer Mann konnte ihre Neigung gewonnen haben? Nein – es war nicht möglich! Zu rein stand sie vor seinen Augen da. Ihr Herz konnte nicht mit Neigungen spielen, sie konnte nicht an dem einen Tage wegwerfen, was sie am Tage zuvor werth gehalten – geliebt hatte.
Am folgenden Nachmittage traf er Claire endlich zu Haus. Sie kam ihm mit einem so unbefangenen, reizenden Lächeln entgegen, daß alle Vorwürfe gegen sie in dem Augenblicke schwanden. »Ich weiß, daß Sie mich mehrmals vergeblich besucht haben,« sprach sie lachend, »seien Sie mir deshalb nicht böse, ich kann und darf meinen kleinen Neigungen nicht nach Belieben folgen. Ich muß sogar vorsichtig sein, denn auch der Kaiser ist eifersüchtig.«
Wilhelm verstand diese Worte nicht. Er hatte auch nicht Zeit darüber nachzusinnen, denn Claire's reizende, durch eine prachtvolle Toilette noch gehobene Gestalt fesselte seine ganze Aufmerksamkeit.
»Einen kostbaren Spaß muß ich Ihnen noch erzählen,« rief sie in fast übermüthiger Heiterkeit. »Der Kaiser hat ihn mir selbst gleich gestern Abend mitgetheilt. Hören Sie. Ich habe auf Alexander, ich meine den russischen Kaiser, Eindruck gemacht, er liebt mich und hat gestern Abend während der Vorstellung Napoleon gefragt, ob es unschicklich sein würde, meine persönliche Bekanntschaft zu machen und mich zu besuchen. Haha! Napoleon hat diese Frage etwas überrascht, er hat einen solchen Nebenbuhler nicht gewünscht und hat sich wollen doch keine Blöße geben. Er hat eine prachtvolle List angewandt, um den Russen abzuschrecken. ›Unschicklich finde ich es durchaus nicht,‹ hat er erwiedert, ›nur wäre es ein sicheres Mittel, Sie in ganz Paris bekannt zu machen. Uebermorgen würden mit der Post die ausführlichsten Details Ihrer Besuche bei ihr nach Paris abgehen und bald würde in Paris kein Bildhauer zu finden sein, der Ihre Person nicht von Kopf bis zu den Füßen modelliren könnte!‹ Ist dies nicht eine gelungene List des Kaisers? Alexander hat jeden Wunsch, mich zu besuchen, unterdrückt. Haha! Der Kaiser hat selbst herzlich darüber gelacht, daß der Russe sich so leicht anführen läßt. Er hat nicht Lust, meinen Besitz zu theilen.«
»Ihren Besitz zu theilen?« wiederholte Wilhelm überrascht. Eine finstere Ahnung stieg in ihm auf. Hatte nicht schon Hers ihm gesagt, daß Napoleon die Bourgoin liebe, hatte nicht der Fremde dasselbe wiederholt – hatte sie es so eben nicht selbst ausgesprochen?
»Gewiß,« erwiderte die Schauspielerin. »Der Kaiser liebt mich! Ich bin seine kleine Claire, wie er mich nennt, ich allein genieße die Auszeichnung, daß er mich öfter besucht. O, er ist sehr vertraut mit mir und ich kann ihm Alles sagen! Sehen Sie, diesen kostbaren Brillantschmuck hat er mir heute Morgen übersandt! Haha! Ich werde ihn necken und seine Eifersucht erregen durch die Drohung, daß ich die Besuche des Russen annehmen werde!«
Sie hatte dies Alles mit der unbefangensten Miene gesprochen, sie schien nicht das geringste Unrecht darin zu finden, die Geliebte des Kaisers zu sein, aber Wilhelm hatten diese Worte so verwirrt, daß er nichts zu erwidern vermochte. Starr blickte er sie an. Ihr Lachen erschien ihm frivol, ihre Unbefangenheit war nichts weiter als die Gewöhnung an den Gedanken, daß sie die Geliebte eines Anderen sei. Und sie – sie, die er bis zu dieser Stunde für so engelrein gehalten – sie erzählte ihm dies Alles! Sie – deren Herz er gewonnen zu haben glaubte. Immer noch ruhte sein Blick auf ihr. Sie war an diesem Tage schöner, reizender, als er sie je zuvor gesehen. Ihn schwindelte. Gewaltsam mußte er sich zusammennehmen.
