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Schlaue Leute.

Erzählung.


I.

Der Commerzienrath Solger kränkelte bereits seit längerer Zeit. Er befand sich in einem Alter, in welchem jedes Unwohlsein einen schlimmen Ausgang nehmen kann, weil der Körper nur noch wenige Kräfte zu opfern und der Krankheit entgegenzusetzen hat. Solger zählte zwei und siebenzig Jahre. Er war ohnehin nie recht kräftig gewesen, und die Folgen einer wüst verlebten Jugend hatten sich schon sehr frühzeitig bei ihm eingestellt.

Dieses Mal schien sein Unwohlsein indeß von ernsterer Bedeutung zu sein. Seine bereits schwachen Kräfte nahmen in auffallender Weise ab und er selbst schien sich bewußt zu sein, daß das Ende seines Lebens nicht mehr fern war.

Mit mehr Spannung als Besorgniß sahen Diejenigen, welche ihn umgaben, diesem Zeitpunkte entgegen. Er besaß keine Familie, war nie verheirathet gewesen und durch ein launenhaftes, eigensinniges und schroffes Wesen, welches von Jahr zu Jahr sich mehr geltend gemacht hatte, hatte er sich wenig Freunde erworben. Man ertrug seine Laune und seinen Eigensinn, weil er sehr reich war, übrigens war er seit Jahren nur mit wenigen Menschen in Berührung gekommen. Nähere Verwandte besaß er nicht.

Zu Denjenigen, welche ihm näher standen und fast täglich mit ihm verkehrten, gehörte der Pastor Ahl. Solger war nämlich, nachdem er früher sehr ausschweifend gelebt und sogar zu den Spöttern der Religion gehört hatte, seit einigen Jahren sehr fromm geworden. Diejenigen, welche ihn kannten, hielten diese Wandlung mehr für eine Laune als eine Wirkung seiner Ueberzeugung. Viele in der Stadt sprachen es offen aus, daß diese Frömmigkeit nur Heuchelei sei, um dadurch einen Schleier über sein früheres Leben zu werfen.

Der Commerzienrath befand sich allein in seinem Zimmer. Er war eine mittelgroße, durch Alter und Krankheit zusammengeschrumpfte Gestalt, welche in dem großen Lehnstuhle und zwischen den Decken, mit denen er sich umhüllt hatte, fast verschwand. Die Züge seines Gesichtes machten einen schmerzlichen, leidenden Eindruck, zugleich sprach Mißmuth und Unwillen mit der ganzen Welt aus ihnen, weil diese nicht mehr im Stande war, ihm Freuden zu gewähren.

Durch seinen Reichthum hatte er sich die Erfüllung fast eines jeden Wunsches ermöglicht, er hatte früher fast jedes Hinderniß, welches sich ihm entgegenstellte, mit Geld bezwungen, jetzt hatte die Macht seines Reichthums ihre Grenze erreicht, denn die Gesundheit konnte er sich durch denselben nicht, erkaufen, er war nicht einmal im Stande, mit all' seinem Gelde die schwindenden Kräfte aufzuhalten.

Das Zimmer, in dem er sich befand, zeigte den ganzen Luxus, welchen sein großes Vermögen ihm gestattete. Die schweren seidenen Fenstervorhänge dämpften das Licht, welches in das Zimmer fiel, ein prachtvoller Teppich bedeckte den ganzen Boden und machte jeden Schritt unhörbar, die Möbel waren prachtvoll und zugleich für die größte Bequemlichkeit berechnet.

Der Lehnstuhl, in dem er saß, war so gestellt, daß der volle, warme Strahl der Frühlingssonne auf ihn fiel, sein Blick glitt durch das geöffnete Fenster in einen großen, sauber angelegten Garten, frisches Grün strahlte ihm entgegen, Blüthenduft drang zu ihm, und der lustige, lebensfrische Gesang zahlreicher Vögel tönte ihm in's Ohr.

Dies Alles war indeß nicht im Stande, ihm die geringste Theilnahme abzugewinnen, es schien ihn im Gegentheil noch mürrischer zu machen, denn dies lustige, frische Leben da draußen erinnerte ihn nur daran, daß für ihn die Zeit der Lust längst vorüber war.

Ein Diener trat ein und meldete den Pastor Ahl.

Solger nickte nur mit dem Kopfe und gleich darauf trat die lange, hagere Gestalt des Predigers leise, trotz des Teppichs noch vorsichtig auf den Fußspitzen gehend, in das Zimmer. Der Commerzienrath nickte ihm einen schweigenden Gruß zu und deutete mit der matten Hand einladend auf einen ihm gegenüberstehenden Sessel.

»Ich komme nur, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen,« sprach Ahl, nachdem er sich niedergelassen hatte, mit leiser, halb flüsternder Stimme. »Ihr Aussehn läßt mich hoffen, daß sich dasselbe gebessert hat!«

Der Kranke schüttelte fast unwillig mit dem Kopfe.

»Ich fühle meine Kräfte mit jedem Tage mehr schwinden,« entgegnete er.

»Vertrauen sie auf den Herrn, unsern Heiland, derselbe wird Ihnen die Kräfte zurückgeben,« fuhr der Prediger mit pathetischer Stimme, die ihm zur Gewohnheit geworden zu sein schien, fort. »Er wird Sie zum wenigsten mit der Kraft des Glaubens und des Geistes segnen, welche alle Schwäche des Körpers überwindet.«

»Der Tod allein wird diese Schwäche überwinden,« bemerkte Solger.

»Der Tod ist für den Gläubigen nur eine Erlösung. Er ist eine Wohlthat für alle Diejenigen, welche gut gerüstet sind, um in das Jenseit zu treten und welche auch ihre Erdensorgen gut geordnet zurücklassen.«

»Ich weiß, Herr Pastor, worauf sie hinzielen,« unterbrach ihn der Kranke, sich in dem Sessel emporrichtend. »Ich habe gestern mein Testament gemacht.«

Die lange Gestalt des Pastors zuckte sichtbar zusammen, seine schlaffen Gesichtszüge, welche vorhin eine fast apathische Geduld gezeigt hatten, belebten sich, sein Blick wurde ein scharfer, lauernder. Er schien die Aufregung, in welche er durch die Worte des Kranken versetzt war, verbergen zu wollen, allein es gelang ihm nicht. Jetzt sollte er erfahren, ob er das Ziel seiner jahrelangen Bestrebungen erreicht hatte oder nicht.

»Und welche – welche Bestimmungen haben Sie in demselben getroffen?« fragte er zögernd.

Des Commerzienraths Auge ruhte forschend auf ihm. Er zögerte mit der Antwort. Es schien ihm Freude zu gewähren, den frommen Mann noch länger in dieser peinigenden Spannung zu erhalten. Wie dessen Auge ungeduldig leuchtete! Welchen Zwang er sich anlegte, seine Ungeduld äußerlich zu verbergen!

»Ich bin Ihrem Wunsche nachgekommen,« sprach Solger endlich, »ich habe die eine Hälfte meines Vermögens Ihrer Kirche und die andere der Missionsanstalt, an deren Spitze Sie stehen, vermacht!«

Das Auge des Pastors flammte freudig auf.

»Herr Commerzienrath, Sie haben sich eine sichere Stufe im Himmel dadurch erbaut!« rief er ziemlich laut. »Sie haben sich für die Nachwelt ein zwiefaches Denkmal dadurch errichtet, welches dauernder denn Erz ist. Noch nach langen Jahren wird man Ihren Namen in ehrender Weise nennen, und die frommen Lehrer, welche aus unserer Anstalt hervorgehen, werden den Segen Ihres Werkes selbst in fremde Welttheile hineintragen.

Um den Mund des Kranken zuckte ein fast spöttisches Lächeln.

»Und auf der anderen Seite werde ich mir die Verwünschungen aller derjenigen zuziehen, welche mit mir verwandt sind und welche gehofft haben, daß ich auch ihrer in meinem Testament gedenken werde!« warf er ein.

»Lassen Sie sich durch die Worte thörichter und selbstsüchtiger Menschen nicht beirren, wenn der Herr Sie in seinen Schutz genommen hat!« rief Ahl. »Und Sie werden durch das eine Werk zu der Zahl derjenigen gehören, welche er sich auserwählt hat und die ihn umgeben in seinem himmlischen Glanze!«

»Ich kann dennoch den Gedanken nicht unterdrücken,« fuhr Solger fort, »daß ich meinen Verwandten durch mein Testament Unrecht gethan habe. Durch das verwandte Blut, welches in ihren Adern fließt, haben sie ein Anrecht auf mein Vermögen und die meisten von ihnen leben in dürftigen Verhältnissen.«

»Sie thun kein Unrecht daran,« unterbrach ihn der Prediger. »Scheuchen Sie diesen Gedanken von sich. Doch eine Frage gestatten Sie mir noch: in welcher Weise haben Sie das Testament aufgesetzt?«

Wieder zuckte über das Gesicht des Kranken ein spöttisches Lächeln hin.

»Beruhigen Sie sich,« sprach er. »Das Testament hat volle Giltigkeit, denn ich habe es durch einen Notar aufnehmen lassen und es ist bereits auf dem Gerichte deponirt. Ich habe meine Verfügungen stets so getroffen, daß Niemand im Stande gewesen ist, an denselben zu rütteln!«

»Das ist ein Beweis für Ihre große Klugheit und Vorsicht,« warf Ahl ein.

»Erinnern Sie mich nicht an die Klugheit;« fuhr der Kranke fort, »denn diese räth mir, meine Verwandten nicht gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Sie werden mit meinem Andenken schlimm umspringen, wenn sie nach meinem Tode erfahren, daß sie nichts erben.«

»Sie tragen dafür den ewigen Frieden der Seele davon,« bemerkte der Pastor mit Salbung.

»Man kann diesen Frieden also erkaufen, mit Geld erringen,« sprach Solger mit bitterem Lächeln. »Dann bedauere ich die Armen, die wenig dafür einzusetzen haben.«

Eine leise, flüchtige Röthe zog über das Gesicht des frommen Pfarrers hin. Er mochte fühlen, daß er dem Kranken einen zu tiefen Einblick in sein Inneres gestattet hatte.

»Sie deuten meine Worte falsch;« erwiderte er, indem sein Auge sich senkte. »Der Frieden der Seele läßt sich nicht erkaufen, sondern nur erringen. Nicht die Höhe der Gaben, mit welcher Sie die Kirche und die Missionsanstalt bedacht haben, wiegt so schwer, sondern die fromme Gesinnung, aus welcher diese Gabe hervorgegangen ist. Wie Doctor Martinus Luther sagt, nicht die guten Werke, sondern der Glaube allein erringt die Seligkeit, allein dieser Glaube bedarf auch einer sichtbaren Bethätigung …«

»Lassen Sie – lassen Sie!« wehrte der Commerzienrath mit der Hand ab. »Ich hätte meinen Glauben auch mit einer viel geringeren Summe, auch mit dem zwanzigsten Theile meines Vermögens bethätigen können! Ich befürchte indeß, Sie würden mir von meiner Seligkeit dann eben so viel in Abzug gebracht haben. Lassen wir dies ruhen!«

Ahl erhob sich und verließ den Kranken, indem er vorschützte, Amtsgeschäfte gestatteten ihm nicht, länger zu bleiben. Er mochte einsehen, daß der Commerzienrath an diesem Tage nicht in bester Stimmung war und er hatte nicht Lust, sich mit ihm in ein eingehendes religiöses Gespräch einzulassen. Hatte er doch den Zweck seiner jahrelangen Bemühungen erreicht: das große Vermögen des alten Mannes fiel der Kirche und der Missionsanstalt, an deren Spitze er stand, zu, mehr brauchte er nicht. Die Freude hierüber prägte sich offen auf seinem Gesichte aus, als er über die Straße hinschritt, um zu seiner Wohnung zurückzukehren. Er gab sich auch der Hoffnung hin, daß Solger ihn selbst in dem Testamente bedacht haben werde, denn manche Stunde hatte er an dem Lager des Kranken gesessen, um ihm die Zeit zu vertreiben und ihn in der Geduld zu üben.

 

Solger blieb, als er wieder allein war, noch eine Zeit lang ruhig und in Gedanken versunken in; dem Sessel sitzen. Er dachte über die Worte des frommen Mannes, daß er sich durch dies Vermächtniß eine höhere Stufe in den Himmel errichte, nach. Er hatte seine eigenen Begriffe über den Glauben und die Unsterblichkeit, jedenfalls war er zu klug, um sich einzubilden, daß sich der Frieden der Seele in dem Jenseit, wenn es überhaupt ein solches gab, durch eine solche That erringen lasse. Nicht deshalb hatte er sein Testament in der Weise abgefaßt.

Unwillkürlich kehrten seine Gedanken in sein früheres Leben zurück. Es war ein tolles, lustiges Leben gewesen als er noch in voller Jugendkraft gestanden hatte. Von seinem Vater hatte er ein kleines Vermögen ererbt, von Jahr zu Jahr war dasselbe angewachsen, da ihm das Glück getreulich zur Seite gestanden. Nur über einige Erinnerungen aus früherer Zeit suchte er stets schnell hinweg zu kommen, sobald sein Gedächtniß darauf hinwies.

Zu ihnen gehörte die Erinnerung an seine einzige Schwester. Sie war fast zwanzig Jahre jünger gewesen als er. Unter seiner Obhut war sie herangewachsen, da er seine Eltern wenige Jahre nach der Geburt seiner Schwester verloren hatte. Mit Liebe hatte er an ihr gehangen. Er war stolz gewesen auf sie, als sie zu einem schönen Mädchen herangewachsen war. Große Pläne hatte er für sie entworfen. Nur der reichste und angesehenste Mann war ihm würdig erschienen, um ihre Hand zu werben. War auch ihr Vermögen nicht groß, so glaubte er doch, daß sie durch ihre Schönheit große Ansprüche machen könne. Da sie unter seiner Obhut herangewachsen war, glaubte er die Rechte eines Vaters sich über sie anmaßen zu können und über ihre Zukunft allein zu bestimmen.

Dennoch sollte es anders kommen. Ein junger Maler gewann des Mädchens Herz. Solger suchte diese Liebe zu unterdrücken, sobald er Kenntniß von derselben erhielt. Er wies den Maler aus dem Hause, er haßte ihn, weil er ohne Vermögen, ohne Stellung es gewagt hatte, nach der Hand seiner Schwester zu streben. Er glaubte die ganze Liebe damit abgethan, allein er hatte sich darin verrechnet. Die jungen Leute sahen sich heimlich, ihre Liebe wurde durch das ihnen entgegen gesetzte Hinderniß nur noch gekräftigt.

Er verbot seiner Schwester, mit dem Manne wieder zusammen zu kommen, er sagte ihr, daß er eine Verbindung mit demselben nie zugeben werde – da war das junge, leicht erregbare Mädchen eines Tages verschwunden – sie war mit dem Geliebten entflohen.

Erzürnt über diesen selbstständigen Schritt war er anfangs entschlossen gewesen, Alles aufzubieten, um sie wieder zurück zu holen, allein er hatte diesen Entschluß bald aufgegeben, er sagte sich im Herzen und für immer von ihr los.

Nach ungefähr einem Jahre hatte er die erste Nachricht von ihr erhalten, sie hatte ihm geschrieben. Ohne ihr ein Wort zu antworten, hatte er ihr das väterliche Erbtheil übersandt. Während einer Reihe von Jahren hatte er nichts von ihr gehört. Dann hatte er zwei Briefe von ihr erhalten. In dem ersten hatte sie ihm mitgetheilt, daß ihr Mann gestorben sei und sie nun mit ihrem einzigen Kinde, einem Knaben, ganz verlassen dastehe. In dem zweiten hatte sie ungefähr ein halbes Jahr später ihn um Verzeihung und Unterstützung gebeten. Er hatte keinen der Briefe beantwortet und nie wieder eine Nachricht über sie erhalten.

Er wußte nicht, ob sie noch am Leben war, er zweifelte indeß daran. Wohl empfand er später über seine Härte öfter Reue, er schrieb sogar einmal nach dem Orte, von welchem aus er die letzte Nachricht erhalten hatte. Sie hatte denselben bereits seit Jahren verlassen, Niemand wußte, wo sie geblieben war.

Weil er sich selbst Vorwürfe machte, suchte er sich jede Erinnerung an die Schwester fern zu halten. Auch jetzt wandte er seine Gedanken schnell einem andern Gegenstande zu. Das einmal Geschehene konnte er doch nicht zurückrufen und auf ihn selbst war die Strafe zurückgefallen, denn wenn er sich von der Schwester nicht losgesagt hätte, so würde er jetzt nicht trotz all' seines Reichthums so verlassen und allein dastehen.

Er erhob sich mühsam aus dem Sessel und schritt langsam zu dem Secretair. Er kramte in demselben fast ohne bestimmte Absicht. In einem Fache desselben, welches er seit Jahren nicht geöffnet hatte, lagen Erinnerungszeichen an seine lustige Jugend. Unwillkürlich streckte er die Hand nach dem Fache aus und öffnete es. Jene Zeichen mußten seine Gedanken in die lustigen Tage und zu den glücklich verlebten Stunden zurückführen. Noch einmal wollte er sie im Geiste durchkosten.

Wohl ist die Erinnerung nicht mehr als die traurige Asche eines längst abgebrannten Schlosses, allein die Phantasie läßt aus dieser Asche die Zinnen und Thürme wieder emporsteigen, sie ruft all das frische, lustige Leben in ihnen zurück und läßt noch einmal durch das Herz einen Hauch des Freudenrausches hindurchziehen.

Mehr und mehr versenkte der Kranke sich in die Vergangenheit zurück, in die lustigen Zeiten. Er erinnerte sich noch der weißen zarten Hand, welche diese vergilbten Briefe geschrieben hatte, des dunkeln lockigen Haares, aus dem er einst diese längst gebleichte Schleife geraubt hatte.

Ein Zeichen nach dem andern nahm er aus dem Fache und er kannte sie alle noch. Es war ihm lieb, daß er sich daran erinnert hatte. Denn es war Zeit, sie für immer zu vernichten. Waren doch auch die meisten von denen, an welche sie ihn erinnerten, längst dahin, und unberufene Hände sollten nach seinem Tode diese Andenken nicht berühren.

Da erfaßte seine Hand einen sorgfältig in Papier eingeschlagenen Gegenstand. Was enthielt das kleine Packet? Vergebens fragte er sein Gedächtniß. Ließ es ihn allein bei diesem Gegenstande im Stiche? Er zögerte das Packet zu öffnen. Es mußten lange Jahre entschwunden sein, seitdem er es nicht in der Hand gehabt hatte.

Rasch entfernte er die Hülle. Ein kleines, sauber ausgeführtes Bild kam zum Vorschein. Unwillkürlich zuckte er zusammen und die zitternde Hand vermochte das Bild kaum zu halten. Und doch ruhte sein Auge darauf, fest, lange. Einen lieblichen, frischen Mädchenkopf stellte es dar. Wie die dunklen Augen ihn anblickten, lachend, mit dem ganzen Uebermuthe einer glücklichen Jugend und zugleich wieder so ernst und traurig! Wie die dunklen Locken auf den weißen Nacken hinabfielen! Die rosigen Lippen des kleinen und fein geschnittenen Mundes schienen sich zu öffnen und zu ihm zu sprechen. Auf dieses Bild schien die Zeit keinen Einfluß geübt zu haben, denn noch lag auf den Wangen das frische, schimmernde Roth der Jugend, und es waren viele Jahre entschwunden, seitdem er es zum letzten Male in der Hand gehabt hatte.

Es war das Bild seiner Schwester.

Mit schwankendem Schritte ging er zu dem Sessel zurück und ließ sich in ihm wieder nieder. Noch immer hielt er das Bild in der Hand und sein Auge ruhte fest, sinnend darauf. Welche Erinnerungen mochte es in ihm wach rufen? – Mit diesem Bilde hatte ihn einst seine Schwester, als sie ungefähr fünfzehn Jahre alt war, zu seinem Geburtstage überrascht. Deutlich stand der Tag noch vor seiner Erinnerung, als ob erst wenige Wochen seitdem verflossen gewesen wären. Es ist ja eine Eigenthümlichkeit des Alters, daß die Jugenderinnerungen oft mit wunderbarer Klarheit in ihm wieder auftauchen.

Wie sie auf dem Bilde dargestellt war, so war sie ihm an dem Morgen entgegengetreten. So hatte sie lächelnd geblickt, so waren die dunklen Locken von ihrem Kopfe niedergefallen. Das Bild gab ihre Züge getreu bis in das Einzelne wieder.

Und wie hatte er sich damals über das Bild gefreut! Sein Herz hing ja an der Schwester. Ueber seinem Arbeitspulte hatte er es aufgehängt und es erst von dort entfernt, als sie mit dem Geliebten entflohen war.

Damals hatte er ihr gezürnt, und als er später an das Bild wieder dachte, konnte er sich nicht entsinnen, wo er es gelassen hatte. Jetzt war es ihm zum ersten Male wieder in die Hände gefallen. Seine sonst so mürrischen Züge nahmen einen weicheren Ausdruck an. Noch einmal schien er im Geiste jene Zeit zu durchleben. Und diesem Wesen, an welchem damals sein Herz so fest gehangen, hatte er so unversöhnlich gezürnt. Es war bereits längst todt und für ihn keine Möglichkeit mehr, das Verschuldete zu sühnen.

Diese Betrachtung schien ihn schwer nieder zu drücken. Plötzlich schien ein Gedanke in ihm aufzutauchen, denn rasch richtete er sich empor. Sie hatte einen Sohn. Er hatte zwar von demselben nie etwas gehört, allein weshalb sollte derselbe nicht noch am Leben sein? Derselbe konnte noch keine dreißig Jahre zählen.

Rasch entschlossen erfaßte er eine neben ihm stehende Klingel und schellte.

Ein Diener trat gleich darauf in's Zimmer.

»Geh zu dem Notar Glashoff und sage ihm, ich ließe ihn ersuchen, sobald als möglich zu mir zu kommen,« sprach er zu dem Diener und gab ihm mit der Hand ein Zeichen, sich zu beeilen.

Er legte das Bild, welches er bisher in der Hand gehalten hatte, neben sich auf den Tisch und halb träumend, aber sichtbar erheitert über den Entschluß, den er gefaßt hatte, blickte er hinaus durch das Fenster auf die frisch belaubten Bäume in dem Garten und über dieselben hinweg zu dem blauen Himmel in der Ferne. Unwillkürlich holte seine Brust tiefer Athem. Es waren die frische reine Frühlingsluft und der Blüthenduft, welche in dieselbe kräftigend einzogen.

Als kaum eine halbe Stunde später der Notar Glashoff in's Zimmer trat, nickte er demselben freundlich grüßend entgegen.

»Ich muß noch einmal Ihre Hilfe in Anspruch nehmen,« sprach er lächelnd. »Haben Sie Ihr Notariatssiegel mitgebracht?«

»Ja. Ich vermuthete, daß Sie mich in geschäftlicher Beziehung zu sprechen wünschten,« entgegnete der Notar.

»Sie haben recht vermuthet,« fuhr der Kranke fort. »Ich wünsche noch einen Zusatz zu dem Testamente, welches Sie gestern aufgesetzt haben, hinzuzufügen.«

»Ich werde das Testament holen, da es bereits auf dem Gerichte deponirt ist,« bemerkte Glashoff.

»Lassen Sie – lassen Sie. Ich habe die Abschrift des Testamentes hier. Schreiben Sie dasselbe noch einmal ab, dann werde ich Ihnen meinen Zusatz dictiren. Es ist kürzer so. Sie holen dann das erste Testament und deponiren dieses. So wollen wir es machen!« –

 

Ungefähr eine halbe Stunde später war das neue Testament aufgesetzt. Solger hatte es unterschrieben, Glashoff es versiegelt und mit der Aufschrift versehen.

Er stand auf, um fortzugehen.

»Warten Sie noch einen Augenblick,« sprach Solger, indem er sich erhob und an den Secretär trat.

Er nahm aus demselben eine Rolle mit Gold und reichte sie dem Notar.

Unwillkürlich zögerte dieser einen so reichen Lohn anzunehmen. Er mußte vermuthen, daß der Kranke sich geirrt habe.

»Nehmen Sie, nehmen Sie!« sprach dieser lächelnd. »Es ist etwas mehr, als Sie sonst zu erhalten pflegen, allein ich wünsche, Sie möchten lange daran denken, daß Sie heute einem alten Manne einen großen – großen Dienst geleistet haben.« –


II.

Der Commerzienrath Solger war todt. Nach der Aufnahme seines Testamentes hatte er nur noch wenige Tage gelebt. Er war ruhig gestorben. Der Tod hatte sich ihm so mild wie der Schlaf genähert.

Der Tod dieses Mannes beschäftigte die ganze Stadt. Wer erbte sein bedeutendes Vermögen? Hoffnungen waren in mehr denn hundert Herzen erweckt. Alle, welche ihm näher gestanden, glaubten, daß er ihrer in seinem Testamente gedacht haben werde, denn daß er ein solches gemacht hatte, war kein Geheimniß geblieben. Noch kurz vor seinem Tode hatte er die Bestimmung getroffen, daß das Testament an dem Tage nach seiner Beerdigung geöffnet werden sollte.

So lange mußten die Ungeduldigen warten.

Am meisten hofften Diejenigen, welche in irgend einer Weise mit ihm verwandt waren. Hatte er auch im Leben sich nicht um sie bekümmert und sie sich stets fern gehalten, so konnte er sie in seinem Testamente doch unmöglich übergangen haben.

Mehr als einer der Ungeduldigen und Neugierigen wandte sich fragend an den Notar Glashoff. Er allein kannte das Testament ja genau, allein derselbe besaß eine unangenehme Gewissenhaftigkeit und wies alle Fragen zurück. Selbst die leiseste Andeutung zu geben, weigerte er sich.

Die verschiedenartigsten Gerüchte über den letzten Willen des Verstorbenen, welchen derselbe in seinem Testamente niedergelegt hatte, durchliefen die Stadt. Da verbreitete sich die Nachricht, Solger habe sein ganzes Vermögen der Kirche und der Missionsanstalt vermacht. Man bezweifelte die Wahrheit desselben, als indeß Jemand mit der Versicherung auftrat, er habe die Nachricht aus dem Munde des Pastors Ahl selbst, konnte man die Wahrheit kaum noch in Zweifel ziehen. Ahl war ja in den letzten Jahren viel in dem Hause des Commerzienraths verkehrt. Man traute dem frommen Manne vollkommen zu, daß er all' seinen Einfluß auf den kränklichen alten Mann aufgeboten haben werde, um ihn zu einem solchen Testamente zu bestimmen. Solgers Verwandten schimpften laut über den Geschiedenen und selbst die ruhigen Leute der Stadt, welche nicht der frommen Partei angehörten, schüttelten bedenklich den Kopf. Der Reiche hätte durch sein Vermögen so manche Familie glücklich machen können. Die Kirche war ohnehin schon vermögend, und von dem Nutzen der Missionsanstalt konnten sehr Viele sich nicht überzeugen. Dieselbe sandte zwar jährlich eine Anzahl junger Männer in die Welt hinaus, um die Heiden zu bekehren und zu taufen, es liefen auch jährlich die glänzendsten Berichte ein, nach denen Tausende der Heiden bekehrt und getauft waren, daneben verbreiteten sich aber auch Gerüchte, wie es manche der Missionare zu machen pflegten. Man erzählte, daß sie die Heiden, meist wilde, gänzlich uncultivirte Volksstämme durch Geschenke und Branntwein bewegten, sich in Masse taufen zu lassen, ohne ihnen vorher einen Begriff der christlichen Lehre beizubringen, nur um glänzende Berichte in die Missionsanstalt absenden zu können, und daß Tausende der getauften Heiden in einem gänzlich berauschten Zustande in die Gemeinschaft der christlichen Kirche aufgenommen würden.

Der Advocat Jöns, ein sehr freisinniger und tüchtiger Mann, erzählte diese Thatsachen sogar öffentlich und erbot sich, Beweise dafür zu liefern. Der Pastor Ahl wies zwar von der Kanzel herab ziemlich verständlich auf Jöns als einen sehr ungläubigen und gottlosen Menschen hin, er verhieß demselben mit ziemlicher Gewißheit eine ewige Verdammniß, allein er widerlegte dessen Erzählungen nicht. –

 

Das Begräbniß des Commerzienraths, unstreitig des reichsten Mannes in der ganzen Stadt, wurde mit einem außerordentlichen Luxus begangen. Zahlreiche Menschen gaben ihm das letzte Geleit auf den Friedhof, wenn auch sehr viele dazu nur durch Neugier bewogen wurden.

Hatten Manche noch an der Wahrheit der Nachricht, daß die Kirche und die Missionsanstalt die alleinigen Erben Solgers seien, gezweifelt, so mußte es auch für sie durch die Grabrede, welche Ahl dem Verstorbenen hielt, zur ziemlichen Gewißheit werden.

Derselbe pries in überschwänglichen Worten die Tugenden des Geschiedenen, seine Frömmigkeit, seine Milde, die Wohlthaten, welche er den Armen stets erwiesen, die Einfachheit, in der er bei seinem großen Vermögen stets gelebt habe, obschon fast Niemand in der Stadt diese Eigenschaften an dem Verstorbenen gekannt hatte. Er deutete sogar ziemlich deutlich auf das Testament Solgers hin, indem er sagte, derselbe habe sich sogar nach seinem Tode noch ein Denkmal gesetzt, welches die Erinnerung an ihn aufrecht erhalten werde in den Herzen aller Derjenigen, welche die Kirche zu ihren treuen Anhängern und Jüngern zähle.

Durch diese Grabrede war übrigens in der Stadt ein allgemeiner Unwille wachgerufen. Das ganze Leben des Commerzienraths hatte zu viele Schatten, als daß sich dieselben hätten verleugnen oder mit dem Mantel der christlichen Liebe zudecken lassen. Man kannte seine Jugend und auch sein späteres Leben, man wußte, wie vielfach er gesündigt hatte, und diesen Mann hatte Ahl in seiner Grabrede als einen Tugendhelden hingestellt, als einen Mann, der eine Stütze und eine Freude der Kirche gewesen sei.

Das rief auch bei den mild und mäßig Gesinnten ein Kopfschütteln des Unwillens hervor, und manches bittere, scharfe Wort wurde an diesem Tage über den Pastor Ahl ausgesprochen.

An dem Morgen des folgenden Tages fand öffentlich in dem Gerichtssaale die Oeffnung und Verlesung des Testamentes des Commerzienraths statt. Die Neugierde hatte Viele hingetrieben. Außerdem hatten sich alle Diejenigen eingefunden, welche durch den Todten in seinem Vermächtniß bedacht zu sein glaubten – nur der Pastor Ahl fehlte, und auch von den Vorstehern der Missionsanstalt hatte sich Niemand eingefunden. Sie schienen ihrer Sache gewiß zu sein.

Mit angehaltenem Athem lauschten Alle, als das Testament verlesen wurde, nachdem das unverletzte Siegel desselben sorgfältig geprüft war. In kurzen klaren Worten sprach dasselbe aus, daß Solger als die Universalerben seines ganzen Vermögens die Stadtkirche und die Missionsanstalt eingesetzt habe, jede zu gleichem Theile.

Ein Murmeln des Unwillens wurde unter den Anwesenden laut, selbst laute Verwünschungen ließen sich vernehmen. Noch war der vorlesende Richter indeß nicht zu Ende. Noch einmal erhob er seine Stimme, um einen Nachtrag zu dem Testamente zu verlesen. Dieser sprach mit derselben Kürze und Klarheit aus, die erst genannte testamentarische Verfügung solle indeß nur dann eintreten und durch das Gericht zur Ausführung gebracht werden, wenn binnen Jahresfrist der Sohn seiner Schwester Anna, welche sich mit dem Maler Ontzen vermählt habe, sich nicht zur Geltendmachung seiner Ansprüche gemeldet habe. Zu dem Zwecke sei in den Hauptzeitungen aller Länder Europas an Heinrich Wilhelm Ontzen, den Sohn des Malers Friedrich Karl Ontzen und seiner Schwester Anna Margarethe, geborene Solger, ein öffentlicher Aufruf von Seiten des Gerichts und auf seine Kosten zu erlassen. Melde sich sein Neffe binnen Jahresfrist zur Antretung der Erbschaft, so sei er der alleinige Universalerbe, nur mit der beschränkenden Bestimmung, daß er ein Dritttheil der ganzen Erbschaft unter den sich meldenden Verwandten und denjenigen Personen, welche binnen der letzten fünf Jahre zu dem Verstorbenen in einem dienenden Verhältnisse gestanden hätten, in gleichen Antheilen zu vertheilen habe. Hinzugefügt war noch, daß in diesem Falle weder die Stadtkirche noch die Missionsanstalt irgend einen Anspruch an die Erbschaft geltend zu machen hätten.

Zum Schluß waren noch einige nähere Bestimmungen beigefügt, nämlich daß das Gericht die Wahl der Zeitschriften, in welchen der Aufruf zu erlassen sei, zu treffen und das ganze Vermögen bis zu dem Tage der Entscheidung allein zu verwalten habe. Ferner sei das Jahr, binnen welchem sein Neffe sich zu melden habe, von dem Tage der Bekanntmachung in den Blättern an zu rechnen.

Dieser Nachtrag wurde von den Versammelten mit lautem Beifall aufgenommen, weil durch denselben die erste testamentarische Verfügung so gut wie aufgehoben wurde. Es zweifelte Niemand daran, daß der Neffe des Verstorbenen, sobald er von dem Testamente Kenntniß erhalten habe, sich sofort melden werde.

Der Commerzienrath hätte in die Stadt keinen schlimmeren Zankapfel hineinwerfen können, als durch dieses Testament. Die verschiedensten, einander feindlich gegenüberstehenden Interessen waren dadurch mit einem Male wachgerufen.

Der Pastor Ahl machte aus seiner Enttäuschung und seiner Erbitterung über den Nachtrag des Testaments kein Hehl. Er sprach sich in vertrauten Kreisen über den Verstorbenen in einer Weise aus, welche mit seiner Grabrede in entschiedenem Widerspruche stand. Ihm schlossen sich die Vorsteher der Missionsanstalt und die ganze fromme Partei der Stadt an.

Sie schienen entschlossen zu sein, Alles aufzubieten, um die erste Bestimmung des Testaments durchzusetzen und die Rechte des Neffen, wenn sich derselbe einfinden sollte, zu bekämpfen. Wer sie genauer kannte, konnte nicht im Zweifel sein, daß sie Alles, was in ihren Kräften stand, thun würden, um die reiche Erbschaft für die Stadtkirche und die Missionsanstalt zu erwerben.

Diesen Ansprüchen standen die Interessen von mehr als hundert Menschen entgegen, denn so Viele hatten sich sogleich in den ersten Tagen, nachdem der Aufruf in den Zeitungen erfolgt war, bei dem Gerichte als Verwandte oder Diener des Verstorbenen gemeldet.

