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Studentenmuth.

Historische Novelle.


Vor dem Thore der Stadt Göttingen stand ein kleines und einfaches Haus, rings von einem nicht großen, aber sorgfältig gepflegten Garten umgeben. Mehr denn ein halbes Jahrhundert ist seit dem Jahre, in welchem diese Erzählung spielt, entschwunden und diese Zeit hat hingereicht, das kleine Haus zu zerstören, ein neues, größeres an dessen Stelle zu setzen und dem einfachen, freundlichen Garten einen ganz anderen Charakter zu geben. Fünfzig Jahre sind ja eine Zeit, in der ganz andere Gebäude, selbst Paläste zusammenstürzen, in der Generationen entstehen und vergehen, in der Gesinnungen und Anschauungen wechseln und sich ändern. Hat doch die Stadt Göttingen selbst in der Zeit äußerlich und innerlich ein ganz anderes Gewand angelegt.

In dem kleinen Garten schritten langsam und nebeneinander ein junger Mann und ein junges Mädchen auf und ab. Er mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein, während das junge Mädchen, eine frische, anmuthige Erscheinung, kaum achtzehn Jahre zählen konnte.

Wer die beiden jungen Leute aufmerksam beobachtet hätte, ohne ihr Gespräch zu belauschen, würde aus ihren Blicken, aus ihrer ganzen gegenseitigen Hinneigung leicht errathen haben, daß sie sich in jenem Zustande befanden, in welchem die Herzen einander bereits gehören, in welchem der Mund indeß das Geständniß der Liebe noch nicht ausgesprochen hat. Es waltete zwischen ihnen noch eine äußere, gleichsam fremde Schranke ob, die mit sich selbst nur allzuoft in Widerspruch gerieth, weil die Herzen einander nicht mehr fremd waren.

Von beiden unbemerkt trat ein junger Mann von der Straße aus in den Garten. Rasch schritt er auf sie zu und wurde von ihnen erst wahrgenommen, als er kaum noch drei Schritte entfernt war.

»Ah, Heinrich!« rief das junge Mädchen, dem Eingetretenen, ihrem Bruder, die Hand zum Gruße entgegenstreckend.

Dieser schien ihre Worte kaum zu hören, sein Auge ruhte auf dem Gesichte des jungen Mannes, der an ihrer Seite ging. Auch dieser nahte sich ihm unbefangen und reichte ihm die Rechte zum Gruße dar.

»Halt, Sanner!« rief der Eingetretene, »ehe ich Deine Hand annehme, muß ich eine Frage an Dich richten. Es ist mir soeben in der Stadt erzählt worden, Du seiest in den Dienst der Polizei getreten. Ich wollte es nicht glauben und ich werde es auch nicht glauben, bis ich aus Deinem eigenen Munde die Bestätigung gehört habe. Ist mir die Wahrheit erzählt? Sprich.«

Eine leichte Röthe glitt über das Gesicht des Gefragten hin.

»Es ist wahr,« entgegnete er. »Ich habe soeben Deiner Schwester erzählt, was mich dazu bewogen hat und ich kam hierher, um es auch Dir mitzutheilen.«

»Deine Antwort, daß ich die Wahrheit gehört habe, genügt mir bereits,« gab der erstere – Halm ist sein Name – zur Antwort. »Du wirst begreifen, daß durch diesen Schritt eine unüberwindliche Schranke zwischen uns aufgerichtet ist und daß die Gründe, welche Dich dazu bewogen haben, mich nicht mehr interessiren.«

Er wollte sich hastig von ihm abwenden, allein Sanner ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück.

»Nein, Halm,« fiel er ein, »in solcher Weise kannst und darfst Du mich nicht beurtheilen! Du hast mir so oft die Versicherung gegeben, daß Du mein Freund bist, jetzt verlange ich von Deiner Freundschaft, daß Du mich erst ruhig anhörst, ehe Du mich verurtheilst.«

»Ich bin Dein Freund gewesen,« erwiderte Halm nicht ohne Bitterkeit, »und wahrhaftig, ich habe es ehrlich mit Dir gemeint. Ich glaubte, Du würdest mich aber auch so weit kennen, daß ich den Namen Freund nimmermehr einem Menschen noch gestatte, der sich hergiebt, ein feiler Diener der Regierung und des Systems zu werden, welche ich ebenso sehr hasse, wie ich sie verachte. Der zum Verräther an seinem eigenen Vaterlande wird, der seinen Namen und seine Ehre so wenig achtet, daß er …«

»Halt ein!« unterbrach ihn Sanner erregt. »An meiner Ehre hat noch Niemand zu rütteln gewagt und dies zu thun, werde ich auch Dir nicht gestatten. Was ich gethan habe, habe ich nach reiflicher Ueberlegung gethan und ich weiß, daß ich es vor meinem Gewissen und meiner Ehre verantworten kann.«

»Natürlich,« fiel Halm spöttisch ein, »wer der Polizei beitritt, welche jetzt in diesem Lande, in diesem ehrenwerthen Königreiche Westphalen herrscht, wer sich zum Schergen dieses noch ehrenwertheren Jerôme hergiebt, der wird das mit seinem Gewissen leicht abmachen können, denn dies wird eben Niemand thun, der noch ein Gefühl, welches den Namen Gewissen verdient, in seiner Brust trägt! Ich begreife das, ich werde es auch begreiflich finden, wenn Du von jetzt ab ein sehr eifriger Diener Deines Königs wirst, wenn Du Dich unter Deinen Genossen hervorthust durch Spioniren und Denunciren. Haha! Es ist ja Thatsache, daß unter dieser französischen Schandregierung es Deutsche sind, die sich am Meisten hervorthun, daß sie ihren französischen Collegen den Rang abzulaufen suchen, an Schlechtigkeit und ehrlosem Treiben!«

»Heinrich, Heinrich!« rief das junge Mädchen erschreckt und vorwurfsvoll zugleich. »Du thust Sanner Unrecht!«

»Ich gebe ihm nur Gelegenheit, sogleich seine Thätigkeit an mir zu beginnen,« erwiderte Halm bitter. »Mag er hingehen und mich denunciren, mag er den Lohn dafür in Empfang nehmen, er braucht nicht zu befürchten, daß ich die Worte, welche ich soeben gesprochen habe, leugnen werde. Ich will sein Verdienst noch erhöhen und hinzufügen, daß ich den König Jerôme und sein ehrloses Treiben hasse und verachte, daß ich es für Pflicht eines jeden ehrenwerthen Mannes halte, nicht eher zu ruhen und zu rasten, bis dieser tyrannische Schwächling, dieser Götze seiner eigenen Sinnlichkeit und Verworfenheit, aus dem Lande gejagt, bis sein elender Thron zertrümmert ist!«

Schweigend stand Sanner da, nur das Zucken seiner Lippen verrieth seine innere Aufregung. Die Heftigkeit seines Freundes hatte ihm äußerlich seine volle Ruhe zurückgegeben.

Besorgt und theilnehmend blickte das junge Mädchen zu ihm auf.