Die Schauspielerin wiederholte ihm ihre früheren Lobpreisungen des Kaisers und sprach aus, wie sie es unbegreiflich finde, daß er nicht auch von allen Deutschen geliebt werde. »Er hat die besten Absichten mit Ihrem Lande im Sinne,« fuhr sie fort. »Sobald er sich ganz Deutschland unterworfen und seine Macht in diesem Lande befestigt hat, wird er sich damit beschäftigen, ihm alle die Wohlthaten der Civilisation und Bildung angedeihen zu lassen, die Frankreich schon zum großen Theil genießt. So wird es kommen, und dann werden auch Sie zu seinen Bewunderern zählen!«
»Nie – Nie!« rief Wilhelm unwillkürlich und unüberlegt aus. Die Schauspielerin lächelte.
»Zweifeln Sie daran, daß er Deutschland in kürzester Zeit sich ganz unterworfen hat?«
»Dies wird nie geschehen!« entgegnete Wilhelm, jede Vorsicht vergessend. »Mein Vaterland ist bis jetzt unglücklich gewesen, aber es wird die Zeit kommen – – –« er stockte.
»Welche Zeit?« fragte Claire mit der unbefangensten Miene.
»Die Zeit, in der das Joch, welches auf einem großen Theile der deutschen Lande lastet, abgeworfen wird,« entgegnete Wilhelm unerschrocken. Es that ihm wohl, seinem durch die Eifersucht auf's Neue angeregten Hasse gegen Napoleon mit diesen Worten Luft zu schaffen.
»Und Sie wünschen dies?«
»Gewiß!« versicherte Wilhelm.
»Und Sie denken nicht allein so?«
»Jeder Deutsche wünscht, was ich ausgesprochen habe. Dieser Wunsch und Gedanke lebt in jeder deutschen Brust, wenn ihn jetzt auch nur Wenige auszusprechen wagen; kommt einst der rechte Augenblick, so wird er aus der Brust von Millionen zu gleicher Zeit erschallen!«
»So hat der Kaiser doch recht; so blickt er doch schärfer,« sprach Claire, indeß mehr für sich als für Wilhelm. »Und was nennen Sie den rechten Augenblick?« fuhr sie scheinbar ganz unbefangen fort.
Ihr scharf beobachtender Blick fiel Wilhelm auf und er zögerte deshalb mit der Antwort. Sie bemerkte es und rief mit der heitersten Miene: »Doch wohin kommen wir! Ich bin eine Dame, was gehen mich die politischen Verhältnisse, Stimmen und Wünsche an! Ich kenne den Kaiser und ich liebe ihn!«
Wilhelm war ruhiger und besonnener geworden. Er erkannte, daß er bereits zu viel gesagt hatte. Die Warnung des Fremden fiel ihm ein. Und doch konnte er sich nicht denken, daß es die Absicht der Schauspielerin gewesen sei, ihn auszuforschen. Ihr Gesicht erschien wieder so rein und sonnenklar, sie lachte so heiter. War es möglich, daß dies Alles nur eine Maske, eine Lüge war!
Zweifel und die Gefühle seines Herzens stritten in ihm und keine von ihnen erlangten die Oberhand. Er blieb bis zum Abend dort und schied dann um nichts beruhigter, obschon Claire ihm in freundlichster Weise beim Abschied die Hand gereicht hatte. Er hatte diese Hand einen Augenblick in der seinigen gehalten, hatte ihr Auge gesucht, um dort zu lesen, was er zu hoffen oder zu fürchten habe, sie hatte sie ihm lachend entzogen und war in's Zimmer zurückgeeilt.
»Sie könnte nicht so heiter sein, wenn sie Dich täuschen wollte,« suchte er sich zu beruhigen.