Die ganze Stadt war durch dies Testament in Aufregung versetzt. Außer der frommen Partei gönnten Alle dem unbekannten Neffen den Besitz der reichen Erbschaft, und mit wachsender Ungeduld sah man von Tage zu Tage dem Eintreffen desselben entgegen. Allein Wochen entschwanden, ohne daß sich der Glückliche meldete, oder irgend ein Lebenszeichen von sich gab.

Die Hoffnungen der frommen Partei wuchsen immer mehr. Der Pastor Ahl verbreitete sogar die Nachricht, daß der Neffe nicht mehr am Leben sei, ohne daß er irgend welche bestimmte Beweise dafür angeben konnte.

Da trat der Advocat Jöns öffentlich mit der Aufforderung hervor, ein Comitee zu bilden, welches es sich zur Aufgabe mache, den Aufenthalt des Heinrich Wilhelm Ontzen aufzusuchen, seiner Spur nachzuforschen und den jungen Mann von den Bestimmungen des Testamentes in Kenntniß zu setzen. Jöns selbst war an der Erbschaft in keiner Weise betheiligt. Die ganze fromme Partei trat nun in erbittertster Weise gegen ihn auf, weil sie ihm das Recht absprach, sich überhaupt in diese Angelegenheit zu mischen. Er lachte über all diese Anfeindungen und ließ sie nur dazu dienen, ihn in seinem Verhalten noch mehr anzuspornen. Er war von jeher ein Gegner der frommen Partei gewesen und es gewährte ihm Vergnügen, die geheimen Pläne derselben zu durchkreuzen.

Alle Diejenigen, welche durch das Auffinden des Neffen an der Erbschaft betheiligt waren, verbanden sich mit ihm, Andere traten freiwillig hinzu, und so war durch das Testament die ganze Stadt in zwei große Parteien getheilt, welche sich feindlich einander gegenüberstanden.

Jöns wandte sich an das Gericht, um durch dasselbe aus des Commerzienraths Papieren irgend einen Anhaltspunkt über den früheren Aufenthalt von dessen Schwester zu erfahren. Ahl, der den gefährlichen Gegner fortwährend heimlich beobachten ließ, erhielt von dem Schritte sofort Kenntniß und bot nun jedes Mittel auf, um eine Durchsicht der Papiere des Verstorbenen zu verhüten.

Er hatte hohe und mächtige Verbindungen. Durch sie bewirkte er, daß dem Gerichte die Weisung zukam, die Durchforschung der Papiere nicht eher vorzunehmen, als bis die Frage, ob es ein Recht dazu habe, entschieden sei. Der Richter selbst schien keinen Augenblick in Zweifel gewesen zu sein, daß ihm dies Recht zustehe, weil dadurch die Vollstreckung des Testamentes ganz im Sinne des Verstorbenen gefördert werde. Obschon er zu keiner der beiden Parteien gehörte, so wünschte er persönlich doch, daß dem Neffen die Erbschaft zufallen möge, da auch er kein Freund der Frommen war.

Die Papiere des Commerzienraths, welche sich auf diesen Gegenstand bezogen, befanden sich in dem Secretär desselben. Der Secretär war verschlossen, der Schlüssel dazu befand sich in den Händen des Gerichtes, außerdem war derselbe noch durch das daran gelegte Gerichtssiegel verschlossen.

Wenige Tage darauf war eines Morgens der Secretär erbrochen, die Papiere waren gestohlen. Der Dieb hatte seinen Weg durch das Fenster genommen. Nur vermittelst einer Leiter und vom Garten aus konnte er das Fenster erreicht haben. Außer den Papieren waren auch noch einige unbedeutende Werthgegenstände gestohlen.

Diese That rief allgemeines Aufsehen und Entrüstung hervor. Fast Jeder war der Ueberzeugung, daß dieser Diebstahl von Denjenigen ausgegangen sei, denen vor allem an der Vernichtung dieser Papiere gelegen sein müsse. Der Advocat Jöns sprach dies in einem Blatte unverhohlen aus, ohne daß er indeß einen Namen nannte. Die Folge davon war, daß eine Anzahl anonymer Angriffe in den Blättern auf ihn gemacht wurden. Dies verrieth ihm, daß er die Wahrheit getroffen hatte.

Der Dieb war übrigens mit der größten Vorsicht verfahren, denn er hatte nicht das geringste Anzeichen, welches auf seine Spur hätte führen können, hinterlassen.

Einige Tage später begegnete Jöns dem Polizeicommissar Wulf auf der Straße. Beide waren mit einander befreundet.

»Wulf, haben Sie noch immer keine Spur des Diebes entdeckt?« fragte Jöns den Commissar.

»Noch keine.«

»Wulf, gestehen Sie es nur ein, daß es gar nicht Ihr Ernst ist, den Dieb zu entdecken,« fuhr der Advocat fort.

»Sie wissen so gut wie ich, nach welcher Richtung hin derselbe zu suchen ist, Sie wollen sich indeß durch allzugroßen Eifer nicht die Finger verbrennen. Das ist es!«

Der Polizeicommissar drohte ihm lächelnd mit dem Finger.

»Jöns, Jöns!« erwiderte er. »Der Pastor Ahl hat von der Kanzel herab gesagt, daß Sie ein gottloser Mensch seien, und er hat wahrhaftig Recht. Jedenfalls haben Sie die böseste und schärfste Zunge in der ganzen Stadt!«

»Sie meinen, weil ich offen die Wahrheit sage,« fiel Jöns lachend ein. »Ich bestreite übrigens auch Ahls Ausspruch nicht. Ich bin ein Gegner der frommen Partei; der Gegensatz von fromm ist gottlos! Haha! Sie sehen, ich habe mich bereits ganz in die Logik der Frommen hineingelebt!«

»Noch nicht ganz, denn Sie unterschätzen Ihre Gegner noch!« bemerkte Wulf. »Kommen Sie,« fuhr er fort, indem er die Hand in den Arm des Advocaten legte, »ich habe Ihnen noch ein Wort als Freund – also im Vertrauen mitzutheilen.«

»Nun?« warf Jöns fragend ein.

»Gehen Sie in dieser Angelegenheit nicht zu weit.«

»Und weshalb nicht?« rief Jöns, indem er unwillkürlich stehen blieb.

»Ich glaube, Sie werden sich diese Antwort selbst geben können,« fuhr Wulf ruhig fort. »Doch Sie sind mein Freund! Also erstens, weil Sie doch nichts erreichen werden, denn all' Ihre Schritte werden durch Gegenschritte sofort möglichst unschädlich gemacht und sodann laden Sie sich selbst dadurch so viel Feinde auf den Hals, daß Sie früher oder später von denselben unterdrückt werden! Glauben Sie mir, denn ich meine es aufrichtig!«

»Ich fürchte sie nicht! Viel Feind, viel Ehr!« rief Jöns, setzte aber sogleich nachdenklich hinzu: »Diese Feinde können mir freilich nicht viel Ehre bringen, denn sie kämpfen stets mit niedergeschlagenem Visir vom Hinterhalte aus! – Wulf, ich danke Ihnen für diesen Wink – ich werde ihn nicht vergessen. Aufgeben kann ich den einmal begonnenen Kampf indeß nicht, allein ich werde mir möglichst den Rücken zu decken suchen!«

Die beiden Männer trennten sich.

In Gedanken versunken, schritt Jöns langsam weiter. Die Worte des Polizeicommissars hallten in ihm wieder. Derselbe hatte ihm nichts Neues gesagt, allein die Worte gewannen an Bedeutung, weil er sie aus seinem Munde gehört hatte.


III.

An dem Abend desselben Tages fuhr in dem Gasthofe zum Löwen ein Wagen vor. Ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren sprang leicht, rasch aus demselben. Einen schnellen, flüchtigen Blick warf er um sich, wie Jemand, der sich zum ersten Male an einem fremden Orte befindet.

Es war eine mittelgroße, fast schwächliche Gestalt, allein aus den dunklen, leuchtenden Augen derselben sprach ein entschlossener, schneller Sinn. Die Kleidung war fein.

Als der Wirth hastig aus der Thür trat, um den Angekommenen mit einer tiefen Verbeugung zu begrüßen, nickte der Fremde nur leichthin mit dem Kopfe.

»Kann ich zwei Zimmer bei Ihnen erhalten?« fragte er.

»Gewiß, gewiß,« entgegnete der Wirth, »es stehen Ihnen so viel zur Verfügung, als Sie wünschen!«

Ein Blick auf die schwere goldene Uhrkette des Fremden hatte ihn schnell überzeugt, daß er nicht mit einem armen Teufel zu thun habe.

»Mir genügen zwei,« bemerkte der Fremde kurz. »Lassen Sie meinen Koffer auf das Zimmer schaffen, ich selbst werde vorläufig in das Gastzimmer treten.«

Er gab dem Kutscher ein reichliches Trinkgeld und schritt dann in das an der Hausflur gelegene Gastzimmer, in welchem jeden Abend eine Anzahl Gäste zu verkehren pflegten. Auch jetzt saßen bereits mehrere von ihnen an dem runden Stammtische.

Der Eingetretene ließ flüchtig, fast gleichgiltig das Auge über sie hinschweifen, nickte nur zum Gruß mit dem Kopfe und warf sich dann in die Ecke eines Sophas, welches dem Tische ziemlich nahe stand. Mit herrschendem Tone befahl er dem Kellner, ihm eine Flasche Wein zu bringen, trank hastig ein Glas und nahm dann ein Zeitungsblatt in die Hand, in dem er sehr eifrig las.

Seinem ganzen Benehmen nach schien er ein Mann zu sein, der viel gereist war und in einem Gasthofe sich sofort heimisch fühlte.

Einige Minuten lang hatten die Männer an dem runden Tische auf den Eingetretenen die Blicke gerichtet, als er sich indeß nicht im Geringsten um sie bekümmerte, schenkten auch sie ihm keine weitere Aufmerksamkeit, sondern setzten ihre Unterhaltung fort. Dieselbe betraf das Testament Solgers, das Ausbleiben des Neffen, die Entwendung der Papiere und das energische Vorgehen des Advocaten Jöns. Fast jeden Abend kam das Gespräch darauf, denn jeder in den Löwen kommende Gast hoffte dort irgend eine neue Wendung in dieser Angelegenheit zu erfahren.

»Und ich behaupte, der Neffe lebt nicht mehr!« rief der Kaufmann Siegel. »In allen Zeitungen Europas hat die Aufforderung gestanden und wer eine solche Erbschaft, die mindestens einige hundert Tausend Thaler beträgt, in Empfang zu nehmen hat, wird wahrhaftig nicht zögern, sich zu melden, selbst wenn er am Cap der guten Hoffnung lebt!«

»Siegel, rechnen Sie dieses Cap auch zu Europa?« fiel der Doctor Ohrstedt, ein Arzt, lachend ein. »Sie haben sich schon mehrere Male bei der Entfaltung Ihrer geographischen Kenntnisse solche kleine Blößen gegeben. Gestehen Sie ein, Sie vermuthen dieses Kap in der Schweiz oder höchstens in Italien!«

Siegel protestirte gegen diese Zumuthung und versicherte, daß er sehr gut wisse, wo das Kap der guten Hoffnung sei.

»So sagen Sie es!« rief Ohrstedt. »Sie gewinnen wahrhaftig in meiner Achtung, wenn Sie es wissen.«

»Ich bin kein Knabe, der ein Schulexamen zu bestehen hat,« erwiderte der Kaufmann empfindlich. »Sie werden sich mit der Versicherung begnügen müssen, daß ich es weiß.«

»Gut, ich werde indeß vorläufig mit der Steigerung meiner Achtung inne halten,« fuhr der Arzt fort. »Ich kann aber auch Ihrer Behauptung, daß der gesuchte Neffe nicht mehr am Leben sei, nicht beistimmen. Sehen Sie, Siegel, Sie selbst lesen in den Zeitungen nichts weiter als die Coursberichte, eben so gut kann es auch Menschen geben, die gar keine Zeitungen lesen.«

»Dann würden ihn seine Freunde darauf aufmerksam machen,« warf Siegel ein.

»Und wenn er nun keine Freunde besitzt? Oder wenn auch diese keine Zeitung lesen? Wenn er nun in irgend einem versteckten Winkel Europas lebt, wohin keine Zeitung dringt? Nun? – Sie schweigen. Sie thun sehr Recht daran, übrigens haben Sie sich durch Ihre Bemerkung verdächtig gemacht, daß Sie zu Ahls Freunden und Anhängern gehören, denn auch diese haben die Kunde verbreitet, daß der gesuchte Neffe gar nicht mehr existire.«

Gegen diese Verdächtigung protestirte Siegel in der ernstesten Weise und erbat sich in seinem Eifer sogar, Beweise zu bringen, daß er nicht fromm sei.

Sämmtliche Herren an dem Tische lachten laut auf.

»Siegel, diese Beweise erlasse ich Ihnen, weil ich Ihr Leben hinreichend kenne!« rief der Arzt lachend. »Aber Ihrer Aufrichtigkeit wegen wollen wir Frieden schließen. Stoßen Sie an! So! – Ich weiß ja, daß Sie das schöne Vermögen der Kirche und der Missionsanstalt ebenso wenig gönnen, wie wir alle.«

Das Gespräch ging auf einen anderen Gegenstand über.

Der Fremde erhob sich und befahl dem Kellner, ihm sein Zimmer zu zeigen.

Die Gäste blickten ihm schweigend nach, als er das Zimmer verließ.

»Köhler, wer ist der Mann?« wandte sich Siegel an den eintretenden Wirth.

»Ich kenne ihn nicht,« erwiderte der Gefragte. »Er ist mit der Eisenbahn angelangt, in einem Wagen hier vorgefahren, hat zwei Zimmer bestellt und einen mäßig großen Koffer mitgebracht – das ist Alles, was ich weiß.«

»Und wofür halten Sie ihn?« warf Ohrstedt ein. »Ihr Wirthe glaubt ja jedem Menschen an der Nase ansehen zu können, wer, was, wie und woher er ist. Was steht denn an der Nase dieses Menschen geschrieben?«

Der Wirth schwieg überlegend.

»Nun?« drängte der Arzt.

»Er ist bereits viel gereist – er würde sonst höflicher sein,« erwiderte der Wirth. »Ein Handlungsreisender ist er nicht, sonst würde er mit einem Zimmer zufrieden und gesprächiger gewesen sein, ein Gutsbesitzer ist er auch nicht, sonst – –!«

»Köhler, wir wünschen zu wissen, was er ist und nicht, was er nicht ist,« unterbrach ihn der Arzt. »Gestehen Sie lieber offen ein, daß seine Nase für Sie eine unlesbare Schrift ist, und senden Sie ihm das Fremdenbuch, damit er sich einschreibt, dann ist Siegels Neugierde sofort befriedigt.«

»Sie müssen sich noch gedulden, meine Herren,« bemerkte der Wirth, »denn heute kann ich ihm das Fremdenbuch nicht mehr vorlegen lassen. Interessirt Sie es indeß, so fragen Sie morgen früh wieder an, dann werde ich es Ihnen gewissenhaft mittheilen!«

»Wie schlau Sie sind!« rief Ohrstedt lachend. »Sie hoffen natürlich, daß dann ein Jeder von uns ein kleines Frühstück bei Ihnen einnehmen wird. Sie würden auf diese Weise Ihren schlechten Caviar los, den Sie selbst sich nicht einmal zu essen getrauen. Meine Neugierde ist indeß nicht so groß, sie wird mich ruhig schlafen lassen.«

Dasselbe versicherten auch die übrigen Gäste. Und dennoch würden sie vielleicht nicht so ganz ruhig geschlafen haben, wenn sie den Namen des Fremden gekannt hätten.

Als der Kellner, nachdem er am folgenden Morgen dem Fremden den Kaffe gebracht hatte, ihm das Fremdenbuch vorlegte und der Wirth dann neugierig den Blick in das Buch warf, um zu sehen, wen er beherberge, hätte er vor Ueberraschung das Buch fast sinken lassen. Seine Augen wurden noch einmal so groß, und noch einmal richtete er dieselben auf das Buch, um sich zu überzeugen, ob er sich nicht geirrt habe, allein da stand deutlich und sogar mit schönen Zügen geschrieben: »Friedrich Wilhelm Ontzen, Stand: Künstler, Alter: 28 Jahre, Zweck der Reise: Familienangelegenheiten.«

»Er ist es – er ist es! wahrhaftig, er ist es!« rief er seinem erstaunten Kellner zu. »Es ist der Neffe des Commerzienraths – der reiche Erbe!«

Hieran hatte er nicht gedacht – dieses nicht vermuthet! Er fühlte sich glücklich, daß er diesen Mann in seinem Hause beherbergte! Welchen Gewinn mußte ihm derselbe bringen, wie mußte dieses sein Gasthaus empfehlen! Er machte sich zwar Vorwürfe, daß er ihn nicht noch zuvorkommender behandelt, daß er ihn nicht selbst bedient habe, allein er tröstete sich sofort mit dem Gedanken, daß ihn eigentlich keine Schuld treffe. Weshalb hatte der Fremde, als er aus dem Wagen stieg, ihm nicht sofort gesagt: ich heiße Ontzen und bin der Neffe – der Erbe. Dann würde er sein ganzes Haus zusammengerufen haben, um ihn willkommen zu heißen. Und seine Stammgäste würden auch ein ganz anderes Gesicht gemacht haben!

Jetzt hatte er indeß nicht lange Zeit darüber nachzusinnen, denn jetzt galt es, das Versäumte nachzuholen. Rasch kleidete er sich an und warf sich in den Sonntagsrock, während die Nachricht, daß der Neffe des Commerzienraths, der reiche Erbe, angelangt sei, durch den Kellner dem Nachbar mitgetheilt wurde und in unglaublich kurzer Zeit den Umlauf durch die ganze Stadt machte.

Wenige Minuten später trat Köhler mit tiefster Verbeugung in das Zimmer des Fremden, um ihm Glück zu wünschen und seinen Dank auszusprechen, daß er bei ihm eingekehrt sei.

»Es ist mir lieb, daß Sie kommen,« sprach Ontzen, indem er aufstand und dem Wirthe in freundlicher Weise entgegenkam. »Ich wollte Sie schon durch den Kellner bitten lassen, zu mir zu kommen. Bitte, setzen Sie sich, wenn Sie wenige Minuten Zeit haben.«

Köhler nahm Platz und versicherte, daß er dem Herrn vollständig zur Disposition stehe.

»Ich bin gestern Abend bereits Zeuge geworden, daß man sich mit meiner Angelegenheit hier vielfach beschäftigt,« fuhr Ontzen lächelnd fort. »Das Testament meines seligen Onkels scheint hier sogar zwei Parteien hervorgerufen zu haben, eine die für und eine die gegen mich ist – ich bin hier natürlich gänzlich unbekannt, und Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie mir mittheilen wollten, wie die Verhältnisse hier sind. Mich selbst hat das Testament meines Onkels am meisten überrascht, ich wußte, daß er meiner verstorbenen Mutter zürnte, er kannte mich nicht, hatte mich nie gesehen und ich habe deshalb nie gehofft, daß er in seinem Testamente meiner gedenken werde. Mich hätte die in den Zeitungen enthaltene Aufforderung vielleicht gar nicht erreicht, wäre ich nicht durch einen Freund darauf aufmerksam gemacht, denn ich lese selten Zeitungen und stand soeben auf dem Punkte, Europa vielleicht für Jahre zu verlassen.«

Keine andere Aufforderung hätte dem Wirthe so erwünscht kommen können, als diese. Er bildete sich ein, am besten in dieser Angelegenheit unterrichtet zu sein und er konnte dem glücklichen Erben zugleich die Versicherung geben, daß nur solche Männer bei ihm verkehrten, die auf seiner Seite ständen.

In ausführlicher Weise erzählte er Alles, was er wußte.

Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte der junge Fremde ihm zugehört.

»Es freut mich, daß ich so viele Freunde hier in der Stadt habe,« sprach er. »Selbst wenn ich nicht als Erbe in diesem Falle betheiligt wäre, so könnte ich doch nur billigen, daß mein Onkel sein Vermögen seinen Verwandten vermacht hat. Diese haben doch die nächsten Ansprüche darauf. – Wie hoch schätzen Sie das Vermögen meines Onkels?«

»Dasselbe ist nicht genau bekannt, allein ich schätze es auf mindestens dreimalhundert Tausend Thaler. Ich würde gern soviel dafür geben, wenn ich überhaupt so viel besäße, und ich bin überzeugt, daß ich noch ein gutes Geschäft machen würde.«

Die Augen des jungen Mannes leuchteten auf. Soviel schien er nicht erwartet zu haben.

»Soviel habe ich nicht vermuthet,« erwiderte er. »Nicht halb soviel. Auch meine verstorbene Mutter ahnte nicht, daß er so reich sei.«

»Er hat viel Glück in seinem Leben gehabt,« bemerkte der Wirth. »Jedes Unternehmen, welches er begann, glückte, und er war sehr thätig, vom Morgen bis zum Abend. Wo einmal Geld ist, wächst Geld zu. Zu dem besaß der Herr Commerzienrath nicht einmal eine Familie.«

»Wie ist es gekommen, daß er, wie Sie mir mitgetheilt haben, zuerst in seinem Testamente sein ganzes Vermögen der hiesigen Kirche und der Missionsanstalt vermacht hat?« fragte der junge Mann.

»Er war schon seit Jahren kränklich und verließ selten das Haus,« erzählte der Wirth. »Der Pastor Ahl besuchte ihn fast täglich – nun und da – – – doch das Weitere werden Sie sich selbst leicht denken können. Ich weiß auch nichts weiter, denn ich bin bei keiner Unterredung zwischen ihnen zugegen gewesen.«

»Ich kann es mir vollkommen vorstellen,« bemerkte Ontzen lächelnd. »Die frommen Herren werden jetzt natürlich sehr ärgerlich sein, daß ich mich eingefunden habe.«

»Natürlich sind sie das! Natürlich!« rief Köhler.

»Sie wissen, ich kenne den Wortlaut des Testamentes noch nicht,« fuhr Ontzen fort. »Glauben Sie, daß es ihnen möglich sein wird, das Testament trotz des Anhangs zu ihrem Gunsten auszulegen und die Erbschaft in ihre Hände zu bringen?«

»Nun Sie sich eingefunden haben, nimmermehr! Der Anhang ist so bestimmt und klar, daß alle Advokaten der Erde ihn nicht verdrehen können! Haha! Der alte Herr liebte stets die Deutlichkeit. Und der Notar Glashoff, der das Testament aufgesetzt hat, ist auch ein kluger Mann und kein Freund der frommen Partei. Sie können ohne jede Sorge sein, an Ihrem Rechte kann Niemand rütteln. Ich allein würde mir kein Urtheil darüber zutrauen, jedoch das sagen alle Juristen in der ganzen Stadt, selbst der Richter hat sich in der Weise ausgesprochen!«

»Das ist mir lieb. Sie meinen also, die frommen Herren werden nichts thun, um mein Recht anzufechten?«

»Nein, nein!« fiel Köhler ein. »Das möchte ich nicht behaupten. Ich bin sogar überzeugt, daß sie Alles, was in ihren Kräften steht, gegen Sie aufbieten werden, allein es wird ihnen nichts helfen! Wenn Sie übrigens Ihre Angelegenheit einem hiesigen Anwalt zu übergeben gedenken, so könnte ich Ihnen keinen besseren und eifrigeren Mann als den Advokaten Jöns vorschlagen?«

»Ich bin noch unentschieden, ob ich mich eines Rechtsbeistandes bediene,« bemerkte Ontzen. »Ist das Testament so klar und bestimmt gehalten, so werde ich selbst meine Ansprüche durchsetzen. Ehe ich indeß hierzu irgend einen Schritt thue, möchte ich das Grab des Mannes aufsuchen, der meiner in so freundlicher, liebevoller Weise gedacht hat. Sie können mir wohl einen Diener verschaffen, der mich zu dem Friedhofe führt.«

Köhler selbst erbot sich, ihn zu begleiten. Er war stolz darauf, an der Seite dieses Mannes durch die Stadt hinschreiten und den Leuten gleichsam zurufen zu können: »Seht, da ist er! Und bei mir logirt er!« Und als er ungefähr eine Stunde später den jungen Mann zum Friedhofe geleitete, ging er an dessen Seite so gerade und steif einher, als ob er noch auf seine alten Tage das Exercieren erlernen und sich auf die Parade vorbereiten wolle.

Alle, welche ihn kannten, erriethen sofort, wer an seiner Seite ging, denn die Ankunft des Neffen war bereits in der ganzen Stadt bekannt. Die Leute blieben stehen und blickten ihm nach, als ob etwas Wunderbares an ihm wahrzunehmen gewesen wäre. Köhler machte sich sogar das Vergnügen, den jungen Erben vor Ahl's Hause vorüber zu führen und ihm zuzuflüstern: »Dort – dort wohnt Ihr erbittertster Feind?«

Das Grab des Commerzienraths befand sich noch in demselben Zustande, in welchem der Todtengräber dasselbe an dem Morgen der Beerdigung verlassen hatte, nur hier und dort waren aus dem frisch aufgeworfenen Erdhügel einige Grashalme und Unkraut hervorgesproßt.

»So sieht der Grabhügel eines Mannes aus, der Hunderttausende hinterlassen hat!« rief der junge Mann unwillig aus, als er an das Grab herantrat. »Auf Dein Vermögen haben so Viele gerechnet und es hat sich keine Hand gefunden, welche eine Blume darauf gepflanzt, welche den Hügel mit einem Denkmal geziert! Gut, daß Du selbst keine Ahnung davon hast!«

Köhler zuckte mit den Achseln.

»Es wußte ja noch Niemand bestimmt, ob er erben werde,« erwiderte er. »Jeder hat dies abwarten wollen!«

»Hat er denn keine Freunde hinterlassen?« fuhr Ontzen fort – »Niemand, der aus Liebe zu ihm seinen Grabhügel geschmückt hätte?«

»Er hatte wenige Freunde – er zog sich in den letzten Jahren von Allen zurück. Jetzt ist die Sache indeß anders, seine Verwandten wissen, daß sie erben werden, nun werden sie auch an dies Grab hier denken!«

»Halt!« fiel Ontzen ein. »Diese Sorge gehört jetzt mir allein! Ich werde Sorge tragen, daß das Grab eines Mannes, der so viele Menschen glücklich gemacht hat, einen würdigen Schmuck erhält! – Sehen Sie, und wenn er mir nicht einen Thaler vermacht hätte, so würde ich zum wenigsten einige Blumen auf diesen Hügel gepflanzt haben! Sie sagen ja, der Pastor Ahl sei mit ihm befreundet gewesen, konnte seine Freundschaft nicht einmal ein so geringes Opfer bringen?«

»Er würde es gethan haben,« entgegnete Köhler, »wenn – wenn nicht der fatale Anhang zu dem Testamente gemacht wäre!«

»Mein Onkel hat vielleicht noch zur rechten Zeit eingesehen, daß er von der Seite doch nie auf einen aufrichtigen Dank werde rechnen können,« fuhr Ontzen fort. »Eine innere Stimme hat ihm vielleicht zugerufen, daß ihm in den Herzen seiner Anverwandten allein ein dauerndes Andenken gesichert werde, weil in diesen Herzen ein verwandtes Blut fließt. Und er soll sich in mir zum wenigsten nicht getäuscht haben! – Befindet sich in der Stadt nicht ein Künstler, der im Stande wäre, meinem Onkel ein würdiges Denkmal anzufertigen?«

Köhler theilte ihm mit, daß ein sehr geschickter Bildhauer in der Stadt wohne.

»Gut, senden Sie heute noch zu ihm und lassen Sie ihn bitten, zu mir zu kommen. Für dies Grab hier will ich eher Sorge tragen, ehe ich an die Erbschaft selbst denke. Und wenn sie mir nie zu Theil werden sollte, so will ich das Denkmal auf meine eigenen Kosten anfertigen lassen!«

Er begab sich zu der nahen Wohnung des Todtengräbers und trug ihm auf, den Grabhügel auf das Beste zu schmücken.

»Er soll zum wenigsten die schönsten Blumen tragen, bis das Denkmal fertig ist,« sprach er.

Als sie in den Löwen zurückkehrten, hatten sich bereits mehrere ärmere Verwandte des Verstorbenen und einige Diener, welche in den letzten Jahren bei ihm in Dienst gestanden, eingefunden, um dem Universalerben ihre Mitansprüche an die Erbschaft anzumelden.

Ontzen empfing sie in freundlicher Weise und gab ihnen die Versicherung, daß er ihre Ansprüche zuerst erfüllen werde, sobald er die Erbschaft angetreten habe.

»Bis dahin müssen Sie sich gedulden,« fügte er lächelnd hinzu, »denn den Poeten und Künstlern werfen die Götter selten Glücksgüter in den Schooß, jetzt kann ich Ihnen deshalb noch nicht einmal die geringste Abschlagssumme geben. Hoffentlich bin ich bald im Stande, Ihre Wünsche zu befriedigen und in Ihrem Interesse werde ich Alles aufbieten, um bald zum Ziele zu gelangen.«

Noch an demselben Tage begab er sich zu dem Gerichtsrath Bolten, in dessen Hand die Erbschafts-Angelegenheiten ruhten, und wurde von demselben in zuvorkommender Weise aufgenommen. Wer ist gegen einen jungen Mann, der im Begriff ist, einige hundert Tausend Thaler zu erben, nicht freundlich! Selbst wenn hinter dieser Freundlichkeit sich auch kein egoistisches Interesse versteckt, so übt doch das Geld an und für sich einen gewaltigen Reiz aus. Geld ist Macht und wir Deutschen sind von jeher daran gewöhnt, uns vor der Macht zu beugen. Thun wir dies nicht freiwillig, so werden wir gebeugt, aber dann meistens so tief, daß Viele dadurch brechen.

Ontzen theilte ihm mit, weshalb er erst so spät komme, seine Ansprüche geltend zu machen. »Ich habe an Ihrem Kommen nie gezweifelt,« erwiderte Bolten. »Selbst wenn Sie in Amerika gewesen wären, würde die Nachricht zu Ihnen gedrungen sein.«

Er legte ihm nun das Testament vor.

Ontzen durchlas es mit größter Aufmerksamkeit.

»Hiernach können meine Ansprüche, mein Recht von Niemand angefochten werden,« sprach er; »der Anhang ist bestimmt und klar. Ich glaube kaum, daß er irgend eine zweite Deutung zulassen würde.«

»Ich kenne keine,« gab der Gerichtsrath zur Antwort. »Es kommt allein darauf an, daß Sie sich hinreichend als der Sohn der Schwester des Commerzienraths legitimiren.«

»Das heißt, daß ich beweise, daß ich – ich bin,« warf Ontzen lächelnd ein.

»Ganz Recht.«

»Ich weiß nicht, ob Sie meine verstorbene Mutter gekannt haben,« fuhr Ontzen fort. – Der Gerichtsrath verneinte dies. »Sonst würde Ihnen gegenüber schon die Aehnlichkeit mit meiner Mutter als Beweis dienen. Es sind freilich viel Jahre entschwunden, seitdem sie diese Stadt verlassen hat – sie war damals noch jung. Ich berufe mich auch nicht weiter auf diese Aehnlichkeit, denn sie könnte eine zufällige sein – hier haben Sie die Beweise, daß ich der Neffe des Verstorbenen bin – hier ist mein Geburtsschein und hier mein Paß.«

Der Gerichtsrath nahm Beides zur Hand und durchlas es prüfend.

»Der Geburtsschein ist erst vor kurzer Zeit ausgestellt,« bemerkte er.

»Natürlich!« gab Ontzen zur Antwort. »Ich habe ihn mir erst zu diesem Zwecke ausstellen lassen – früher habe ich nie daran gedacht. Ich war bis dahin vollkommen zufrieden, daß ich überhaupt geboren war und ich habe auch nie daran gezweifelt, daß meine Mutter meine Mutter und mein Vater mein Vater gewesen ist. Wozu braucht ein Künstler einen Geburtsschein? Von dem Vorhandensein eines reichen Onkels habe ich zwar durch meine Mutter früher gehört, allein ich wußte auch, daß er sich um uns nie bekümmert hatte und ich dachte deshalb nicht daran, einst sein Erbe zu werden.«

»Sind dies Ihre sämmtlichen Papiere und Beweise, welche Sie legitimiren?« fragte Bolten.

»Ja – dies ist Alles, was ich besitze!« bemerkte Ontzen lächelnd. »Genügen diese beiden Beweise nicht?«

»Das will ich nicht behaupten,« fuhr Bolten fort. »Allein Sie werden doch sicherlich von Ihrer verstorbenen Mutter oder von Ihrem Vater irgend welche Papiere und weiteren Beweise haben?«

»Nichts habe ich – nichts!« gab Ontzen zur Antwort. »Nur einen alten Stock besitze ich noch von meinem Vater, mit welchem derselbe die Berge der Schweiz zu durchwandern pflegte. – Das ist Alles!«

»Wie ist das möglich?« rief Bolten.

»Es ist Alles verbrannt – Alles!«

»Verbrannt?« wiederholte Bolten fragend.

»Verbrannt vor ungefähr sechs Jahren – ja so lange ist es jetzt! Ich wohnte in einem Dorfe der Schweiz, sehr einfach, denn mein Vermögen war nicht groß – es bestand allein aus dem, was ich mir verdiente, und das war auch nicht viel. Es reichte indeß hin, um ganz lustig davon zu leben. Meine Eltern waren bereits beide todt – mein Vater schon seit längeren Jahren. Die wenigen Andenken, welche sie mir hinterlassen hatten, hatte ich in einen kleinen Koffer gepackt, den nahm ich mit mir, so oft ich meinen Wohnsitz änderte, und auch das geschah ziemlich oft. Ich hatte einen Ausflug in die Berge gemacht, und als ich zurückkehrte, fand ich von dem Hause, in welchem ich wohnte, nur noch einen Aschenhaufen vor. All meine Habseligkeiten, auch der Koffer mit den Andenken an meine Eltern waren ein Raub der Flammen geworden, – es war Alles dahin. Nur den Stock meines Vaters, den ich auf der Wanderung benutzt hatte, und den Ring meiner Mutter, den ich am Finger trug, waren mir als die einzigen Andenken übrig geblieben. Und auch dieser Ring ist mir ungefähr ein Jahr später gestohlen. Nun werden Sie begreifen, weshalb ich nicht mehr Beweise bringe, daß ich der Neffe des Verstorbenen bin.«

»Sie sind in der Schweiz geboren, wie ich sehe!« warf der Gerichtsrath ein.