»Ihr Bruder weiß,« sprach er zu ihr, »daß er diese Worte zu einem Freunde gesprochen hat, er weiß auch, daß noch jetzt seine Gesinnungen die meinigen sind und daß ich mit der Annahme meiner Stellung nicht plötzlich ein ganz anderer Mensch geworden bin. Marie, Sie können mich nicht eben so falsch beurtheilen, wie er es thut, denn ich habe Ihnen erzählt, daß nur die äußerste Noth, in der sich meine arme Mutter befindet, mich veranlaßt hat, diese Stelle anzunehmen, ich habe Ihnen aus einander gesetzt, wie ich in meiner Stellung als Polizeibeamter diesem unglücklichen Lande und meinen unglücklichen Landsleuten mehr nützen zu können glaube, als in irgend einer anderen Lage. Ich hoffe manches Unrecht zu verhüten, mancher Schändlichkeit vorzubeugen. Daß der Schein gegen mich sein, daß Viele mich verdammen würden, sah ich voraus, nur auf das Eine war ich nicht gefaßt: daß auch ein Freund mich in der Weise falsch beurtheilen könne, ein Freund, der meinen Charakter und meine Gesinnung seit Jahren kennt. Ich fand es natürlich, daß er über meinen Schritt erstaunt war, allein ich glaubte, er würde so viel Zutrauen zu mir bewahrt haben, daß er mich nach den Beweggründen dieses Schrittes gefragt, ehe er mich verurtheilt hätte. Er hat dies nicht gethan, er will dies nicht thun, deshalb scheiden sich auch hier unsere Wege, so schwer es mir wird, dies auszusprechen. Marie, ich hoffe, Sie – Sie werden das Vertrauen zu mir nie verlieren!«

Er erfaßte ihre Hand, preßte sie innig und wandte sich dann rasch ab, um den Garten zu verlassen.

»Sanner – Sanner! Bleiben Sie!« rief sie dem hastig Forteilenden nach, der ihre Worte kaum noch zu hören schien.

»Heinrich!« wandte sie sich an ihren Bruder, – »eile ihm nach, hole ihn zurück, – laß ihn so nicht fortgehen, er ist Dein Freund gewesen und Du verkennst ihn!«

Halm schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.

»Er hat mir Alles mitgetheilt,« fuhr Marie fort, »ihn beseelt ein wirklich edles Streben, die Sorge um seine Mutter, welche er innig liebt, kommt hinzu, halb scheint ihn auch die Verzweiflung dazu getrieben zu haben. Du willst ihn nur nicht begreifen!«

Sie vermochte ihre Thränen nicht länger zurück zu halten, gewaltsam brachen dieselben hervor.

»Nein, Marie,« sprach Heinrich an die weinende Schwester herantretend, »sag, ich kann ihn nicht begreifen. Sanner ist kein Knabe mehr, er muß die ganze Tragweite seines Schrittes voraussehen, er muß sich gestehen, wohin ihn derselbe nothwendig führt. Und wenn wirklich jetzt noch ein edles Streben in ihm wohnte, in kurzer Zeit wird dasselbe in seiner Stellung, in seiner ganzen Umgebung erstorben und vernichtet sein. Er besitzt nicht Kraft genug, um inmitten des Auswurfes, aus welchem fast die ganze Polizei des Königreichs zusammengesetzt ist, unangesteckt und unverdorben zu bleiben. Sein besseres Gefühl wird sich Anfangs dagegen sträuben, den geheimen Spion und Denuncianten zu spielen, und doch bringt dies seine Stellung ja mit sich, doch wird es von ihm verlangt. Auch er wird bald dahin gekommen sein, daß er es seinen Collegen darin zuvor zu thun sucht; je mehr die Ehre ihn verlassen, um so mehr wird der Ehrgeiz ihn anstacheln und treiben!«

»Nie – nie wird es dahin kommen!« rief Marie heftig schluchzend.

Heinrich ließ einige Augenblicke lang den Blick mit inniger Theilnahme auf dem weinenden Mädchen ruhen, er wußte ja, was in dem Innern desselben vorging.

»Marie,« sprach er dann, indem er die Hand beruhigend auf den Arm der Schwester legte, »Marie, ich weiß, daß Du Sanner liebst. Ich habe die Neigung zwischen Dir und ihm langsam keimen und heranwachsen gesehen, ich hielt ihn Deiner für würdig – er ist es nicht. Reiß diese unglückselige Neigung aus Deinem Herzen, noch ist es Zeit, denn Dich bindet noch kein Wort, suche ihn zu vergessen, denn für Dich ist er doch verloren!«

Marie antwortete nicht. Und wenn ihr Mund auch versprochen hätte, sich dem Verlangen ihres Bruders zu fügen, ihr Herz würde nimmermehr zugestimmt haben. Auf einer Bank ließ sie sich nieder und barg das Gesicht in beiden Händen.

Heinrich begriff ihren Schmerz und konnte ihr dennoch nicht helfen, hier konnten allein die Zeit und eine ruhigere Ueberlegung das Weitere thun.

Langsam schritt er dem kleinen Hause zu, welches er allein mit seiner Mutter und Schwester bewohnte, und begab sich auf sein in dem Erker gelegenes Zimmer, um dort hinter den Büchern das, was ihn selbst so mächtig erregt hatte, zu vergessen.

Er war nur wenige Jahre älter als seine Schwester, er gehörte noch der lustigen Schaar der Studenten an, allein der frühe Verlust seines Vaters, der Gedanke, daß er einst die Stütze für seine Mutter und Schwester werden müsse, hatte seinen Charakter frühzeitig gereift und gekräftigt. So lustig und übermüthig er im Kreise lieber Freunde zu Zeiten auch sein konnte, so hatte sein Wesen im Ganzen doch schon das ernstere Gepräge des Mannes.

Damit der Leser die harten Worte, welche er gegen den Freund aussprach, begreift, müssen wir in kurzen Zügen die damalige Zeit und die damaligen Verhältnisse schildern.

Es war im Jahre 1810. Fast das ganze nordwestliche Deutschland schmachtete unter dem härtesten Drucke französischer Gewaltherrschaft. Das Kurfürstenthum Hannover und Hessen, das Herzogthum Braunschweig, Stift Hildesheim, die Altmark, Halberstadt, Hohenstein, Magdeburg jenseits der Elbe, Mansfeld, Quedlinburg u. s. w., ein Gebiet von 688 Quadratmeilen mit nahe an zwei Millionen Menschen, waren durch ein Decret des Kaisers Napoleon zu dem neuen Königreich Westphalen vereint und unter die Herrschaft seines Bruders Jerôme gestellt.

Die unglücklichen Länder seufzten unter dem härtesten und ausgesuchtesten Drucke. Ihre Herzen hingen noch fest an den früheren Herrschern und nun mußten sie sich knechten lassen von einem Manne, den sie verachteten und haßten. Der übermüthige König, der von der Stelle eines gewöhnlichen Kaufmannsdieners den Thron bestiegen, hatte zwar in Cassel, welches er zu seiner Residenz erwählt, in altspanischer Königstracht von seinem Throne herab erklärt: »er werde seine Unterthanen zwingen, ihn zu lieben,« allein durch sein ganzes Leben und Handeln rief er das Gegentheil hervor.

Konnten sie den Mann lieben, der seine erste Frau, der er all sein früheres Glück verdankte, mit erbarmungsloser Grausamkeit von sich gestoßen? Konnten sie den König lieben, der die ihm untergebenen Länder auf das härteste drückte und ihnen den letzten Blutstropfen aussog, um seinem ausschweifenden, sinnlosen Leben jeden Zügel schießen zu lassen?

Das Königreich Westphalen hatte unter Jerômes Herrschaft Unendliches zu leiden. Französische Beamte überschwemmten das Land, sie hatten die einflußreichsten Stellen inne und folgten in ihrem Leben ganz dem Beispiele ihres Königs. Jeder von ihnen hatte nur sein eigenes Interesse im Auge, suchte sich zu bereichern, wenn auch Tausende von Familien dadurch verarmten und zu Grunde gingen.