Er ging heim, weil das Treiben innerhalb der Stadt auf den Straßen ihn in seinen Gedanken und Betrachtungen störte. Ruhig wollte er Alles noch einmal in seine Erinnerung zurückrufen, wollte Alles auf's Genaueste abwägen, um sich Gewißheit zu verschaffen, ob Claire unschuldig sei, er wollte sich selbst über das täuschen, was er sich nicht verhehlen konnte, was sie selbst gestanden hatte, da wurde ihm ein Brief gebracht. Die Handschrift war ihm fremd. Hastig öffnete er ihn und las nur die wenigen Worte:
»Seien Sie vor der Bourgoin auf Ihrer Hut! –
Der Fremde.«Unwillig warf er den Brief zur Erde, Alles schien sich zu vereinen, um seine so fest genährten Hoffnungen zu vernichten. Er faßte den Entschluß, Claire nie wieder zu sehen, sie zu hassen, wie er Napoleon haßte, denn er war es, den sie liebte, und im nächsten Augenblicke sann er bereits wieder darüber nach, wann er sie besuchen wolle.
Aus dieser ganzen ungewissen Lage sollten ihn am folgenden Morgen wenige ganz unbefangen hingeworfene Worte seines Vaters hinreißen. Er besuchte denselben und ohne um das Geheimniß seines Sohnes zu wissen, sprach er arglos: »Es sind mehrere Studenten aus Jena hier. Kennst Du sie? Einer von ihnen hat mit der Bourgoin ein kleines Verhältniß angeknüpft und hat sehr unvorsichtige Aeußerungen bei ihr fallen lassen, die Polizei weiß bereits darum und hat ihn scharf im Auge. Durch Zufall habe ich dies erfahren. Die Aeußerungen können ihm vielleicht sehr theuer zu stehen kommen, man wird wenig Umstände mit ihm machen und ihn heimlich auf die Seite zu schaffen suchen, denn Napoleon haßt die deutschen Studenten. Er thut mir leid; die Bourgoin wird ihn absichtlich an sich gelockt haben, sie hat mit dem Kaiser ein Verhältniß und ist eine Spionin in seinem Interesse. Kennst Du den Studenten, so gieb ihm zu verstehen, daß er Erfurt so bald als möglich verlassen möge, aber sei vorsichtig, gehe hier nicht mit ihm um, damit nicht auch auf Dich Verdacht fällt, denn für die französische geheime Polizei reicht schon Verdacht hin – und aus den Kerkern in Frankreich ist schwer zu entkommen.«
Wilhelm war vor Schreck außer Stande, ein Wort hervorzubringen. Gewaltsam suchte er sich zu fassen. Sein Vater bemerkte es nicht, weil er sehr beschäftigt war. Ihm schwindelte und er suchte nach einem Vorwande, um sich so bald als möglich zu entfernen.
Also hatte der Fremde mit seiner wiederholten Warnung doch Recht gehabt. Er bebte vor innerer Erbitterung. Also sie – sie hatte ihn verrathen, sie war die Geliebte des Kaisers, ihre Unschuld war Schein, ihre Unbefangenheit, ihr Lächeln Maske! Und doch konnte er ihr schönes Bild nicht aus seinem Herzen reißen. Noch einmal wollte er zu ihr gehen, um ihr in bittern Worten ihre Treulosigkeit, ihre Heuchelei vorzuwerfen, um ihr zu sagen, wie sehr er den Kaiser hasse, und um – sie noch einmal zu sehen. Er gab diesen Entschluß wieder auf, weil er fühlte, daß er schwach sein werde, sobald er ihr wieder in's Auge schaue und sie sollte ihn nicht schwach sehen.
Die Gedanken an seine bedrohte Freiheit wurden immer dringender und ehe noch einige Stunden verflossen waren, hatte er Erfurt verlassen. Jetzt vermochte er sich nicht mehr zu verhehlen, wie schlecht er Hers' Vorhaben unterstützt, er konnte sich nicht von Vorwürfen frei sprechen, er wollte deshalb zum wenigsten gut machen, so viel noch gut zu machen war. Offen wollte er des Majors Vorhaben beitreten, der Tod des Tyrannen sollte von nun an sein Losungswort sein.
Er erreichte den nur wenige Stunden von Erfurt entfernten Ort, in welchem der Major Hers und sein Gefährte sich verborgen hielten. Nicht ohne Zagen trat er bei Hers ein. Auch dessen Begleiter fand er dort. Hers war erstaunt, ihn zu erblicken, er stand auf und reichte ihm schweigend die Hand. Kein Vorwurf kam über seine Lippen.