»Ja wohl, und ich habe dieselbe fast nie verlassen. Mein Vater scheint sich mit meiner Mutter, als er mit ihr von hier entflohen war, sofort dorthin gewandt zu haben. Meine Mutter hat sich über diese Zeit ihres Lebens mir gegenüber nie näher ausgesprochen. Es schien ihr selbst peinlich zu sein, daran zu denken und zwar wie ich vermuthe, weil sie dadurch mit ihrem Bruder entzweit war. Auch in späteren Jahren hat sie ihrem Bruder noch immer ein liebevolles Andenken bewahrt. Ich würde viel darum geben, wenn sie diese letzte versöhnende That desselben noch erlebt hätte.«

Er erzählte dann, wie schon am Morgen dieses Tages, als er vom Grabe seines Onkels zurückgekehrt sei, verschiedene Verwandte und frühere Diener des Commerzienraths zu ihm gekommen seien, um ihre Ansprüche auf die Erbschaft geltend zu machen. »Sie schienen sämmtlich in dürftigen Verhältnissen zu sein und sich nach ihrem Antheil zu sehnen,« fügte er hinzu, »und in ihrem Interesse würde es mir lieb sein, wenn die Erbschaftsangelegenheit möglichst bald geordnet würde. Glauben Sie, daß dies viel Zeit in Anspruch nehmen wird?«

Bolten zögerte mit der Antwort.

»Auf diese Frage kann ich selbst noch keine bestimmte Entscheidung geben,« erwiderte er. »In sachlicher Beziehung läßt sich das Testament in keiner Weise anfechten, nur der eine Punkt ist nicht ganz bestimmt in ihm ausgesprochen, wann die Erbschaft dem Erben übergeben werden soll!«

»Nun natürlich doch dann, wenn die Ansprüche desselben geprüft und als echt erkannt sind,« warf Ontzen ein. »Ich finde die Bestimmung darüber sehr deutlich.«

Er nahm noch einmal das Testament, welches neben ihm auf dem Tische lag, zur Hand und durchlas es.

»Sie läßt sich dennoch anders deuten,« sprach Bolten. »Der Herr Pastor Ahl hat bereits als Vertreter der Kirche und Missionsanstalt durch einen Anwalt einen Protest anmelden lassen, daß die Aushändigung der Erbschaft nicht eher erfolge, als bis das in dem Testamente bestimmte Jahr nach der öffentlichen Aufforderung in den Zeitschriften abgelaufen sei.«

»Dieser Zeitraum ist ja nur deshalb festgesetzt, um mir zu ermöglichen, meine Ansprüche geltend zu machen, wenn ich vielleicht in einem fremden Lande weilte!« rief Ontzen.

»Ganz recht,« bestätigte Bolten. »Sie werden indeß bei sorgsamer Prüfung des Testamentes finden, daß auch eine Deutung im Sinne des Protestes möglich ist.«

»Und wenn nun das Gericht entschiede, daß diese Deutung nicht zulässig sei?« warf Ontzen fragend ein. Es schien ihn dieser Punkt durchaus nicht angenehm zu berühren.

»Dann zweifle ich nicht, daß der Herr Pastor Ahl gegen diese Entscheidung des Gerichtes eine Klage erheben würde, und bis diese entschieden sein würde, müßte jedenfalls die Ausführung des Testamentes sistirt werden.«

»Und was kann er dadurch erreichen,« bemerkte Ontzen. »Sie sagen selbst, daß der sachliche Inhalt des Testamentes durchaus bestimmt und unanfechtbar ist.«

»Das wiederhole ich noch einmal,« erwiderte der Gerichtsrath. »Die Absicht des Herrn Pastor Ahl kann ich indeß nicht errathen. Ich weiß nur, daß er sehr erbittert ist, weil seiner Kirche und Missionsanstalt das bedeutende Vermögen, auf welches er so zuverlässig gerechnet hatte, entgeht. Es scheint ihm schwer zu werden, dies zu verschmerzen.«

»Herr Gerichtsrath, thun Sie Alles, was in Ihrer Macht steht, diese Angelegenheit bald zur Erledigung zu bringen,« sprach Ontzen. »Ich bitte Sie darum und Sie dürfen auf meine Dankbarkeit rechnen.«

»Ich werde streng thun, was meine Pflicht erfordert,« gab Bolten ernst zur Antwort.

»Mehr verlange ich auch nicht,« fuhr Ontzen fort. »Fassen Sie meine Worte nicht falsch auf. Es soll durchaus keine Bestechung darin liegen, denn ich habe gottlob nicht nöthig, zu solchen Mitteln meine Zuflucht zu nehmen. Ich wünsche nur das Eine, daß mein gutes Recht bald zur Geltung kommt – mehr nicht!«

Bolten versprach ihm, Alles zu thun, was sich mit seiner Stellung und seinem Gewissen vereinigen lasse. Er gehörte zu den Richtern, die an dem Rechte unerbittlich streng halten und selbst zu der kleinsten Abweichung von demselben nie die Hand reichen.

Ontzen verließ ihn, zufrieden gestellt durch seine Versicherung.


IV.

Der junge reiche Erbe hatte in das Gastzimmer des Löwen ein ganz anderes Leben gebracht. Jeden Abend war das Zimmer mit Gästen erfüllt, die kamen, um ihn kennen zu lernen, weil sie wußten, daß er sich jeden Abend einfand. An dem Stammtische war er bereitwillig aufgenommen, und sämmtliche Herren an demselben versicherten, daß sie nie einen lustigeren Gesellschafter getroffen hätten.

Köhler hatte goldene Tage. So lustig war es nie bei ihm hergegangen und so viel war auch nie getrunken. Ontzen verstand zu leben. Er selbst war zwar im Essen wie im Trinken außerordentlich mäßig, allein er liebte es, oft sämmtliche Herren mit Champagner zu tractiren, und weshalb hätten sie es sich nicht von einem Manne gefallen lassen sollen, dem unerwartet ein so großes Vermögen in den Schooß gefallen war?

Noch besaß er zwar keinen Pfennig davon, allein es mußte ihm ja sicher zufallen. Das sah auch Köhler ein und mit größter Bereitwilligkeit trug er Alles, was sein reicher Gast verbrauchte, in sein Buch ein.

»Sie wissen, daß ich Sie jetzt nicht bezahlen kann,« sprach Ontzen zu ihm, »denn woher soll ein Maler wie ich soviel Geld nehmen. Aber Freund, an demselben Tage, an dem ich die Erbschaft antrete, werde ich Ihre Kasse mit Geld füllen. Sie sollen der Erste sein, den ich bezahle, und ich denke, so hoch wird sich meine Rechnung nicht belaufen, daß ich dadurch bankerott werde,« fügte er lächelnd hinzu.

Köhler ließ ihn kaum ausreden, wenn er hierauf zu sprechen kam.

»Sie wissen, daß Alles, was in meinem Hause ist, Ihnen zur Verfügung steht – selbst meine Kasse,« erwiderte er. »Es hat mir noch Niemand nachgesagt, daß ich engherzig bin und Sie sollen es am Wenigsten sagen. Ich bin zufrieden, wenn es Ihnen in meinem Hause gefällt!«

»Vortrefflich, Freund!« rief Ontzen. »Ihre Weine sind gut, Ihre Küche ist untadelhaft und Sie selbst sind ein Mann, dem man unmöglich böse sein kann. Bleibe ich späterhin hier, so wohne ich bei Ihnen. Dann soll der Löwe sich zu einer ungeahnten Blüthe entfalten, und eine Gesellschaft sollen Sie jeden Abend bei sich sehen, wie in keinem Gasthause Europa's eine zweite zu finden ist!«

Köhler hätte seinen Gast an das Herz drücken mögen und bereits mehrere Male hatte er im Stillen die Frage an das Geschick gerichtet, weshalb es nicht mehr solche Männer gäbe?

Die ganze Stadt sprach von den lustigen Abendgesellschaften im Löwen, sodaß Köhler ernstlich daran dachte, für den Winter sein Gastzimmer zu vergrößern. Er besprach diesen Gedanken sogar mit einem ihm befreundeten Mauermeister. –

 

Eine Gesellschaft, welche aus den Honoratioren der Stadt bestand, gab mehrere Male im Jahre in dem Löwen einen Ball. In einigen Tagen fand ein solcher statt.

Ontzen war bereits von mehreren Seiten zu demselben eingeladen, ohne daß er indeß eine bestimmte Zusage gegeben hatte.

»Sie müssen daran Theil nehmen,« sprach der Kaufmann Siegel am Abende zuvor, als sie in lustigster Stimmung an dem runden Stammtische saßen, zu ihm. »Sie müssen, sage ich. Wir haben unseren Frauen so viel von Ihnen erzählt, daß sie neugierig geworden sind, Sie kennen zu lernen. Verderben Sie es nicht mit der schöneren Hälfte. Und Sie werden erstaunt sein, wie viel hübsche Gesichter in dieser Stadt wachsen. Es ist ein gesunder Boden dafür. Ich kann dies dreist sagen, denn meine Töchter sind noch zu jung, um mit gezählt werden zu können.«

Ontzen zögerte.

»Siegel hat Recht,« nahm der Doctor Ohrstedt das Wort. »Sie werden sich freuen über die vielen hübschen Gesichter, welche Sie morgen Abend treffen. Hätte ich in Ihrem Alter solche Aussichten gehabt, wie Sie haben, so würde ich allen Mädchen die Köpfe verdreht haben.«

»Sie würden vielleicht ein kleiner Don Juan geworden sein!« warf Ontzen lächelnd ein.

»Nein, ein großer!« rief Ohrstedt. »Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, ein sehr großer.«

Ontzen willigte endlich ein, an dem Balle Theil zu nehmen.– –

 

Der Abend des folgenden Tages war herangekommen. Der Ballsaal füllte sich schnell mit Menschen. Mehr als früher nahmen an dem Balle Theil, weil viele den reichen Erben kennen zu lernen wünschten.

Als Ontzen in den Saal trat, richteten sich Aller Augen auf ihn. Er war fein gekleidet. Sein Benehmen war leicht, ungezwungen, sicher. Wer freilich in kurzer Zeit einige hundert Tausend Thaler zu empfangen hat, kann leicht mit einem Gefühle der Sicherheit auftreten. Flüchtig musterte er den großen Kreis der Damen, denn schon drängten sich von allen Seiten Herren an ihn heran, um ihn zu begrüßen.

Der Tanz begann.

Ontzen stand an Jöns Seite.

»Sie tanzen nicht?« fragte der Advocat.

»Doch, doch,« erwiderte Ontzen. »Ich kenne noch keine der Damen, habe also auch noch gegen keine Verpflichtungen. Dies will ich mir zu Nutz machen und mir die Schönsten auswählen. Wer ist das junge reizend frische Mädchen dort im weißen Kleide mit den dunklen Rosen im Haar? Sie lacht soeben.«

Auch Jöns lächelte.

»Sie haben keinen üblen Geschmack. Es ist Fräulein Ahl.«

»Die Tochter des Pastor Ahl?« rief Ontzen sichtbar überrascht – fast laut.

»Die Tochter des Pastor Ahl – Ihres Freundes,« erwiderte Jöns. »Es scheint Sie zu überraschen, daß er eine so hübsche Tochter hat. Ich begreife es selbst nicht, allein das Factum liegt vor, wie Sie sehen.«

»Es überrascht mich, daß der fromme Herr an einem Balle Theil nimmt,« bemerkte Ontzen. »Dies hatte ich nicht erwartet.«

»Sie würden ihn auch vergebens hier suchen,« fuhr Jöns fort. »Er meidet solche weltlichen Vergnügungen, allein seine Frau liebt sie und da sie – wie man sagt – das Regiment in dem Hause führt, so besucht sie mit ihrer Tochter auch die Bälle, und dies werden Sie ihr gewiß nicht verargen, denn es wäre Schade um das junge Mädchen, wenn es an zu großer Frömmigkeit zu Grunde gehen sollte.«

»Gewiß – gewiß!« bestätigte Ontzen in Gedanken versunken.

Jöns bemerkte dies.

»Soll ich Sie der jungen Dame vorstellen?« fragte er lächelnd.

Ontzen antwortete nicht. Noch immer hielt er das Auge in Gedanken vor sich hingeheftet.

»Soll ich Sie der jungen Dame vorstellen?« wiederholte der Advokat noch einmal. »Haha! Es wird Aufsehen erregen, wenn Sie zuerst mit der Tochter Ihres Gegner tanzen. Dies würde mich an Ihrer Stelle dazu bewegen.«

»Ja, stellen Sie mich ihr vor – ich bitte Sie darum,« erwiderte der junge Mann rasch aufblickend.

Er schien aufgeregt zu sein – Jöns begriff dies nicht, erfüllte indeß die Bitte.

Der Advokat hatte Recht gehabt. Es machte in der That Aufsehen, daß er sich zuerst der Tochter seines Gegners vorstellen ließ.

»Er thut es, um Ahl zu ärgern,« sprach der im Hintergrunde stehende Kaufmann Siegel.

»Nein, ich glaube, er will sich mit dem Herrn Pastor aussöhnen,« warf Ohrstedt lachend ein. »Nur dessen Protest ist Schuld, daß die Erbschaftsangelegenheit noch nicht geregelt ist. Das würde mir auch unangenehm sein, wenn einige Hunderttausend mir hingestellt würden und ich dürfte die Hand nicht darnach ausstrecken. Meine Herren, das ist ein Stückchen Tantalusqual!«

»Ich glaube Sie irren Alle Beide,« bemerkte Jöns lachend. »Wenn ihm das Mädchen nun wirklich gefiele? Seine Tantalusqual ist nicht sehr groß, denn er leidet hier im Löwen weder Hunger noch Durst – Köhler schreibt Alles an!«

Ontzen wußte nicht, was über ihn gesprochen wurde, er würde sich auch wenig darum gekümmert haben. Er warf auf die ihm bekannten Herren nicht einmal einen Blick, denn sein ganzes Interesse nahm das Mädchen in Anspruch, an dessen Seite er stehen geblieben war. Und es war eine frische, anmuthige Erscheinung, die mit der langen hageren Gestalt ihres Vaters nicht die geringste Aehnlichkeit hatte.

Er unterhielt sich mit ihr, tanzte mit ihr, ließ sich ihrer Mutter vorstellen und bat, sie zu Tisch führen zu dürfen.

Die sichtbare Auszeichnung, welche er ihr zu Theil werden ließ, entging Niemand. Er selbst war in heiterster Stimmung.

Erst gegen Morgen verließ er den Ballsaal und begab sich dann sofort auf sein Zimmer. –

 

Der Pastor Ahl war am Morgen des folgenden Tages in einer sehr ungnädigen Stimmung. Seine Frau war so unvorsichtig gewesen, ihm zu erzählen, welche Aufmerksamkeit Ontzen ihrer Tochter erwiesen hatte – das ärgerte ihn.

Er überhäufte seine Frau mit den heftigsten Vorwürfen, weil sie dies geduldet habe.

»Dieser Mensch ist Schuld, daß die Erbschaft meiner Kirche und Missionsanstalt entgeht!« eiferte er. »Er weiß, daß ich sein Gegner bin, und trotzdem sucht er mein Kind auf. Nur um mich zu ärgern, hat er dies gethan!«

Vergebens suchte seine Frau ihm diesen Gedanken auszureden. Sie war überzeugt, daß in dem Herzen des jungen Erben eine Neigung zu ihrer Tochter entstanden war, allein sie war zu klug, um dies ihrem Gatten zu erzählen. Durch die Mittheilung seiner Aufmerksamkeit hatte sie gleichsam erst einen Fühler auf die Gesinnung ihres Mannes vorausgesandt und sie schwieg, nun sie die heftige Erbitterung desselben wahrnahm.

Ahl war auf das Höchste überrascht, als wenige Stunden später Ontzen sich bei ihm anmelden ließ. Er war anfangs entschlossen, ihn zurückzuweisen, allein die Neugierde, was denselben zu ihm führen möge, siegte. Vielleicht kam derselbe, um ihm in Bezug auf die Erbschaft einen Ausgleichungsvorschlag zu machen, denn daß die Ansprüche der Kirche und der Missionsanstalt erloschen waren, davon konnte der fromme Herr sich noch immer nicht überzeugen.

In kalter, abgemessener Weise empfing er den Eintretenden.

Ontzen schien einen andern Empfang kaum erwartet zu haben, denn er wurde nicht im Geringsten dadurch in Verlegenheit gesetzt.

In herablassender Weise bat Ahl ihn, Platz zu nehmen.

»Mein Besuch überrascht Sie, Herr Pastor,« sprach Ontzen lächelnd. »Ich könnte vorschützen, daß es nur meine Absicht sei, mich nach dem Befinden Ihrer Fräulein Tochter zu erkundigen, welche kennen zu lernen ich gestern Abend die Ehre gehabt habe, allein wenn wir auch bisher durch das Testament meines Onkels einander als Gegner gegenüber gestellt waren, so habe ich doch so viel Gutes von Ihnen gehört, daß ich es vorziehe, Ihnen mit vollem Vertrauen entgegen zu kommen?«

Diese Worte setzten Ahl in Verlegenheit. Er wußte noch nicht, was Ontzen im Sinne hatte und war deshalb auch ungewiß, wie er sein Benehmen einrichten sollte. Sein Gesicht nahm zum wenigsten einige freundlichere Züge an.

»Darf ich Ihnen mit ganzem und vollem Vertrauen entgegenkommen?« fragte Ontzen.

Und diese Worte klangen so offen, sein Auge blickte so ehrlich. –

Ahl sagte ihm, daß er ein offenes Vertrauen stets hochgeachtet habe. Er wollte es mit Würde sagen, es klang aber etwas ungeschickt.

»Gut!« fuhr Ontzen fort. »Meine Worte sind indeß vorläufig nur für Sie – für Sie allein, Herr Pastor. Ihr Fräulein Tochter hat gestern Abend auf mein Herz einen tiefen Eindruck gemacht. Ich mußte das Auge bereits auf der reizenden, frischen Erscheinung ruhen lassen, ehe ich noch ihren Namen kannte. Ich habe mich mit ihr unterhalten, ich habe die Stunden seit gestern Abend dazu angewandt, mein Herz zu prüfen, und ich weiß, daß die Empfindung, welche dasselbe erfüllt, keine vorübergehende, sondern eine tiefe und bleibende ist. So tief sie aber ist, so ehrlich ist sie auch. Sie hat mich jedes Bedenken überwinden lassen und zu Ihnen getrieben. Herr Pastor, ich will keine übereilte Bitte an Sie richten, ich ersuche Sie nur um das Eine, halten Sie meine Empfindung für eine aufrichtige und gestatten Sie mir, hier in Ihrem Hause, unter Ihren Augen Ihre Tochter näher kennen zu lernen und mein Glück zu versuchen, ob es mir gelingen wird, ihre Liebe zu erwerben. – Auch Sie werden mich dann vielleicht näher kennen lernen,« fügte er lächelnd hinzu.

Ahl war durch diese Worte auf das Aeußerste überrascht. Dies hatte er nicht erwartet. Er würde mit sich vielleicht nicht so schnell einig geworden sein, wäre nicht der Gedanke in ihm aufgetaucht, daß er dann ja unmittelbar an der Erbschaft theilnehme.

»Sie antworten mir nicht – Sie weisen meine Bitte zurück?« antwortete Ontzen.

»Nein – nein!« erwiderte Ahl, sich rasch fassend. »Ich will dem Vertrauen Vertrauen entgegensetzen, und es wird mich freuen, wenn sich keiner von uns irrt.«

Er sprach dies salbungsvoll, doch nicht ohne Wärme.

»Ich danke Ihnen für diese Worte,« entgegnete Ontzen.

»Nur die eine Bitte lassen Sie mich noch hinzufügen. Verrathen Sie Ihrer Tochter mit keinem Worte meine Absicht, lassen Sie mir, die Freude, ganz allein ihr Herz zu erwerben.«

Auch damit war Ahl einverstanden. Sein ganzer Groll gegen den jungen Mann war mit einem Male geschwunden, in freundlichster Weise setzte er sich an seiner Seite nieder. Er führte das Gespräch auf Ontzens Leben, auf die lustigen Abende in dem Bären Zunächst hieß das Gasthaus noch »Zum Löwen.« [ D.Hrsg.].

»Es soll dort etwas sehr toll und lustig hergehen, seitdem Sie hier sind,« sprach er mit einem lächelnden Vorwurfe.

»Gönnen Sie einem jungen Manne diese Lust,« entgegnete Ontzen. »Meine Jugend war nicht ohne Entbehrungen, mein ganzes Leben ist ein einfaches gewesen, ich habe bis vor kurzer Zeit nie den Gedanken einer sorgenlosen, reichen Zukunft gehabt – mit einem Male thürmt das Glück Reichthümer vor mir auf. Oft berauscht mich schon der Gedanke daran. Ich möchte Allen von meinem Glücke mittheilen, ich fühle mich nur wohl, wenn ich Menschen um mich habe, die lustig sind, weil jetzt in mir Alles voller Lust ist! Verkennen Sie diesen Rausch des Glückes nicht, er ist ja nicht unnatürlich, und lassen Sie mir noch einige Zeit, dann werden Sie erkennen, daß ich wieder ruhig werde.«

»Ich hoffe es, denn die irdischen Güter begründen nicht das wahre Glück des Menschen,« warf Ahl ein. »Es liegt sogar eine große Verführung in ihnen, und es gehört ein fester Charakter dazu, um diese Verführung zu überwinden.«

»Ich hoffe diese Kraft zu besitzen,« entgegnete Ontzen. »Ich habe mich schon jetzt gefragt, ob ich mich unglücklich fühlen würde, wenn ich die Erbschaft mit einem Male verlöre – ich würde nicht dadurch niedergebeugt werden, sondern ruhig zu meinem früheren Leben zurückkehren und Alles nur als einen schönen Traum ansehen.«

»Erhalten Sie sich diesen Gedanken, junger Freund,« sprach Ahl, »er wird Sie jede Versuchung überwinden lassen. Wir dürfen uns der irdischen Güter erfreuen, nur sollen sie den Menschen nicht beherrschen und nicht den höheren und edleren Gedanken in ihm ertödten.« –

Sie schieden als gute Freunde. –

 

Jeden Tag verkehrte Ontzen jetzt in dem Hause des Pfarrers, er erschien sogar manchen Abend in der Gaststube des Bären nicht. Seine Bekannten scherzten über diese neu geschlossene Freundschaft, allein als er diesen Scherz nicht gern zu sehen schien, schwiegen sie darüber. Gegen einen jungen Mann, der einige hunderttausend Thaler erbt, nimmt ein Jeder Rücksichten.

Ungefähr vier Wochen später verkündete das in der Stadt erscheinende Tageblatt die Verlobung von Helene Ahl mit dem Maler Heinrich Wilhelm Ontzen.

Manche schüttelten hierüber den Kopf. Sie begriffen nicht, wie Ontzen zu diesem Schritte gekommen sei. Oder sollte es eine That der Klugheit sein, um seinen Gegner, den Pastor Ahl, zu entwaffnen und dessen Protest in Bezug auf die Vollziehung des Testamentes aufzuheben?

Ontzen selbst sprach sich gegen Jöns, als dieser ihm Glück wünschte, darüber aus.

»Ich sehe es Ihren Augen an, daß meine Verlobung Sie in Erstaunen gesetzt hat,« sprach er, »allein die Liebe kennt keine Rücksichten. Meine Braut hat sogleich mein Herz gefangen genommen, als ich sie zum ersten Male auf dem Balle sah, als ich ihren Namen noch nicht einmal kannte. Ich fühlte, daß ich, ohne sie zu besitzen, nie glücklich werden würde, – da habe ich mich über alle Vorurtheile hinweggesetzt! – Würden Sie es anders gemacht haben?«

»Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht im Stande bin, mich in Ihre Lage hinein zu versetzen,« entgegnete Jöns. »Wie hat der Herr Pastor Ihre Verlobung aufgenommen?«

»Er ist ganz damit zufrieden. Er weiß, daß ich seine Tochter aufrichtig liebe, daß auch sie mich liebt – weshalb sollte er unserm Glücke entgegentreten?«

»Es freut mich, daß er dies nicht gethan hat,« bemerkte Jöns. »Ich will offen gestehen, daß ich geglaubt habe, er würde engherziger sein, weil Sie seiner Glaubensrichtung nicht angehören. Wird er jetzt auch seinen Protest gegen die Vollziehung des Testamentes aufrecht erhalten?« fügte er fragend hinzu.

»Ich weiß es nicht, denn ich habe über diesen Gegenstand mit ihm noch nicht gesprochen,« erwiderte Ontzen unbefangen. »Es ist mir nur unbegreiflich, weshalb das Gericht in dieser ganzen Angelegenheit mit solchem Zögern verfährt.«

Auch Jöns konnte ihn darüber nicht aufklären.

 

Noch einmal begab sich Ontzen zu dem Gerichtsrath Bolten, um seine Angelegenheit zu beschleunigen. Der Unwille, welcher sich, als er denselben wieder verließ, auf seinem Gesichte aussprach, verrieth deutlich, daß er seinem Wunsche wenig näher gerückt war.

In ärgerlicher Stimmung begab er sich zu Ahl. Er traf denselben allein in seinem Zimmer. Dem scharfen Blicke des Pastors entging diese Stimmung nicht.

»Was ist Ihnen begegnet, lieber Sohn?« fragte er.

Ontzen suchte der Frage zögernd auszuweichen.

»Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« bemerkte Ahl.

»Doch – doch!« gab Ontzen zur Antwort. »Das ist nicht der Grund, ich befürchte nur, daß Sie mich falsch verstehen werden.«

»Seien Sie ohne Besorgniß – denn ich kenne Sie hinreichend,« erwiderte Ahl. »Nun sprechen Sie.«

»Ich komme von dem Gerichtsrath Bolten,« fuhr der junge Mann fort. »Ich war zu ihm gegangen, um ihn um Beschleunigung meiner Angelegenheit zu ersuchen. Sie wissen, auf welchem Punkte dieselbe noch immer steht.«

»Ich weiß es,« bestätigte Ahl.

»Er erhob neue Bedenken und Schwierigkeiten. Er berief sich auf Ihren Protest gegen die Ausführung der Testamentsbestimmung, ehe nicht das Jahr abgelaufen sei, er fügte hinzu, daß ich zur völligen Begründung meiner Legitimität noch eines ausdrücklichen Zeugnisses der Behörde meines Heimathsortes oder der des Ortes, in welchem ich mich zuletzt längere Zeit aufgehalten habe, bedürfe. Dieses Zögern, dieses Bedenken hat mich verstimmt. Sie werden begreifen, weshalb ich mich jetzt doppelt sehne, bald an dem erwünschten Ziele anzugelangen.«

»Ich begreife es,« versicherte Ahl. »Kann es Ihnen indeß so große Schwierigkeit machen, das Zeugniß der Behörde zu erlangen?«

»Ich müßte zu dem Zwecke nach der Schweiz zurückreisen, weil die Behörde nur mir persönlich dies Zeugniß ausstellen kann und ausstellen wird.«

»So reisen Sie, lieber Sohn,« bemerkte Ahl.

Ontzen schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.

»Ich kann jetzt nicht reisen,« erwiderte er, »ich mag mich von Helene nicht trennen, und ich besitze, offen gestanden, jetzt nicht einmal die Mittel zu einer solchen Reise! Ich habe hundert Tausende zu erwarten und besitze nicht einmal das Geld zu solcher Reise!«

»Ich werde es Ihnen verschaffen.«

Wieder schüttelte Ontzen ablehnend mit dem Kopfe.

»Ich habe schon einmal Ihre freundliche Unterstützung in Anspruch genommen,« entgegnete er. »Ich habe das Geld benutzt, um einige von denen, die mich fast täglich um ihren Antheil an die Erbschaft drängen und nicht einsehen wollen, daß ich selbst noch nicht einen Pfennig davon in Händen habe, vor der Hand zu befriedigen und los zu werden. Ich darf nicht auf's Neue zu Ihrem Schuldner werden.«

Ahl unterbrach ihn mit einer abwehrenden Handbewegung.

»Lassen Sie – lassen Sie!« fiel er ein. »Alles, was ich besitze, steht Ihnen zur Verfügung – sehen Sie dasselbe als Ihr Eigenthum an. Ich hatte das Ersparte zur Mitgift für Helene bestimmt – Sie würden es also doch erhalten haben – nun kein Wort mehr darüber.«

»Sie könnten mir noch einen anderen, großen Dienst erweisen,« fuhr Ontzen fort. »Des Gerichtsraths Bedenken und Zögern scheint nur durch Ihren Protest hervorgerufen zu sein, können Sie denselben nicht zurücknehmen?«

»Nein. – nein, das geht nicht,« fiel Ahl hastig, aufgeregt ein. »Es geht nicht, lieber Sohn – es geht nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe diesen Schritt längst bereut, ich kannte Sie ja nicht – er scheint sich jetzt an mir selbst zu rächen. Ich würde viel darum geben, wenn ich ihn ungeschehen machen könnte, allein trotzdem kann ich ihn nicht zurücknehmen. Meine ganze Stellung würde hier dadurch untergraben, vernichtet – mein Ansehen! Man würde mich beschuldigen, daß ich jetzt nur aus eigenen Interessen handle – es geht nicht.«

Ontzen hatte ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zugehört, nicht eine Secunde lang hatte er den Blick von seinem Gesichte gewandt.

»Wenn die Erbschaft in meinen Händen ist, können Sie getrost Ihre hiesige Stellung aufgeben. Sie haben dann nicht mehr nöthig, sich zu mühen – ich bin ja dann reich genug, daß wir alle ein sorgenfreies Leben führen können.« – Ahl schüttelte mit dem Kopfe.

»Das geht nicht,« erwiderte er. »Ich kann mich von meinem Amte nicht trennen – es ist mir lieb geworden. Und selbst wenn ich dies thun wollte, so steht es nicht allein in meiner Macht, den Protest zurück zu nehmen. Nicht ich allein habe ihn erlassen, sondern zugleich auch meine Collegen und die Mitglieder des Vorstandes der Missionsanstalt – es geht nicht!«

Er ging mit langen, hastigen Schritten im Zimmer auf und ab.

Ontzen errieth, daß sich in dieser Beziehung nichts von ihm erreichen lassen werde.

»Ich will nicht weiter in Sie drängen,« sprach er, »ich erkenne Ihre Gründe an, allein Sie besitzen Macht, Sie haben großen Einfluß – können Sie denselben nicht geltend machen, um meine Angelegenheit zu beschleunigen?«

»Geben Sie mir einen Weg an, den ich unbeschadet meiner Ehre und meiner Stellung einschlagen kann und ich will Ihnen zu Liebe Alles thun,« entgegnete Ahl. »Ich selbst kenne keinen.«

»Wenn Sie mit dem Gerichtsrath sprächen,« fuhr Ontzen fort, »wenn Sie ihm in vertraulicher Weise mittheilten, daß der Protest nicht so ernstlich gemeint sei, daß Sie, wenn derselbe nicht beachtet werde, keine weiteren Schritte thun würden, da Sie sich von dem Rechte meiner Ansprüche überzeugt hätten!«

»Auch das kann ich nicht thun,« fiel Ahl ein. »Der Gerichtsrath hat eine andere religiöse Ueberzeugung als ich – ist er mir auch nicht feindlich gesinnt, so ist er mir doch auch kein Freund – er würde meine Aeußerung vielleicht nicht so geheim halten, sie würde bekannt werden – ich habe viele Feinde hier in der Stadt, sie würden sich sofort dieser Aeußerung gegen mich bemächtigen. – Ich verspreche Ihnen, daß ich Alles, was in meinen Kräften steht, für Sie thun werde, nur lassen Sie mir Zeit, daß ich darüber nachsinne, daß ich selbst einen Weg auffinde, den ich ungefährdet betreten kann. Jetzt gehen Sie zu Helene, sie wird Sie längst erwarten. Verschweigen Sie ihr unser Gespräch. Sie ist so glücklich und sorgenlos, daß es mir wehe thun würde, wenn nur der leiseste Schatten sich auf ihr Glück legte. Gehen Sie, ich werde Ihnen noch heute zeigen, daß ich Alles, was in meinen Kräften steht, für Sie zu thun bereit bin.«

 

Ontzen begab sich in Helenens Zimmer.

Mit offenen Armen kam ihm das junge, frische Mädchen entgegen.

»Ich habe Dich längst erwartet,« sprach sie.

»Und ich konnte nicht früher kommen,« erwiderte Ontzen lächelnd, von dessen Stirn jeder Hauch einer trüben Stimmung gewichen war.

Helene theilte ihm mit, daß sie schon längst den Wunsch gehegt habe, das Malen zu erlernen, ihr Vater sei jetzt damit einverstanden, und sie bitte ihn nun, ihr Unterricht zu geben.

Ontzen lächelte.

»Das ist Dein Ernst?« fragte er.

»Gewiß. Du glaubst, ich habe kein Talent dazu?«

»Das kann ich noch nicht beurtheilen. Allein ich würde keine Ruhe dazu haben. Wenn ich bei Dir bin, will ich mit Dir plaudern, dann will ich Deine Hände in der meinigen halten, will Dir in's Auge schauen und von unserem künftigen Glücke sprechen. Ich liebe Dich so wie Du bist. Später will ich Deinen Wunsch erfüllen, nur jetzt nicht. Sieh, ich bin so berauscht durch das Glück meiner Liebe, daß jetzt meine eigene Hand nicht einmal im Stande sein würde, den Pinsel zu führen. Ich selbst könnte jetzt nicht malen, ich müßte sonst nur Deine dunkelen Augen, Deine Wangen, Deine Lippen malen – denn nur an sie – nur an Dich denke ich!«

»So male sie,« warf Helene scherzend ein.

»Nein – nein,« wehrte Ontzen zurück. »Es würde die Hand eines Raphael dazu gehören, um Dich zu malen so lieb, so schön, so frisch, wie Du bist! Ich weiß im Voraus, daß ich das Bild hundertmal beginnen und hundertmal wieder auslöschen würde, weil mir doch kein Bild genügte. Sieh, deßhalb rühre ich jetzt keinen Pinsel an. Ich muß erst wieder ruhiger werden, muß mich selbst in mitten meines Glückes erst zurecht finden.«

Helene fand dies Alles ganz natürlich. Ein junges Mädchen, welches erst seit wenigen Tagen verlobt ist und ihren Bräutigam liebt, findet an demselben überhaupt Alles natürlich. Sie sieht alle seine Gewohnheiten, seine Eigenschaften, seine Anschauungen, noch durch die rosig gefärbten Gläser der Liebe an und da erscheint ihr seine ganze Gestalt im rosigen Schimmer.

In glücklich heiterer Weise verplauderte Ontzen die Zeit an der Geliebten Seite. Er malte ihr das Glück aus, welches er ihr bereiten wollte.

»Sieh,« sprach er, »unserer Verbindung stände nichts entgegen, wenn mir das Vermögen meines Onkels übergeben würde. Dann reisten wir zusammen nach der Schweiz. Du solltest die Alpen und die wundervollen Thäler kennen lernen, Du solltest das Alpenglühen schauen und die wunderbar schimmernden Gletscher! Bitte Deinen Vater, daß er mit dem Gerichtsrath spricht, daß er ihn zu bewegen sucht, die Erfüllung des Testamentes nicht länger hinauszuschieben. Ich würde nicht drängen, allein so viel Tage Du später für immer mein wirst, so viele Tage scheinen mir von meinem Glücke geraubt zu werden, und ich will geizen mit diesem Glücke, nicht eine Stunde desselben möchte ich verlieren.«

Helene versprach es.