Dazu war das ganze Land von geheimen Polizisten, von Spähern und Spionen wie mit einem Netze überzogen. Wehe demjenigen, der ein unvorsichtiges Wort sich entschlüpfen ließ! Ueberall gab es bezahlte Ohren und Denuncianten, er mußte das eine Wort vielleicht mit jahrelangem Gefängnisse büßen, denn Recht und Gerechtigkeit gab es längst nicht mehr in dem Lande.

Die schlechtesten Menschen, welche für Geld zu jeder That fähig waren, zählte die Polizei zu ihren Dienern. Halm's Entrüstung war deshalb leicht begreiflich, als er erfuhr, daß auch sein Freund in den Dienst der Polizei eingetreten war. Er haßte den König Jerôme und die ganze französische Wirthschaft so glühend, daß er keinen Grund für ausreichend hielt, um Sanner's Schritt zu entschuldigen.

Wäre es ihm möglich gewesen, so würde er längst das Land verlassen haben, allein sein Studium und seine Angehörigen hielten ihn in Göttingen zurück, das durch Jerôme zur Landesuniversität für das Königreich Westphalen gemacht war und die tüchtigsten Professoren der beiden aufgehobenen Universitäten Rinteln und Helmstädt in sich vereinte.

Es war wohl natürlich, daß die jugendlichen Köpfe der Studenten über das schmachvolle Treiben an dem Hofe zu Cassel, über den ganzen auf dem Lande lastenden Druck am erbittertsten waren. Fast täglich fielen zwischen den Studenten und den Polizeibeamten, die in Göttingen sehr zahlreich vertreten waren, Reibereien vor, die oft einen sehr ernsten Charakter angenommen haben würden, hätten sich die Bürger nicht meist Ruhe stiftend ins Mittel gelegt. Im Herzen standen zwar auch sie auf Seiten der Studenten, auch sie haßten die Fremdherrschaft, ihnen mußte aber vor Allem daran liegen, daß es zu keinem Excesse kam, der der Universität schaden konnte, denn von dieser lebten sie und hingen sie ab.

Dem Könige Jerôme war die Stimmung, welche in Göttingen herrschte, sehr wohl bekannt, er hatte seinen Unwillen mehrere Male unzweideutig darüber geäußert. Um so mehr Aufsehn erregte es, als wenige Tage nach der Begegnung zwischen Halm und seinem früheren Freunde Sanner die Nachricht in Göttingen eintraf, der König Jerôme werde in nächster Zeit der Stadt einen Besuch abstatten.

Viele zweifelten an der Wahrheit dieser Nachricht, Andere waren schon im Voraus mit Besorgniß erfüllt, daß die Studenten diese Gelegenheit benutzen würden, um ihrem Haß gegen den König einen offenen Ausdruck zu geben und dies mußte ja der ganzen Stadt zum Nachtheile gereichen.

Die Zweifel über diese Nachricht sollten bald gehoben werden, denn schon nach wenigen Tagen kam ein königlicher Beamter aus Cassel, um den Besuch des Königs der Stadt offiziell anzuzeigen, und die Vorbereitungen zu seinem Empfange selbst zu leiten.

Dieser Empfang sollte nämlich ein möglichst glänzender werden. Die ganze Stadt sollte sich mit Blumen und Guirlanden schmücken, Ehrenpforten den König schon vor dem Thore empfangen und den Weg kennzeichnen, den er durch die Stadt nehmen werde, Deputationen von Bürgern und Professoren sollten ihn begrüßen, noch ehe er die Stadt betreten.

Die Bürger fügten sich in diese Anordnungen, die durch den Beamten auf ihre Kosten und ohne sie zu fragen, getroffen wurden. Sie waren besonnen genug, ihren Groll zu verbergen, denn sie wußten, daß sie jede Weigerung mit Gefängniß hätten büßen müssen. Schon Mancher, der bei ähnlicher Gelegenheit sich widerstrebend bewiesen hatte, war nach Cassel geschleppt, in das Gefängniß geworfen und schmachtete dort, ohne daß er verurtheilt war, ja sogar ohne Verhör.

Eine schlimme Angelegenheit war indeß noch zu erledigen. Auf Befehl des königlichen Beamten sollten auch die Studenten an den Empfangsfeierlichkeiten sich betheiligen; in festlichem Aufzuge sollten sie dem Könige entgegen ziehen und ihm Abends einen solennen Fackelzug bringen. Die Studenten weigerten sich mit Entschiedenheit, dies zu thun, manche von ihnen verließen sogar, um jeder Nothwendigkeit auszuweichen, die Stadt.

Vergebens boten Professoren und Bürger Alles auf, um die jugendlichen Köpfe zum Nachgeben zu bewegen; es gelang dies endlich nur dadurch, daß der königliche Beamte auf mehrfache Vorstellungen von dem festlichen Aufzuge Abstand nahm – in den Fackelzug fügten sich die Studenten.

Halm hatte an den ganzen Verhandlungen, die deshalb stattfanden, und Aller Gemüther außerordentlich aufregten, scheinbar sehr wenig Antheil genommen, mehr als sonst blieb er gerade in diesen Tagen allein auf seinem Zimmer.

Dies mußte Allen, die seinen glühenden Haß gegen den König Jerôme und die ganze westphälische Herrschaft kannten, doppelt auffallen, allein er wich den deshalb an ihn gerichteten Fragen so viel als möglich aus.

»Ich füge mich in das Unvermeidliche,« erwiderte er. »Ich bin auch neugierig, den König bei der Gelegenheit von Auge zu Auge zu sehen, und vielleicht,« fügte er spottend hinzu, »vielleicht ist er besser als sein Ruf.«

Auch Marie war die Ruhe und Abgeschlossenheit ihres Bruders während dieser Tage aufgefallen. Sie kannte ihn am Besten und wußte, daß seinem veränderten Benehmen etwas Besonderes zum Grunde liegen müsse. Mit ihrer Mutter mochte sie darüber nicht sprechen, um dieselbe nicht zu beunruhigen. Sie suchte sich selbst durch den Gedanken, daß sie sich täuschen könne, Ruhe zu geben, je näher indeß der Tag, an welchem der König eintreffen wollte, heranrückte, um so mehr wuchs ihre Besorgniß.

Am folgenden Tage wollte der König anlangen. Die ganze Stadt war in sichtbarer Aufregung. Tausende von Händen waren mit dem Winden von Kränzen und Guirlanden beschäftigt, allein keine einzige verrichtete diese Arbeit gern. An den Ehrenpforten würde noch mit allem Eifer gearbeitet, der königliche Beamte leitete selbst diese Vorbereitungen und zwar mußten dieselben so großartig und kostbar als möglich ausgeführt werden. Ob Tausende von Thalern auch unnöthig weggeworfen wurden – was kümmerte es ihn, die Stadt mußte Alles bezahlen.

Die allgemeine Aufregung wurde noch dadurch erhöht, daß schon an diesem Tage eine große Anzahl Polizeibeamter von Cassel ankam, um während des Aufenthalts des Königs Alles mit dem schärfsten Auge zu überwachen. Die Studenten zogen in einzelnen Trupps durch die Straßen und es verbreitete sich das Gerücht, sie hätten sich noch nachträglich geweigert, dem Könige den Fackelzug bringen. Marie war in der Stadt gewesen und hatte all dies Leben, und diese Aufregung gesehen, um so mehr war sie überrascht, als sie von ihrer Mutter hörte, daß Heinrich fast den ganzen Tag über sein Zimmer nicht verlassen habe.