»Ich bin besorgt um Dich gewesen, aber ich hatte geglaubt, Du würdest vorsichtiger sein.« Dies war Alles, was er sagte.
Wilhelm errieth aus diesen Worten und aus seinem Blicke, daß er Alles wußte. Ein beschämendes Gefühl überkam ihn. »Ich hatte nicht geglaubt, daß sie – die Bourgoin so falsch sein könne! Sie ist so schön!« erwiderte er. »Sie nahm mich so zuvorkommend auf!«
»Weshalb haben Sie die Warnung, daß Napoleon um den Anschlag wisse, uns nicht mitgetheilt?« fragte des Majors Gefährte, der Lieutenant von Goette, finster.
»Laß das,« unterbrach ihn Hers. »Die Schauspielerin hat ihre Netze um ihn gezogen, sie soll schön sein und er ist jung. Ich nehme einen Theil seiner Schuld auf mich, denn dies Alles hätte ich vorher mehr bedenken sollen.«
Wilhelm erzählte offen, wie Alles gekommen war, und fügte hinzu, daß er sich jetzt auf Tod oder Leben mit ihnen verbinden wolle, um dem Tyrannen den Untergang zu bereiten. »Ich hasse ihn mehr als zuvor,« rief er. »Meine Freiheit und mein Leben will ich daran setzen, er soll sterben, und viel würde ich darum geben, könnte es durch meine Hand geschehen!«
»Wir werden unser Vorhaben allein ausführen!« warf der Lieutenant finster ein. »Bis jetzt haben Sie uns nur geschadet!«
»Ich werde es wieder gut machen!« rief Wilhelm.
»Nein,« sprach Hers, »es geht nicht, auch ich muß Dein Anerbieten ablehnen. Ich mißtraue Deinem Willen nicht, aber zu unserm Vorhaben gehört die Ruhe und Besonnenheit eines Mannes. Du könntest in dem rechten Augenblicke vielleicht Alles verderben. Hast Du schon dem Tode nahe, ganz nahe in's Auge geblickt, hast Du schon eine Waffe auf das Leben eines Menschen gerichtet? Du würdest zittern in dem Augenblicke, Deine Hand würde unsicher sein, und sowohl Du, wie unser ganzer Anschlag würde verloren sein. Sieh, wenn ich dem Tyrannen gegenüberstehe, wenn ich den Lauf der Büchse einmal auf seine Brust gerichtet habe, dann weiß ich, daß meine Hand nicht zittert, daß mein Auge nicht zuckt, und wären fünfzig Läufe auf mich gerichtet – ruhig würde ich losdrücken. Du darfst auch nicht bei uns bleiben. Durch Deine unbesonnenen Aeußerungen bei der Schauspielerin hast Du den Verdacht der Polizei auf Dich gelenkt, sie wird Dich nicht aus den Augen verlieren und sie darf nicht erfahren, daß Du uns kennst. Aber in anderer Weise kannst Du uns nützen, wenn Du jetzt nach Jena zurückkehrst. Dorthin lenke die Aufmerksamkeit der Polizei, aber Deines eigenen Wohles wegen hüte Dich, ihr noch eine weitere Ursache zum Verdacht zu geben.«
Wilhelm versprach es. »Wer ist der geheimnißvolle Fremde, der mich mehrere Male in Erfurt gewarnt hat?« fragt er noch. »Ich begreife nicht, woher er die Kenntniß von jedem meiner Schritte, selbst von jedem Worte, welches ich gesprochen, gehabt hat.«
Hers lächelte. »Ich darf Dir seinen Namen nicht nennen. Es geschieht nicht aus Mißtrauen gegen Dich, sondern weil ich mein Wort gegeben habe. Dies Eine kann ich Dir indeß sagen: Es ist ein Agent der geheimen französischen Polizei!«
»Der französischen Polizei?« wiederholte Wilhelm überrascht. – »Er steht in ihrem Dienste,« entgegnete Hers, »er hat indeß genug Ursache gehabt, sowohl die Polizei wie Napoleon zu hassen und er haßt sie vielleicht mehr als wir alle. Nur um uns zu dienen, ist er in ihren Diensten geblieben und von der Polizei weiß er Alles. Du siehst, wie genau dieselbe von Allem unterrichtet ist. Von der Bourgoin hat die Polizei Deine Aeußerungen erfahren. Ein zufälliger Umstand hat uns diesen Mann zugeführt – er leistet uns große Dienste.«