 

Der Abend war hereingebrochen, als Ontzen seine Verlobte verließ. Er war im Begriff, aus dem Hause zu schreiten, als Ahl ihn noch einmal in das Zimmer rief.

»Ich habe Ihren Wunsch noch einmal nach allen Seiten hin reiflich überlegt,« sprach er, als Ontzen eingetreten war, »ich fühle sogar, daß Sie ein Recht haben, denselben an mich zu richten, dennoch bin ich nicht im Stande, ihn zu erfüllen. Ich kann es nicht! Ich kann meiner Ehre und meinem Namen nicht selbst einen solchen Stoß versetzen. Verlangen Sie Alles von mir – nur dieses nicht. Meine Feinde würden über mich herfallen, meine Stellung hier würde erschüttert. Dieser unglückselige Protest hat mir in den letzten Tagen bereits viele Sorgen bereitet – allein ich kann ihn nicht ungeschehen machen. – Reisen Sie nach der Schweiz, lieber Sohn, holen Sie die Bestätigung Ihrer Heimathsbehörde, räumen Sie jedes Bedenken des Gerichtsraths hinweg, dann können Sie mit Entschiedenheit auf die Erledigung Ihrer Ansprüche drängen. – Hier haben Sie die Mittel zu der Reise,« fuhr er fort, indem er ihm eine Brieftasche überreichte. »Es ist Alles, was ich Ihnen geben kann – es ist freilich mehr, als Sie zu der Reise nöthig haben, selbst wenn Sie als reicher Erbe auftreten.«

Ontzen zögerte, die Brieftasche anzunehmen.

»Nehmen Sie – nehmen Sie,« drängte Ahl. »Sie dürfen versichert sein, daß ich es Ihnen gern gebe. Ich will es Ihnen ja nicht schenken, sondern nur leihen,« fügte er lächelnd hinzu.

»Und ich verspreche Ihnen, daß ich diese Ihre Freundlichkeit zwanzigfach vergelten will,« erwiderte Ontzen.

Er verließ seinen künftigen Schwiegervater und schritt langsam dem Bären zu. In dem Gastzimmer hatten sich bereits eine Anzahl Gäste eingefunden – er hörte sie laut lachen. Ehe er indeß zu ihnen trat, begab er sich auf sein Zimmer, um den Inhalt seiner Brieftasche zu untersuchen. Sie enthielt mehr, als er erwartet hatte. Er mußte lächeln. Ahl galt in der ganzen Stadt als ein äußerst genauer Mann, der das Geld liebte, und ihm gegenüber trat er in so zuvorkommender Weise auf. Er errieth die Absicht, welche sich dahinter verbarg – nämlich ihn fest an sich zu fesseln.

Sorgfältig verbarg er die Brieftasche im Secretär. Er hörte in diesem Augenblicke einen Wagen vor dem Hause vorfahren. Was kümmerte es ihn! In einem Gasthause kommen häufig Fremde an, und litt auch der Löwe selten an Ueberfüllung, so waren die Fremden in ihm doch nicht selten, weil er unter allen Gasthäusern der Stadt sich des besten Rufes erfreute und denselben unbedingt auch verdiente.

Langsam trat er aus dem Zimmer, um sich hinab in die Gaststube zu begeben. Auf der Treppe sah er eine Dame und einen Herrn von dem Wirthe begleitet heraufsteigen. Er hielt noch den Thürgriff in der Hand – und leise zusammenzuckend blieb er stehen. Die Dame sprach mit dem Wirthe, und er kannte diese Stimme! Oder sollte er sich geirrt haben? Wie leicht kann man sich in einer Stimme irren. Und obenein war die Dame, an welche dieser Ton ihn erinnerte fern – fern von dort.

Er strengte das Auge an, um ihre Gesichtszüge zu erkennen – es war dies in dem Halbdunkel, welches auf der Treppe herrschte, nicht möglich. Ungewiß über seine Wahrnehmung, trat er in das Zimmer zurück. Noch hatten ihn die Kommenden nicht gesehen. Sie mußten an seiner Thür vorbeigehen, und da er dieselbe nicht vollständig schloß, konnte er durch die schmale Thüröffnung genau die Züge der Dame erblicken.

Unruhig, mit pochendem Herzen stand er da. Er hörte sie näher kommen, kaum wenige Schritte konnten sie noch von seiner Thür entfernt sein.

»Geben Sie uns zwei recht freundliche, sonnige Zimmer,« sprach die Dame zu dem Wirthe. »Mein armer Mann ist leidend, und wir werden längere Zeit bei Ihnen wohnen bleiben.«

Wieder dieselbe Stimme, die Ontzen sogleich beim ersten Klange überrascht hatte. Da schritt die Dame auf dem Corridor dicht an ihm vorüber, so nahe, daß er sie mit ausgestreckter Hand hätte erfassen können. Die auf dem Corridor brennende Gasflamme warf einen hellen Schein auf ihr Gesicht. Deutlich erkannte er die Züge desselben und fuhr erschreckt zurück. Mit der Hand hielt er sich an dem Thürpfosten. Schnell raffte er sich indeß wieder zusammen und warf noch einmal einen Blick durch die wenig geöffnete Thür. Sie war es – er konnte nicht mehr zweifeln. Der Wirth geleitete sie in ein nur wenige Thüren von ihm entferntes Zimmer.

Ontzen schloß die Thür. In aufgeregter Stimmung schritt er im Zimmer auf und ab. Die Ankunft dieser Dame hatte ihn in diese Aufregung versetzt. Sie durchkreuzte mehrere seiner Pläne. Was hatte sie hierher geführt? Weshalb wollte sie längere Zeit in der Stadt verweilen? Wer war ihr Mann? Als er sie gekannt hatte, war sie noch unverheirathet gewesen.

All' diese Fragen legte er sich selbst vor, ohne daß er im Stande war, sich auf eine einzige Antwort zu geben. Diese Ungewißheit peinigte ihn. Er sann vergebens nach, um sich Auskunft zu verschaffen.

Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. Er trat an den Spiegel und strich mit der Hand über die Stirne hin, um dort jede Spur seiner Aufregung zu verwischen. Dann schritt er hinab in das Gastzimmer. Ehe er sich an dem Stammtische niederließ, zog er Köhler bei Seite.

»Ich möchte einige Worte mit Ihnen allein sprechen,« sagte er leise zu ihm.

Zuvorkommend führte Köhler ihn in sein Comtoir, ein kleines Gemach, welches unmittelbar an das Gastzimmer grenzte.

»Ich bin in Verlegenheit, lieber Freund,« sprach er halb zutraulich und halb verlegen. »In wenigen Tagen ist der Geburtstag meiner Braut, ich möchte ihr einen Schmuck kaufen, allein ich habe kein Geld –!«

»Und dies ist Ihre einzige Sorge,« unterbrach ihn Köhler lachend. »Ich denke, Sie haben mehr als einen Freund, bei dem es nur eines Wortes bedarf.«

»Gewiß,« bemerkte Ontzen. »Ich bin überzeugt, daß mein künftiger Schwiegervater mir mit Vergnügen aushelfen würde, allein es widerstrebt meinem Gefühle, von ihm Geld anzunehmen, um dafür seiner Tochter ein Geschenk zu kaufen.«

»Sie haben mich falsch verstanden,« fiel Köhler ein, »unter den Freunden habe ich mich selbst gemeint. Wir wollen es kurz machen, wie viel wünschen Sie?«

»Es ist das erste Geschenk, welches ich meiner Braut überreichen werde,« entgegnete Ontzen zögernd, »ich darf es auf den Preis nicht ansehen! Ich möchte ihr durch den hohen Werth des Geschenkes die Größe meiner Liebe andeuten. Ich habe einen prachtvollen Schmuck an dem Fenster des Goldschmieds liegen sehen!«

»Haha! So kaufen Sie ihn!« fiel Köhler ein. »Ich meine selbst, wer einige hundert Tausend Thaler erbt, darf seiner Braut gegenüber nicht knausern! Ich würde ihr noch mehr als einen Schmuck kaufen – ich würde sie mit Diamanten behängen!«

»Köhler, Sie wissen, daß ich noch keinen Pfennig von der Erbschaft in Händen habe,« warf Ontzen ein.

»Das ist auch nicht nöthig,« fuhr der Wirth fort.

»Soviel als nöthig ist, um einen Schmuck zu kaufen, hoffe ich, werden Sie stets in meiner Kasse finden. Wie viel wünschen Sie?«

»Können Sie mir einige hundert Thaler geben?«

»Gewiß, gewiß! Ich bin kein reicher Mann, allein ich sorge stets, daß für alle Verlegenheiten ein Noththaler in meiner Kasse ist. Sie können jetzt sogar einen guten Griff hinein thun, ohne daß Sie zu befürchten brauchen, ich werde dadurch irgend wie in Verlegenheit gerathen.«

»Gut, so geben Sie mir vier hundert Thaler.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte der Wirth, indem er sich sofort daran machte, die Summe in Banknoten abzuzählen.

»Köhler,« sprach Ontzen, während er das Geld in Empfang nahm, »ich nehme dies Geld nur unter der Bedingung an, daß Sie mir überlassen, die Höhe der Zinsen zu bestimmen – nur unter der Bedingung.«

Der Wirth lachte.

»Herr Ontzen,« erwiderte er, »ich habe meine eigenen Bestimmungen für solche Fälle. Wenn ich meinen Freunden eine Gefälligkeit erweise, so rechne ich gar keine Zinsen, in allen anderen Fällen nehme ich fünf Procent.«

»Sie überlassen mir die Bestimmung der Zinshöhe, oder ich gebe Ihnen das Geld zurück,« warf Ontzen ein. »Sind Sie etwa besorgt, ich werde Ihnen weniger als fünf Procent geben?«

»Nein – nein!« rief Köhler lachend. »Ich verlange ja nichts von Ihnen – doch machen Sie, was Sie wollen.«

Ontzen steckte das Geld ein.

»Wer waren die Fremden, welche heute Abend ankamen?« fragte er beiläufig, mit gleichgiltiger Miene. »Ich glaube, es war ein Herr und eine Dame?«

»Ganz recht. Der Mann scheint krank zu sein und sehr schwer zu hören. Ich weiß nicht, wer sie sind und woher sie kommen. Sie wollen einige Zeit hier bleiben. Sobald sie sich morgen früh in das Fremdenbuch eingezeichnet haben, werde ich Ihnen dasselbe bringen.«

»So neugierig bin ich nicht,« bemerkte Ontzen gleichgiltig. »Wenn sie einige Zeit hier bleiben, werde ich sie ohnehin kennen lernen.«

»Die Frau ist schön,« warf Köhler ein, »Sie hat ein stolzes Gesicht und vornehmes Wesen.«

»Freund, Freund!« entgegnete Ontzen lächelnd. »Sie wissen, daß ich verlobt bin und deshalb kein Interesse mehr für schöne Damen hege. Sie scheinen anders zu denken, ich werde es indeß morgen Ihrer Frau erzählen – machen Sie sich auf eine Strafpredigt gefaßt!«

Er trat mit diesen Worten, während Köhler laut lachte, in das Gastzimmer ein und nahm an dem Stammtische Platz. Durch den Kellner ließ er Champagner bringen, Flasche auf Flasche. Er selbst trank äußerst wenig, allein den Freunden füllte er unablässig die Gläser und selbst Köhler mußte sich auf Drängen mit an den Tisch setzen und mittrinken. Ontzen war kaum je zuvor in einer so lustigen Stimmung gewesen, allein seine Lust hatte etwas Wildes, Berauschendes.

»Trinkt, trinkt!« rief er den Freunden zu. »Ich bin Zeuge gewesen, daß Köhler vor einigen Tagen eine neue Sendung Champagner erhalten hat. Er ist ein vorsichtiger, schlauer Mann. Trotzdem hoffe ich, daß es uns eines Tages gelingen wird, ihn zu überlisten und daß er mit beschämter Miene vor uns hintreten und gestehen muß, wir hätten in seinem Keller eine vollständige Ebbe angerichtet. Köhler, aber wehe dann Ihnen, wenn dieses Geständniß Ihren Lippen entschlüpft ist. In Prozession werden wir dann sämmtlich auswandern zum nächsten Weinkeller, um nimmer wiederzukehren. Dann werden Ihre Hallen einsam und verlassen dastehen und Sie selbst werden sich an diesen Tisch setzen müssen, um zum wenigsten einen Gast bei sich zu sehen!«

Der Wirth ging auf den heiteren Ton ein und versicherte, daß er dann selbst mit in den Weinkeller wandern werde, vorläufig könne sein Weinkeller indeß noch manchen Angriff ertragen.

Es war ein lustiger, toller Abend. Bis spät in die Nacht hinein blieben die Herren zusammen und als sie endlich aufbrachen, machte sich bei Allen der reichlich genossene Champagner geltend. Köhler wollte die Hausthür öffnen, da er den Kellner zuvor zu Bett gesandt hatte, allein es machte ihm Mühe, die Thür seines eigenen Hauses zu öffnen, bis Ontzen ihm zu Hülfe kam.

In der lustigsten Weinlaune wollte er Ontzen auf sein Zimmer leuchten, allein dieser sprang rasch und leicht die Treppe hinauf und rief ihm lachend zu: »Schlafen Sie – schlafen Sie – morgen früh sehen wir uns wieder!« –

 

Köhler pflegte seinen Gästen mit dem ernsthaftesten Gesichte zu versichern, sein Champagner sei so vortrefflich, daß Niemand dadurch einen schweren Kopf bekomme, selbst wenn er einige Glas mehr trinke, als sich für einen soliden Bürger gezieme. Die Haltlosigkeit seiner Versicherung lernte er am folgenden Morgen an sich selbst kennen, denn als er ziemlich spät erwachte, war ihm der Kopf wüst und schwer.

Dies begegnete ihm selten, weil er sehr mäßig im Trinken war. Er ärgerte sich über sich selbst, suchte indeß seinen Zustand möglichst zu verbergen. In unwilliger Stimmung stand er auf.

Der Kellner theilte ihm mit, daß er Ontzen den Kaffee habe überbringen wollen, allein das Zimmer sei verschlossen.

»Er wird noch schlafen – natürlich, denn es war spät in der Nacht, als wir uns zur Ruhe begaben,« bemerkte Köhler.

Ontzen hatte bisher sein Zimmer nicht verschlossen. Der Kellner sprach dies aus. Er hatte es jeden Morgen offen gefunden.

Köhler legte kein Gewicht darauf.

»Er hat heute Morgen nicht gestört sein wollen, deshalb hat er das Zimmer verschlossen,« entgegnete er »das ist Alles!« – »Hast Du der Herrschaft, welche gestern Abend angekommen ist, bereits den Kaffee gebracht?« fügte er fragend hinzu.

»Ja.«

»Und das Fremdenbuch vorgelegt?«

»Noch nicht.«

»So thu es.«

Der Kellner kam dem Befehle nach. Kurze Zeit darauf trat er mit sichtbar überraschtem Gesichte wieder ein.

»Was giebt es?« fragte Köhler.

»Die fremde Herrschaft – hier« – er zeigte auf das Fremdenbuch, welches er vor seinem Herrn auf den Tisch legte – »auch sie heißt Ontzen!«

»Thorheit!« rief Köhler. »Du wirst Dich verlesen haben.«

Er nahm rasch das Buch zur Hand. Er blickte hinein, aber auch sein Auge blieb mit dem Ausdruck des größten Erstaunens darin haften. Dort stand, wenn auch von flüchtiger Hand geschrieben: Heinrich Wilhelm Ontzen, Stand: Maler, Alter 28 Jahre, Zweck der Reise: Familiensachen.

»Der Herr scheint sich einen Scherz gemacht zu haben!« rief er. »Dazu hätte er sich indeß einen andern Ort als dieses Buch wählen sollen! – Doch nein – das kann nicht sein!« fügte er, sich selbst verbessernd, sofort hinzu.

Gedanken auf Gedanken schossen wirr durch seinen Kopf hin, ohne daß er im Stande war, einen einzigen festzuhalten und weiter zu verfolgen.

»Dies begreife ich nicht!« führ er fort. »Es kann unmöglich zwei Männer mit ganz demselben Vor- und Vaternamen geben! Dasselbe Alter, derselbe Stand, derselbe Zweck der Reise! Das ist unmöglich! Doch ich kann ja um Aufklärung bitten,« fügte er sich fassend und das Buch unter dem Arm nehmend hinzu. »Zum Scherz ist die Sache nicht angethan und wenn mehr dahintersteckt – das werde ich bald erfahren!«

Hastig stieg er mit dem Buche unter dem Arme die Treppe hinauf. Schon stand er vor dem Zimmer der am Abend zuvor Angekommenen, da faßte er einen anderen Entschluß. Er wollte diese Angelegenheit erst dem Gaste mittheilen, der bereits seit Wochen bei ihm wohnte. Dieser mußte ihm ja Aufklärung geben können.

Ontzens Zimmer war noch immer verschlossen. Er pochte an, so laut, daß auch ein Schlafender dadurch erweckt werden mußte. Es blieb still in dem Zimmer. Er pochte lauter – heftig, denn er befand sich in einer Aufregung, über welche er sich selbst noch keine Rechenschaft geben konnte. Einige Secunden lang stand er lauschend da – es blieb Alles still. Noch einmal pochte er, so laut, daß es im ganzen Hause wiederhallte. Angst überkam ihn, als er auch jetzt noch kein Lebenszeichen drinnen vernahm. Sollte seinem Gaste ein Unglück zugestoßen sein! So fest konnte kein Mensch schlafen!

Einige Augenblicke war er unschlüssig, was er beginnen sollte, dann eilte er rasch hinab, um den Hauptschlüssel zu holen und die Thür zu öffnen.

Zitternd vor Aufregung nahte er mit dem Schlüssel wieder der Thür. Er öffnete sie. Sein erster Blick, als er in das Zimmer trat, fiel auf das Bett – dasselbe stand noch unangerührt da. Hastig trat er in das Nebenzimmer – es war leer. Der Secretair stand geöffnet. Auf dem Sopha – auf dem Tische lagen einige Kleidungsstücke in wilder Unordnung umher – Ontzens Koffer war auf der Erde mitten in das Zimmer gerückt, auch er stand offen halb geleert.

Sprachlos stand Köhler da. Er begriff noch nicht, was vorgegangen war. Er dachte an Beraubung in seinem Hause. Er rief laut Ontzens Namen – allein er erhielt keine Antwort. Wo war der Gerufene? Jetzt erst schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß derselbe, sich während der Nacht heimlich entfernt habe. Deshalb war das Bett unberührt geblieben, deshalb stand der Secretair der Koffer geöffnet da – die besten Kleidungsstücke fehlten

Aber weshalb konnte er sich entfernt haben?

Köhler war so erschreckt und verwirrt, daß er nicht im Stande war, einen ruhigen Gedanken zu fassen. Da dachte er an den gleichlautenden Namen des gestern angekommenen Herrn! Sollte Ontzen nur ein Betrüger gewesen sein?

Sollte er deshalb geflohen sein, weil er die Entdeckung seines Betruges fürchtete? – Derselbe hatte noch am Abend zuvor Geld von ihm entliehen – jetzt zweifelte er nicht mehr, daß er es mit einem Betrüger zu thun gehabt habe!

Erschöpft sank er auf einen Stuhl, denn für ihn war ein großer Verlust damit verbunden. Nur wenige Augenblicke saß er regungslos da. Dann sprang er wieder auf – es ließ ihm keine Ruhe. Der eine Gedanke: »betrogen,« rüttelte seine ganze Thatkraft wach. Er sandte den Kellner nach dem Polizeicommissar Wulf, schloß das Zimmer ab, steckte den Schlüssel zu sich und begab sich dann mit dem Fremdenbuche zu der am Abend zuvor angekommenen Herrschaft.

Die Dame kam ihm entgegen, während der Mann scheinbar sehr leidend auf dem Sopha lag. Sie schien durch das Geräusch, durch das heftige Pochen an der Thür bereits aufmerksam geworden zu sein.

Hastig, halb verwirrt, erzählte Köhler ihr das Vorgefallene. Sie schien nicht weniger überrascht zu sein, als er.

»Ein Betrüger hat den Namen meines Mannes mißbraucht und sich unter demselben bei Ihnen eingeführt,« sprach sie. »Er hat die Erbschaft meines Mannes erschwindeln wollen! Wir sind, wie es scheint, zum Glück noch zur rechten Zeit angekommen. Allein es ist mir unbegreiflich, wie er Sie so lange Zeit hat täuschen können!«

»Niemand hat bezweifelt, daß er wirklich der Neffe des verstorbenen Solger sei,« warf Köhler ein. »Er trat so sicher auf!«

»Er muß doch dem Gerichte gegenüber sich legitimirt haben,« fuhr die Dame fort. »Dies ist mir ein Räthsel.«

»Gewiß hat er das gethan,« gab Köhler zur Antwort. »Sein Geburtsschein – sein Paß – Alles war in Ordnung.«

»Das ist nicht möglich – sie müssen gefälscht sein! Er muß auch das Gericht getäuscht haben.«

Köhler wußte nichts darauf zu erwidern. Der Kopf schwindelte ihm ohnehin. Was ging es ihn an, ob das Gericht getäuscht war. – Daß er betrogen war, schien keinem Zweifel mehr zu unterliegen.

»Und Sie wissen noch nicht, wer der Betrüger war?« fuhr die Dame fragend fort.

»Ich weiß es nicht,« gab Köhler zur Antwort.

»Weshalb ist er entflohen? Wußte er um unsere Ankunft?«

»Er hat Sie gesehen – er fragte mich gestern Abend nach Ihrem Namen.«

»Und Sie nannten ihm denselben?«

»Nein – ich kannte ihn ja noch nicht.«

»Ganz Recht – ich hatte Ihnen denselben nicht genannt. Dann muß er meinen Mann oder mich kennen! Beschreiben Sie mir seine Persönlichkeit.«

Köhler kam der Aufforderung nach, allein seine Beschreibung war so unzusammenhängend, so wenig characteristisch, daß die Dame nicht im Stande war, sich ein bestimmtes Bild darnach zu bilden.

»Ich kenne keinen Mann, auf den Ihre Beschreibung paßt,« sprach sie, nachdem sie vergebens ihr Gedächtniß zu Hilfe genommen hatte. Sie wandte sich zu ihrem Manne, der scheinbar theilnahmlos dagelegen hatte, sie richtete einige Fragen an ihn, die sie ihm ziemlich laut in's Ohr sprach, allein auch er schüttelte mit dem Kopfe.

»Auch mein Mann kennt ihn nicht,« wandte sie sich Köhler wieder zu. »Und Sie sagen, daß er Aussicht hatte, die Erbschaft wirklich zu erlangen?«

»Gewiß. Niemand hegte einen Verdacht gegen ihn. Das Vermögen würde ihm bereits übergeben sein, wenn nicht aus einem ganz anderen Grunde Protest dagegen erhoben wäre.«

»Aus welchem Grunde?« fragte die Dame.

Der Polizeicommissar kam in diesem Augenblicke die Treppe herauf und Köhler eilte ihm entgegen, ohne auf die Frage der Dame zu antworten. Der Kellner hatte den Commissar von dem Vorgefallenen bereits flüchtig in Kenntniß gesetzt.

»Ihnen scheint übel mitgespielt zu sein,« wandte er sich an Köhler.

»Schmachvoll – schändlich!« entgegnete dieser, während er die Thür aufschloß. »Hieran habe ich nie gedacht ich würde dem Menschen mein ganzes Vermögen anvertraut haben!«

Wulf trat in das Zimmer ein.

»Das sieht hier allerdings aus wie ein Nest, aus welchem der Vogel ausgeflogen ist,« sprach er. »Er scheint die Ordnung wenig geliebt zu haben, oder hat es nicht der Mühe werth gehalten, seine geringe Hinterlassenschaft besser zu regeln.«

Er trat an den Secretair und untersuchte denselben, in der Hoffnung, irgend welche bedeutungsvolle Papiere zu finden.

»Rechnungen, welche noch nicht bezahlt sind,« fuhr er fort, mehrere Papiere aus einem Fache ziehend. »Hier sogar ein Brief von seiner Braut. Auch ihn hat er nicht einmal mit sich genommen – das verräth wenig Zärtlichkeit! Ich hätte ihm mehr Liebe zugetraut!«

»Scherzen Sie nicht, Herr Commissar,« fiel Köhler unwillig ein, denn ihm selbst war aller Humor entschwunden.

»Ich scherze nicht. Sehen Sie hier – dieser Brief ist wirklich von seiner Braut. – Sie sind sehr unruhig, weil seine Rechnung bei Ihnen wahrscheinlich eine anständige Größe erreicht hat, ich kann Sie nicht mit trügerischen Hoffnungen trösten, denn der Herr, welcher dieses Zimmer verlassen hat, hegt sicherlich die Absicht, nie zurückzukehren.«

»Er ist ein Betrüger!« rief Köhler. »Noch gestern Abend hat er mir vierhundert Thaler abgelockt.«

»Und Sie haben ihm dieselben gegeben?«

»Ja – ich hatte ja noch keine Ahnung, daß er ein Betrüger war!«

»Der das Zuchthaus verdient,« fuhr der Commissar fort. »Die Hauptsache ist indeß, ihn erst einzufangen. Der Bursch ist schlau. Nicht ein Zeichen hat er hinterlassen, aus welchem sich sein wirklicher Name erkennen ließe, denn über seinen Character sind wir jetzt aufgeklärt.«

Die Dame trat aus ihrem Zimmer. Köhler stellte dieselbe dem Commissär vor.

»Es muß auch uns daran liegen, daß der Betrüger, der den Namen meines Mannes gemißbraucht hat, zur Strafe gezogen wird,« sprach sie. »Er scheint meinen Mann zu kennen, das verräth seine schleunige Flucht gleich nach unserer Ankunft – ich vermuthe, daß auch wir ihn kennen werden, nur giebt uns die Beschreibung kein deutliches Bild.«

Das Auge des Polizeicommissars ruhte mit Interesse auf der schönen Frau. Und sie war in der That schön. In den großen dunklen Augen lag ein wunderbarer Glanz, und doch erschienen dieselben, wenn sie die Wimpern senkte, so sanft, fast mädchenhaft schüchtern. Es lag dann auf ihrem Gesichte ein poetischer, madonnenartiger Hauch, ein Hauch unschuldiger, fast unberührter Weiblichkeit.

Ihre Gestalt war groß und schlank, in ihren Bewegungen lag etwas Gebietendes. Sie trat mit einer Sicherheit auf, welche nur ein vielbewegtes Leben oder eine vornehme Erziehung zu geben vermögen.

»Sie würden uns zu Dank verpflichten, wenn Sie uns in der Verfolgung des Betrügers unterstützen wollen,« entgegnete Wulf, der sich der schönen Frau gegenüber eines befangenen Gefühles nicht erwehren konnte.

»Es ist dies unsere Pflicht,« erwiderte die Dame. »Er hätte ja meinen armen Mann beinahe um die Hinterlassenschaft seines Oheims betrogen. Auch Sie haben ihn persönlich gekannt?«

»Gewiß,« versicherte Wulf. »Die ganze Stadt kennt ihn. Sein Paß ist ihm in Winterthur ausgestellt.«

Die Dame sann nach.

»Ich kenne dort Niemand,« bemerkte sie. »Auch mein Mann ist, soviel ich weiß, dort nie gewesen. Und auch der Paß ist ihm auf unseren Namen ausgestellt?«

»Gewiß,« fiel Köhler ein. »Heinrich Wilhelm Ontzen stand darin. Ich habe denselben selbst gesehen – übrigens befindet er sich ja noch in den Händen des Vormundschaftsgerichtes.«

»Dann muß der Paß gefälscht sein,« entgegnete die Dame.

»Das ist auch meine Anficht und wird wohl die richtige sein,« bemerkte Wulf. »Der Mann hatte übrigens einen offenen Kopf und verstand zu leben. Er hatte sich hier in kurzer Zeit viele Freunde erworben und ich bin überzeugt, mancher derselben wird ein erstaunlich langes Gesicht heute machen, wenn er erfährt, daß der lustige, freigebige Herr plötzlich, ohne Abschied abgereist ist!«

Der Kellner, welcher die letzten Worte gehört hatte, trat mit der Bemerkung hervor, daß der Entflohene sich vor einigen Tagen habe photographiren lassen. Er fügte die Vermuthung hinzu, daß der Photograph sicherlich noch ein Bild von ihm oder doch noch die Platte desselben in Händen habe.

»So eilen Sie zu ihm und tragen Sie ihm auf, sofort das Bild zu bringen oder Ihnen zu übergeben!« rief Wulf. – »Vielleicht werden Sie ihn nach der Photographie erkennen, wenn er eine solche zurückgelassen hat,« fügte er zu der Dame gewandt hinzu.

Er durchsuchte noch einmal den Secretair, den Koffer und die zurückgelassenen Kleidungsstücke, ohne das geringste weitere Zeichen, das ihn auf eine nähere Spur hätte führen können, zu finden.

»Wie ist er aus dem Hause entkommen?« fragte er Köhler.

»Ich weiß es nicht.«

»Sie pflegen die Hausthür doch zu verschließen.«

»Gewiß. Ich habe sie in vergangener Nacht sogar selbst verschlossen. Er kann freilich durch die Hinterthür, welche von innen nur verriegelt wird, auf den Hof gegangen sein. – Von dort ist es leicht in den Garten zu gelangen, und Sie wissen, daß derselbe an die Promenade grenzt.«

»Ganz recht. War die Hinterthür heute morgen unverriegelt?«

»Ich weiß es nicht – ich habe noch nicht darnach geforscht, denn ich bin heute Morgen später als gewöhnlich aufgestanden.«

»Ich habe bereits gehört, daß Sie gestern Abend eine sehr lange Sitzung gehabt haben. Der Doctor Ohrstedt begegnete mir heute früh auf einem Spaziergange, er erzählte mir davon und er sprach sich sogar über Ihren Champagner etwas zweideutig aus, weil er heftige Kopfschmerzen hatte.«

Köhler murmelte einige nur wenig verständliche Worte.

Er dachte daran, daß von all' dem Champagner, welcher an dem Abende zuvor, welcher seit Wochen bei ihm getrunken war, nicht eine einzige Flasche bezahlt war. Ihm wäre es in diesem Augenblicke Recht gewesen, wenn Alle, die auf seine Kosten gezecht hatten, das Delirium davon getragen hätten.

Der Kellner kam in Hast zurück und hielt eine Photographie empor.

»Hier ist er,« rief er.

Wulf trat ihm entgegen und nahm ihm das Bild ab.

»Gut getroffen,« sprach er das Bild betrachtend. »Er hat ein freundliches, gewinnendes und ich möchte fast sagen ein unschuldiges Gesicht!«

»Eine Gaunerphysiognomie!« fiel Köhler ärgerlich ein.

»Nein – seien Sie nicht ungerecht,« bemerkte der Commissar. »Auf diesem Bilde sieht er wirklich sehr freundlich aus. Ich möchte wetten, daß er es für seine Braut bestimmt hat. – Kennen Sie diesen Herrn?« fragte er die Dame, ihr die Photographie überreichend.

»Ah,« rief dieselbe überrascht, als sie kaum einen Blick darauf geworfen hatte, »diesen Herrn kenne ich sehr genau.«

»Sein Name?« unterbrach sie Wulf ungeduldig.

»Julius Sperl.«

»Und sein Stand?«

»Er war Schreiber bei einem Advocaten. Sein Herr wohnte mit mir in demselben Hause, ich habe ihn täglich gesehen und er wurde mir als ein äußerst gewandter und schlauer Mann geschildert.«

»Sind Sie ihrer Sache gewiß,« warf der Commissar ein.

»Ganz gewiß.«

»Hat er Ihren Herrn Gemahl gekannt?«

»Das weiß ich nicht, ich vermuthe es indeß. Er wird gewußt haben, daß mein Mann krank war, und hat geglaubt, dieß benutzen zu können.«

Wulf richtete noch mehrere Fragen an sie, welche sie in ruhiger, bestimmter Weise beantwortete. Er verschloß dann das Zimmer, nahm den Schlüssel mit sich und stieg mit Köhler die Treppe hinab.

»Wie hoch beläuft sich Ihr Verlust?« fragte er den Wirth.

»Ich weiß es selbst noch nicht,« entgegnete Köhler in verzweiflungsvoller Stimmung. »Allein, bringen Sie in Anschlag, wieviel ein Mensch, der jeden Tag in Herrlichkeit und Freuden lebt, der des Abends seine Freunde mit Champagner traktirt, als koste derselbe nicht mehr als Wasser, in Wochen verthun kann, rechnen Sie dazu eine Menge Auslagen, welche ich für ihn gemacht habe und noch obenein vierhundert Thaler, welche er mir gestern Abend abgeschwindelt hat, und Sie werden eine hübsche Summe herausrechnen! Doch ich will dies Alles verschmerzen, wenn es Ihnen nur gelingt, ihn zu verhaften, damit er nach dem herrlichen Leben auch die Kost in dem Gefängnisse kennen lernt.«

Wulf beruhigte ihn mit der Versicherung, daß er Alles, was in seinen Kräften stehe, thun werde. Er verhörte dann den Kellner und den Hausknecht. Beide hatten während der Nacht nicht das geringste Geräusch wahrgenommen.

Die Hinterthür hatte der Letztere allerdings unverschlossen und unverriegelt gefunden, dies war ihm indeß wenig aufgefallen, da öfter vergessen wurde, den Riegel der Thür vorzuschieben.

Eine Durchsuchung des Gartens zeigte nicht eine Spur des Entflohenen. Selbst wenn sich eine solche gefunden hätte, würde sie wenig genützt haben.

Wulf begab sich sofort auf das Polizeibüreau, um die nöthigen Maßregeln zur Verfolgung des Entflohenen zu treffen und ging dann zum Pastor Ahl. Vielleicht konnte er durch ihn noch Näheres erfahren. Er liebte diesen Mann nicht und es mochte ihn auch die Neugierde, das erschreckte Gesicht des Pastors zu sehen, zu diesem Schritte treiben.

Daß Ontzen entflohen und ein Betrüger sei, hatte sich bereits in der Stadt verbreitet und mehrere Bekannte, welche dem Commissar begegneten, hielten ihn an, um von ihm Näheres und die Bestätigung des Gehörten zu vernehmen.

»Ja, er ist fort, fort,« erwiderte Wulf. »Das Champagnertrinken im Löwen ist durch seine Abreise vorläufig sistirt, und ich zweifle sogar, ob dasselbe je wieder begonnen wird! – Uebrigens war er ein schlauer Bursch und hat seine Rolle gut gespielt!«

»Und was wird aus seiner Verlobung mit der Tochter des Pastor Ahl?« wurde ihm naiv eingeworfen.