Früher war er der Erste, gleichsam der Führer bei all solchen Bewegungen gewesen – weshalb schloß er sich jetzt ab? Um sich Aufklärung hierüber zu verschaffen, begab sie sich zu ihm.

Als sie in sein Zimmer eintrat, saß er scheinbar ganz ruhig hinter seinen Büchern.

»Du bist zu Haus?« fragte sie. »Die ganze Stadt ist in größter Aufregung.«

»Ich kann es mir denken,« erwiderte er hierauf ruhig lächelnd. »Es gefällt den guten Bürgern nicht, daß auf ihre Kosten prachtvolle Ehrenpforten erbaut werden. Ich bin wirklich auf ihre Gesichter morgen neugierig, im Herzen heißt ja keiner von Allen den König willkommen und doch müssen sie zu seinem Empfange ein freundliches Gesicht machen. So ist es befohlen und die Klugheit verlangt es so.«

»Wirst Du auch ein freundliches Gesicht machen?« fragte Marie, den Bruder scharf beobachtend ansehend.

»Gewiß, gewiß!« versicherte Heinrich. »Ich werde die freundlichste Miene zeigen, welche mir überhaupt zu Gebote steht und Morgen Abend werde ich die Fackel schwingen und laut rufen: ›Es lebe unser geliebter König Jerôme, er lebe hoch!‹«

»Heinrich,« fiel Marie ein, »hältst Du mich für so thöricht, daß ich dies glauben werde? Ich kenne Dich besser.«

»Mädchen, was willst Du!« rief Heinrich, über die Worte seiner Schwester etwas betroffen. »Ich sage ja nicht, daß dies meine wirkliche Meinung ist – ich füge mich der Nothwendigkeit, den Anforderungen der Klugheit.«

»Du wirst also an dem Fackelzuge Theil nehmen?«

»Gewiß – er ist ja befohlen.«

»Seit wann kommst Du den Befehlen so eilig nach, auch wenn dieselben mit Deiner Ueberzeugung nicht übereinstimmen?«

»Marie, die ganze Stadt muß sich fügen.«

»Heinrich,« sprach Marie ernst, »mich täuschest Du nicht, denn ich kenne Dich genau. Ich weiß, welch ein glühender Haß gegen den König in Dir wohnt und trotzdem bist Du seit Tagen ruhiger als früher, Du schließt Dich ab, nimmst an den Berathungen der Studenten nicht Theil, Du stellst Dich, als ob Dich die ganze Sache nichts angehe – allein das ist nicht Deine Ueberzeugung.«

»Du hast Recht. Das ist nicht meine Ueberzeugung,« wiederholte Heinrich. »Marie, wenn ich mich nur deshalb zurückhielte, weil ich befürchte, ich würde meine Aufregung nicht zu beherrschen im Stande sein!«

Marie schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.

»Auch das ist es nicht,« bemerkte Marie. »Ich weiß, daß Du mir und der Mutter irgend Etwas geheim hältst, Dein ganzes Benehmen verräth dies.«

»Mein Benehmen?« warf Heinrich ein. »Bin ich weniger liebevoll gegen Euch als sonst? Dir fällt vielleicht auf, daß ich gerade in den letzten Tagen viel auf meinem Zimmer gewesen bin, – sieh, ich will Dir die Aufklärung hierüber geben. Hier hinter meinen Büchern vergesse ich am Schnellsten und Leichtesten, in welch schlimmer, trauriger Zeit wir leben, hier vergesse ich, daß auch ich morgen mit hinausziehen, eine Fackel tragen und Vivat rufen muß. Die Ehrenpforten, die Guirlanden, welche schon jetzt an manchen Häusern hängen, alle die Vorbereitungen zu morgen ekeln mich an – mir ist wohl, wenn ich nichts davon sehe! Nun hast Du die Lösung!«

Er hatte diese Worte mit Ueberzeugung und Wärme gesprochen, und dennoch glaubte Marie ihm nicht. Eine innere Stimme rief ihr zu, daß ihr Bruder Etwas vor ihr verborgen hielt, sie mochte indeß nicht weiter in ihn dringen, weil sie seinen Entschlüssen unter allen Umständen fest vertraute. Sie kehrte deshalb zu ihrer Mutter zurück.

Als Heinrich wieder allein war, ging er einige Minuten lang in dem Zimmer auf und ab. Die Worte der Schwester schienen doch Besorgnisse in ihm wach gerufen zu haben, er schien mit sich selbst zu kämpfen. Endlich setzte er sich indeß wieder nieder und nahm das Buch, welches er beim Eintreten der Schwester zur Seite gelegt hatte, wieder in die Hand.


Der bedeutungsvolle Tag war gekommen.

Die ganze Stadt prangte in dem schönsten Schmucke der Guirlanden und Blumen. Auf den Ehrenpforten flatterten die Fahnen und Flaggen so lustig im Winde, als gelte es der Begrüßung eines allgemein geliebten Menschen. Was wußten sie davon!

Auf den Straßen war es stiller als am Tage zuvor. Die Meisten schienen nicht einmal Lust zu haben, die Stadt in diesem Festschmucke zu sehen. Nur diejenigen, welche bei den Empfangsfeierlichkeiten unmittelbar beschäftigt und betheiligt waren, sah man unruhig hin und her eilen, denn ihr Haupt mußte der Zorn des Königs zunächst treffen, wenn irgend Etwas nicht nach seinem Wunsche ausgefallen sein sollte.

Die Deputation der Bürger und Professoren, welche den König empfangen sollte, hatte sich schon zeitig vor das Thor begeben. Endlich kam derselbe mit einem zahlreichen Gefolge, ohne welches er nie reiste, auf der Straße von Cassel an. Eine Abtheilung Dragoner ritt zu beiden Seiten des Wagens und folgte demselben, unter dem Volke war eine große Anzahl geheimer Polizisten zerstreut, um die leiseste Regung des Unwillens sofort zu unterdrücken, ehe dieselbe an das königliche Ohr gelangte.

Der König saß mit seiner Gemahlin in einem prachtvollen Wagen. Als er sein Auge über die glänzenden Vorbereitungen schweifen ließ, als er zu den Ehrenpforten und den geschmückten Häusern aufschaute, zuckte ein Lächeln über sein Gesicht hin. Er wußte freilich, daß all diese Festlichkeiten nur auf Befehl veranstaltet waren, aber ihn schmeichelte schon der leere Schein der Ehre. Es sah doch fast aus wie Liebe, zu der er das Volk zwingen wollte. Und wenn an den folgenden Tagen in dem westphälischen Moniteur ein glänzender Bericht über diesen Empfang stand, wenn dieser Bericht in den französischen Blättern wiederhallte und zu den Ohren seines Bruders kam – wer konnte wagen, demselben zu widersprechen!

Es entging ihm deshalb auch das Gezwungene und Abgemessene in den Rufen und den Vivats, mit denen er empfangen wurde, und in welche sich auch nicht ein einziger begeisterter Klang mischte.

Die Häuser waren sämmtlich mit Grün und Blumen bekränzt, allein aus den Fenstern schauten nur wenige Köpfe auf den glänzenden Königszug herab; der Haß überwand die Neugier.

Von den Studenten ließ sich einer stillen Verabredung gemäß kein einziger auf der Straße sehen. Hier und dort blickte wohl einer aus dem Fenster, allein er schaute so gleichgültig d'rein, als ob der König täglich vor dem Hause vorüber fahre. Eine Mütze trug er nicht, – er brauchte deshalb auch nicht zu grüßen.