Wilhelm kehrte nach Jena zurück und hatte bald Gelegenheit, sich zu überzeugen, wie richtig die Vermuthungen des Majors waren. Er wollte die Schauspielerin hassen und verachten, er wollte sie sogar vergessen, aber immer und immer trat ihr reizendes Bild vor seine Augen und dann vergaß er, daß sie die Geliebte und Spionin des Kaisers war, daß sie ihn nur als Werkzeug benutzt hatte und vielleicht ohne Erbarmen aufgeopfert haben würde. Es war ihm das Liebste, wenn er sich in Träumen einer Zukunft, die jetzt freilich für ihn unerreichbar war, hingeben konnte, und er mied deshalb die Gesellschaften seiner Freunde. Trotzdem entging es ihm nicht, daß zwei ihm fremde Männer jedem seiner Schritte folgten und ihn nicht eine Minute lang aus den Augen zu verlieren schienen. Er errieth leicht, daß es französische Polizeiagenten waren, und war deshalb äußerst vorsichtig mit seinen Aeußerungen, er wußte, daß ein unbedachtes Wort ihn in's Unglück stürzen konnte.
Ohne sein Zuthun leistete er hierdurch Hers und dessen Gefährten einen größeren Dienst, als er in Erfurt durch die eifrigsten Bemühungen vermocht hätte. Sie erfuhren durch den Fremden, daß die Polizei vorzugsweise ihren Blick auf Jena und die Studenten gerichtet habe, von deren jugendlichem Blute am leichtesten ein kühner Anschlag auf des Kaisers Leben zu erwarten war.
In Erfurt nahm der Congreß seinen ungehinderten Fortgang. Napoleon bot Alles auf, um seinen Gast, den Kaiser Alexander, auf das Angenehmste zu unterhalten und zu zerstreuen. Er erwies ihm eine Aufmerksamkeit, welche selbst seine nächste Umgebung, die mit seinem Wesen vertraut war, in Erstaunen setzte, und manche Erzählungen der ausgesuchtesten Artigkeiten liefen in der Stadt um.
Der Czar bemerkte eines Tages, als er in den Speisesaal treten wollte, daß er seinen Degen vergessen habe. Napoleon machte sogleich seinen eigenen los und bot ihm denselben mit zuvorkommender Artigkeit an. »Ich nehme ihn als ein Zeichen Ihrer Freundschaft an,« sprach Alexander, »Euer Majestät mögen versichert sein, daß ich ihn nie gegen Sie ziehen werde!« Napoleon verbeugte sich und ergriff seine Hand, um sie warm zu drücken.
Um so rücksichtsloser benahm sich der französische Herrscher gegen die anwesenden deutschen Fürsten. Er sah sie als sein Gefolge an und suchte sie zu demüthigen und zu kränken dadurch, daß er seine Generäle mit größerer Aufmerksamkeit behandelte als sie.
Den Herzog von Weimar hatte er aufgefordert, ihm ein Treibjagen zu geben, da er gute Jagden besitze, und als der Herzog um die Bestimmung des Tages gebeten, hatte er kurz geantwortet: »Ich muß mir erst meine Gewehre von Paris kommen lassen; Duroc wird Ihnen anzeigen, wann sie eingetroffen sind.«
In Weimar wurden nun die großartigsten Vorbereitungen zur Jagd, zum darauf folgenden Diner daselbst, zu Concert, Theater und Ball getroffen. Napoleon bestimmte, daß seine französischen Schauspieler in Weimar spielen sollten und schickte eine Brigade französischer Gensdarmen und zahllose geheime Polizeiagenten und Spione dorthin, um für seine Sicherheit Sorge zu tragen.