»Bester Freund, das weiß ich vorläufig noch nicht,« entgegnete Wulf lachend. »Mitgenommen hat er seine Braut indeß nicht, das kann ich Ihnen verrathen. Ich vermuthe auch, daß Ahl diese Verbindung auflösen wird, ich kann dies indeß nicht beschwören, und deshalb bitte ich Sie vorläufig darüber zu schweigen. Nun lassen Sie mich los, Freund, denn mich ruft die Pflicht! Darf ich Ihnen vielleicht noch einen Rath mit auf den Weg geben, so gehen Sie heute nicht in den Löwen. Köhler ist in einer verteufelt ungemüthlichen Stimmung. Er kann nicht verschmerzen, daß sein schöner Champagner so furchtbar vergeudet ist und behauptet, Sie hätten am Meisten getrunken! Gehen Sie nicht zu ihm – denn ich stehe für nichts! – Nun leben Sie wohl!«

Rasch wandte er sich ab und schritt der Pfarrwohnung zu.

Ahl machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er den Polizeicommissar zu sich in's Zimmer treten sah.

Wulf theilte ihm mit, daß er einige Auskunft über den Verlobten seiner Tochter wünsche.

Das Erstaunen des frommen Mannes schien durch diese Mittheilung noch zu wachsen.

»Was hat mein künftiger Schwiegersohn mit der Polizei zu schaffen?« fragte er sich emporrichtend.

Es war ihm also nichts von der Flucht des Betrügers zu Ohren gekommen. »Hierüber muß ich Sie zuerst um Aufklärung bitten, ehe ich Ihnen irgend eine Mittheilung mache.«

Wulf konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Der Herr hat in vergangener Nacht unter eigenthümlichen Verhältnissen die Stadt verlassen,« erwiderte er.

Der Pastor zuckte zusammen, die Farbe wich aus seinem Gesichte – indeß nur für einen Augenblick, dann faßte er sich schnell wieder.

»Und was veranlaßt die Polizei, davon Notiz zu nehmen?« sprach er. »Ich habe darum gewußt – der Verlobte meiner Tochter ist nach der Schweiz gereist, um eine Bescheinigung seiner Person durch die dortige Behörde zu holen, welche der Gerichtsrath Bolten der Erbschaftsangelegenheit wegen verlangt. – Sind Sie mit dieser Mittheilung zufrieden gestellt?«

»Nicht ganz,« warf Wulf ein. »Sie befinden sich in einigen Punkten im Irrthum, und ich werde mir erlauben, Ihnen Aufklärung zu geben.«

Ahl vermochte eine in ihm entstehende Unruhe nicht zu verbergen.

»Zuerst hat sich der Herr also, wie bereits erwähnt, heimlich aus dem Löwen entfernt – er ist entflohen,« fuhr Wulf fort. »Es scheint ihn zu dieser Flucht ein Herr und eine Dame veranlaßt zu haben, welche gestern Abend anlangten und im Löwen abstiegen. Sodann hat der Herr Sie und Alle hier in der Stadt über seine Ansprüche an dem Vermögen des verstorbenen Commerzienraths getäuscht …!«

»Herr Polizeicommissar, sie verdächtigen den Charakter meines künftigen Schwiegersohnes!« unterbrach ihn Ahl, seine Fassung immer mehr verlierend. »Sind Sie im Stande, diese Beschuldigung zu beweisen?«

»Vollkommen! Der Name des Herrn ist nicht wie er angegeben, Heinrich Wilhelm Ontzen, sondern Julius Sperl, er ist auch nicht ein Künstler, sondern der Schreiber eines Advocaten, der Zweck seiner Reise waren nicht Familien-Angelegenheiten, sondern eine schlau ausgesonnene Betrügerei …«

»Halten Sie ein – halten Sie ein!« rief Ahl aufgeregt. »Dies kann nicht sein, dies ist nicht – es kann nicht möglich sein! Woher wollen Sie dies Alles wissen? Sie täuschen sich – es kann nicht sein!«

»Ich weiß es aus ziemlich sicherer Quelle,« erwiderte Wulf lächelnd, – »von dem wirklichen Neffen des Verstorbenen. Derselbe ist gestern Abend in Begleitung seiner Frau hier angelangt und beide haben den angeblichen Herrn Ontzen nach einer Photographie sofort erkannt!«

Der Pastor lief mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab, er befand sich in einer verzweiflungsvollen Stimmung, bald fuhr er mit der Rechten über die von Angstschweiß gefeuchtete Stirn hin, bald erhob er sie drohend, bald rang er beide Hände. Zu unerwartet kam ihm dies Alles. Ein Betrüger der Verlobte seiner Tochter! Ihm hatte er sein ganzes, kleines erspartes Vermögen übergeben!

»Er ist fort, ist fort!« rief er. »Und er hat nichts zurückgelassen, sagen Sie?«

»Einen Koffer, einige Kleidungstücke und verschiedene unbezahlte Rechnungen,« erwiderte Wulf.

»Und das Geld – das Geld hat er mitgenommen?« fuhr Ahl fort. »Ich habe ihm erst gestern fünfhundert Thaler gegeben – erst gestern – es war mein Ersparniß – er wollte nach der Schweiz reisen, ich vertraute ihm vollkommen – ich würde ihm noch mehr gegeben haben. Dies Geld hat er mitgenommen?«

»Glauben Sie wirklich, daß ein so schlauer Betrüger das Geld zurücklassen werde? Das würde ein Beweis von erstaunlicher Dummheit sein und der Herr hat bewiesen, daß er sehr gewandt ist!«

Ahl schien jede ruhige vernünftige Ueberlegung verloren zu haben.

»Er hat dem Gerichtsrath Bolten seine Papiere übergeben, seinen Paß und seinen Taufschein,« rief er. »Bolten hat sie als richtig anerkannt – er ist also an Allem Schuld – ihn trifft die Verantwortung, denn hätte er die Richtigkeit der Papiere in Zweifel gezogen, so würde auch ich dem Menschen nicht getraut haben.«

Der Commissar konnte sich eines Lächelns nicht enthalten

»Die Papiere scheinen in sehr geschickter Weise gefälscht zu sein,« entgegnete er. »Das wird sich indeß erst herausstellen. Der Gerichtsrath ist ein sehr vorsichtiger und erfahrener Mann. Und es scheint sogar, daß ein leiser Verdacht in ihm aufgestiegen ist, weil er diese Papiere allein als nicht genügend erachtet hat.«

»Er mußte es wissen – er ist Gerichtsrath!« fuhr Ahl eifernd fort, wandte indeß seine Gedanken sofort wieder einem anderen Gegenstande zu. »Und diesen Menschen habe ich in mein Haus aufgenommen, mit ihm hat sich meine Tochter verlobt – und sie liebt ihn – sie liebt ihn!«

Er preßte sich die Hand vor die Stirn.

»Diese Liebe wird schwinden, sobald sie erfährt, daß sie ihr Herz einem Betrüger geschenkt hat!« bemerkte Wulf.

»Herr Polizeicommissar!« rief Ahl. »Sie müssen diesen Menschen zu verhaften suchen. Er darf nicht entkommen – er muß zur Verantwortung gezogen werden! Keine Strafe ist zu hart für einen solchen Betrug! Oh, daß auch ich gerade ein Opfer dieses Betrügers geworden bin! Weshalb hat er sich nicht einen Anderen ausgesucht! Weshalb mich!«

»Es ist dies ein Beweis seiner schlauen Berechnung,« entgegnete Wulf. »Er wußte, daß Sie sein erbittertster Gegner waren, daß Sie gegen die Auszahlung des Vermögens Protest erhoben hatten – er wollte Sie versöhnen, Ihren Einfluß gegen ihn unschädlich machen! Dies scheint seine Absicht gewesen zu sein. Deshalb hat er sich Ihnen in der Weise genaht! – Er war schlau!«

»Sie haben Recht,« versicherte der Pastor. »Erst noch gestern drang er in mich, den Protest zurück zu nehmen.«

»Und Sie haben es ihm zugesagt,« warf Wulf ein.

»Nein – nein! dies konnte ich nicht! Ich habe es abgelehnt! – Herr Polizeicommissar, schaffen Sie mir diesen Menschen wieder! Ich werde nicht eher beruhigt sein, bis ich weiß, daß er im Gefängnisse sitzt – bei Wasser und Brot! Keine Strafe ist zu hart für ihn – keine.«

»Die Strafe für solche Betrügereien bestimmt das Gesetz!« erwiderte Wulf. »Seien Sie überzeugt, daß ich Alles aufbieten werde, um den falschen Neffen den Händen des Gerichts zu überliefern. Es wird indeß schwer werden, denn er ist schlau und mit Reisegeld hinlänglich versehen. Hat er Ihnen irgend etwas über sein Leben, über seine früheren Verhältnisse mitgetheilt?«

»Viel – viel! allein es sind Alles Lügen gewesen!«

»Bitte, erzählen Sie mir dieselben. Sie wissen: für die Polizei ist nichts ohne Bedeutung.«

»Ich kann es jetzt nicht – in meinem Kopfe schwirrt Alles durcheinander – ich bin jetzt nicht im Stande, einen Gedanken zu fassen! Meine Tochter wird untröstlich sein – er hat das arme Kind betrogen, er hat mich bestohlen! Hätte ich diesen Menschen nie gesehen!«

Wulf sah ein, daß mit dem Pastor nichts zu beginnen sei. Die Aufregung und Erbitterung desselben waren so groß, daß sie in der That keinen anderen Gedanken in ihm aufkommen ließen. Er war freilich am Schwersten durch den Betrüger betroffen, denn während Köhler fast von Allen bedauert wurde, gab es Viele in der Stadt, welche dem frommen Herrn diese Niederlage gönnten.

Während die Polizei alle Kräfte entwickelte, um den Betrüger zu verfolgen, sprach man in der ganzen Stadt an diesem Tage nur von dem Entflohenen. Es kam erst jetzt an das volle Licht, mit welcher Dreistigkeit derselbe aufgetreten war. Eine Menge Personen, bei denen er gekauft hatte, ohne zu bezahlen, kamen mit ihren Ansprüchen und Rechnungen zu dem Wirthe des Löwen, gleichsam als wenn er der Bankier des Betrügers wäre, bis Köhler die Geduld verlor und drohte, jeden aus dem Hause zu werfen, der, sich in dieser Angelegenheit an ihn wenden werde.

Der Entflohene hatte nicht einmal den Todtengräber bezahlt, der in seinem Auftrage das Grab des verstorbenen Commerzienraths in Ordnung gebracht und mit Blumen bepflanzt hatte.

Alle Diejenigen, welche sich an den Betrüger herangedrängt und mit ihm Freundschaft geschlossen hatten, überkam ein Gefühl der Beschämung, und es ist in der That eine sehr unangenehme Empfindung, einen Betrüger in sein Herz geschlossen und auf seine Kosten, respective auf die Kosten eines Dritten sich lustig gemacht zu haben.

Einige der Stammgäste, welche jeden Abend an dem runden, Tische in dem Löwen gesessen hatten, ließen sich aus diesem Grunde dort gar nicht wieder sehen, und Köhler hatte sogar den Nachtheil, eine Anzahl seiner treuesten Gäste zu verlieren. Er ertrug es als ein Mann, das heißt er verzehrte den Aerger still in sich und machte ihm nur dann und wann durch eine kräftige Verwünschung Luft. –

 

Der neu angekommene Erbe erfreute sich in der Stadt weniger Sympathie. Es war ein kranker, bleicher Mann, obenein halb taub, der nur selten an der Seite seiner schönen Frau langsam über die Straße hinschritt, die meiste Zeit aber allein, gänzlich abgeschlossen auf seinem Zimmer zubrachte. Er schien durchaus kein Lebemann zu sein und für die meisten Damen der Stadt hatte er schon aus dem Grunde wenig Interesse, weil er bereits verheirathet war. Man begriff kaum, wie eine so schöne, blühende Frau einem so gebrochenen Manne habe ihre Hand reichen können.

Diese schöne Frau schien für den Kranken und halb Tauben indeß von größtem Werthe zu sein. Sie führte seine Angelegenheit und vertrat seine Ansprüche und dabei trat sie mit solcher Sicherheit und in einer so gewinnenden, freundlichen Weise auf, daß Diejenigen, welche mit ihr näher bekannt wurden, von ihrem Wesen entzückt waren.

Sogleich am ersten Tage hatte sie sich, von ihrem Manne begleitet, bei dem Gerichtsrath Bolten melden lassen und demselben die Papiere ihres Mannes übergeben. Dieselben waren freilich genügender als diejenigen, welche der entflohene Betrüger eingereicht hatte. Sie bestanden aus einem Geburtsscheine des Neffen, der kurz nach seiner Geburt ausgestellt war, aus einem Passe, einem Todtenscheine seines Vaters und seiner Mutter, aus mehreren Briefen derselben und der Bescheinigung der Behörde einer kleinen schweizerischen Stadt, daß der Inhaber, Namens Heinrich Wilhelm Ontzen, der Sohn des verstorbenen Malers Friedrich Karl Ontzen und dessen Frau, Anna Margarethe, geborene Solger sei.

Mit doppelter Vorsicht hatte Bolten diese sämmtlichen Papiere geprüft, denn daß auch er sich durch den Betrüger hatte täuschen lassen, war ihm außerordentlich unangenehm; freilich war dies leicht zu entschuldigen, denn durch die Nachforschungen der Polizei stellte sich heraus, daß der Geburtsschein, welchen der Betrüger sich auf irgend eine Weise verschafft hatte, richtig und echt, und daß nur der Paß gefälscht war.

Köhler war von dem Herrn und der Dame, welche bei ihm logirten, weniger entzückt. Zwar ließ sich die Letztere dann und wann Alles, was sich in der Stadt zutrug, von ihm erzählen und namentlich über alle Einzelheiten und Verhältnisse des entflohenen Schreibers genau unterrichten, sie kam ihm auch stets mit einer herablassenden Freundlichkeit entgegen, allein gerade diese Herablassung ärgerte ihn.

Es lag in dem Wesen dieser schönen Frau etwas Imponirendes, dem auch er sich nicht entziehen konnte. Er pflegte sich zu rühmen, daß ihm Niemand imponire, denn der Löwe sei sein Eigenthum, er bezahle regelmäßig seine Steuern, folglich brauche er vor Niemand den Nacken zu beugen. Wer bei ihm logiren wolle, den empfange er freundlich, – wer es vorziehe, in einem anderen Gasthause abzusteigen, möge es thun und den Nachtheil tragen.

Es lag trotz aller Gutmüthigkeit in seinem Wesen etwas Schroffes und Selbstbewußtes, er würde sich sogar nicht gescheut haben, dem Polizeicommissar die Thür zu weisen, wenn ihm derselbe in anderer als amtlicher Weise entgegengetreten wäre, allein gegen die bei ihm logirende Dame empfand er trotz ihrer Freundlichkeit einen heimlichen Respect. Er wollte sich denselben selbst nicht eingestehen und konnte ihn gleichfalls nicht verleugnen – das ärgerte ihn und rief eine Unzufriedenheit mit sich selbst in ihm hervor.

Wie oft hatte er sich ihr mit dem festen Entschlusse genaht, sie zu bitten, ihn für den Schaden, welchen er durch den Betrüger erlitten hatte, zu entschädigen, sobald die reiche Erbschaft ihrem Manne zugefallen sei, und trat er dann vor sie hin, nickte sie ihm mit freundlichem Gesichte grüßend zu, so fehlte ihm wieder der Muth, seine Bitte auszusprechen. Er hatte erwartet, daß sie selbst ihm das Versprechen geben werde, allein sie schien nicht daran zu denken.

Sie nahm außerdem nicht die geringste Rücksicht auf Diejenigen, welche bei ihm verkehrten, so neugierig diese auch waren, die schöne Frau näher kennen zu lernen. Sie saß mit ihrem Manne stets allein auf ihrem Zimmer.

Wurde Köhler von seinen Gästen in Betreff der schönen Dame befragt, so pflegte er kurz, fast ärgerlich zu erwidern: »Gehen Sie hinauf zu ihr, lassen Sie sich anmelden, vielleicht werden Sie angenommen, dann finden Sie Gelegenheit, sie näher kennen zu lernen. Ich weiß weiter nichts von ihr, als daß sie bei mir wohnt, Morgens Kaffe trinkt, Mittags und Abends auf ihrem Zimmer speist und daß sie sehr freundlich ist, aber dabei so kalt, daß man Eistorten aus ihr bereiten könnte.«

 

Trotz aller Bemühungen und Nachforschungen war es der Polizei nicht gelungen, den entflohenen Betrüger aufzufinden. Sie glaubte mehrere Male, seine Spur gefunden zu haben, sobald sie dieselbe indeß weiter verfolgte, erwies sie sich als falsch. Der Mann schien eine unangenehme Portion Schlauheit zu besitzen.

Der Pastor Ahl bot Alles auf, um den Eifer der Polizei nicht ermüden zu lassen. Hatte seine Tochter über den entflohenen Verlobten sich auch bald getröstet, so konnte er sich doch nicht über den Verlust beruhigen, welchen er durch den Betrüger erlitten hatte. Wiederholt zog er bei Wulf Erkundigung ein und spornte ihn zum größten Eifer an.

»Herr Pastor!« rief dieser endlich, die Geduld verlierend. »Es gewährt der Polizei schon an und für sich Genugthuung, einen Betrüger zu erreichen und dem Gerichte zur Bestrafung zu übergeben, diese Genugthuung wird erhöht, wenn der Betrüger ein schlauer Geselle ist, denn jeder Polizeibeamte hat das Bewußtsein, daß auch er nicht auf den Kopf gefallen ist. Ihre Anspornung ist deshalb überflüssig. Geht nicht Alles nach Ihrem Wunsche, so werden Sie begreifen, daß die Polizei leider nicht allwissend und auch nicht einmal allmächtig ist. Aus diesem offenen Bekenntnisse vermögen Sie zu beurtheilen, daß ich es aufrichtig meine. Es bleibt Mancher für die Hand der Polizei unerreichbar. So ist uns auch nicht gelungen, den Dieb zu entdecken, der in das Haus des Commerzienraths eingebrochen ist und die Papiere aus dem Secretair gestohlen hat.«

Ahl schwieg. Es schien ihm die Erwähnung dieser Sache nicht sehr angenehm zu sein. –

 

Die Erbschaftsangelegenheit hatte immer noch keine Erledigung gefunden, obschon Wochen bereits wieder vergangen waren und der Gerichtsrath die Papiere des in dem Löwen wohnenden kranken Mannes völlig in der Ordnung gefunden hatte.

Noch hatte weder der Kranke noch dessen Frau irgend welche Ungeduld verrathen, endlich schien indeß auch ihnen die Verzögerung unangenehm zu werden.

Die schöne Frau begab sich zum Gerichtsrath. In freundlichster Weise wurde sie von ihm empfangen. Die Schönheit hat immer ein Vorrecht auf freundliches Entgegenkommen.

Man hat häufig einen Vorwurf daraus gemacht, daß selbst Beamte der Schönheit gegenüber sich entgegenkommender benehmen und doch ist kein Vorwurf ungerechtfertigter. Ist die Schönheit auch kein Verdienst, so ist sie doch ein Vorzug, der ein Anrecht auf Anerkennung hat.

Die zuvorkommende Freundlichkeit Boltens war eine unwillkürliche – zu einer Untreue gegen sein Amt und seine Stellung würde er sich indeß durch sie nie haben hinreißen lassen. Dies kann nur der Fall sein, wenn zugleich Leidenschaft mit in das Spiel kommt – er war indeß ein durchaus ruhiger Charakter.

Trotzdem berührte es ihn unangenehm, daß die schöne Frau ihm an diesem Tage in ungeduldiger, fast unwilliger Weise entgegentrat.

»Ich habe meinen Mann zu der Reise hierher bewogen, obwohl sein Arzt ihm abrieth,« sprach sie. »Ich glaubte seine Gegenwart sei zu der Regelung der Erbschaftsangelegenheit nothwendig. Ich hatte freilich keine Ahnung, daß sich dieselbe so lange hinziehen werde. – Herr Gerichtsrath, in dem stillen warmen und gegen jeden alten Windhauch geschützten Thale der südlichen Schweiz, in welchem ich mit meinem Manne lebte, hatte ich die feste Hoffnung, daß er wieder völlig genesen werde, sein Zustand besserte sich von Tage zu Tage. Da erreichte uns der Aufruf in den Zeitungen und wir reisten hierher. Die Reise griff meinen armen Mann sehr an, obschon wir uns unterwegs möglichst viel Ruhe gönnten. Abgespannt, – ja elend kam er hier an. Ich hoffe, daß er sich hier wieder erholen werde, ich habe ihn gepflegt so gut es nur möglich ist, er hat sich in jeder Beziehung geschont, hat kaum das Zimmer verlassen, allein sein Zustand wird von Tage zu Tage bedenklicher. Dies rauhere Klima bekommt ihm nicht. Der Doctor Ohrstedt, den ich längst zu Rathe gezogen habe, bestätigt es, er dringt darauf, daß mein Mann möglichst bald in ein milderes südliches Klima reise, weil seine kranke Brust nur dort genesen könne – ich selbst habe ihn mit Bitten bestürmt, allein mein Mann will nicht eher fortreisen, als bis die Erbschaftsangelegenheit völlig geordnet und erledigt ist. Mit dem Eigensinne eines Kranken besteht er darauf, weil er einmal zu dem Zwecke hierhergekommen sei. Ich vermag nichts mehr gegen diesen seinen Eigensinn, der sich bei ihm fast zur fixen Idee ausgeprägt hat, ich wage gar nicht mehr ihn zur Abreise zu bestimmen, weil er dadurch nur aufgeregt wird, allein Herr Gerichtsrath, wird diese Angelegenheit noch lange verzögert, so fällt mein unglücklicher Mann ihr zum Opfer!«

Aus ihren Worten tönte ihre gewaltige innere Erregung hervor.

Dies entging dem Gerichtsrath nicht.

»Sie wissen, daß mich die Schuld der Verzögerung nicht trifft;« entgegnete er. »Läge es allein an meiner Bemühung – ich würde gern meine Mußestunden opfern, ja selbst die Nächte zur Hilfe nehmen, um Ihrem Wunsche nachzukommen.«

»Zweifeln Sie an den Ansprüchen meines Mannes?« warf die schöne Frau ein. – »Ich will ja Alles thun, um Ihnen die Sicherheit, welche Sie nur verlangen können, zu verschaffen! Nur lassen Sie ihn nur nicht durch dieses Zögern zu Grunde gehen. Ich würde Sie nicht drängen, wenn er nicht krank wäre – diese Aufregung wird ihn noch tödten! – Wir lebten so glücklich in unserm stillen Thale, wenn auch nicht in glänzenden Verhältnissen, wir waren zufrieden mit unserm Geschicke – vollkommen zufrieden, da erreichte uns die Aufforderung. Sie regte meinen Mann von der ersten Minute an, in welcher er sie las, auf, sie rief Wünsche und Hoffnungen in ihm wach, an welche er früher nie gedacht hatte! – O, ich wünsche, wir wären nie hierhergekommen, der Verstorbene hätte in einem Testamente meines Mannes nie gedacht!«

Sie preßte die Hand vor die Augen und Thränen rannen darunter hervor.

Bolten hörte sie schluchzen. Sie war ihm stets mit freundlicher, fast imponirender Ruhe entgegengetreten – jetzt ließ sie ungehindert vor ihm ihre Thränen fließen – dies erschütterte ihn. Die Thränen schöner Augen haben eine mächtige Kraft.

»Sie wissen, daß mich nur der Protest hindert, die Bestimmungen des Testamentes auszuführen,« sprach er.

Sie antwortete nicht. Weinend saß sie da.

»Ich würde diesen Protest vielleicht zurückweisen, ich würde ihn nicht beachten,« fuhr Bolten fort, »allein ich befürchte, daß diejenigen, welche denselben erhoben haben, dann zur Klage schreiten würden, und diese Klage würde die Angelegenheit noch mehr verzögern.«

Noch immer saß die schöne Frau regungslos, weinend da. Das Tuch war halb von ihren Schultern geglitten und zeigte einen weißen, zarten Hals. Der zurückgefallene weite Aermel ließ den vollen, weichen Arm sehen. Es lag in diesen Formen eine seltene Zartheit, eine fast berauschende Schönheit.

»Fassen Sie sich, beruhigen Sie sich,« sprach Bolten, indem er an sie herantrat und halb arglos, halb vertraulich die Hand von ihren Augen zog. »Es thut mir wehe, Sie weinen zu sehen! Ich verspreche Ihnen, daß ich Alles was in meinen Kräften steht, für Sie thun will!«

Sie ließ die Hand sinken.

»Ich wünsche ja nur, daß die Angelegenheit endlich zur Erledigung kommt;« erwiderte sie. »Ich würde Sie wahrlich nicht drängen, wenn dieser Protest sich auf mehr als eine bloße Form stützte. Sie haben mir früher erzählt, daß der Protest von dem Pastor Ahl ausgeht. Es kann dem Herrn doch ganz gleichgiltig sein, wann mein Mann die Erbschaft erhält, da sowohl für seine Kirche, wie für die Missionsanstalt jeder Anspruch an das Testament erloschen ist, weil die Bedingungen des Anhanges und Nachtrages vollkommen erfüllt sind. Der Neffe des Verstorbenen hat sich zur rechten Zeit gemeldet und selbst wenn mein armer Mann jetzt stürbe, so würden die ersten Bestimmungen des Testamentes nicht mehr eintreten können.«

»Gewiß nicht,« versicherte Bolten. »Es würde dann die Erbschaft auf die Rechtsnachfolger Ihres Gemahls übergehen. – Gönnen Sie mir noch kurze Zeit; ich bin mit dem Pastor Ahl nicht befreundet, allein Ihnen zu Liebe will ich mit ihm sprechen und ihn zu bewegen suchen, den Protest zurückzunehmen.«

Die schöne Frau blickte dankbar zu ihm auf. Es lag in diesem thränenfeuchten Blicke ein wunderbarer Reiz.

»Und wann wollen Sie dies thun?« fragte sie.

»Heute noch – ich verspreche es Ihnen.«

»Und wann werde ich Nachricht erhalten, ob Ihre freundliche Bemühung von Erfolg gewesen ist?«

»Gelingt mir, was ich wünsche, so werde ich Ihnen selbst die Nachricht überbringen.«

Sie erhob sich.

»Sie retten meinem Manne vielleicht das Leben dadurch,« sprach sie, dem Gerichtsrath die Hand entgegenstreckend. »Er soll Ihnen selbst dafür danken!«

Der Gerichtsrath küßte ihre Hand. Der leise Druck derselben durchzuckte ihn – es war nur ein Druck des Dankes und doch durchglühte er alle seine Adern. –

 

Noch an demselben Tage konnte Bolten der schönen Frau die Mittheilung überbringen, daß Ahl ihm versprochen habe, den Protest zurückzuziehen.

Mit sichtbarer Freude nahm sowohl der Kranke als dessen Frau die Nachricht auf. Der Kranke dankte ihm mit leisen Worten – seine kranke Brust gestattete ihm nicht, lauter zu sprechen.

»Nun bist Du bald erlöst,« sprach die Frau zu ihm. »Wir können nun bald nach dem Süden reisen – nach Italien oder selbst nach Aegypten, wenn es der Arzt für gut hält. Dort wirst Du ganz wieder genesen. Du hast ja schon längst diesen Wunsch gehegt. Nun können wir ihn ausführen.«

Der Kranke erfaßte die Hand seiner Frau und streichelte dieselbe liebkosend.

»Wann wird nun Alles erledigt werden?« wandte sich die Frau fragend an Bolten.

»Ich hoffe bereits in wenigen Tagen,« entgegnete dieser.

»Jetzt wird hoffentlich Niemand wieder dagegen protestiren.«

»Glauben Sie, daß dies möglich ist?« warf die Frau ein.

»Nein, ich sehe keine Möglichkeit,« gab Bolten zur Antwort. »Ich wünsche es auch nicht, denn außer Ihnen harren Viele mit Ungeduld auf die endliche Erledigung.«

Als er den Löwen wieder verlassen wollte, hielt Köhler ihn auf. Derselbe hatte errathen, daß der Gerichtsrath eine angenehme Mittheilung überbracht habe. Bolten erzählte ihm, daß die Angelegenheit nun bald zu Ende geführt werde.

»Herr Gerichtsrath,« erwiderte Köhler nicht ohne Verlegenheit. »Sie wissen, welchen Nachtheil ich durch das unglückselige Testament habe und wie groß die Summe ist, um welche ich betrogen bin. Mich trifft nicht der Vorwurf, daß ich dem Betrüger zu viel Glauben geschenkt habe – es hegte ja Niemand einen Verdacht gegen ihn, es glaubten Alle, er sei der glückliche Neffe. Ich mag bei dem Kranken, der bei mir wohnt, nicht betteln, allein unbillig ist gewiß der Wunsch nicht, daß er mir den Schaden ersetzen möge. Es ist bei dem Vermögen, welches das Glück ihm unerwartet in den Schooß wirft, kein Opfer für ihn, und auch er trägt einen Theil der Schuld, denn wäre er früher gekommen, oder hätte er seine Ansprüche nur brieflich angemeldet, so würde der Betrüger nimmermehr festen Fuß haben fassen können.«

»Weshalb tragen Sie der Dame diese Bitte nicht vor?« warf Bolten ein. »Ich bin überzeugt, dass sie dieselbe nicht zurückweisen wird, denn sie ist nicht ungerecht.«

»Ich habe nicht den Muth dazu,« entgegnete Köhler.

»Und nun wünschen Sie, daß ich es ihr sage,« bemerkte der Gerichtsrath.

Der Wirth nickte zustimmend mit dem Kopfe.

»Gut, ich will es thun,« fuhr Bolten fort, »und ich bin überzeugt, daß sie Ihren Wunsch erfüllen wird, denn das Geld scheint ihr nicht so sehr am Herzen zu liegen.«

Köhler dankte ihm, und der Gerichtsrath verließ den Löwen. –

 

Der Abend war herangekommen. Es war in dem Gastzimmer ziemlich leer. Verstimmt saß Köhler in einer Ecke. Wo war die Lust und die Heiterkeit geblieben, welche noch vor kurzer Zeit hier geherrscht hatte? Damals war Wein und Champagner geflossen, und jetzt wurden kaum einige Glas Bier getrunken!

Endlich, schon spät am Abende, trat ein Fremder in das Zimmer. Es war eine große, schlanke Gestalt, mit wettergebräuntem Gesichte und einem dunklen Barte. Unter den starken, buschigen Brauen blickten ein paar große, leuchtende, aber gutmüthige Augen hervor, welche neugierig über die im Zimmer Anwesenden hinfuhren. Seine Kleidung war leicht und einfach. Mit dem Hute auf dem Kopfe war er in das Zimmer getreten, es war ein großer, abgetragener Strohhut.

Ueber der Schulter hatte der Fremde, der ungefähr einige dreißig Jahre zählen mochte, eine kleine Tasche hängen, in der Hand trug er einen Stock.

Köhler hatte sofort ein Auge auf ihn geheftet. Er erkannte augenblicklich in ihm einen jener Reisenden, welche mit frischem Muthe in der Brust und wenig Geld in der Tasche die halbe Erde durchwandern. Er wollte die Bedienung desselben dem Kellner überlassen, allein die gutmüthigen Augen des Fremden riefen doch einen andern Entschluß in ihm hervor. Langsam erhob er sich und trat dem Fremden entgegen.

»Sie sind der Wirth?« fragte dieser, nur leicht den Hut lüftend, ohne ihn abzunehmen.

Köhler bestätigte es.

»Gut. Ich hoffe Sie werden noch ein Zimmer für mich frei haben. Schön braucht es nicht zu sein, denn ich bin nicht verwöhnt, aber nur nicht zu klein. Ich hasse die engen Räume, in denen man sich kaum umdrehen kann.«

»Es steht Ihnen ein geräumiges Zimmer zur Verfügung,« gab Köhler zur Antwort. »Wünschen Sie sich sogleich dorthin zu begeben?«

»Nein!« rief der Fremde in heiterer Weise. »Ich bedarf zuerst einer Stärkung, denn ich habe Hunger und Durst. Das verdammte Fahren auf der Eisenbahn rüttelt den Menschen wie einen Mehlsack zusammen. Ich hasse die Eisenbahnen! Man sollte die Gefängnisse und Correctionsanstalten abschaffen und die Spitzbuben und sonstigen Verbrecher ein halbes Jahr lang unablässig auf der Eisenbahn fahren lassen – natürlich 12 Personen in einem Coupé, dann wären sie entweder gründlich gebessert oder verrückt geworden, eins von beiden!«

Er legte die Tasche ab und warf sich auf das Sopha. Behaglich streckte er die Beine aus.

»Sie scheinen lange gefahren zu sein?« warf Köhler ein, der an dem Manne nicht übel Gefallen fand.

»Niederträchtig lange! Mein Körper ist wie zerschlagen, obschon ich an Beschwerden gewöhnt bin. Doch lassen Sie mir Essen bringen und Bier – gutes Bier! Was man auf den Eisenbahnstationen erhält, heißt zwar auch Bier, allein es ist ein schändliches Getränk!«

Köhler gab dem Kellner einen Wink und wenige Minuten später stand ein schäumendes Glas vor dem Fremden.

In einem Zuge leerte derselbe dieses. Köhler sah es mit lächelndem Gefühle.

»Schmeckt es Ihnen?« fragte er.

»Trefflich, lassen Sie mehr bringen! Ich habe mich nach einem Glase guten Bieres gesehnt, wie ein Frommer nach dem Paradiese. – Sie sind doch nicht etwa fromm?« fügte er lächelnd hinzu.

»Nein, nein,« erwiderte Köhler, an dem Tische neben ihm Platz nehmend. »Nur so weit, als es zum Hausgebrauche nothwendig ist, mehr nicht?«

Der Fremde lachte laut auf.

»Das lasse ich gelten!« rief er. »Etwas muß der Mensch für seine Seligkeit thun, nur nicht zu viel, sonst bekommt man einen unangenehmen Beigeschmack dadurch!«

Dies war ein Mann für Köhler. Er lachte so laut und offen, es sprach aus seinen Augen eine solche Gutmüthigkeit, er aß, als der Kellner ihm das Essen brachte, mit einem solchen Appetite, wie dies Alles nur ein Mensch thun kann, vor dem die ganze Welt offen da liegt.

In heiterster Weise unterhielt sich Köhler mit ihm.

»Nun lassen Sie mir ein Zimmer anweisen,« sprach der Fremde endlich. »Ich sehne mich wie Wallenstein einen langen Schlaf zu thun, indeß hoffe ich wieder zu erwachen, was Wallenstein nicht that! Im Schlafe zu sterben ist ungemüthlich.«

Er erhob sich und der Kellner geleitete ihn auf sein Zimmer.

Es war spät geworden, die Gäste hatten sich bereits sämmtlich entfernt und auch Köhler begab sich zur Ruhe.

Noch im Bette mußte er an den Fremden denken. Wenn er längere Zeit in der Stadt bliebe! Er war der Mann, um durch seine lustige Stimmung und durch seinen schlagfertigen Witz wieder zahlreiche Gäste in den Löwen zu ziehen.