In der der Universitäts-Bibliothek gegenüber gelegenen und zu dem Empfange prachtvoll hergerichteten Präfectur stieg der König ab. Von den Deputationen ließ er nur sehr wenige vor, er schien verstimmt und unwillig zu sein und wie ein Lauffeuer verbreitete es sich durch die Stadt, die geringe Theilnahme der Bürger und die gänzliche Abgeschlossenheit der Studenten habe den König erbittert.

Und so war es in der That. Der Beamte, welcher die Vorbereitungen geleitet und Alles, was in seinen Kräften stand, gethan hatte, erhielt einen Verweis, die Polizei den strengsten Befehl, jede mißliebige Aeußerung auf das Schärfste zu strafen.

So rückte der Abend langsam und nicht ohne daß ihm Manche mit Besorgniß entgegen sahen, heran. Von den jugendlichen Köpfen der Studenten befürchtete man noch immer einen unüberlegten Streich. Diese Befürchtung schien sich nicht zu bewahrheiten. Ruhig schritten die Studenten zu dem Vorhaben, dem sie einmal nicht ausweichen konnten. Sie trugen die Fackeln zwar nicht selbst, sondern ließen dieselben durch Knaben tragen, dies pflegten sie indeß öfter zu thun, ihre Chargirten waren auch nicht in dem besten Festwichse, sondern so einfach als möglich gekleidet, doch auch dagegen ließ sich nichts machen, denn es waren ihnen hierüber keine bestimmten Vorschriften ertheilt.

Als sich der Zug in Bewegung setzte, waren sämmtliche Polizisten und Agenten in Thätigkeit. Neben der Präfectur waren Dragoner aufgestellt, um bei der geringsten Störung sofort einzuschreiten.

Ohne Störung langte der Zug vor dem Präfecturgebäude an. Die Musik klang laut und lustig, die Jungen schwenkten die Fackeln, die Studenten gingen ruhig daneben her. In einem Halbkreise stellten sie sich vor der Präfectur auf, rings von einem dichten Volkshaufen umgeben. Einer der Studenten hielt eine kurze Ansprache an den König, welche ihm von dem königlichen Beamten übergeben war. Er sprach sie ohne Ausdruck, schnell, man hörte ihm an, daß er sich beeilte, die unangenehme Aufgabe zu beenden. Die Rede schloß mit den Worten: Vive le roi! Vive l'empereur! Die Musik fiel mit einem Tusch ein, die Agenten und Polizisten riefen laut die Worte nach, allein ihre Stimmen klangen doch vereinzelt selbst durch die rauschenden Klänge der Musik hindurch.

Erst im letzten Augenblicke war der König an der Seite seiner Gemahlin auf dem Balkon des Präfecturgebäudes erschienen. Er schien mißmuthig und verstimmt zu sein, denn er neigte nicht einmal den Kopf zum Zeichen des Dankes. Die Musik fiel auf's Neue ein, die Verpflichteten und Bezahlten riefen auf's Neue ihr Vive le roi! – er hörte es kaum. – Gleichgültig ließ er den Blick über die Menschenmenge zu seinen Füßen hingleiten. Da richtete er das Auge auf die gegenüber liegende Bibliothek und fast in demselben Augenblicke fiel dort die äußere Hülle eines angebrachten großen Transparentes und mit großen rothen Buchstaben leuchtete die Inschrift ihm entgegen.

Kaum hatte sein Auge sie gelesen, so trat er bestürzt einen Schritt zurück, seine Rechte erfaßte das eiserne Geländer des Balkons, gleichsam um sich zu halten, Blässe überzog sein Gesicht, die aber sofort der Röthe des Zornes Raum machte.

Hell, deutlich, groß leuchteten ihm von dem Transparente die beiden Worte entgegen » Pereat Napoleon!«

Aller Augen waren auf den König gerichtet, alle bemerkten sein Zusammenzucken und Erschrecken, sahen, wie er den Blick starr auf die Bibliothek gerichtet hielt. Tausender Augen wandten sich dorthin, fast zugleich lasen Alle die verhängnißvollen Worte und einige Sekunden lang herrschte ringsum das tiefe Schweigen des Erschreckens.

Da rief eine laute Stimme mitten aus dem Kreise der Studenten heraus: Pereat Napoleon! und Studenten, das Volk, viel Tausend Stimmen fielen mit einem Male, wie von einem elektrischen Schlage getroffen, ein: Pereat Napoleon! Pereat Napoleon!

Der König war bestürzt von dem Balkon zurück getreten, die Dragoner sprengten mit gezogenem Säbel auf die Menge ein, welche sich zu dieser Frevelthat hatten hinreißen lassen, Alle suchten in wirrer Hast zu flüchten, Studenten und Bürger; lodernde Fackeln, welche von ihren Trägern fortgeworfen waren, lagen auf dem Erdboden, die Polizei-Agenten suchten mitten in dem Volksgedränge die Schuldigen zu erreichen, sie wurden selbst mit fortgedrängt.

Die Verwirrung war eine heillose. Bestürzung hatte fast die ganze Stadt ergriffen, die Bürger eilten heim und fühlten sich erst sicher, wenn sie ihre Wohnung erreicht hatten. Ja, der allgemeine Schrecken war so groß, daß man kaum zu fragen wagte, von wem das verwegene Werk, welches natürlich sofort durch die Polizei herabgerissen war, ausgegangen sei.

Der König Jerôme war in einer unbeschreiblichen Wuth. Das Transparent galt seinem Bruder; Napoleon, von dessen Spähern er selbst ja umgeben war, mußte dies nothwendig erfahren und er fürchtete dessen Zorn. Die Polizei hatte eine Menge Studenten und Bürger verhaftet, er beruhigte sich damit nicht, den Schuldigen selbst wollte er haben, um an ihm seinen ganzen Groll auszulassen.

Mit den heftigsten, leidenschaftlichsten Vorwürfen überhäufte er seine Umgebung und diejenigen, denen die Aufrechthaltung der Ordnung vor Allem anvertraut war. Man suchte ihn mit der Versicherung, daß es den Nachforschungen der Polizei sicher gelingen werde, den Schuldigen zu erforschen, zu beruhigen, allein er hörte nicht darauf, er wollte ihn noch in derselben Nacht haben.

Die Polizei war in einer schlimmen Lage. Sie gönnte sich nicht einen Augenblick Ruhe, allein in der allgemeinen Verwirrung und Bestürzung war es ihr nicht möglich, irgend eine sichere Spur aufzufinden und zu verfolgen. Nur darüber war sie keinen Augenblick lang in Zweifel gewesen, daß das Transparent von einem Studenten angefertigt sei.

Sie griff deshalb zu dem Mittel, welches sie schon so oft zum Ziele geführt hatte, und sandte ihre geheimen Späher und Agenten in die Wirthshäuser, in denen die Studenten verkehrten, um deren Gespräch zu belauschen, denn es war ja kaum anzunehmen, daß das verwegene Werk von einem Einzigen ausgeführt worden. Doch auch dies Mittel führte sie nicht weiter, denn die Studenten selbst hatten keine Ahnung davon gehabt und sie waren außerdem so vorsichtig, so wenig als möglich darüber zu sprechen.


Heinrich war kurze Zeit nach der so unerwarteten Beendung des Fackelzuges heimgekehrt und hatte sich sofort auf sein Zimmer begeben. Er saß am Schreibtische und hatte den Kopf auf die Hand gestützt, sein Gesicht glühte vor unverkennbarer Aufregung, sein Auge ruhte auf dem vor ihm aufgeschlagenen Buche, dennoch sah er nicht einen Buchstaben.