Der Herzog hatte in umfassendster Weise auf die Neigungen und den Widerwillen des stolzen Herrschers gegen einzelne Personen Rücksicht genommen, denn er war in Weimar sein Gast; um so mehr überraschte es ihn, als ihm Napoleon eine vollständige namentliche Liste für die Ceremonientafel und eine Zeichnung des Eßtisches zustellte, auf der die Form der Tafel, – halbrund und nur auf der äußeren Seite des Bogens besetzt – und die Namen sämmtlicher Eingeladenen bezeichnet waren. Zugleich war die Bemerkung hinzugefügt, daß der Herzog die bezeichneten Personen einzuladen habe.
Durch diese grenzenlose Arroganz und Beiseitesetzung jeder Artigkeit gegen ihn als Wirth mußte sich der Herzog auf das Tiefste verletzt fühlen. Außerdem war die Herzogin von Würtemberg, eine Verwandte des Kaisers Alexander, welche zum Besuche seiner Gemahlin im Schlosse zu Weimar wohnte, wie auch der Herzog von Oldenburg, welcher dem russischen Herrscher noch näher verwandt war, nicht unter die Zahl der Einzuladenden aufgenommen. Eine absichtliche Kränkung lag zu deutlich hierin ausgesprochen. Sowohl die Herzogin von Würtemberg wie der Herzog von Oldenburg waren Gäste am Hofe zu Weimar und der Herzog durfte sie nicht in so auffallender Weise zurücksetzen lassen.
Durch Duroc ließ er Napoleon dies vorstellen. Dieser wies unwillig dem Herzog von Oldenburg einen Platz auf dem linken Flügel der Tafel an, die Einladung der Herzogin von Würtemberg wies er entschieden zurück, weil sie nicht den Rang besitze, um an der Tafel mitspeisen zu können. Alle Vorstellungen hiergegen blieben fruchtlos, er beharrte auf seinem eigensinnigen Willen und die Herzogin mußte sich für mehrere Tage krank melden lassen, um die Zurücksetzung vor den Augen der Welt zu verbergen.
Des Kaisers Gewehre waren von Paris angelangt. Die Tage für die Festlichkeiten in Weimar wurden bestimmt. Die Gensdarmen und die Polizei waren in größter Thätigkeit und Aufregung, denn Tausende von Fremden strömten herbei, um die versammelten Herrscher zu sehen und den Mann zu schauen, vor dem halb Europa erzitterte.
Napoleon selbst befand sich in einer aufgeregten Stimmung. Jede Stunde liefen Berichte der Polizei aus der Umgegend und aus Weimar ein, daß nicht das geringste Zeichen bemerkt werde, er selbst schien aber den Gedanken, daß ein Anschlag auf sein Leben gerichtet werde, fest gefaßt zu haben. Hätte er nicht befürchtet, sich eine Blöße zu geben, so würde er von dem Besuche in Weimar abgestanden haben.
Am 6. Oktober gegen Mittag wollte er mit seinem glänzenden Hofstaate von Erfurt aufbrechen. Die französischen Schauspieler, unter ihnen die Bourgoin, waren schon am Tage zuvor in Weimar angelangt. Angestrengt von der Reise und den mannigfachen Aufregungen war Claire erst spät zur Ruhe gekommen. Sie schlief am folgenden Morgen länger als ihre Gewohnheit war. Schon früh war ein versiegeltes Billet für sie abgegeben und ihre Gesellschafterin hatte es neben ihrem Bette niedergelegt, um sie nicht im Schlafe zu stören. Arglos öffnete sie es, als sie erwachte, erschreckt fuhr sie empor. Es enthielt nur die wenigen Worte:
»Heute wird ein Anschlag auf Napoleon's Leben ausgeführt werden.«
Ihr Auge blickte starr auf die Schriftzüge – sie kannte sie nicht. Sie zitterte, dann raffte sie sich gewaltsam zusammen, denn sie durfte keinen Augenblick Zeit verlieren, wenn sie den Kaiser retten wollte. Was sollte sie beginnen? Sie dachte daran, der Polizei den Zettel zu übergeben – es ging nicht, denn dadurch konnte eine Verzögerung entstehen, welche den Kaiser vielleicht schon das Leben kostete.