Mit diesem Gedanken schlief er ein. Und derselbe spann sich in seinem Traume fort. Der Fremde blieb in demselben wirklich in der Stadt, saß jeden Abend an dem runden Stammtische und scherzte und lachte. Er zog neue Gäste herbei, immer mehr und mehr. Köhler mußte das Zimmer vergrößern, er nahm das Nebengemach mit dazu, allein auch dieses langte bald nicht mehr, immer größer und größer wurde die Zahl der Gäste. Er kaufte das Nebenhaus an, dann noch eins, endlich die ganze Straße.

Wie ein Gott, so stolz durchwanderte er die lange Reihe der Zimmer, alle waren mit Gästen erfüllt, und die Zimmer nahmen kein Ende, er konnte kein Ende derselben absehen, konnte sich schließlich selbst nicht mehr darin zurecht finden, und er rief einen Kellner herbei, um ihn zum Ausgange zu geleiten.

In diesem Augenblicke, ehe er den Ausgang noch erreicht hatte, wurde er durch einen lauten Schrei erweckt.

Erschreckt fuhr er empor. Er wußte nicht, ob er nur geträumt hatte, allein gleich darauf vernahm er einen schweren, dumpfen Fall in dem Zimmer über sich.

In diesem Zimmer logirte der Fremde.

Noch immer war er ungewiß, ob nicht Alles, was er gehört hatte, nur eine Täuschung seiner durch den Traum aufgeregten Phantasie sei – er sah sogar noch die lange endlose Reihe der Gastzimmer deutlich vor sich, allein auch seine Frau war erwacht, auch sie hatte den Schrei und den dumpfen Fall gehört.

Es war also kein Traum.

Bestürzt sprang er aus dem Bette und kleidete sich nothdürftig an. In Hast weckte er den Hausknecht, ohne indeß dessen Erscheinen abzuwarten, eilte er die Treppe empor zu dem Zimmer des Fremden.

Die Thür war verschlossen. Er pochte laut, heftig, ohne daß darinnen Jemand antwortete. Seine Angst wuchs. Sein Pochen hätte auch einen festen Schläfer erwecken müssen. Der Hausknecht und der durch das Geräusch wachgerufene Kellner erschienen. Als auf wiederholtes Pochen keine Antwort erfolgte, als der in Hast geholte Hauptschlüssel nicht schloß, weil der Schlüssel von innen in dem Schlosse steckte, sprengte er mit Gewalt die Thür.

Er stürzte in das Zimmer, der Kellner folgte ihm mit dem Lichte. Er eilte zum Bette, allein schon nach wenigen Schritten wich er entsetzt wieder zurück. Vor dem Bette lag der Fremde regungslos, mit Blut bedeckt.

»Allmächtiger Gott – er ist ermordet!« rief Köhler, riß dem Kellner das Licht aus der Hand und trat an den daliegenden Herrn.

Aus einer Wunde in der Brust quoll noch immer Blut hervor.

»Er ist ermordet!« fuhr Köhler fort – »hier der Stich in der Brust! Er ist todt!«

Er selbst brach fast zusammen – dann raffte er sich gewaltsam wieder auf.

»In meinem Hause ist der Mord geschehen!« rief er – »noch kann der Mörder das Haus nicht wieder verlassen haben – er muß noch hier sein!«

Er eilte die Treppe hinab, die Thüren zu untersuchen. Sowohl die vordere wie die hintere Hausthür waren noch verschlossen, die Riegel von innen waren noch vorgeschoben.

Ohne Zögern sandte er den Hausknecht nach dem Polizeicommissar und dem Arzte. Dann schloß er die Thür hinter ihm und steckte den Schlüssel zu sich. Es war eine Entschlossenheit und Umsicht über ihn gekommen, die er sich selbst nicht zugetraut hatte.

Rasch theilte er seiner Frau die entsetzliche That mit und eilte dann wieder hinauf zu dem Ermordeten.

Derselbe lag noch eben so regungslos da, wie vorhin.

Das Blut floß langsam aus der Wunde. Er bog sich nieder zu ihm. Er glaubte noch ein schwaches Lebenszeichen in ihm zu bemerken.

»Er lebt noch!« rief er und riß das Hemd des Ermordeten auseinander. Derselbe hatte zwei schmale Wunden dicht neben einander. Er preßte auf die Wunden sein Tuch, um das Blut zu stillen. Sein Auge fuhr suchend umher.

»Er kann die That nicht selbst begangen haben,« fuhr er fort. »Ich sehe keine Waffe. Vielleicht ist sein Leben noch zu retten! Lauf zum Doctor Ohrstedt – er muß sofort – sogleich kommen!« wandte er sich an den Kellner – »doch nein, bleib,« fügte er sofort hinzu. »Ich mag nicht allein hier bleiben. Er wird ohnehin bald kommen – er wohnt ja nahe!«

In dem Augenblicke wurde bereits heftig an die Hausthür gepocht.

»Sie kommen schon!« rief Köhler aufspringend. »Bleib hier – ich werde die Thür öffnen.« Er eilte die Treppe hinab.

Der Doctor Ohrstedt, der Polizeicommissar Wulf und mehrere Polizeidiener traten in das Haus ein, als er öffnete. Sie waren gleichzeitig angekommen. Der Hausknecht hatte sie von dem Vorgefallenen bereits in Kenntniß gesetzt.

»Er lebt noch!« rief Köhler dem Arzte zu. »Eilen Sie – sein Leben ist vielleicht noch zu retten!«

»Haben Sie eine Spur des Mörders?« fragte Wulf hastig.

»Nein – nein – ich habe noch keine Ahnung, wer das Verbrechen begangen haben kann, allein der Mörder muß noch im Hause sein. Ich sprang sofort als ich den Schrei hörte, auf – beide Hausthüren waren noch verschlossen – ich habe die Schlüssel abgezogen – er kann noch nicht entkommen sein!«

»So kommen Sie!« fuhr Wulf schnell entschlossen fort, indem er dem einen der Polizeidiener den Auftrag gab, auf der Hausflur zu bleiben.

In Hast eilten sie die Treppe empor.

Der Arzt erkannte sofort, daß der Unglückliche noch lebte.

»Ist sein Leben zu retten?« fragte Köhler.

»Das kann ich noch nicht beurtheilen,« entgegnete Ohrstedt während er beschäftigt war, die Wunden näher zu untersuchen.

Wulf hatte dem in seinem Blute daliegenden Fremden nur einen flüchtigen Blick gewidmet – er hatte vorläufig andere Interessen.

»War die Thür dieses Zimmers verschlossen?« fragte er.

»Ja – ich habe sie mit Gewalt aufgesprengt,« – entgegnete Köhler. »Der Schlüssel steckte von innen im Schlosse – ich konnte deshalb den Hauptschlüssel nicht benutzen. Die Angst verlieh mir Kräfte.«

Es befand sich in dem Gemache nur noch eine Thür, welche in ein Nebenzimmer führte. Wulf untersuchte zuerst die Fenster. Dieselben führten auf die Straße und waren sämmtlich verschlossen. Dann schritt er mit dem Lichte in der Rechten zu der Nebenthür.

»Ah – hier ist der Weg, welchen der Mörder genommen hat!« rief er. »Ist dies Zimmer hier nebenan bewohnt?«

»Nein,« entgegnete Köhler. Er war zu dem Commissar getreten. »Sie glauben, daß der Mörder durch diese Thür eingedrungen sei?« fügte er fragend hinzu.

»Sehen Sie, hier an dem Griffe befindet sich Blut,« fuhr Wulf fort. »Ha, der Mörder hat sich nicht Zeit genommen, sich die Hände zu waschen – er hat vielleicht nicht erwartet, daß der Unglückliche schreien werde. Kommen Sie – begleiten Sie mich!«

Er legte, ohne den Blutfleck zu berühren, die Hand auf das Schloß – dasselbe gab dem Drucke nach und die Thür öffnete sich.

»Ist diese Thür verschlossen gewesen?« fragte Wulf.

»Ich weiß es nicht,« entgegnete Köhler. »Für gewöhnlich ist sie allerdings verschlossen. Der Kellner wird es vielleicht wissen – ich werde ihn rufen.«

»Jetzt nicht,« fuhr Wulf fort. »Wir wollen keine Zeit verlieren – kommen Sie. Eine frische Spur verfolgt sich am leichtesten. – Sie wissen nicht, wer der Fremde ist?«

»Nein – er kam gestern Abend an – ich habe ihn nicht nach seinem Namen gefragt: Er war sehr lustig, obschon er von der Reise ermüdet war.«

Wulf untersuchte auch in diesem Zimmer die Fenster – sie waren sämmtlich geschlossen – auch die Thür, welche von diesem Zimmer auf den Corridor führte.

»Ah, der Mörder hat sie hinter sich geschlossen, als er das Zimmer wieder verlassen. Doch sehen Sie, auch hier befindet sich ein Blutfleck. Es ist ein Glück, daß die Hände, welche eine blutige That begangen haben, selten rein bleiben. Der Schlüssel ist abgezogen. Lassen Sie uns durch das andere Zimmer auf den Corridor gehen.«

Sie langten auf dem Corridor wieder an.

Mit dem Lichte in der Rechten, dasselbe tief auf die Erde niederhaltend, gebeugt, um sich keine Spur entgehen zu lassen, schritt Wulf langsam, vorsichtig weiter.

Ueber den Corridor lief eine lange dunkle Decke, welche fast die. ganze Breite desselben einnahm.

»Köhler, diese verdammte Decke läßt nichts erkennen,« sprach Wulf, »und der Mensch muß doch darauf gegangen sein und es ist sehr wahrscheinlich, daß auch an seinen Füßen sich Blutspuren befunden haben. Die würden hier abgedrückt sein, und mein Auge würde sie sicher finden, denn ich habe Gottlob scharfe Sehorgane. Schaffen Sie diese Decke ab – ich kann sie ohnehin nicht leiden.«

Köhler bemerkte erst jetzt, daß auf dem Corridor ein Fenster, welches nach dem Hofe zuging, offen stand. Er machte den Commissär darauf aufmerksam.

»Durch dies Fenster ist der Mörder entflohen,« sprach er. »Ich sehe es erst jetzt. Vom Hofe aus ist er hieher gelangt, in den Hof kann er leicht durch den Garten kommen.«

Wulf trat schnell mit dem Lichte auf das Fenster zu. Er untersuchte dasselbe mit der größten Sorgfalt! Jede Stelle an demselben beleuchtete er.

Köhler begriff dies nicht, er hätte es für viel natürlicher gehalten, sofort auf den Hof hinabzueilen und dort die Untersuchung fortzusetzen. Er sprach dies aus.

»Köhler« erwiderte Wulf, »der Mörder ist nicht durch dies Fenster entflohen und deshalb bezweifle ich auch, daß er durch dasselbe in das Haus eingedrungen ist.«

»Diese Fenster werden jeden Abend geschlossen.«

»Das bezweifle ich nicht und dennoch wiederhole ich meine Behauptung. Der Mörder hat nicht auf diesem Wege das Haus verlassen, ich bezweifle überhaupt, daß er dasselbe bereits verlassen hat!«

»Wie kommen Sie darauf, da hier doch die sichere Spur der Flucht ist,« warf der Wirth ein. Wulf schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.

»Eine Finte, Freund,« entgegnete er leise. »Still sprechen Sie leise. – Es ist ein schlauer Mörder gewesen – nur hat er vergessen, seine Hände zu waschen. Sehen Sie – hören Sie mich an. Sie haben die Blutspuren an den beiden Thüren bemerkt. Das Blut hat sich an der rechten Hand des Mörders befunden – mit der Rechten hat er auch den Stoß ausgeführt. Mit derselben Hand – mit der rechten – hat er beide Thüren geöffnet. Sie werden mit nun zugestehen, daß Jemand, der aus einem Fenster steigt, auch der rechten Hand sich dabei bedient, er hält sich damit, er faßt damit im Fenster auf, um sich empor zu heben – an dem Fenster befindet sich nicht die geringste Blutspur und an der Rechten des Mörders war Blut.«

»Er kann die Hand abgewischt haben,« warf Köhler ein.

»Dies würde er früher gethan haben. Er hat überhaupt nicht gewußt, daß sich das Blut an seiner Hand befunden hat.«

»Wie soll dies Fenster geöffnet sein – da ich es selbst gestern Abend geschlossen habe?«

»Und wenn es nun von dem Mörder vorher, ehe er an die That gegangen, geöffnet wäre, um den Verdacht zu erwecken, daß durch dies Fenster der Mörder eingestiegen sei? Wenn es nun seine Absicht gewesen wäre, dadurch eine genauere Durchsuchung des Hauses selbst abzuwenden?« erwiderte der Commissar. »Sie halten dies für unwahrscheinlich, und doch bin ich überzeugt, daß ich mich nicht täusche. Sollte ich mich dennoch geirrt haben, sollte der Mörder durch das Fenster eingestiegen und wieder geflohen sein, so ist er durch Ihren Garten längst entkommen, und wir werden morgen früh die Spuren dort ebenso sicher finden, wenn er überhaupt welche zurückgelassen hat. Jetzt lassen Sie uns erst das Haus durchsuchen.«

Von Köhler und einem Polizeidiener begleitet durchforschte Wulf das ganze Haus, ohne das geringste Zeichen, welches Verdacht hätte erwecken können, zu finden. Er kehrte auf den Corridor zurück und zog Köhler zur Seite.

»Mein Verdacht ist trotz des vergeblichen Suchens noch nicht geschwunden,« sprach er. »Machte der Fremde auf Sie den Eindruck eines Mannes, der viel Geld bei sich führt?«

»Durchaus nicht, er konnte durch seine ganze äußere Erscheinung nur die entgegengesetzte Meinung hervorrufen.«

»Und Sie sagen, er sei gestern Abend spät erst angelangt?«

»Es mochte bereits auf zehn Uhr gehen.«

»Hat er mit Niemand hier verkehrt?«

»Mit Niemand. Er hat nur mit mir gesprochen. Dann wies ihm der Kellner sein Zimmer an. Dieser kam indeß schnell zurück und kann kaum mit ihm gesprochen haben – auf keinen Fall viel.«

»Ist Ihr Kellner zuverlässig?«

»Ich bürge für ihn – ich kenne ihn von Jugend auf – er ist sogar ein Verwandter meiner Frau.«

»Und Ihr Hausknecht?«

»Ich bürge auch für ihn – er ist bereits siebenzehn Jahre in meinem Dienste.«

»Wie viele Fremde logiren bei Ihnen gegenwärtig?«

»Nur wenige.«

»Wollen Sie mir die Namen derselben nennen?«

»Dort jene Zimmer hat der Maler Ontzen mit seiner Frau inne – Sie kennen dieselben ja.«

»Gewiß,« bemerkte Wulf.

»Dort in dem kleinen Zimmer, welches auf den Hof führt, logirt ein Candidat der Theologie, der sein Examen macht.«

»Wie heißt er?«

»Wilke – und dort logirt eine ältere Dame, welche gestern Morgen angekommen ist und sich als Majorin Benken eingezeichnet hat. Sie scheint eine Verwandte des Schuldirectors Appel zu sein, denn sie ist den ganzen Tag in dessen Hause gewesen.«

»Wohnt Niemand weiter bei Ihnen?«

»Niemand.«

Der Commissar schwieg nachsinnend und trat dann in das Zimmer, in welchem die entsetzliche That geschehen war, indem er einen Polizeidiener auf dem Corridor zurückließ.

Der Doctor Ohrstedt hatte, von dem Kellner unterstützt, den Fremden auf das Bett gelegt und war soeben mit dem Verbinden der Wunden fertig.

Er trat Wulf und Köhler entgegen.

»Er lebt noch,« sprach er.

»Wird er gerettet werden?« warf Köhler ein.

Der Arzt zuckte mit den Schultern.

»Die Möglichkeit ist nicht abgeschnitten, so lange noch sein Herz schlägt,« erwiderte er – »ich habe nur wenig Hoffnung. Er hat zwei Stiche in der Brust, beide auf der rechten Seite, ziemlich nahe neben einander. Ich habe sie mit der Sonde untersucht, sie sind ziemlich tief, allein ich kann trotz der Untersuchung noch nicht genau beurtheilen, in wie weit edlere Theile dadurch verletzt sind. Gut ist es jedenfalls, daß die Blutung nach außen erfolgt ist, nur ist der Blutverlust ein außerordentlich starker gewesen.«

»Ist er bereits zur Besinnung zurückgekehrt?« fragte Köhler.

Ohrstedt schüttelte mit dem Kopfe.

»Es wird vielleicht lange währen, ehe dies eintritt,« entgegnete er. »Er ist ohnehin durch den Blutverlust außerordentlich geschwächt.«

»Mit welchem Instrumente glauben Sie, daß die Wunden beigebracht sind?« fragte Wulf.

»Mit einem Dolche,« erwiderte Ohrstedt.

»Woraus schließen Sie dies?«

»Die Wunden rühren von einer dreischneidigen Waffe her – das kann nur ein Dolch sein.«

»Haben Sie keine weiteren Zeichen wahrgenommen?« forschte der Commissar weiter.

»Der Verwundete trug dieses Medaillon auf der Brust – ich habe es ihm abgenommen.«

»Zeigen Sie!« rief Wulf, es ihm mit Hast aus der Hand nehmend.

Das Medaillon enthielt in einer geschlossenen Goldkapsel ein kleines, sauber ausgeführtes Bild, einen frischen blühenden Mädchenkopf.

»Es wird das Bild seiner Braut sein,« sprach Köhler.

»Nein,« entgegnete Wulf, der das Medaillon und Bild betrachtete. »Es ist nicht seine Braut – das Bild ist zu alt dazu. Sehen Sie, wie dünn die ursprünglich starke Goldkapsel durch das lange Tragen geworden ist – dazu gehören lange Jahre. Ich vermuthe – es wird seine Mutter sein. – Wie fanden Sie ihn, als Sie zuerst in's Zimmer traten?« wandte er sich fragend an den Wirth.

»Dort vor dem Bette, an der Erde – in derselben Lage, in welcher Sie ihn noch angetroffen haben.«

»Er scheint aus dem Bette gesprungen zu sein, als er den Mörder erblickt hat – da hat er die Stiche erhalten und ist niedergefallen,« fuhr Wulf fort. »Lagen die Gegenstände in derselben Unordnung?«

»Ich habe nichts von den Sachen angerührt.«

»Es ist außer Ihnen Niemand allein hier im Zimmer gewesen?«

»Der Kellner, indeß nur so lange, als ich Ihnen die Hausthür öffnete. Ich erinnere mich indeß, daß die Sachen genau hier so lagen; ich hatte dem Kellner außerdem gesagt, er möge nichts anrühren.«

Auf dem Tische lag der Strohhut, die Weste, das Halstuch und die kleine Tasche des Fremden – außerdem eine goldene Uhr.

Wulf untersuchte all diese Sachen genau. Die Tasche war geöffnet. Der Fremde konnte sie freilich am Abende geöffnet haben.

»Halt! hier verräth sich wieder die blutige Hand des Mörders,« sprach er. »Hier an dem Bügel ist Blut. Er scheint die Tasche durchsucht zu haben. Was er daraus geraubt hat, kann ich freilich nicht errathen, weil ich nicht weiß, was sie enthalten hat.«

»Sicherlich das Geld,« bemerkte Köhler.

»Dies bezweifle ich. Dem Auge eines Diebes würde die goldene Uhr hier nicht entgangen sein. Doch wir werden weiter sehen.«

Auf dem Stuhle neben dem Bette lag das Beinkleid, daneben an der Wand hing der Rock.

Der Commissar untersuchte die Taschen beider Kleidungsstücke genau. In der Hosentasche steckte eine Börse mit wenigen Thalern. – Die Taschen des Rockes enthielten nur ein Schnupftuch.

»Sie sagten mir, der Fremde habe Ihnen mitgetheilt, daß er eine weite Reise gemacht habe,« wandte sich der Commissar an den Wirth.

»Er sagte nur, daß er lange Zeit auf der Eisenbahn gefahren sei,« entgegnete dieser.

»Ganz Recht – das kommt übrigens auf eins heraus. Fällt Ihnen nicht Etwas auf, meine Herren?« fragte Wulf.

Ohrstedt und Köhler sannen nach.

»Daß er nicht mehr Geld bei sich führt,« sprach der erstere endlich. »Man pflegt eine weite Reise nicht mit wenig Thalern zu unternehmen.«

»Ganz Recht – dies beweist indeß noch nichts,« warf Wulf ein. »Er könnte das Geld ebenso gut auf der Reise ausgegeben haben. Das meine ich nicht. Wer indeß eine weitere Reise unternimmt, pflegt sich nicht ohne alle Papiere auf dieselbe zu begeben. Ein Paß zum wenigsten wird ihm in jeder Stadt abgefordert. Ich habe nicht ein Papier bei ihm gefunden, nicht eine Zeile, welche seinen Namen, seinen Stand oder den Ort, woher er kommt, verriethe. Doch halt! hier in der Weste steckt ein zerknittertes Eisenbahnbillet – es ist für die Reise von Triest nach Wien gewesen – es ist erst wenige Tage alt, wie der Stempel hier zeigt – glauben Sie, daß Jemand diese Reise und von Wien hierher ohne jede Legitimation, ohne alle Papiere zurücklegen kann?«

»Es ist auffallend,« warf Köhler ein. »Hieran hatte ich nicht gedacht.«

»Er kann die Papiere in einer Brieftasche gehabt haben,« bemerkte Ohrstedt. »Der Mörder hat nach der Brieftasche gegriffen, weil er in ihr Werthpapiere vermuthet oder auch gefunden hat!«

»Das ist möglich,« entgegnete der Commissar langsam, halb in Nachsinnen verloren. »Wer indeß eine solche That begeht, nur um den Todten zu berauben, übersieht eine goldene Uhr nicht, welche auf dem Tische liegt. Ich weiß aus langjähriger Erfahrung, daß solche Leute einen wunderbaren Instinct besitzen, um Werthsachen zu entdecken, und die Uhr lag hier offen auf dem Tische.«

»Der Mörder kann sie übersehen haben – er wird sicherlich kein Licht mit sich gebracht haben,« warf Köhler ein.

»Er hat Licht gehabt und zwar eine Stearinkerze,« entgegnete Wulf. »Diese Kerzen sind sehr unbequem bei solchem Vorhaben, sie tropfen leicht – sehen Sie hier die Tropfen auf dem Tische – dann bis zu der Thüre hier an der Erde – der Mann hat Eile gehabt – das Licht hat geflackert – getropft. Im Dunkeln trifft auch Niemand die Brust so gut. Ohne Licht muß es indeß fast ganz finster hier im Zimmer sein, denn die Rouleaux sind niedergelassen und es ist draußen ziemlich finster. Ich habe mich auf dem Wege hierher überzeugt, daß wir keinen Mondschein haben.«

»Sie haben Recht!« rief Köhler. »Ihr Auge sieht mehr als das meinige – mir würde dies Alles nicht aufgefallen sein.«

»Sie haben nicht die Erfahrung und die Uebung gehabt, wie ich,« bemerkte Wulf. »Unsereiner wird durch sein Amt gezwungen, scharf zu sehen und aus den gegebenen Thatsachen weitere Schlüsse zu ziehen. Glauben Sie, daß ein Dieb oder Mörder, der vom Hofe aus durch das Fenster einbricht, sich zur Beleuchtung eine Stearinkerze mitbringt? Ich kenne die Verbrecher besser – eine solche Dummheit würde keiner begehen. Diese Leute haben die für ihr Treiben äußerst zweckmäßigen Blendlaternen. Und noch Eins, Köhler. Sie haben mir gesagt, Sie hätten gestern Abend das Fenster selbst geschlossen.«

»Gewiß.«

»Sie haben sich überzeugt, daß es offen stand. Bis jetzt hat noch kein Spitzbube die Kunst gefunden, ein verschlossenes Fenster von außen zu öffnen, ohne eine Scheibe zu zerdrücken oder das Fenster zu verletzen – das Fenster ist indeß ganz unversehrt.«

»Auch daran habe ich nicht gedacht!« rief Köhler.

»Die That ist von Jemand begangen, der sich im Hause befindet,« fuhr Wulf fort.

»Für meinen Hausknecht und meinen Kellner stehe ich ein,« sagte Köhler.

»Und Ihre Gäste?«

»Auch für sie bürge ich!« rief der Wirth. »Wer von ihnen sollte zu einer solchen That fähig sein? – Keiner!«

»Ich werde dennoch bei denselben eine genaue Untersuchung anstellen müssen,« bemerkte Wulf.

Köhler schien dies ungern zu sehen.

»Kommen Sie,« fuhr der Commissar fort. »Ich darf keine Rücksichten nehmen. Es muß sogar in Ihrem eigenen Interesse liegen, daß der Schuldige sobald als möglich entdeckt wird.«

»Gewiß, gewiß,« versicherte Köhler. »Allein, ich würde mich für Alle verbürgen. Es kann Keiner von ihnen diese That begangen haben. Der Candidat ist so schüchtern, wie ich selten einen Mann gesehen habe, Ontzen ist krank und schwächlich, oder glauben Sie, daß die Majorin Benken – daß eine Frau eine solche That begehen könne.«

»Weshalb nicht? Frauen sind der größten Leidenschaft fähig.«

»Die Majorin ist eine Frau mit bereits ergrauten Haaren,« warf Köhler ein.

»Ich denke an sie auch vorläufig nicht,« gab Wulf zur Antwort.

»Und bei wem wollen Sie die Untersuchung beginnen?«

»Bei Herrn Ontzen,« erwiderte Wulf ruhig.

»Bei dem kranken, hinfälligen Manne?« rief Köhler überrascht.

»Lassen Sie – lassen Sie!« wehrte Wulf ab. »Ich beschuldige noch Niemand, ich will nur erst eine Untersuchung vornehmen – übrigens gehört zu zwei solchen Stößen mit einem guten Dolche wenig Kraft!«

Sie waren auf den Corridor getreten.

In diesem Augenblicke wurde die Thür des Zimmers, welches der reiche Erbe bewohnte, geöffnet, und der Kopf der schönen Frau kam zum Vorschein. Sie rief Köhler.

Dieser schritt auf die Thür zu, während Wulf ihm folgte.

»Was ist vorgefallen?« fragte die schöne Frau, ohne die Thür ganz zu öffnen, da sie sichtbar nur in äußerst flüchtiger Toilette war. »Ich höre hastig Schritte auf- und abgehen.«

Mit kurzen Worten setzte Köhler sie von dem schrecklichen Vorfall in Kenntniß.

»Allmächtiger Gott!« rief die Frau, sichtbar erschreckt.

»Ein Herr hier ermordet! Und er ist todt?«

»Nein, gnädige Frau,« fiel der Commissar ein, »er lebt und nach der Versicherung des Arztes ist auch gegründete Hoffnung, daß sein Leben nicht gefährdet ist, trotz der beiden Stiche in seiner Brust. Dieselben sind nicht lebensgefährlich!«

Die Flamme des Lichtes, welches Köhler in der Hand trug, warf einen hellen Schein auf die Züge der schönen Frau.

Das scharfe Auge des Commissars sah sie bei seinen Worten erbleichen, indeß nur einen Augenblick lang.

»Gott sei Dank!« entgegnete sie. »Und Sie haben den Mörder noch nicht gefunden?«

»Noch nicht,« gab Wulf zur Antwort. »Wir haben noch keine Ahnung, wer die That vollbracht haben könnte, meine Pflicht gebietet mir indeß, ungesäumt eine genaue Durchsuchung des ganzen Hauses vorzunehmen, ich bedaure deshalb, daß ich auch Sie werde belästigen müssen.«

»Ich finde dies natürlich,« erwiderte die schöne Frau.

»Ich werde Ihnen sofort das Zimmer öffnen – nur für einen Augenblick bitte ich um Geduld, bis ich ein Tuch umgeworfen und meinen kranken Mann benachrichtigt habe – er hat von dem schrecklichen Vorfalle noch keine Ahnung.«

»Ihre Bitte ist nur eine natürliche,« entgegnete Wulf artig.

Sie schloß die Thür.

Köhler blickte den Commissar erstaunt an, allein dieser gab ihm einen Wink zu schweigen und ihn ruhig gewähren zu lassen.

Kaum zwei Minuten später öffnete die Frau die Thür und bat die Herren einzutreten. Sie entschuldigte sich ihrer Toilette wegen.

»Ich konnte nicht erwarten, mitten in der Nacht Besuch bei mir zu sehen,« sprach sie lächelnd.

Sie erschien in der flüchtigen Toilette, welche ihre vollen Formen hier und dort offen hervortreten ließ, doppelt schön.

Wulf schien in diesem Augenblicke kein Auge dafür zu haben. Er ließ seinen scharfen Blick prüfend durch das Zimmer hinschweifen; auf zwei Leuchtern mit Stearinkerzen, welche auf dem Tische standen, blieb er haften. Dann richtete er denselben in das Nebenzimmer, wo der Kranke im Bette lag. Er erblickte die großen, tiefliegenden Augen desselben – sein Gesicht schien blässer geworden zu sein – er hatte ihn freilich seit Tagen nicht gesehen.

»Wollen Sie die Untersuchung beginnen?« fuhr die schöne Frau fort, »doch was suchen Sie eigentlich Herr Commissar?«

»Die Spur des Mörders.«

»Bei mir?« rief die Dame und ihr Gesicht lächelte ganz unbefangen. »Glauben Sie, daß ich einem Verbrecher hier eine Zuflucht gewähren würde!«

»Gewiß nicht, gnädige Frau,« entgegnete Wulf mit größter Artigkeit. »Ich bedaure, daß ich Ihnen beschwerlich fallen muß, allein versetzen Sie sich in meine Lage. Meine Pflicht gebietet mir, keinen Raum dieses Hauses undurchsucht zu lassen, ich darf Niemand schonen.«

»Auch wenn Sie die feste Ueberzeugung haben, daß er mit der That nichts zu schaffen hat?«

»Auch dann nicht,« entgegnete Wulf nach kurzem Zögern.

»Bitte, dann kommen Sie Ihrer Pflicht nach!« bemerkte die Frau kurz, fast beleidigt.

»Gestatten Sie mir zuerst einige Fragen an Sie zu richten,« sprach der Commissar.

»Fragen Sie!«

»Haben Sie einen lauten Schrei diese Nacht vernommen?« fragte Wulf.

»Nein. Ich habe geschlafen, bis ich durch das Pochen an der Hausthür und das hastige Hin- und Herlaufen auf dem Corridor erweckt wurde. Ich vermuthete, es sei Jemand plötzlich gefährlich erkrankt – ich glaubte auch die Stimme des Doctor Ohrstedt zu erkennen.«

»Hat Ihr Gemahl nichts vernommen?« forschte Wulf weiter.

»Sie vergessen, daß derselbe schwer hört.«

»Ah, ganz Recht – das hatte ich vergessen,« bemerkte Wulf. »Wußten Sie, daß in dem Zimmer ein fremder Herr logirte?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung davon gehabt. Er kann dort auch noch nicht lange wohnen – übrigens kümmere ich mich nur sehr wenig um Diejenigen, welche hier einkehren und logiren.«

»Der Herr ist auch erst gestern Abend spät angekommen,« bemerkte Köhler.

»Bitte, Herr Köhler, unterbrechen Sie mein Verhör nicht!« sprach Wulf mit ernster Miene. »Wenn Ihre nähere Auskunft erforderlich ist, werde ich Sie darum ersuchen. – Sie haben also von dem ganzen schrecklichen Vorfalle nichts weiter gehört?« wandte er sich wieder an die Dame.

»Nichts!«

Wulf trat an den Tisch und warf einen schnellen, prüfenden Blick über denselben. Dann schritt er in das Nebenzimmer, in welchem der kranke Mann lag. Derselbe blickte ihn mit seinen tiefliegenden Augen forschend an, ohne sich zu rühren.

»Ich muß Sie bitten, das Bett zu verlassen,« sprach Wulf, indem er an das Bett herantrat.

Die Frau war ihm in das Zimmer gefolgt. Ueber das Gesicht des Kranken zuckte es bei den Worten wie ein Schreck in, er rührte sich indeß nicht.

»Ich hoffe, daß Sie zum wenigsten gegen einen Kranken Rücksicht nehmen werden!« sprach die Dame in gereiztem Tone.

»Gewiß, soweit es meine Pflicht gestattet,« erwiderte Wulf ruhig. »Die Pflichten eines Polizeibeamten sind nicht angenehm, sie gestatten oft auch wenig Rücksicht – ich muß auf meiner Bitte beharren.«

»Mein Herr, vermuthen Sie vielleicht, daß mein Mann den Mörder in dem Bette verborgen hält?« rief die Frau heftig.

Auch dem Wirthe erschien diese Maßregel zu weit gehend und er versuchte einen Einwurf.

»Herr Köhler, ich weiß genau, wie weit die Berechtigung meines Amtes geht,« erwiderte Wulf. »Glauben Sie, daß ich zu weit gegangen bin, so steht Ihnen die Beschwerde offen – jetzt bestehe ich auf der Erfüllung meiner Forderung!«

»Und zu welchem Zwecke?« warf die Dame ein.

»Um die begonnene Untersuchung fortzusetzen,« bemerkte Wulf.

»Ich räume Ihnen das Recht dazu ein,« fuhr die Dame etwas ruhiger fort. »Untersuchen Sie beide Zimmer, untersuchen Sie selbst mich – ich werde mich nicht weigern, ich verlange nur eine Schonung des Kranken.«

Der Kranke hatte sich in dem Bette etwas emporgerichtet. Er stützte sich mit dem Arme auf das Kissen.

»Was geht hier vor?« fragte er erstaunt.

Seine Frau näherte sich seinem Ohr und rief ihm die Forderung des Commissars hinein.

»Ich werde mich morgen beschweren,« entgegnete er.

»Ich weigere mich, der Forderung nachzukommen!«

»Weshalb untersuchen Sie das Zimmer nicht?« warf die Dame ein.

Ueber des Commissars Gesicht glitt ein spöttisches Lächeln.

»Sie haben Recht, ich werde zuerst das Zimmer untersuchen,« sprach er.

Er nahm dem Wirthe das Licht aus der Hand und trat rasch damit auf den Ofen zu. Er öffnete die Thür desselben und faßte hinein.

»Pflegen Sie mitten im Sommer einzuheizen?« fragte er sich umwendend.

Er sah den Kranken zusammenzucken.

»Ich habe meinem Manne Thee gewärmt,« sprach die Dame.

»Hier im Ofen?«

»Ja.«

Dies »Ja« klang etwas gepreßt.

»Worin haben Sie den Thee gewärmt?«

»Dort – dort im Topfe.«

Wulf konnte den Topf mit der Hand erreichen. Er erfaßte ihn.

»Der Topf ist kalt geblieben,« bemerkte er. »Und Sie haben den Thee mit Papier gewärmt?«

»Ich hatte nichts Anderes zur Hand – mein Mann war sehr unwohl.«

Wulf scharrte in dem Ofen mit den Fingern verkohlte Papierreste aus einander. Er zog ein nur halb verbranntes Stück Papier hervor – sein Auge leuchtete auf.

Schweigend erhob er sich, trat rasch an die Thür und rief den auf dem Corridor wartenden Polizeidiener.

Derselbe trat in das Zimmer.

»Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!« sprach er, zu der Dame und dem Kranken gewendet.