Er wollte sich mit Gewalt zwingen, ruhig zu sein, wollte mit Gewalt das, was in ihm stürmte, zum Schweigen bringen, allein dies gelang ihm nur für kurze Zeit. Endlich sprang er auf und durchmaß das Zimmer mit hastigen Schritten. Dann trat er an das geöffnete Fenster. Draußen war es bereits stiller geworden, aus der Stadt klangen nur noch einzelne undeutliche Töne zu ihm herüber. Am Himmel glänzten die Sterne so ruhig, als lächelten sie über die kleinen thörichten Menschenkinder, die sich gegenseitig das kurze Dasein erschweren und verkümmern.

Die Thür wurde leise geöffnet. Marie trat ein Heinrich hörte es nicht. Erst als sie dicht neben ihm stand und seinen Namen nannte, fuhr er erschreckt zusammen. Sein Blick fiel, als er sich umwandte, auf ihr bleiches, besorgtes Gesicht. Es war ihm nicht möglich, sich sofort von den Gedanken, welche ihn soeben noch beschäftigt hatten, loszureißen.

»Heinrich, bist Du nicht in der Stadt gewesen?« fragte Marie mit hastiger Stimme.

»Ich bin erst vor kurzer Zeit heimgekehrt,« gab Heinrich zur Antwort.

»Und Du weißt, was vorgefallen ist?«

»Ich weiß es,« erwiderte Heinrich, sich zu einem ruhigen Lächeln zwingend.

»Du hast das Transparent gesehen?«

»Ich habe auch das vieltausendstimmige Pereat Napoleon! gehört.«

»Der König soll außer sich vor Wuth sein,« fuhr Marie fort, »die ganze Stadt ist in Aufregung, die gesammte Polizei forscht nach dem Thäter – bereits sind eine Anzahl Studenten und Bürger verhaftet.«

»Ich kann mir die Wuth des Königs vorstellen,« bemerkte Heinrich lächelnd. »Dies laute und vielstimmige Pereat Napoleon! stimmte schlecht zu dem matten Vive le roi! welches kurz zuvor in seine Ohren gedrungen war. Haha! Ich bedauere, daß ich den König in dem Augenblicke nicht gesehen habe – ich stand zu entfernt von ihm. Uebrigens haben die Studenten und Bürger, welche verhaftet sind, nichts zu befürchten, man muß sie wieder in Freiheit setzen, wenn ihnen nichts nachgewiesen werden kann.«

»Und wenn nun der Schuldige entdeckt wird?« warf das Mädchen ein.

»Dann wird es ihm schlimm ergehen, denn der König dürfte keine Gnade üben,« gab Heinrich zur Antwort.

»Heinrich, Du weißt, wer das Transparent gemacht hat!« sprach Marie, indem sie näher an ihn herantrat und den Ton ihrer Stimme dämpfte. »Du weißt es!«

Der Genannte zuckte unwillkürlich vor dem forschenden Blicke, mit dem sie ihn anschaute, zurück. Er bot Alles auf, um sich zu fassen.

»Mädchen, sei nicht thöricht, woher soll ich das wissen!« entgegnete er. »Ich habe nichts damit zu schaffen.«

»Du weißt es!« wiederholte Marie.

»Ich weiß nichts, und es drängt mich auch nicht, es zu erfahren, denn es ist am besten, sich gar nicht darum zu kümmern, denn die westphälische Polizei macht sich ja kein Gewissen daraus, neben dem Schuldigen auch den Unschuldigen in das Gefängniß zu werfen!«

Marie konnte ihre sich steigernde Aufregung und Angst nicht länger beherrschen. Sie erfaßte den Arm ihres Bruders. Sie rief: »Heinrich, Du – Du hast das Transparent gemacht!«

Der Genannte trat unwillkürlich erschreckt einen Schritt zurück, sein Auge glitt das Zimmer und über die Thür hin, um sich zu überzeugen, daß Niemand das gefährliche Wort gehört habe.

»Marie – Du – Du bist thöricht – ich habe nichts damit zu schaffen,« erwiderte er, sich halb abwendend.

»Du hast es gemacht!« wiederholte Marie. »Heinrich, sieh' mir in das Auge, blick mich an!«

Sie trat dicht vor ihn hin, in seinem Auge, welches nicht lügen konnte, mußte sie die Wahrheit lesen – er wandte sich ab.

Sie wußte die Wahrheit, sie konnte nicht mehr zweifeln.

Vor der Größe der Gefahr brach ihr Muth und ihre Kraft zusammen. Erschöpft sank sie auf einen Stuhl und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, schluchzte sie laut.

Die Thränen der Schwester ergriffen Heinrich schmerzlich, er trat zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter.

»Ja, Marie, ich habe das Transparent gemacht,« sprach er, »ich habe meinen Zweck erreicht. All' die Tausende, welche vor der Präfectur standen, haben bei den Worten, die ich ihnen entgegengehalten, für einen Augenblick lang sich und ihre Lage vergessen und haben dem Könige laut in das Gesicht gerufen, was in ihren Herzen geschrieben steht. Das hat der König zum Wenigsten begriffen, daß dieser Ruf, daß die Worte Pereat Napoleon! aus den Herzen kamen!«

»Du hast Dich und auch uns unglücklich gemacht!« rief Marie schluchzend.

»Sei ruhig, sei ohne Besorgniß,« entgegnete Heinrich.

»Mag die Polizei den Schuldigen suchen, mag sie Alles aufbieten, sie wird ihn nicht finden! Ich habe keinen Gehülfen meiner That – außer Dir weiß Niemand darum und Dein Mund wird mich am Wenigsten verrathen. Absichtlich habe ich mein Vorhaben gegen Jeden geheim gehalten, denn ich wollte nicht fortwährend in Besorgniß schweben, daß ich durch die Unvorsichtigkeit eines Mitwissenden verrathen werden könne, und ich wollte auch Niemand mit mir in das Verderben ziehen, wenn die Polizei wirklich mich entdecken sollte! Sieh', ich wußte, daß die Polizei all' ihre Kräfte und ihren ganzen Scharfsinn aufbieten würde, und mit größter Vorsicht habe ich deshalb jede Spur, welche auf mich hinleiten könnte, verwischt. Nur des Nachts habe ich an dem Transparente gearbeitet, nur des Nachts die einzelnen Theile desselben in die Bibliothek gebracht – Niemand hat mich gesehen, und wenn ich gesehen wäre, so bin ich doch unerkannt geblieben, denn ich habe mich jedesmal unkenntlich gemacht!«

All' diese Worte übten auf Marie keinen beruhigenden Einfluß aus. Sie sah im Geiste den geliebten Bruder von Polizeibeamten und Gendarmen umringt, sie sah, wie er gefesselt fortgeführt wurde, und mochte nicht ausdenken, was sein Geschick war.

»Marie, wodurch bist Du auf die Vermuthung gekommen, daß ich das Transparent gemacht habe?« fragte Heinrich, als ihre Thränen etwas ruhiger flossen.

»Du selbst hast Dich verrathen durch Dein verändertes Wesen. Tage zuvor warst Du ganz anders als gewöhnlich, es fiel mir auf, ich sagte es Dir gestern, denn schon da wußte ich, daß Du irgend Etwas im Sinne hattest.«

»Nun, es kennt mich Niemand besser wie Du und es hat mich auch Niemand so sorgfältig beobachtet,« warf Heinrich ein. »Weiß die Mutter darum?«

Marie schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.