Schnell hatte sie einen andern Entschluß gefaßt. Sie sprang auf, warf einige wenige Worte auf ein Papier, schloß den Zettel ein, versiegelte beides und klingelte heftig. –
Schon fünf Minuten später jagte ein Reiter aus Weimars Thor auf der Straße nach Erfurt zu. Er schien die große Bedeutung seines Auftrages zu kennen, denn schonungslos stieß er dem Pferde die Sporen in die Seite, um es zu immer größerer Eile anzutreiben. Er erreichte Erfurt und den Kaiser, als dieser eben im Begriff war, in den Wagen einzusteigen, der ihn nach Weimar führen sollte. Fürsten und Generäle umstanden ihn. Ein französischer General sollte nach seiner Bestimmung neben ihm sitzen. Da wurde ihm Claire's Brief überreicht. Unwillig über diese Verzögerung erbrach er ihn, er glaubte, daß er irgend eine Klage enthalten werde. Kaum hatte er indeß einen Blick hineingeworfen, als er bestürzt einen Schritt zurücktrat. Seine farblosen Wangen wurden noch bleicher. Bestürzt, rathlos blickte er sich im Kreise um. Schon wollte er aussprechen, daß er nicht nach Weimar fahren werde, da zuckte ein Gedanke durch sein Inneres hin.
Mit hastigen Worten forderte er den Prinzen Wilhelm von Preußen auf, ihn zu begleiten und an seiner Seite im Wagen Platz zu nehmen. Zu Duroc, welcher hinter ihm stand, sprach er einige leise Worte und gab ihm Claire's Brief, dann stieg er rasch in den Wagen, der Prinz nahm neben ihm Platz und schnell rollte der Wagen durch die Stadt, zum Thore hinaus. –
Ziemlich um dieselbe Zeit, vielleicht etwas später, befanden sich in einem kleinen Gehölz bei Weimar, dem sogenannten Webicht, drei Männer. Zwei von ihnen waren in lange Mäntel gehüllt und aus den Sporen an ihren Füßen errieth man, daß es Reiter waren. In der Nähe standen in der That zwei an einem Baume befestigte Pferde. Wir kennen beide Männer. Es war der Major Hers und sein Gefährte, der Lieutenant von Goette. Der dritte, einfach gekleidete Mann jener Fremde, der Wilhelm in Erfurt so räthselhaft erschienen war.
Auf den Gesichtern aller drei Männern lag Ernst und Erwartung ausgeprägt. Sie schwiegen. Der Fremde blickte nach seiner Uhr und sprach dann: »Jetzt muß er schon seit fast einer Stunde von Erfurt abgefahren sein.«
»Und Ihr wißt genau, daß er hier am Webicht vorüberkommt?« fragte Hers.
»Ich weiß es genau.«
»Im offnen Wagen?« fragte Hers weiter.
»Im offnen. Er ist hinten zurückgeschlagen,« antwortete der Fremde. »Das Wetter ist heiter – er wird ihn nicht mit einem geschlossenen vertauschen,« und er richtete den Blick forschend gegen den Himmel, der weit und blau war.
»Und einer seiner Generäle sitzt neben ihm?« warf der Lieutenant ein.
»So hat er es bestimmt. Werden Sie auch den Kaiser nicht fehlen und den falschen treffen?«
»Sie sollen beide sterben,« erwiderte der Lieutenant dumpf. »Wir fehlen nicht. Seht diese beiden Musketons – sie sollen berichten So die Vorlage. Druckfehler statt »vernichten« oder »verrichten«? [ Anm.d.Hrsg.], wer im Wagen sitzt!«
»Schieß Du zuerst,« warf Hers ein. »Meine Hand ist sicherer. Ist der erste Schuß gefallen, so werden die Pferde stutzen, Schreck und Verwirrung werden entstehen und diesen Augenblick werde ich zum zweiten Schusse benutzen. Meine Hand soll nicht zittern, denn von dieser Minute hängt das Schicksal Deutschlands ab.«
Der Lieutenant erklärte sich damit einverstanden.
»Wenn aber Napoleon seine Bestimmung ändert und ein Anderer an seiner Seite sitzt?« warf der Fremde ein.
»Er fällt mit ihm,« rief der Lieutenant.
»Ja, er muß mit sterben,« fügte Hers hinzu. »Es geht nicht anders – mir thut dies Opfer leid – es muß sein!«
Noch einige Verabredungen trafen die Männer mit einander, dann verließ der Fremde heimlich, vorsichtig das Gehölz.