Der Kranke fuhr erschreckt im Bette empor.

»Mich – mich?« rief er. Er schien nicht mehr hervorbringen zu können.

»Sei ruhig, Heinrich,« sprach die Dame, welche sich schnell gefaßt hatte. »Der Herr Commissar scheint zu scherzen.«

Auch ihre Stimme bebte leise. Ihr Auge blickte leuchtend, fast drohend den Commissar an.

»Ein solcher Scherz würde sehr ungeziemend sein,« entgegnete Wulf ruhig. »Uebrigens scheint Ihr Herr Gemahl nicht immer schwer zu hören.«

»Herr Commissar – ich bezweifle nicht –!« rief Köhler, der durch die Worte in gleicher Weise bestürzt war.

Der Commissar schien diese Worte kaum zu hören.

»Reinert – rufen Sie Ihren Collegen, der unten auf der Hausflur wartet!« befahl er dem Polizeidiener, während er selbst vor dem Ofen stehen blieb.

Sowohl die Dame, wie der Kranke hatten einige Augenblicke geschwiegen. Starr waren ihre Augen auf Wulf gerichtet.

»Ich bin gespannt, wie weit Sie Ihre Unverschämtheit treiben werden!« rief die schöne Frau mit vor Erbitterung bebender Stimme.

»Nicht weiter, als nöthig ist,« entgegnete Wulf ruhig. »Ich trage die Verantwortung.«

»Ich werde Genugthuung verlangen – es steht noch eine Behörde über Ihnen!« fuhr die Frau fort. »Solche Behandlung würde Niemand außer Ihnen wagen.«

Wulf wandte sich den beiden in das Zimmer tretenden Polizeidienern zu.

»Reinert, nehmen Sie dort den auf dem Tische stehenden Leuchter zu sich,« befahl er. »Seien Sie indeß vorsichtig mit ihm und verwischen Sie den Blutfleck an ihm nicht – der Fleck ist von Bedeutung. Und Sie, Wehner, sind wohl dem Herrn hier behilflich, das Bett zu verlassen.«

»Das dulde ich nicht!« rief die schöne Frau und trat entschlossen vor das Bett hin. Trotzdem mußte sie sich mit der Rechten an der Bettpfoste halten – sie schwankte. »Er ist krank,« fügte Sie hinzu, »Sie sehen es, – Herr Köhler kann es bestätigen!«

Der Genannte wagte kein Wort zu sprechen.

»Der Zustand Ihres Herrn Gemahls ist nicht so gefährlich,« bemerkte Wulf. »Er hat diese Nacht bereits einmal das Bett und das Zimmer gewechselt – er hat sogar ein reines Hemd angezogen – mitten in der Nacht – es ist dies auffallend – ich suche vorläufig nur das Hemd, welches Ihr Herr Gemahl ausgezogen hat.«

Die Frau war nicht im Stande, ein Wort zu erwidern.

Hoch aufgerichtet stand sie da. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie sprechen wollten, allein kein Laut kam über dieselben.

Jeder Blutstropfen schien aus ihrem Gesichte gewichen zu sein.

»Es darf Niemand wagen, mich anzutasten – ich dulde es nicht!« rief der Kranke. Er hatte sich im Bette emporgerichtet und blickte wild, entschlossen um sich – es war die Entschlossenheit der Verzweiflung.

»So werde ich Befehl geben, daß Sie mit Gewalt aus dem Bette entfernt werden, und wenn Sie sich widersetzen, werde ich Sie fesseln lassen! Wehner, entfernen Sie den Herrn aus dem Bette!«

Wulf sprach diese Worte mit voller Entschiedenheit er schien endlich die Geduld verloren zu haben.

Einen Augenblick stand die schöne Frau noch regungslos, mit starrem Auge da, dann sank sie mit dem Rufe: »O, mein Gott – mein Gott!« auf einen neben dem Bett stehenden Stuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

Der Polizeidiener trat auf das Bett zu. Heftig stieß der Kranke ihn zurück.

Wulf winkte den zweiten Diener.

»Binden Sie den Herrn,« befahl er. »Er hat bereits einmal in dieser Nacht an dem unglücklichen Fremden seine Kraft im Stoßen versucht und zwar mit dem Dolche in der Hand – auch da hat sie sich als ungenügend erwiesen.«

Noch einmal versuchte der Mann, den beiden Polizeidienern Widerstand entgegenzusetzen, als er indeß sah, daß seine Kraft nicht ausreichte, brach er erschöpft zusammen und ließ sich widerstandslos fesseln und aus dem Bette heben.

Wulf untersuchte das Bett. Unter der Matratze fand er ein Hemd, an dessen rechtem Aermel einige frische, noch feuchte Blutstropfen bemerkbar waren. Weiteres fand er nicht, so sorgfältig er auch das ganze Zimmer durchsuchte.

»Führen Sie den Herrn hinunter in das Gastzimmer, nachdem Sie ihn angekleidet haben!« befahl der Commissar den beiden Polizeibeamten. »Sie haften für ihn und lassen ihn nicht aus den Augen!«

Widerstandslos ließ der Mann sich ankleiden. Seine Frau rührte sich nicht. Als die Polizeidiener ihn indeß aus dem Zimmer führen wollten, sprang sie auf, um zu ihm zu eilen.

»Bleiben Sie hier!« sprach Wulf, indem er die Hand auf ihren Arm legte und sie zurückhielt.

Sie blieb. Auch ihre Kraft schien völlig gebrochen zu sein.

»Wie kommen die Blutflecken in das Hemd?« wandte Wulf sich fragend an sie. Er mußte die Frage noch einmal wiederholen.

»Ich weiß es nicht!« rief sie hastig, mit den sichtbaren Zeichen großer, innerer Aufregung.

»Sie wissen es!« sprach Wulf bestimmt.

»Ich weiß es nicht!«

»Nun, Sie werden Zeit gewinnen, sich darauf zu besinnen,« fuhr der Commissar fort.

»Köhler, lassen Sie sofort zwei Wagen holen!«

Der Wirth verließ das Zimmer.

Wulf blieb mit der schönen Frau allein.

Sie saß bleich, gebrochen auf einem Stuhle da. Er hielt das Auge auf sie gerichtet und ein Gefühl des Mitleids stieg in seiner Brust auf. Die Schönheit erweckt ja stets Theilnahme.

Sie schlug das Auge zu ihm auf – sie mochte das ihn erfüllende Gefühl errathen. Rasch sprang sie empor, warf sich vor ihn nieder und umklammerte seine Kniee.

»Ich bin unschuldig – retten Sie mich – retten Sie mich!« rief sie flehend. »Ich will Ihnen Alles – Alles gewähren!«

Wulf schien dies nicht erwartet zu haben – es überraschte ihn. Langsam suchte er sich ihr zu entziehen.

Sie hielt ihn fest.

»Haben Sie Mitleid mit einer Unschuldigen!« fuhr sie fort. »Verlangen Sie Alles von mir – nur retten Sie mich!«

»Madame, meine Pflicht verlangt nur ein offenes Geständniß von Ihnen – mehr nicht!« entgegnete er kalt.

Sie sprang auf. Sie warf ihm einen Blick voll Haß einen drohenden Blick zu. Sie schien ihre volle Kraft wieder gewonnen zu haben, denn trotzig stand sie da.

Der Doctor Ohrstedt trat in diesem Augenblicke in das Zimmer. Köhler hatte ihm die Verhaftung mitgetheilt – er konnte ihm nicht glauben – es erschien ihm unmöglich.

»Es ist also wahr – wahr?« rief er.

»Ja, es ist wahr, daß ich sogleich die rechte Spur, welche ich suchte, gefunden habe,« entgegnete Wulf. – Doch was macht der Verwundete?«

»Er ist noch immer ohne Bewußtsein.«

»Doctor, Sie müssen ihn retten und am Leben erhalten,« fuhr Wulf fort. »Er soll zum wenigsten Den noch sehen, der ihn zu ermorden versucht hat!«

Zwei Wagen fuhren in diesem Augenblicke vor dem Hause vor;

»Madame, darf ich Sie bitten, mir zu folgen?« sprach der Commissar zu der schönen Frau gewendet.

Sie schritt ruhig, schweigend der Thür zu. Wulf schloß dieselbe hinter sich und steckte den Schlüssel ein.

»Erlauben Sie Ihren Arm,« fuhr er fort, und ohne ihre Antwort abzuwarten, erfaßte er fest, kräftig ihren Arm und geleitete sie hinab. In dem Wagen nahm er an ihrer Seite Platz.

Die beiden Polizeidiener bestiegen mit ihrem Gefangenen den andern Wagen.

»Zu dem Gefängnisse!« rief Wulf sich aus dem Wagen biegend dem Kutscher zu, und schnell rollten beide Wagen dem bezeichneten Gebäude entgegen, während der neue Tag durch einen goldigen Schimmer am östlichen Himmelssaume sich ankündigte! –


V.

Als Wulf nach einigen Stunden zu dem Löwen zurückkehrte, um noch einmal eine Durchsuchung der Zimmer vorzunehmen, traf er Köhler noch in derselben Aufregung.

Dieser hatte die Verhaftung noch immer nicht fassen können, obschon die aufgefundenen Blutspuren auch ihm äußerst verdächtig erschienen waren. Er begriff nicht, weshalb derjenige, der in wenigen Tagen ein so reicher Mann war, eine solche That begangen haben könnte, und sprach dies gegen den Commissar aus.

Dieser lachte laut auf.

»Köhler, begreifen Sie denn noch nicht, daß hier ein neuer und ganz schlau angelegter Gaunerstreich vorliegt, um sich in den Besitz der Erbschaft zu setzen?« rief er.

Köhler blickte ihn erstaunt an.

»Glauben Sie denn noch, daß dieser Mensch der wirkliche Erbe ist,« fuhr Wulf fort. »Haha! Die schöne Frau scheint Sie ganz mit ihren Netzen und Reizen umstrickt zu haben!«

»Sie glauben dies wirklich? entgegnete Köhler.

»Ja, ich glaube es wirklich!« rief Wulf lachend.

»Und sie – sie – die schöne Frau –?« fuhr Köhler fort.

»Sie ist eine äußerst gefährliche Person, weil sie schön und zugleich klug ist!« fiel Wulf ein. »Der Plan war fein angelegt, und ich gehe jede Wette darauf ein, daß er in dem Kopfe der Frau entstanden ist. Der Mann sieht zu dumm dazu aus. Sie hat sich seiner nur bedient, weil der Neffe dem Testamente nach einmal erforderlich war. Sie hat ihn nicht einmal zugetraut, daß er den Plan gut durchführen könne, deshalb nahm sie selbst Alles in die Hand, und damit dies nicht auffiel, mußte er den Kranken und Tauben spielen, und der Mensch hört so gut wie wir – vielleicht noch besser. Wahrhaftig, ein schlauer Plan! Wer hegt gegen einen kranken und halb hülflosen Mann und seine schöne Frau Verdacht? Sie konnten von vornherein erwarten, daß sie Mitleid und Theilnahme zugleich erwecken würden – das hat die Frau schlau berechnet und ebenso geschickt ausgebeutet. Es gehörte indeß immer noch ein gutes Stück Muth dazu, diesen Plan hier durchzuführen, nachdem soeben ein anderer Betrüger dasselbe versucht hatte!«

»Wer sind sie denn?« fragte der Wirth, der durch diese Mittheilung auf das Höchste überrascht war.

»Das ist vorläufig noch ein Räthsel. – Beide sind bereits durch den Untersuchungsrichter verhört, natürlich jeder einzeln, wie sie auch in dem Gefängnisse getrennt sitzen, – allein keiner von ihnen hat auf eine einzige Frage geantwortet. Für diesen Fall scheinen sie keine Verabredung getroffen zu haben – sie haben geglaubt, ihrer Sache sicher zu sein, und ich habe ihnen die Möglichkeit, sich mit einander zu verständigen, abgeschnitten. Sie schweigen, um sich nicht durch verschiedene und einander widersprechende Angaben noch mehr zu verrathen. Sie werden indeß schon gesprächiger werden!«

»Ich begreife immer noch nicht, weshalb sie den Fremden zu ermorden versucht haben sollten,« warf Köhler ein. »Sie konnten kaum wissen, daß er angekommen war.«

»Köhler, Köhler, der Schrecken hat Sie schwerfällig gemacht!« rief Wulf lachend. »Sind Sie immer noch nicht hinter die Sache gekommen? – Ich will sie Ihnen kurz auseinandersetzen. Erstens haben die beiden Menschen ganz bestimmt gewußt, daß der Fremde gestern Abend angekommen war, sie haben ihn gesehen und erkannt und haben sich sehr genau das Zimmer desselben gemerkt. Zweitens haben sie ihn deshalb aus der Welt zu schaffen versucht, weil sie befürchteten, durch ihn verrathen und als Betrüger entlarvt zu werden. Und das konnte Niemand besser, als der Fremde, denn – sehen Sie mich nur nicht so erstaunt an – denn Köhler, dieser Fremde ist endlich der echte Neffe und Erbe, wenn mich nicht Alles trügt!«

»Er – er?« rief Köhler. Es erschien ihm dies kaum möglich. »Sie kennen ja seinen Namen noch nicht!«

»Nun, wenn er der Neffe Solgers ist, so heißt er: Heinrich Wilhelm Ontzen. Das will ich beschwören. Und er ist der echte Neffe, ich will es Ihnen beweisen. Erstens sieht er wirklich aus wie ein Maler, denn ein Maler hat immer ein besonderes Aussehn, zweitens ist das kleine Bild, welches er im Medaillon auf der Brust trug, das Bild seiner Mutter und eine alte Dame, der ich es vor einer halben Stunde zeigte, erkannte sofort des Commerzienraths Schwester darin; drittens ist sein Hemd mit den beiden Buchstaben H. O. gezeichnet, und Sie müssen mir einräumen, daß dies Heinrich Ontzen heißen kann; viertens haben ihn diejenigen aus der Welt zu schaffen versucht, für welche die Ankunft des wirklichen Neffen sehr unangenehm sein mußte, und endlich fünftens ist er bei Ihnen eingekehrt und der Löwe scheint durch das Geschick zum Hauptquartier sowohl für die falschen, als für den echten Erben bestimmt zu sein!«

»Halten Sei ein!« fiel ihm Köhler in's Wort. »Ich sollte zum zweiten Male getäuscht und betrogen sein? Nein, das ist nicht möglich!«

»Es ist so, Freund Köhler. Sie sind zum zweiten Male geprellt. Aber freuen Sie sich, daß Sie jetzt zum wenigsten allem Anscheine nach den wirklichen Erben unter Ihrem Dache beherbergen. Sehen Sie, ärgerlich wäre die Geschichte für Sie erst geworden, wenn dieser echte Neffe bei Ihrem Concurrenten im ›Weißen Schwan‹ eingekehrt wäre. Das wäre malitiös! – Beruhigen Sie sich also und tragen Sie das kleine Mißgeschick mit der Fassung, die sich für einen Wirth zum Löwen geziemt! – Jetzt sagen Sie mir, wie der Fremde sich befindet?«

»Er liegt noch immer ohne Besinnung. Der Doctor war soeben bei ihm und sagte, sein Zustand habe sich zum wenigsten nicht verschlimmert – das sei schon ein gutes Zeichen.«

»Gewiß ist es das. Wer ist zur Pflege bei ihm?«

»Ohrstedt hat mir einen Krankenpfleger geschickt. Ich habe keine Zeit, bei ihm zu bleiben, und meine Frau auch nicht.«

»Köhler,« sprach Wulf, »bieten Sie Alles auf, daß dieser Mann am Leben bleibt, sorgen Sie dafür, daß er gut gepflegt wird – er allein ist im Stande, Ihnen die Verluste zu ersetzen.«

»Das würde ich thun, auch wenn er keine Erbschaft zu erwarten hätte,« entgegnete Köhler. »Der Mann hat mir bereits gestern Abend gefallen, wo ich von all dem Geschehenen noch keine Ahnung hatte.«

Wulf begab sich, von dem Wirthe begleitet, auf das Zimmer, welches die Verhafteten inne gehabt hatten. Er durchsuchte es noch einmal mit der größten Genauigkeit, ohne das geringste weitere Zeichen zu finden. Selbst der Secretair enthielt nichts – nicht eine Zeile, aus der sich der wirkliche Name der Verhafteten hätte errathen lassen.

»Wo hat der Mensch nur den Dolch gelassen, mit welchem er den Mord versucht hat?« sprach er, vergebens seinen Blick umherwendend. »Solch ein Ding läßt sich nicht verbrennen und kann auch nicht spurlos verschwinden.«

»Wodurch ist der erste Verdacht in Ihnen entstanden, daß diese beiden Menschen, an welche ich zuletzt gedacht haben würde, mit der That in Verbindung stehen müßten?« fragte Köhler.

»Freund, durch mehrere Anzeichen,« erwiderte Wulf. »Zuerst fiel es mir auf, daß dem Fremden alle Papiere fehlten, die konnte ihm nur Jemand genommen haben, dem an den Papieren gelegen war – dann die beiden Buchstaben H. O. in seinem Hemde – sie könnten Heinrich Ontzen heißen – dachte ich, dann das offene Fenster auf dem Corridor, welches zu deutlich bewies, daß der Verbrecher in dem Hause weile – und dann endlich der Schreck der schönen Dame, als ich ihr sagte, der Fremde lebe noch und werde gerettet werden. Ihnen ist es vielleicht nicht einmal aufgefallen, wie sie erbleichte, es währte auch nur wenige Secunden – für mich war es indeß hinreichend, meinen Verdacht zur Gewißheit zu stempeln. Es kam noch hinzu, daß sobald ich in's Zimmer trat, mir der Geruch von verbrannten Papieren nicht entging. Nehmen Sie dies Alles zusammen und Sie haben mehr Beweise, als ein Polizeibeamter nöthig hat, um sich ein festes und sicheres Urtheil zu bilden.«

Der Hausknecht trat in diesem Augenblicke hastig in's Zimmer. Er hielt einen Dolch und eine lederne Brieftasche in der Hand.

Wulfs Auge bemerkte diese Gegenstände sofort und rasch trat er auf ihn zu.

»Woher haben Sie das?« fragte er hastig, beide Gegenstände an sich nehmend.

»Ich habe sie soeben im Garten gefunden. Die Tasche lag mitten auf dem Wege – der Dolch zur Seite auf einem Beete.«

»Im Garten!« rief Wulf. Sein Auge haftete auf dem Dolche, auf welchem die Blutspuren noch deutlich zu erkennen waren. Die Brieftasche war leer.

Er stand in Gedanken versunken da.

»Der Mörder ist dennoch durch das Fenster eingestiegen und wieder entflohen!« rief Köhler. »In dem Garten hat er den Dolch und die Tasche von sich geworfen.«

Ueber das Gesicht des Commissar zuckte ein fast spöttisches Lächeln.

»So dumm ist ein solcher Verbrecher nicht,« bemerkte er. »Wenn er im Garten sich befand, war er so gut wie gerettet, denn das niedrige Stacket ist leicht zu überspringen. Weshalb sollte er den Dolch, einen so wichtigen Beweis gegen sich, in dem Garten zurückgelassen haben, wo er jedenfalls bald gefunden werden mußte? Die Sache muß sich anders verhalten!«

»Er kann den Dolch in der Eile verloren haben,« warf Köhler ein.

»Das läßt sich eher hören,« fuhr Wulf fort. »Der Dolch hat sich auf einem Beete zur Seite des Weges gefunden – haben Sie Fußspuren auf dem Beete gefunden?« wandte er sich fragend dem Hausknechte zu.

»Nein – ich habe das Beet erst vor einigen Tagen umgegraben. Jeder Tritt müßte darauf bemerkbar sein.«

»Ich werde nachher selbst nachsehen,« bemerkte Wulf, »zuerst will ich eine andere Wahrscheinlichkeit untersuchen. Kommen Sie mit, Köhler – es wird Sie vielleicht interessiren.«

Er verließ das Zimmer und schritt auf dem Corridor hin bis zu dem Fenster, welches er in der Nacht offen stehend gefunden hatte. Er öffnete dasselbe.

»Sehen Sie, Freund,« fuhr er fort. »Von diesem Fenster aus lassen sich beide Gegenstände mit geringer Mühe in den Garten werfen! Und so krank war der Mann wirklich nicht, daß ihm nicht so viel Kräfte übrig geblieben wären. Sie haben selbst gesehen, wie kräftig er sich zur Wehre setzte, als er das warme Bett verlassen sollte! Der Mensch hat sich dies Alles ganz gut ausgedacht, allein er ist doch nicht schlau genug dabei verfahren. – Nun kommen Sie mit in den Garten, wir wollen sehen, ob sich dort weitere Spuren auffinden lassen.«

Von Köhler begleitet schritt er in den Garten hinab. Derselbe war nicht groß und äußerst sauber gehalten.

Wulf ließ sich von dem Hausknechte die Stellen zeigen, wo die Tasche und wo der Dolch gelegen hatte.

»Sehen Sie, Köhler,« sprach er, »hätte der Mensch den Dolch auf der Flucht verloren, so müßte er nothwendig seinen Weg hier über das Beet genommen und noch viel nothwendiger müßte er die Spuren seiner Füße zurückgelassen haben, denn so leichtfüßig ist kein Verbrecher, daß er spurlos über dies Beet laufen könnte. – Halt! und hier ist noch ein Beweis für meine Annahme! Sehen Sie, die Stelle, wo der Dolch hier gelegen hat, ist deutlich zu erkennen, der Griff ist in dem Erdboden deutlich abgeprägt, die Erde ist etwas eingedrückt, das wäre nicht möglich, wenn Jemand den Dolch hier verloren hätte, allein wenn er dort von dem Fenster herabgeworfen ist, so finde ich es ganz natürlich, daß er durch das Gewicht des Falles hier fest aufgeschlagen ist und sich abgeprägt hat. Stimmen Sie mir bei?«

Dagegen konnte Köhler nichts einwenden, denn er sah die Richtigkeit dieser Bemerkung ein.

»Mit all' diesen Beweisen in den Händen,« fuhr Wulf fort, »will ich der schönen Frau und dem tauben Herrn das Leben schwer machen, alles Leugnen soll ihnen nichts helfen, selbst wenn der Tod die Lippen des Fremden schließen sollte, ehe sie sich zum Sprechen wieder geöffnet haben. Es liegt in all' diesen Beweisen ein logischer Zusammenhang, sie reihen sich wie eine Kette aneinander, ohne daß ein Hauptglied derselben fehlt, und kein Richter wird nach ihnen über die Person des Verbrechers in Zweifel sein.«

»Glauben Sie wirklich, daß die Frau mit dem Verbrechen zu schaffen gehabt habe?« warf Köhler ein.

»Ich bin fest überzeugt, daß sie die geistige Urheberin desselben ist; der Mann ist nur ihr Werkzeug. Sie hat ihn dazu getrieben. Sie standen auf dem Punkte, in wenigen Tagen das Ziel ihres Betruges zu erreichen, da kommt der Fremde, sie erkennen ihn und die Frau beschließt, ihn aus der Welt zu schaffen und jeden Beweis, daß er der wirkliche Erbe ist, zu vernichten. Lange zögern dürfen sie nicht – sie überredet den Mann, die schwarze That sogleich in der ersten Nacht auszuführen. – Ja, so wird es gewesen sein – sehen Sie mich nicht so erstaunt an. Ein tüchtiger Polizeibeamter muß etwas Phantasie besitzen, um sich aus einigen geringen Punkten sogleich den ganzen Hergang vorstellen zu können. Ohne das geht es nicht; und es würde ihm selten gelingen, eine aufgefundene schwache Spur weiter zu verfolgen.« –

 

Wieder wurde die ganze Stadt durch diesen blutigen Vorfall in Aufregung versetzt. Das Testament des verstorbenen Commerzienraths hatte bereits so viele Verwicklungen hervorgerufen, daß das Interesse an demselben eher noch wuchs als abnahm.

Manche trauten der schönen Frau eine solche Betrügerei und ein solches Verbrechen nicht zu und waren überzeugt, daß Wulf sich durch die Verhaftung derselben eine Uebereilung habe zu schulden kommen lassen, Manche waren so überrascht, daß sie Alles für möglich gehalten hätten, selbst wenn ihnen zu Ohren gekommen wäre, daß Wulf sich selbst als der Neffe des Commerzienraths entpuppt habe, und daß der halb ermordete Fremde des Commerzienraths längst verstorbene, leibeigene Schwester sei.

Der Commissar durfte sich kaum auf der Straße sehen lassen, so wurde er von Bekannten und Unbekannten angehalten mit der Bitte, ihnen Näheres zu erzählen. Er zog sich stets mit den lachenden Worten aus der Klemme, daß er versicherte: ›Es sei Alles ganz richtig, was die Fragenden vernommen hätten, allein da er selbst noch sehr wenig wisse, so gebiete ihm seine Pflicht vorläufig zu schweigen, um nicht unwahre Gerüchte in Umlauf zu setzen.‹

Auch Köhler wurde vielfach von Neugierigen mit Fragen bestürmt und auch er suchte sie sich durch Scherz fern zu halten.

Er versicherte bei der ganzen Angelegenheit von Anfang bis zu Ende zugegen gewesen und genau unterrichtet zu sein, da er indeß durch das Testament und die falschen Erben bereits sehr beträchtlichen Schaden erlitten habe, so sei er fest entschlossen, seine genaue Kenntniß jetzt zu seinem Nutzen auszubeuten. Wer ihm zwei Thaler zahle, dem wolle er Alles erzählen und obenein noch ein Glas Bier zur Erfrischung reichen.

Das Verlangte erhielt er indeß von Niemand und er schwieg deshalb mit größter Hartnäckigkeit.

Die Ueberraschungen für die Bewohner der Stadt waren mit diesem Ereignisse indeß noch keineswegs beendet. Am Morgen des folgenden Tages wurde die Zelle, in welcher die schöne Frau untergebracht war, leer gefunden und zugleich wurde ein junger Gefängnißwärter vermißt. Es unterlag keinem Zweifel, daß sie mit ihm und durch seine Hilfe entflohen war.

Alle Nachforschungen, welche sofort angestellt wurden, ergaben nichts weiter, als daß die Thür der Zelle von außen mit einem Schlüssel geöffnet war und daß die beiden Entflohenen durch eine kleine Hinterthür des Gefängnißgebäudes entkommen waren. Eine weitere Spur war nicht aufzufinden.

Auch diese Nachricht durchlief in kurzer Zeit die ganze Stadt.

 

Abgehetzt, erschöpft kam Wulf gegen Mittag in dem Löwen an, um sich durch ein Glas Wein zu stärken.

Ermüdet warf er sich auf einen Stuhl.

»Köhler,« rief er dem Wirthe, der ihn bediente, zu, »dies Weib überbietet mich an Schlauheit! Ich vermuthete, daß sie Alles aufbieten werde, zu entkommen und trug dem Gefängnißinspector auf, ihr die sicherste und festeste Zelle zu geben. Allein ein Dämon steckt in dem schönen Körper. Daran habe ich nicht gedacht, daß sie sogleich in den ersten vierundzwanzig Stunden einen Gefängnißwärter verführen und mit ihm auf und davon gehen werde! Köhler, Sie sehen daraus, wie gefährlich, wie verführerisch die Reize eines schönen Weibes sind. Freuen Sie sich, daß sie nicht mehr bei Ihnen wohnt! – Sie muß den Burschen ganz bethört haben, daß er seine gute Stellung im Stich läßt und mit ihr davon geht! Und ich bin überzeugt, daß sie dem dummen Teufel schon in wenigen Tagen den Laufpaß giebt und ihre Reise allein fortsetzt! – Und mir hat sie den Kopf warm gemacht! Seit heute Morgen früh bin ich unablässig ihretwegen auf den Beinen, all' meine Kräfte habe ich angestrengt, meinen ganzen Scharfsinn, um ihre Spur aufzufinden, aber wahrhaftig Köhler, wenn sie mit dem Gefängnißwärter im Arme zum Himmel emporgefahren wäre, so hätte sie nicht spurloser verschwinden können! Und dabei so boshaft zu sein und den Genossen ihres Verbrechens im Stich zu lassen und nicht mit zu nehmen!«

»Dann ist er auch ihr Mann nicht!« rief Köhler.

»Freund, diese Vermuthung habe ich längst gehabt,« fuhr Wulf fort. »Sie hat ihn zurückgelassen, damit er für sie mit büße. Und sie hat vielleicht nicht unrecht gehandelt, denn zwei Liebhaber zu gleicher Zeit hätte zu eifersüchtigen Scenen Veranlassung geben können. Vielleicht hat auch der Gefängnißwärter die Concurrenz des alten gefürchtet und seine Mitnahme verweigert. Er will die schöne Frau allein besitzen – jedenfalls wird er das Vergnügen nicht lange genießen.«

»Hoffen Sie, daß es Ihnen gelingen wird, die schöne Dame wieder zu erlangen?« warf Köhler fragend ein.

Der Commissar schüttelte mit dem Kopfe.

»Ich hoffe es nicht – denn sie ist zu schlau. Ich habe alle Kräfte aufgeboten, allein mehr aus Pflichtgefühl als in der Hoffnung auf Erfolg. Sie hat eine zu mächtige Beschützerin in ihrem schönen Gesichte und ihrem schönen Körper. Wäre sie häßlich, so würde ich eine Wette eingehen, daß sie bald wieder in den sicheren Mauern des Gefängnisses sich befände! Doch was macht unser Verwundeter?«

»Der Doctor ist mit seinem Zustande sehr zufrieden,« entgegnete Köhler. »Er hat jetzt alle Hoffnung, daß er gerettet wird. Er liegt zwar noch immer im Wundfieber, allein dasselbe ist nicht heftig – es scheint mit ihm einen ganz guten und ruhigen Verlauf zu nehmen.«

»Ich gönne es ihm von Herzen,« erwiderte Wulf. »Es ist jedenfalls eine niederträchtige Täuschung mit der fröhlichen Hoffnung auf eine reiche Erbschaft hier anzugelangen und sogleich in der ersten Nacht ein paar Dolchstöße zu empfangen, die den ganzen Lebensfaden auf ein Haar durchschneiden.«

»Wissen Sie denn bestimmt, daß er der Erbe ist?« warf Köhler lächelnd ein.

»Er muß es sein!« rief Wulf. »Oder erwarten Sie, daß noch einige Betrüger kommen und ihre Hand nach der Erbschaft ausstrecken werden! Ich denke, wir sind zur Genüge an der Nase herumgeführt. Wenn ich einmal sterben werde und irgend etwas zu vermachen habe – viel wird es jedenfalls nicht sein – so werde ich Alles meinem Erben vorher in die Hand drücken, damit nach meinem Tode nicht eine gleiche Confusion wie durch das Testament des Commerzienraths entsteht! – Bedenken Sie, welche Arbeit und Mühe ich bereits durch dies Testament gehabt habe, und ich gehöre nicht einmal zu den Glücklichen, welche erben, ja ich habe nicht einmal von Ihrem Champagner getrunken, das ärgert mich doch, wenn derselbe auch nicht viel getaugt hat, wie Jöns mich erst noch vor wenigen Tagen versichert hat!«

Köhler drohte ihm scherzend mit dem Finger, denn von den Champagnerabenden hörte er nicht gern. –

 

Noch an demselben Tage stellte der Untersuchungsrichter Erichsen mit dem Gefangenen und des versuchten Mordes Angeklagten ein Verhör an. Es schien keinem Zweifel zu unterliegen, daß derselbe wirklich krank war. Seine tiefliegenden Augen, die blassen, eingefallenen Wangen verriethen dies zu deutlich. Er erschien etwas ruhiger als bei dem ersten Verhöre – jedenfalls hatte er reiflich über seine Vertheidigungsmittel nachgedacht. Den Schein der Schwerhörigkeit hielt er fest.

Vergeblich richtete Erichsen einige Fragen an ihn. Er schwieg wie Jemand, der die Frage nicht verstanden hat, allein er führte diese Verstellung mit wenig Geschick durch. Erichsen kannte genau die Gewohnheiten der Schwerhörenden. Er wußte, wie dieselben mit größter Aufmerksamkeit den Blick auf den Mund des Sprechenden heften, um durch das Auge dem Ohre zu Hilfe zu kommen.

»Geben Sie Ihre Verstellung auf,« sprach er ungeduldig. »Ich habe Sie genau beobachten lassen und weiß, daß Sie sehr scharf hören. Bei dem leisesten Geräusche an der Thür Ihrer Zelle haben Sie sofort den Blick dorthin gerichtet, ein leises Pochen an der Wand hat sogleich Ihre Aufmerksamkeit erregt, und Sie haben dasselbe erwidert. Ein Schwerhörender würde dies Alles nicht bemerkt haben.«

Der Mann schwieg. Keine Miene seines Gesichtes zuckte.

»Ich will Ihnen ferner mittheilen,« fuhr Erichsen fort, »daß der Mann, den Sie zu ermorden versucht haben, lebt, – daß er am Leben bleibt und schon in wenigen Tagen im Stande sein wird, den Namen seines Mörders zu nennen. Nur seine augenblickliche Schwäche, die durch den Blutverlust entstanden ist, hindert ihn, Fragen zu beantworten. Ihre Stöße mit dem Dolche sind nicht gefährlich gewesen.«

Der Mann verharrte in seinem Schweigen.

Der Untersuchungsrichter nahm sich nicht die Mühe, lauter zu sprechen – er wußte, daß er verstanden wurde.

Es war indeß eine unangenehme Aufgabe, die halsstarrige Verstellung des Menschen zu brechen.

»Kennen Sie diese beiden Gegenstände?« fuhr Erichsen fort, indem er rasch einen Bogen Papier vom Tische entfernte, unter welchem der Dolch und die im Garten des Löwen aufgefundene Brieftasche gelegen hatten.

Er blickte den Mann scharf prüfend an, allein auch jetzt war in den Zügen desselben nicht die geringste Ueberraschung zu erkennen. Schweigend, ablehnend schüttelte er mit dem Kopfe. Er hatte freilich Zeit genug gehabt, sich hierauf vorzubereiten, denn daß beide Gegenstände aufgefunden sein mußten, mußte er wissen, da die Polizei den Ort, an welchem ein Verbrechen geschehen ist, sehr sorgfältig zu durchsuchen pflegt.

»Ich will Ihnen eine Mittheilung machen,« sprach der Untersuchungsrichter. »In der vergangenen Nacht ist Ihre Gefährtin, welche sich für ihre Frau ausgegeben hat, aus dem Gefängniß entwichen. Ein junger Gefängnißwärter hat ihre Flucht unterstützt und möglich gemacht und zum Danke dafür hat sie ihn mit sich genommen.«

Diese Worte riefen in dem Angeklagten eine sichtbare Aufregung hervor. Er suchte dieselbe zu unterdrücken, er kämpfte mit sich, allein die plötzlich aufleuchtenden Augen verriethen ihn. Er schien sich nicht länger beherrschen zu können.

»Es ist nicht wahr – es kann nicht wahr sein!« rief er, gleichsam Alles vergessend.