»Dann halte es ihr geheim. Sie soll sich nicht unnöthig Sorgen machen. Marie, nun sei auch Du ruhig und vernünftig. Du sollst sehen, wenn ich morgen ausgehe, und über die Straße hinschreite, werde ich so unbefangen aussehen, als hätte ich von dem ganzen Transparente kaum eine Kenntniß, ich werde der Polizei so offen in's Gesicht schauen, daß sie mich für den unschuldigsten Menschen hält.«

»Nein, Du mußt fliehen, diese Nacht noch,« fiel Marie ein.

»Marie, Du bist aufgeregt,« suchte Heinrich die Schwester zu beruhigen. »Grade durch die Flucht würde ich mich verdächtig machen. Die Polizei würde dadurch aufmerksam gemacht werden, sie würde mir nachforschen und Du weißt, wie schwer es sein würde, ihr zu entgehen, da das ganze Land von ihr wie mit einem Netze überzogen ist. Die Aufregung führt Deine Phantasie zu weit!«

»Mich hat eine namenlose Angst erfaßt, und weicht nicht von mir,« entgegnete Marie. »Flieh', Heinrich, ehe es zu spät ist.«

Sie wurde durch Geräusch von Stimmen unterbrochen, welches in dem kleinen Garten vor dem Hause vernehmbar wurde.

Heinrich trat an das Fenster, blickte hinaus und das Blut wich aus seinen Wangen.

»Was ist das?« fragte Marie in höchster Angst.

»Nichts, nichts,« entgegnete Heinrich, ohne daß er seine Erregung zu verbergen im Stande war. »Sei ruhig – ruhig – es wird nichts sein!«

In demselben Augenblicke wurde bereits die Thüre geöffnet und mehrere Polizeibeamten und Gendarmen traten ein.

Mit halb unterdrücktem Aufschrei sank Marie auf einen Stuhl nieder. Heinrich wußte, was die Eingetretenen wollten, mit aller Kraft bewahrte er seine äußere Ruhe.

»Was wünschen Sie?« trat er den Beamten entgegen.

»Sie zu verhaften!« entgegnete einer der Beamten, ein Polizeicommissar. »Sie haben das Transparent an der Bibliothek angebracht.«

»Ich hoffe, Sie werden mir dies beweisen – ich habe mit dem Transparente nichts zu schaffen gehabt,« gab Heinrich zur Antwort.

»Wir werden es beweisen,« erwiederte der Commissar, »wir wissen Alles. Hoho! Sie hätten etwas vorsichtiger sein müssen, als Sie heute Abend durch das Fenster in das Bibliothekgebäude einstiegen und das Transparent befestigten. Wir haben Zeugen, die Sie beobachtet haben. Der Strafe werden Sie wenigstens nicht entgehen!«

Das Wort Strafe, welches in Marie's Ohr drang, schreckte sie auf. Sie sprang empor und stellte sich gleichsam zum Schutze vor ihren Bruder hin.

»Er ist unschuldig,« rief sie, »–nicht er – ich – ich …«

Sie vermochte nichts weiter hervorzubringen.

»So werde ich auch Sie verhaften lassen,« sprach der Beamte.

Heinrich schob die Schwester zurück und trat vor den Polizeibeamten hin.

»Ich habe das Transparent gemacht,« sprach er, »allein ich gebe mein Ehrenwort zum Pfand, nur ich allein habe darum gewußt, ich habe keinen Theilnehmer, keinen Mitschuldigen. In meiner Schwester ist erst nach dem Fackelzuge der Verdacht aufgestiegen, daß ich der Schuldige sei, deshalb kam sie zu mir. Ich fürchte mich vor der Strafe nicht, allein seien Sie menschlich und lassen Sie nicht auch Andere unschuldig mitleiden – ich allein habe die That vollbracht.«

Eine erschütternde Scene folgte. Marie wollte nicht dulden, daß ihr Bruder gefesselt und fortgeführt werde, auch die Mutter stürzte erschreckt in das Zimmer und warf sich an die Brust ihres Sohnes. Kein Wort des Vorwurfes kam aus ihrem Munde, sie hatte nur den einen Gedanken, daß sie ihn für immer verlieren werde.

Vergebens suchte Heinrich sie zu beruhigen, weil ihm selbst die Ruhe fehlte, denn über das Geschick, welches ihm bevorstand, konnte er nicht einen Augenblick lang in Zweifel sein. Und doch dachte er jetzt nicht an sich, sondern an die Seinigen. Stürzte er nicht auch sie in's Unglück? Mußte er nicht befürchten, daß die Rache des erbitterten Königs sich auch auf sie erstrecken werde! Er war ihre einzige Stütze gewesen, die ganzen Lebenshoffnungen seiner Mutter hatten sich auf ihn gestützt und nun war mit einem Schlage Alles vernichtet und durch ihn – durch ihn!

Verzweiflung erfaßte ihn. War ihm denn jeder Weg zur Rettung abgeschnitten! Sein Auge blickte im Zimmer umher und suchte nach einer Waffe. An der Wand hing ein Schläger, er wollte darauf losstürzen, ihn erfassen und mit Gewalt denen, die ihn zu verhaften gekommen waren, entgegen treten. Ihn kümmerte nicht deren Uebermacht, denn er kämpfte für seine Freiheit und sein Leben.

Der Polizei-Commissair hatte ihn indeß scharf beobachtet und seinen suchenden, wilden Blick richtig gedeutet. Ehe er dazu kam, sein Vorhaben auszuführen, wurde er von den Gendarmen ergriffen und so sehr er sich auch sträubte, seine Kraft unterlag der Uebermacht.

Die Hände wurden ihm gebunden. Verzweiflungsvoll warf sich Marie über ihn, um ihn zu schützen – sie wurde schonungslos von den rohen Händen der Beamten zurückgestoßen. Ohne daß Heinrich Abschied von den Seinen nehmen durfte, wurde er gewaltsam fortgeführt. Marie wollte ihm nachstürzen, ein Polizeibeamter hielt sie zurück und blieb als Wache bei ihr, damit sie das Zimmer und das Haus nicht verlasse. In größter Stille und Heimlichkeit sollte Heinrich's Verhaftung und Fortführung ausgeführt werden, in der Stadt sollte Niemand etwas davon erfahren, wenigstens nicht so lange der König in derselben weilte, weil man nicht ohne Unrecht Die dreifache Verneinung ergibt der sprachlichen Logik nach: »ohne Recht«; die Stelle will aber das Gegenteil besagen; es müsste also lauten »nicht zu Unrecht.« [ D.Hg.] befürchtete, die Studenten würden, wenn sie Heinrich's Verhaftung erführen, sich derselben mit Gewalt zu widersetzen versuchen.

Die Dragoner und Gendarmen waren zwar zahlreich und stark genug, einen solchen Widerstand zu brechen und zurück zu schlagen, es mußte indeß Alles vermieden werden, um den König nicht noch mehr zu erbittern.

Vor dem kleinen Garten stand bereits ein Wagen, um Heinrich aufzunehmen und sofort nach Cassel zu bringen. Die dortigen Gefängnisse waren am sichersten, um ihn so lange in sich aufzunehmen, bis das Urtheil über ihn gesprochen, oder richtiger bis es ausgeführt wurde, denn es war bereits so gut wie gesprochen.

Heinrich setzte den Gendarmen, welche ihn führten, keinen Widerstand mehr entgegen. Willenlos ließ er sich auf den Wagen heben. Zu beiden Seiten von ihm, vor ihm und hinter ihm nahmen Gendarmen Platz, er bemerkte es kaum, denn seine Augen kehrten noch einmal zu den Fenstern des kleinen Hauses zurück, in dem er so glücklich gelebt hatte.