Der Weg, auf welchem der Kaiser kommen sollte, führte ziemlich nahe am Gehölz vorbei. In ihm harrten Hers und Goette in gespannter Erwartung. Mehrere Male hatten sie die Musketons untersucht, sie waren in bester Ordnung.
Hers hatte unter dem Mantel noch eine Pistole verborgen, der Lieutenant einen Degen.
Endlich verkündete ferner Hurrahruf, daß des Kaisers Wagen nahe. Am Rande des Gehölzes bemerkten sie ihn rasch daherrollen. Schnell sprangen sie, die Musketons unter den Mänteln geborgen, auf die Pferde und ritten langsam vor das Gehölz. Der den Wagen umgebende Staub hinderte sie, den zu erkennen, der an des Kaisers Seite in dem offnen Wagen saß.
Der Wagen nahte. Kaum fünfzig Schritte war er noch entfernt. Hers war vom Pferde gestiegen, um sicherer schießen zu können. Der Lieutenant schlug den Mantel bei Seite.
Schon hatte er das Musketon auf den Kaiser gerichtet, da führte ein Windstoß den Staub fort und Hers erkannte des Kaisers Begleiter.
»Schieß nicht – schieß nicht!« rief er seinem Gefährten zu, »der Prinz Wilhelm sitzt neben ihm!«
»Er stirbt mit ihm!« erwiderte der Lieutenant finster und hatte schon den Finger an den Drücker gelegt.
Hers sprang schnell hinzu und rief, das Musketon zurückschlagend: »Schieß nicht! Um Gottes willen nicht – es ist unser Fürst!«
Dies war nur das Werk eines Augenblicks gewesen, aber schon hatten mehrere hinter dem Wagen reitende Gensdarmen das erhobene Musketon bemerkt. Auch der Kaiser hatte es erblickt und sich bleich im Wagen zurückgebogen.
Die Gensdarmen sprengten auf das Gehölz zu – an eine Ausführung des Anschlages war nicht mehr zu denken.
Gewandt schwang Hers sich auf sein Pferd und er wie sein Gefährte sprengten in das Gehölz zurück. Der Kaiser fuhr schnell vorüber und langte wenige Minuten später ungefährdet in Weimar an. Er war verstimmt – erbittert, ohne zu verrathen, weshalb. Aus Hochmuth hatte er befohlen, daß an dem Abend dieses Tages in Weimar » La mort de César« Tragödie von Voltaire (1735). [ Anm.d.Hrsg.] gegeben werden sollte. Seit seiner Erhebung war dies Stück in Frankreich verboten. In Deutschland hielt Napoleon solche Rücksicht nicht für nöthig und als einer seiner Generäle seine Verwunderung deshalb gegen ihn aussprach, erwiderte er: »Die Deutschen sind zufrieden, wenn sie ihre Kohlernte im Keller haben!«
Jetzt fühlte er, daß es auch in Deutschland Männer gab, welche vor einer entschlossenen That nicht zurückbebten. La mort de César – dies Stück erschien ihm seit diesem Tage bedeutungsvoll für sein eignes Geschick und er hat es nie wieder gesehen. Vergebens war das Gehölz von den Gensdarmen durchsucht, vergebens hatten sie die ganze Gegend durchforscht.
Hers und Goette waren auf schnellen Pferden glücklich entkommen. Vergebens stellte die geheime Polizei in Jena die eifrigsten Nachforschungen an – sie kam nicht auf die richtige Spur, aber ihre Vorsicht und Thätigkeit wurden von diesem Tage an verdoppelt. –
Dieser Anschlag auf Napoleon's Leben war mißglückt, er läßt sich vielleicht auch mißbilligen, aber er bleibt bedeutungsvoll für den Geist, der sich schon damals in Deutschland regte, er ist gewissermaßen ein Vorläufer jener Unternehmungen von Katte, Dörenberg und Schill, ein Vorläufer von jenem Geiste, der 1813 ganz Deutschland durchzuckte: jenem Geiste des Hasses gegen das französische Joch, mit dem der Wunsch verbunden war, das deutsche Vaterland zu befreien um jeden Preis.
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