»Es ist wahr,« erwiderte Erichsen erfreut, daß endlich diese Worte die Zähigkeit des Mannes brachen. »Mein Wort als Richter – bürgt Ihnen, daß ich die Wahrheit gesprochen habe!«

Wieder kämpfte der Angeklagte mit sich. Er schien nicht daran zu denken, seine Verstellung fortzusetzen – ganz andere Gedanken erfüllten ihn. Aus seinen Augen sprach Schmerz und Groll zugleich.

»Ha! Sie hat mich verlassen!« rief er. »Sie ist allein geflohen!«

»Nicht allein – sie hat ihren Erretter mit sich genommen, denn auch er ist verschwunden,« warf Erichsen ein. »Sie hat nicht vier und zwanzig Stunden bedurft, um denselben für sich zu gewinnen.«

Der Angeklagte lachte laut, bitter, verzweiflungsvoll auf.

»Sie ist schön – sie versteht zu verführen – es kann ihr ja kein Mann widerstehen. – Aber sie ist schlecht – schlecht – sonst hätte sie mich – mich nicht im Stiche gelassen!«

Seine Kräfte schienen seiner Aufregung nicht gewachsen zu sein. Seine lange, hagere Gestalt schwankte, er suchte sich an einem Tische zu halten, dann sank er erschöpft, halb gebrochen auf einen Stuhl. Mit der abgezehrten Hand bedeckte er beide Augen.

Erichsen ließ ihm einige Minuten Zeit. Er wußte, daß die Zähigkeit und der Muth jetzt in dem Manne gebrochen waren. Auf seine schöne Gefährtin, auf ihre Schlauheit und ihre Verführungssucht schien er alle Hoffnung gesetzt zu haben – jetzt war dieselbe geschwunden, da jene ihn verlassen hatte.

»Legen Sie ein offenes Bekenntniß ab,« sprach Erichsen ruhig, mahnend.

Einen Augenblick lang schwieg der Angeklagte noch, dann ließ er die Hand, welche vor den Augen hielt, sinken.

»Ich will Alles gestehen,« erwiderte er mit gedämpfter Stimme – das Sprechen schien ihm schwer zu werden.

»Mein Leben ist ohnehin ein verfehltes, meine Gesundheit ist zerrüttet und es ist mir gleichgiltig, ob ich die wenigen Tage, welche mir noch übrig bleiben werden, im Gefängnisse zubringe! – Ja, ich habe den Mann zu ermorden versucht, aber nicht in mir ist der Entschluß dazu entstanden. Sie hat denselben in mir wachgerufen, sie hat mich dazu überredet, fast mit Gewalt dazu getrieben! Oh sie verstand ja zu überreden!«

»Die Dame war nicht Ihre Frau?« warf Erichsen ein.

»Nein – nein! Gottlob nicht, denn auch dann würde sie mich im Stiche gelassen haben!« rief der Angeklagte hastig.

»Wie heißt sie?«

»Auguste Luckner. Sie war Schauspielerin, deshalb hat sie ihre Rolle so vortrefflich gespielt, deshalb trat sie so sicher und so vornehm auf – das Alles lernt sich ja auf der Bühne. In Genf lernte ich sie kennen, dort gewann sie mein Herz und mit einer dämonischen Macht hielt sie mich an sich gefesselt.«

»Welches ist Ihr Name?« warf Erichsen ein.

»Albert Stern.«

»Und Ihr Stand?«

»Auch ich bin Schauspieler.«

»Und wie heißt der Mann, den Sie zu ermorden versucht haben?«

»Sollten Sie dies noch nicht errathen haben, Herr Richter? Es ist der Maler Ontzen, der Mann, welcher wirklich Anspruch hat auf die Erbschaft.«

»Wie sind Sie dazu gekommen, den Namen desselben anzunehmen, um die Erbschaft zu erlangen?« fuhr Erichsen fort. »Erzählen Sie mir dies.«

Der Gefragte sann einen Augenblick nach.

»Auch dies ist ihr Werk,« sprach er, »ich selbst würde nie darauf gekommen sein! Ich kannte die Luckner bereits seit längerer Zeit und hatte ein zärtliches Verhältniß mit ihr, ich kannte auch Ontzen, der in demselben Hause mit ihr wohnte und gleichfalls näher mit ihr bekannt war. Ontzen hatte bereits einige Zeit zuvor, ehe der Aufruf in den Zeitungen erschien, Genf verlassen, um eine Reise nach Aegypten zu machen. Ich hatte den Aufruf gelesen, ohne daß er irgend einen unrechten Gedanken in mir hervor gerufen hatte. Ich dachte sogar daran, den Aufenthaltsort des Maler auszuforschen und ihm eine Zeitung mit der Aufforderung nachzusenden. Da kam eines Tages die Luckner zu mir und theilte mir den Plan mit, Ontzens Namen anzunehmen und die Erbschaft an uns zu bringen. Ich schreckte vor diesem Plane zurück, allein sie verstand es, all mein Bedenken zu verscheuchen. Sie wußte mich zu überreden, daß wir längst im Besitze der reichen Erbschaft sein würden, ehe Ontzen in Aegypten davon Kenntniß erhalte. Mit solchem Vermögen könne es uns, nicht schwer fallen, nach Amerika zu fliehen – dort könnten wir dann sorgenfrei leben. Aus Ontzens Erzählungen kannte sie hinreichend viel von seinem Leben und der Vergangenheit seiner Mutter. Bei seiner Abreise nach Aegypten hatte er ihrer Wirthin einen kleinen Koffer anvertraut, welcher verschiedene Andenken an seine Eltern und Papiere enthielt. Dieser Papiere hatte sie sich bemächtigt. Sie bestanden aus Ontzens Geburtsscheinen und einigen Briefen seines Vaters und seiner Mutter. Sie zeigte mir dieselben, sie setzte mir den ganzen Plan des Betruges weitläufig auseinander. Weil sie befürchtete, daß die hiesige Behörde jene Papiere allein als unzureichend finden möchte und sie natürlich jede Verzögerung und genauere Nachforschung vermeiden wollte, überredete sie mich, den falschen Paß auf Ontzens Namen und die Bescheinigung der dortigen Behörde anzufertigen. Sie wußte, daß ich Graveur gewesen war, ehe ich zur Bühne gegangen. Es fiel mir nicht schwer, die Stempel und die Siegel nachzuahmen – die genauen Unterlagen dazu verschaffte sie mir; ich fertigte den Paß und die gerichtliche Legitimation an, und nachdem wir all' unsere Sachen verkauft hatten, um die Reisekosten zu erschwingen, reisten wir hierher. – Die Luckner befürchtete, daß ich mich durch meine Unruhe und die Angst vor Entdeckung, welche mich nie verließ, verrathen möchte, und in ihrem Kopfe entstand der Plan, daß ich mich schwerhörend und sehr leidend stellen solle, damit sie, ohne daß es auffalle, Alles besorgen könne. Ich war gern damit einverstanden, weil ich selbst fühlte, daß mir die Ruhe und der Muth zu diesem Plane fehlten. So kamen wir hier an. Wie sie den Plan hier durchgeführt hat, werden Sie wissen.«

Er hielt erschöpft inne.

»Ich weiß es,« entgegnete Erichsen. »Erzählen Sie mir nun auch mit derselben Offenheit Alles, was sich auf Ihren Mordversuch bezieht!«

Die Augen starr vor sich hin auf den Boden geheftet, saß der unglückliche Schauspieler da. Seine ganze Erscheinung hatte etwas Mitleid Erweckendes. Man sah ihm an, daß er allein zu solcher That nicht den Muth besessen haben würde.

Er schöpfte langsam und tief Athem.

»Schon als wir angekommen waren und den Betrug erfuhren, der bereits vor unserer Ankunft versucht war,« fuhr er fort, »drang ich in die Luckner, unser Vorhaben aufzugeben, weil ich es für unausführbar hielt, allein sie hatte gerade die entgegengesetzte Ansicht und suchte mich zu überreden, daß der Schreiber unser Vorhaben erleichtert habe. Durch den Protest trat für uns eine vorher nicht berechnete Verzögerung ein, allein der Luckner gelang es in den letzten Tagen den Gerichtsrath Bolten zu bewegen, die Entscheidung zu beschleunigen und wir standen dicht vor dem Gelingen unseres Vorhabens. Wir hatten bereits beschlossen, die Erbschaft so schnell als möglich in Geld zu verwandeln und dann mit ihr das Weite zu suchen. – Die Ankunft Ontzens, welche wir nicht vermuthet hatten, vernichtete mit einem Male unsere Hoffnungen, sie brachte uns zugleich die Gefahr, daß unser Betrug nothwendig entdeckt werden mußte.«

»Wodurch erfuhren Sie die Ankunft desselben?« warf der Untersuchungsrichter ein.

»Die Luckner sah zufällig aus dem Fenster, als er ankam. Ihr scharfes Auge erkannte ihn sofort, während er in das Haus eintrat.«

»Und Sie beschlossen sofort die blutige That?« fragte Erichsen aufs Neue.

»Nein. Wir waren anfangs ungewiß, was wir beginnen sollten; wir dachten sogar an sofortige Flucht, weil wir befürchteten, er möchte seinen Namen nennen und unseren Betrug dadurch entdecken. Als er sich indeß ungefähr zwei Stunden später zur Ruhe begab, als nichts uns verrieth, daß er sich bereits zu erkennen gegeben habe, da tauchte zuerst in der Luckner der Gedanke auf, ihn zu tödten und seine Papiere zu vernichten. Sie war nicht im Stande, die Hoffnung auf die reiche Erbschaft aufzugeben, weil sich ihre Gedanken Tag und Nacht damit beschäftigten.«

»Und Sie gingen sofort auf den Gedanken ein?«

»Nein, nein,« wehrte der Angeklagte zurück. »Ich weigerte mich entschieden, die blutige That zu vollbringen, bis sie drohte, noch während der Nacht mich und sich zu verrathen, denn sie habe nicht Lust, das bisherige Leben fortzusetzen, sie stehe jetzt dicht vor dem Ziele ihrer Wünsche nun wolle sie dasselbe erreichen oder untergehen! Ich wußte, daß sie in der Aufregung jeder That fähig war. – Sie malte mir dann aus, daß mit dieser That nicht die geringste Gefahr verbunden sei. Ich werde den Maler im Schlafe überraschen und erstechen, denn er habe zum Kellner geäußert, daß er sehr müde sei. Ich solle ihm dann die Papiere abnehmen, den Dolch sollte ich aus dem Fenster in den Garten werfen, um die Nachsuchung nach der Spur des Thäters irre zu leiten, die Papiere werde sie sofort verbrennen, und wenn morgen früh die That entdeckt werde, sei nicht das geringste Zeichen mehr vorhanden. Niemand werde auf den Gedanken kommen, uns einer solchen That für fähig zu halten – ich sei außerdem krank, Jedermann halte mich für den wirklichen Erben. Und sie überredete mich zuletzt. Als ich einmal den Entschluß gefaßt hatte, führte ich die That auch schnell aus. Durch das Nebengemach drang ich in das Zimmer, in welchem Ontzen logirte. Vorsichtig öffnete ich die Thür. Er lag ruhig im Bette und schlief. Als ich ihn erblickte, verlor ich jede Ruhe. Hastig wollte ich auf ihn zustürzen, um die That zu vollbringen, um sie zu beenden – zum langsamen Morde fehlte mir der Muth. In der Hast stieß ich an einen Stuhl. Der Schlafende erwachte und sprang aus dem Bette. Er sah den Dolch in meiner Hand, er schien mich zu erkennen – da stieß ich hastig, meiner Sinne kaum mächtig, zweimal mit dem Dolche in seine Brust. Mit lautem Schrei fiel er zu Boden. – Ich hielt ihn für todt. Hastig untersuchte ich seinen Rock und die auf dem Tische liegende Tasche nach Papieren – ich fand nur die Brieftasche. Mit ihr eilte ich fort aus dem Zimmer. Auf dem Corridor empfing mich die Luckner. Sie hatte das Fenster bereits geöffnet. Sie nahm mir den Dolch aus der Hand und warf ihn aus dem Fenster – auch die Brieftasche, nachdem sie die Papiere daraus genommen hatte. Hastig drängte sie mich in unser Zimmer. Der laute Schrei des Malers hatte auch sie erschreckt. Es war zu erwarten, daß derselbe gehört war, daß man nachforschte und die That früher entdeckte, als wir berechnet hatten. – ›Ist er todt?‹ fragte sie mich mit hastiger Stimme. Ich bejahte es. ›Dann soll Niemand errathen, wessen Hand ihm das Leben genommen hat,‹ fuhr sie fort. – Ich war kaum noch im Stande, mich auf den Beinen zu halten. An dem rechten Aermel meines Hemdes befanden sich einige Blutflecken. Sie war mir behilflich, ein reines Hemd anzuziehen – das mit Blut beschmutzte verbarg sie in meinem Bette, weil es dort Niemand suchen werde. Dann verbrannte sie die Papiere, welche aus einem Passe und mehreren Briefen bestanden. Da hörten wir bereits den Wirth die Treppe emporkommen – er hatte den Schrei gehört – doch – das Uebrige wissen Sie ja!«

Er hielt gänzlich erschöpft inne.

Seine Erzählung machte den Eindruck der vollen Wahrheit und Offenheit.

»Haben Sie noch irgend Etwas hinzuzufügen?« fragte Erichsen nach kurzer Zeit.

»Nichts,« gab der Gefragte zur Antwort. »Ich habe Alles offen gestanden – nun mögen Sie mich verurtheilen. Ich habe die That ausgeführt, allein die, welche entflohen ist, trägt einen größeren Theil der Schuld daran als ich. – Ich hatte noch nicht alle Hoffnung auf Rettung aufgegeben, als wir hierher geführt wurden, ich wußte ja, daß ihr Kopf schlau und erfindungsreich war – ich hoffte, daß sie sich und mich retten werde, allein sie ist ohne mich entflohen, obschon ich überzeugt bin, daß sie auch meine Thür hätte öffnen können – sie ließ mich im Stiche!«

»Haben Sie irgend eine Ahnung, wohin Sie sich gewandt haben könne?« fragte Erichsen.

»Keine,« gab er zur Antwort. »Sie wird unter einem andern Namen auftreten – sie ist ja schön und an Beschützern wird es ihr nicht fehlen! – Sie haben noch keine Spur von ihr entdeckt?« fügte er fragend hinzu.

»Noch keine, obschon die Polizei alle Kräfte aufgeboten hat,« gab Erichsen zur Antwort.

»Es wird auch alle Nachforschung vergeblich bleiben,« fuhr der Unglückliche fort, – »und doch würde ich es ihr gönnen, wenn auch sie ihre Strafe erhielte, denn ihr Herz ist falsch und ohne Mitleid – sie hat kein Herz!«

Erichsen hatte kaum noch eine Frage an ihn zu richten und ließ ihn deshalb in seine Zelle zurückbringen.


VI.

Alle Bemühungen der Polizei, die entflohene Schauspielerin aufzufinden und zu verhaften, blieben erfolglos. –

Sie schien spurlos verschwunden zu sein. Der Zustand des Verwundeten besserte sich von Tage zu Tage. Derselbe ließ keine Gefahr mehr befürchten, da durch die beiden Dolchstöße nur wenig edlere Theile verletzt waren. Schon war der Verwundete so weit hergestellt, daß er die Art und Weise, in welcher der Angriff auf sein Leben geschehen war, erzählen konnte. Seine Erzählung stimmte mit dem Geständnisse des Gefangenen überein.

Er bestätigte, daß er der Neffe des verstorbenen Commerzienraths Solger, der Maler Heinrich Wilhelm Ontzen sei. Erst in Aegypten hatte er die Aufforderung in einer englischen Zeitung gelesen und um keine Zeit zu verlieren, war er auf dem nächsten Wege hierher gereist, während er zugleich nach Genf geschrieben hatte, ihm den Koffer, welcher die Andenken an seine Eltern enthielt, hierher zu senden.

In dem Manne, der ihn zu morden versucht hatte, hatte er in jener Nacht, als er dem Bette gesprungen war, sofort den Schauspieler Albert Stern erkannt. Mit der Schauspielerin Auguste Luckner hatte er in Genf längere Zeit in einem Hause gewohnt und er räumte ein, sie genau zu kennen. Sowohl Stern wie der Luckner hatte er Manches aus seinem Leben erzählt. Die von der Luckner ihm entwendeten Papiere, seinen Geburtsschein und die Briefe seiner Eltern, welche sich in den Händen des Gerichtsraths Bolten befanden, beschrieb er so genau, daß es keinem Zweifel unterlag, daß sie sein Eigenthum waren. Er trug ferner noch die Trauringe seiner Eltern.

Daß er der wirkliche Erbe war, unterlag keinem Zweifel, und am meisten sprach für ihn das Zeugniß des Gefangenen.

Köhler begrüßte die schnelle Genesung seines Gastes mit wirklicher Freude, hatte er doch sogleich am ersten Abende denselben in sein Herz geschlossen. Stundenlang saß er an seinem Bette, und war Ontzen auch noch immer schwach, so war seine lustige Laune doch bereits zurückgekehrt, und er lachte über die vergeblichen Bemühungen, welche der Schreiber, dessen er sich genau erinnerte, wie die Schauspielerin und der von ihr verführte Stern gemacht hatten, um sich in den Besitz der Erbschaft zu setzen.

»Sie tragen selbst die Schuld, daß Sie beinahe ermordet sind,« sprach Köhler scherzend zu ihm. »Hätten Sie sich mir sogleich zu erkennen gegeben, so würde Alles anders gekommen sein, denn ich hätte die beiden Menschen sofort durch die Polizei verhaften lassen.«

»Sie haben ganz Recht,« erwiderte der Kranke, »allein erstens hatte ich keine Ahnung davon, daß Ihr Haus das Absteigequartier für verschiedene meiner Concurrenten war, sodann wollte ich sehen, ob Sie auch einen armen, einfachen Reisenden freundlich aufnähmen, denn daß Sie vor einem reichen Erben einen tiefen Diener machen würden, konnte ich voraussetzen, und endlich sahen Sie mir so entsetzlich neugierig aus, daß ich mich nicht entschließen konnte, diese Neugier sofort zu befriedigen.«

Köhler drohte ihm lachend mit dem Finger.

Am meisten belustigte sich der Genesende darüber, daß der fromme Pastor Ahl angeführt war. Schon zweimal war Ahl in den Löwen gekommen, um ihn zu besuchen, Ontzen hatte ihn indeß nicht angenommen.

»Halten Sie mir den Mann fern,« sprach er zu Köhler, »ich liebe die Frommen nicht, und er will mir doch nur seine Theilnahme beweisen, weil er hofft, ich werde ihm den durch meinen Vorgänger verursachten Schaden ersetzen. Weshalb läßt er sich betrügen! – Ich würde seinen Besuch vielleicht annehmen, allein ich bin überzeugt, daß er mir über meine Rettung unendlich viel frommes und unsinniges Zeug vorschwatzen wird, und doch verdanke ich sie allein dem Umstande, daß Stern, wie er selbst gestanden, nicht den Muth besessen hat, fester zuzustoßen. Vielleicht ist auch meine Brust besonders fest organisirt, oder der Dolch ist nicht spitz genug gewesen. Ich werde mir denselben zeigen lassen, sobald ich im Stande bin, dem Untersuchungsrichter einen Besuch abzustatten.« – –

 

Es war ein warmer, stiller Morgen, als Ontzen zum ersten Male, durch Köhler unterstützt, das Zimmer verließ, um in dem kleinen geschützten Garten die freie Luft einzuathmen. Er hatte sich lange genug darnach gesehnt. Schon vor Tagen hatte er dem Doctor erklärt, daß die freie Luft seiner Brust wohler thun werde, als alle Heilmittel, welche die Apotheke berge.

In heiterer Stimmung, wenn auch langsam, schritt er zum Garten hinab.

»Sehen Sie, Köhler,« sprach er lächelnd, »so viele Mühe haben Ihnen die beiden falschen Ontzen sammt der schönen Schauspielerin doch nicht gemacht. Der erstere hat freilich Ihren Keller tüchtig mitgenommen, allein gönnen Sie ihm das kurze Vergnügen, es wird ihm wahrscheinlich nie in seinem Leben wieder das Glück zu Theil werden, auf so wohlfeile Weise sich gegen seine Bekannten nobel zu beweisen. Als er noch Schreiber war und ich ihn in Genf kennen lernte, hätte ich ihm nicht zugetraut, daß er so prächtig zu leben verstehe!«

»Auf meine Kosten!« warf Köhler ein.

»Der Umstand wird ihm den Genuß nicht geschwächt haben,« fuhr Ontzen fort, »ich glaube sogar das Gegentheil!«

Sie langten in dem Garten an.

Langsam, mit vollen Zügen sog der Genesende die warme, milde Luft ein. Er war fast aufgewachsen in der freien Natur und die Zeit, welche er im Bette hatte zubringen müssen, war ihm nur deshalb so lang geworden, weil er die freie Natur hatte entbehren müssen.

Köhler wollte ihn zu einer Laube führen, damit er auf der Bank in derselben sich ausruhe. Ein junges Mädchen kam ihnen mit erröthenden Wangen entgegen.

»Wer ist das Mädchen?« fragte Ontzen, dessen Auge sich von ihrem Gesichte nicht trennen konnte.

»Es ist meine Tochter,« entgegnete Köhler.

»Köhler, Freund, und davon haben Sie mir noch nichts erzählt?« rief der Maler halblaut.

»Ich habe es Ihnen mehr als einmal erzählt.«

»Nein – nein!« fuhr Ontzen fort. »Sie haben mir nur gesagt, daß Sie eine Tochter von achtzehn Jahren hätten – die kann jeder Mensch haben, der in Ihrem Alter ist. Sie haben mir aber nicht erzählt, daß sie so hübsch ist, daß sie so große blaue Augen hat, daß ihr Haar so herrlich blond ist, daß – daß – sehen Sie Mensch, davon haben Sie kein Wort gesagt!«

Köhler lächelte.

»Ich kann doch mein eigenes Kind nicht loben.«

»Sie mußten es sogar,« fuhr Ontzen eifrig fort. »Wer ein so hübsches Mädchen besitzt, soll sie gegen Jeden loben, er soll sagen, daß sie ein Madonnen- ein Engelgesicht hat, allein Sie scheinen selbst nicht zu wissen, welchen Schatz Sie Ihr eigen nennen.«

Köhler rief seine Tochter heran. Schüchtern nahte sie sich und wünschte Ontzen zu seiner Genesung Glück.

Er reichte ihr die Hand, um zu danken – sie schritten zusammen der Laube zu, ließen sich plaudernd auf der Bank nieder, und nachdem fast zwei Stunden verflossen waren, mußte Köhler seinen Gast wohl zehnmal mahnen, sich wieder auf das Zimmer zu begeben, weil der Arzt ihm nur eine halbe Stunde gestattet habe.

Ungern folgte ihm Ontzen. Allein Tag für Tag und immer länger saß er von nun an in der Laube, und Köhlers Tochter, Anna, mußte ihm Gesellschaft leisten. Er wandte alle Mittel an, um dies zu erreichen und Köhler selbst fern zu halten.

»Senden Sie mir Ihre Tochter,« pflegte er zu sprechen, »ich mache mir Vorwürfe, Sie so lange Zeit und so oft von Ihrem Geschäfte abzuhalten – es schadet Ihrem Rufe als guter Wirth, wenn Sie stundenlang mit mir hier in der Laube plaudern; als Geschäftsmann müssen Sie sich Ihrer Wirthschaft widmen – ich glaube, der Kellner bedient Ihre Gäste schlecht, sehen Sie selbst nach!« – Und wenn der Wirth auf alle diese Einwürfe nicht hören wollte und versicherte, daß er nichts versäume und gern ihm dies geringe Opfer an Zeit bringe, so rief er halb ärgerlich und halb lachend: »Mensch, Sie sind mir aber zu langweilig, deshalb gehen Sie und senden Sie mir Ihre Tochter, mit der kann ich mich besser unterhalten!«

Und Köhler gehorchte ihm lächelnd. –

 

Und der Himmel blieb heiter und blau, als ob er die Genesung des Malers unterstützen wollte, und Anna unterhielt ihn so vortrefflich, daß ihm die Tage wie Stunden hinflogen.

Noch waren keine vierzehn Tage entschwunden, seitdem Ontzen Anna zum ersten Male gesehen hatte, als er durch den Kellner ihren Vater bitten ließ, zu ihm auf das Zimmer zu kommen.

»Köhler,« sprach er, indem er dem eintretenden Wirthe mit ernster Miene entgegenschritt, »setzen Sie sich dort auf den Stuhl – oder auf das Sopha, wenn Sie lieber weich sitzen und hören Sie mich an, denn ich habe mit Ihnen einen ernsten Gegenstand zu besprechen. So – setzen Sie sich, und nun hören Sie. – In Ihrem Hause habe ich sogleich in der ersten Nacht, als ich mich vertrauensvoll und müde niedergelegt hatte, die Mißhandlung mit dem Dolche erfahren. – Seien Sie still und unterbrechen Sie mich nicht! – Ich glaube dies würde mir nicht begegnet sein, wenn ich bei Ihrem Concurrenten im weißen Schwan eingekehrt wäre. Gegen meinen Willen bin ich dann nach der Mißhandlung hier zurückgehalten, denn ich habe den Doctor und auch Ihren Kellner zu Zeugen, daß ich dies in keiner Weise als meinen Wunsch ausgedrückt habe. Durch Ihre Strenge, mit welcher Sie auf der, von dem Doctor mir vorgeschriebenen Diät bestanden, bin ich ferner jetzt viel magerer als ich hierher gekommen bin und durch Ihre oft langweilige Unterhaltung, welche Sie mir mit vieler Freundlichkeit haben zu Theil werden lassen, bin ich für all' Jenes noch keineswegs entschädigt. Ich glaube deshalb ein Anrecht zu haben, eine Bitte und eine Entschädigungsforderung an Sie zu stellen!«

»Und worin besteht dieselbe?« warf Köhler lächelnd ein.

»In Etwas, wofür ich noch hundert solche Dolchstöße empfangen, wofür ich meine ganzen Ansprüche auf die Erbschaft gern hingeben will,« fuhr Ontzen mit Wärme fort. »In Etwas, dessen Werth Sie selbst nicht einmal zu schätzen wissen, das aber mehr werth ist als alle Schätze dieser Erde – Köhler, Freund, geben Sie mir Ihr Mädchen – geben Sie mir Anna!«

Er hatte beide Hände auf die Schultern des Wirthes gelegt und blickte ihn mit leuchtenden Augen und freudig gerötheten Wangen an.

»Ich hab' nichts dagegen, wenn Anna damit einverstanden ist!« erwiderte Köhler lächelnd.

»Ja, sie ist damit einverstanden, ihr Herz gehört bereits mir!« rief Ontzen laut aufjubelnd, indem er Köhler in die Arme schloß. »Sie liebt mich, sonst würde ich nie diese Bitte an Sie gerichtet haben! – Aber Freund, es ist gut, daß Sie nicht nein gesagt haben – denn, sehen Sie – dann hätte ich die Erbschaft – Sie – ich hätte Alles im Stiche gelassen und hätte Ihnen das Mädchen mit Gewalt entführt! Wahrhaftig, ich hätte es gethan! – Haben Sie aber Dank für ihre Einwilligung – Sie haben dadurch zwei Menschen glücklich gemacht!«

 

Und glücklicher konnten in der That wohl kaum zwei Menschenherzen sein als die ihrigen. Von Tage zu Tage erstarkte Ontzen mehr, denn das Glück heilt und kräftigt ja, und bald blickte er wieder ebenso gesund und kräftig in die Welt hinein wie früher.

Ein neues Leben kehrte nun in dem Löwen wieder ein, denn Ontzen liebte die Heiterkeit und Geselligkeit, und Köhler hatte sich in seinem ganzen Leben nicht in einer so lustigen Stimmung befunden. Je näher er Ontzen kennen lernte, um so mehr wuchs er ihm in's Herz hinein und er war fest überzeugt, daß das Glück seines Kindes an der Seite dieses Mannes ein dauerndes sein müsse.

Ontzen hatte sich von der Behörde seiner Heimath in der Schweiz noch mehrere Papiere senden lassen, und nun wurde nicht länger mit der Vollziehung des Testamentes gezögert. Das ganze Vermögen Solgers wurde ihm übergeben.

Mehr als das Testament bestimmte, vertheilte er an Solgers Verwandte und Diener aus und in freigebigster Weise bezahlte er alle Schulden, welche von seinen beiden Vorgängern gemacht waren.

Er hatte auf das Geld nie einen großen Werth gelegt und mit vollen Händen theilte er es jetzt aus, so daß Köhler ihn mehr als einmal mahnte, seine Verschwendung nicht zu weit zu treiben.

»Lassen Sie – lassen Sie mich gewähren,« wehrte er ihn ab. »Jetzt befinde ich mich im Rausche des Glückes und ich will diesen Rausch ganz durchkosten. Ist derselbe vorüber, so werde ich Sie zum Verwalter meines Vermögens ernennen, denn Sie sind ein praktischer Kopf, das weiß ich.«

Nur Ahl hatte Ontzen den Schaden, den er durch den Schreiber erlitten, nicht ersetzt. Der fromme Herr hatte freilich, da er seinen Besuch nie angenommen hatte, sich in sehr bitterer, fast gehässiger Weise ausgesprochen und Ontzen war dies nicht verborgen geblieben.

Trotzdem suchte Köhler ihn eines Tages zu bewegen, dem Pastor den Vorschuß zu ersetzen.

»Seien Sie großmüthig und vergessen Sie, wie er über Sie gesprochen hat,« fügte er hinzu.

Ontzen lachte laut auf.

»Köhler, Freund, glauben Sie denn, daß ich dem Manne das Geld deswegen nicht geben will!« rief er. »Sie müssen mich doch besser kennen. Ich habe mich ja über die bitteren Worte des frommen Herrn amüsirt! – Haha! Ich habe einen anderen Grund, weshalb ich ihn allein übergangen habe! Sehen Sie, Freund, hätte ich ihm das Geld gegeben, so würde er mir aus Dankgefühl eine unendlich lange und fromme Traurede halten! Das will ich vermeiden. Jetzt wird dieselbe wohl etwas kurz ausfallen, das ist indeß mein Wunsch. Wenn die Trauung vorüber ist, soll er das Geld erhalten – früher nicht. Nun schweigen Sie aber darüber, sonst entgehe ich der langen Rede doch nicht.« –

 

In dem Löwen wurden die Vorbereitungen zu der Hochzeit mit allem Eifer betrieben und Köhler entwickelte eine außerordentliche Thätigkeit. Die halbe Stadt sollte an seiner Freude Theil nehmen und er wollte zugleich zeigen, daß er auch nicht arm sei.

Ontzen bekümmerte sich um alle diese Vorbereitungen nicht. An der Seite seiner Verlobten fühlte er sich so glücklich, daß kein anderer Gedanke und kein anderes Interesse als dieses Glück in ihm aufstieg.

Er hatte beschlossen, bald nach der Hochzeit mit seiner jungen Frau nach der Schweiz zurück zu kehren, so sehr Köhler ihn auch zu bewegen suchte, in der Stadt zu bleiben, da er sich von seinem einzigen Kinde nicht gern trennte.

»Nein, hier bleiben kann ich nicht,« entgegnete Ontzen. »Bester Freund, verlangen Sie Alles von mir – nur dieses nicht. Ich kann die Berge meiner Schweiz nicht entbehren. Sie mögen Recht haben, daß ich mich mit der Zeit auch an die deutsche Luft gewöhnen werde, aber Köhler, ich befürchte, daß, wenn ich mich daran gewöhnt habe, mein Humor und meine gute Stimmung zum Kukuk gefahren sind. Nur auf den Bergen wohnt die Freiheit. Sehen Sie, es giebt so prächtige Menschen hier, allein die ganze Luft riecht nach Polizei, nach Maßregelungen, nach Druck und büreaukratischer Willkür – und solche Luft erträgt meine Brust nicht, denn ich bin zwischen den freien Bergen aufgewachsen! – Aber kommen Sie mit mir, Köhler, verkaufen Sie Ihren Löwen hier, wir wollen in der Schweiz so gemüthlich leben als nur Menschenkinder leben können und wenn Sie sich nicht entschließen können, Ihrer Beschäftigung zu entsagen – gut, dann will ich Ihnen ein großartiges Hotel erbauen und auf dem Schilde desselben soll mit großen goldenen Buchstaben der Name: ›der freie Adler‹ prangen – weil Sie doch einmal an die Raubthiere gewöhnt sind.« –

 

Die Hochzeit wurde im Löwen mit dem größten Luxus gefeiert. Die Traurede war so kurz gewesen, als sie Ontzen gewünscht hatte und seine heitere Stimmung war dadurch noch erhöht. Köhler gab den besten Wein, den er im Keller barg, preis und alle Gäste stimmten darin überein, daß eine so lustige Hochzeit noch nie in der Stadt gefeiert worden sei.

Der Pastor Ahl nannte sie freilich einigen Bekannten gegenüber: ein sündhaftes, verschwenderisches Treiben, welches der Herr strafen werde.

Seine Stimmung wurde indeß vollständig umgewandelt, als er am folgenden Morgen mit einigen freundlichen Zeilen eine Summe erhielt, welche noch größer war, als die er eingebüßt hatte. Ueberrascht, halb verwirrt, kleidete er sich sofort an, um dem Geber seinen Dank zu bringen.

Köhler empfing ihn mit freundlichem Lächeln und theilte ihm mit, daß sein Schwiegersohn mit seiner jungen Frau bereits früh am Morgen nach der Schweiz abgereist seien, wenn indeß der Herr Pastor mit einigen Ueberresten des Hochzeitsschmauses zum Frühstück vorlieb nehmen wolle, so werde es ihn sehr freuen.

Und Ahl verdarb ihm diese Freude nicht.

Wir können unseren Lesern zur Beruhigung indeß die Versicherung geben, daß die Strafe des Herrn für das sündhafte und verschwenderische Treiben der Hochzeit noch nicht eingetreten ist, obschon mehrere Jahre seitdem verflossen sind.

Ontzen lebt mit seiner jungen Frau in einem reizenden Hause am Genfer See, wiegt jeden Abend seinen Jungen in den Schlaf und hält sich für den glücklichsten Menschen, den die Sonne innerhalb und außerhalb der Schweiz bescheint.

Köhler bewohnt kaum fünf Minuten davon entfernt ein anderes Haus. Er hat seinen Löwen verkauft und vorgezogen, seinen Lebensabend in der Nähe seiner Lieben als Rentier zu verbringen. Wir können versichern, daß er diese Beschäftigung ganz angenehm findet.

Und wollen wir noch einen kurzen Blick zurückwerfen, so brauchen wir nur kurz zu berichten, daß der unglückliche Albert Stern in dem Gefängnisse starb, ehe das Urtheil über ihn gefällt wurde, daß die schöne Betrügerin spurlos verschwunden blieb und daß der Pastor Ahl, wenn auf Ontzen die Rede kommt, immer nur von »seinem Freunde Ontzen« spricht.

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