Er glaubte seine Schwester am Fenster zu erblicken, wie sie verlangend die Arme nach ihm ausstreckte, er wollte emporspringen, allein die neben ihm Sitzenden drückten ihn gewaltsam nieder und der Wagen rollte schnell dahin auf der Straße nach Cassel. –

Es war spät in der Nacht. Die Straße war einsam, Wolken hatten die Sterne mehr und mehr verdeckt. Die Bäume, welche zu beiden Seiten der Straße standen, glitten wie dunkle Schatten vorüber. Man vernahm nur das Rollen des Wagens, das Getrappel der Pferde und zuweilen den Zuruf ihres Führers, der sie zu schnellerem Laufe antrieb.

Die Männer auf dem Wagen sprachen kein Wort. Der ganze Tag und vor Allem der Abend hatte sie unausgesetzt in Thätigkeit erhalten, sie waren ermüdet, erschöpft und empfanden das jetzt am Meisten, weil sie ruhig da saßen.

Heinrich war in einen Zustand versunken, der einer völligen Lethargie glich. Die gewaltige Aufregung hatte auch seine Kräfte abgespannt. Er schien zu träumen. Er dachte nicht an das Geschick, welches ihm bevorstand, sondern auffallender Weise eilten seine Gedanken um Jahre zurück in seine Kindheit. Er sah sich im Geiste als Knabe mit anderen Knaben spielen, manchen lustigen Streich führte er mit denselben aus, manchen Kampf kämpfte er mit ihnen durch, und wenn er dann zurückkehrte zu dem kleinen stillen Hause vor dem Thore, dann breitete sich stets die liebevolle, sorgende Hand der Mutter über seinem Haupte aus.

Der Gedanke an seine Mutter rief ihm erst wieder die ganze schreckliche Gewißheit der Lage, in der er sich befand, in das Gedächtniß zurück. Gab es denn kein Mittel der Rettung mehr für ihn, sollte er seine Mutter, seine Schwester nie wiedersehen! Er war zu jung und zu kräftig, um die Hoffnung so schnell aufzugeben. Die Männer an seiner Seite saßen ruhig da, sie schienen sich um ihn nicht zu kümmern, der an beiden Händen Gefesselte saß zu sicher in ihrer Mitte, die geringste seiner Bewegungen mußte ihnen bemerkbar werden und ihre Aufmerksamkeit wachrufen.

Noch hatte er nicht versucht, ob die Stricke, mit denen seine Hände gefesselt waren, so fest saßen, daß eine Lockerung und Befreiung von denselben nicht möglich sei.

Er versuchte es, die Hände aus denselben zu befreien. Sie waren fest gezogen, der geringste Druck, den er ausübte, verursachte ihm heftige Schmerzen. Was kümmerten ihn indeß die Schmerzen, da es seiner Freiheit und seinem Leben galt.

Der Wagen fuhr durch einen Wald, bis dicht an beide Seiten der Straße grenzte derselbe. Er kannte ihn genau, denn zu oft hatte er ihn als Knabe durchstreift und auch später noch. Die Erinnerung an die freien lustigen Stunden in ihm kräftigten seinen Entschluß, das Aeußerste zu versuchen. Und wenn es mißlang – was hatte er zu befürchten – sein Leben war doch ein verlorenes.

Ohne sich zu rühren, um die Aufmerksamkeit seiner Begleiter nicht zu erregen, wandte er die äußerste Kraft an, um die Rechte aus den Fesseln zu ziehen. Er fühlte, wie das Blut an seiner Hand herabrieselte, es kümmerte ihn nicht. Und die Fesseln gaben nach, noch ein schmerzhafter Ruck und seine Rechte war frei.

Vorsichtig, leise streifte er die Stricke von der Linken. Sein Auge suchte in der Dunkelheit nach irgend einer Waffe, er fand keine. Wozu bedurfte er auch der Waffen! Seine Begleiter saßen ruhig da, sie hatten noch nichts bemerkt und lockend winkte ihm der dunkle Wald zu.

Der entscheidende Augenblick war gekommen – jeder Nerv seines Körpers zuckte, gewaltsam nahm er all' seine Kräfte zusammen. Plötzlich sprang er empor, mit der Kraft der Verzweiflung erfaßte er die neben ihm sitzenden Gendarmen und stieß sie von sich, ein verzweifelter Sprung und er war von dem Wagen.

Wohl stürzte er stolpernd in den Graben, allein in demselben Augenblicke raffte er sich wieder empor und floh in den Wald.

Die auf dem Wagen so unerwartet aus ihrer Ruhe Aufgeschreckten stießen laute Flüche aus, mehrere Büchsen blitzten zu gleicher Zeit auf, Heinrich empfand einen stechenden Schmerz in seinem linken Arme, eine der ihm nachgesandten Kugeln hatte ihn getroffen; er achtete nicht darauf, einmal in Freiheit, wollte er dieselbe um jeden Preis bewahren.

Er hörte, wie die Männer vom Wagen sprangen und ihm folgten, die Verzweiflung verlieh ihm indeß Kräfte und einem gehetzten Wilde gleich eilte er weiter und weiter. Mehr als einmal stürzte er über Wurzeln und Baumstämme nieder, er sprang wieder empor und mit derselben Hast weiter, obgleich er seine Verfolger bereits nicht mehr hörte.

Seine genaue Kenntniß des Waldes und der ganzen Gegend kam ihm um so mehr zu statten, je ruhiger er wurde. Daß die Gendarmen in der Verfolgung noch nicht nachgelassen hatten, konnte er sich leicht selbst sagen, denn die Verantwortung derselben war ja eine große und schwere. Der Zorn des Königs traf sie vielleicht mit derselben Strenge, mit der er ihn getroffen haben würde.

Auf dem Wege hatte er nicht überlegt, wohin er fliehen solle, jetzt trat diese Frage um so ernster an ihn heran. Ehe der Morgen hereinbrach, mußte er eine sichere Zufluchtsstätte gefunden haben. Er erreichte sie endlich in einem dichten Tannendickicht – dann brach er erschöpft, ohnmächtig zusammen.


Der König Jerôme verließ am folgenden Morgen die Stadt Göttingen sehr zeitig und zwar in einer heftig erbitterten Stimmung, die durch die Nachricht von der Flucht Heinrich's noch gesteigert war. Sein Besuch war zwar für mehrere Tage berechnet gewesen und das Programm der Festlichkeiten hatte kaum seinen Anfang genommen, er verstand indeß zu wenig, sich zu beherrschen und er wollte auch den Göttingern durch seine schnelle Abreise ein deutliches Zeichen seiner Ungnade geben.

Die Bürger und Studenten ertrugen dieselbe mit der Fassung, welche Männern ansteht, das heißt, sie waren sehr erfreut darüber, ohne daß sie so unvorsichtig waren, diese Freude öffentlich zu zeigen, denn ein großer Theil der Dragoner und Gendarmen blieb auch nach des Königs Abreise in der Stadt zurück, um derartige unruhige Köpfe in Schach zu halten.

In dem kleinen Hause vor dem Thore war der Polizeibeamte bis zum Morgen als Wache zurückgeblieben, weil vor des Königs Abreise die Verhaftung Heinrich's nicht bekannt werden sollte.

Wir brauchen die unsagbar qualvollen Stunden, welche diese eine Nacht für Marie und ihre Mutter brachte, nicht zu schildern. Der, an dem ihr Herz und ihre ganze Hoffnung für die Zukunft hing, war ihnen entrissen und sie konnten über sein Geschick nicht in Zweifel sein.

Mariens entschlossener Charakter drängte sie, Alles aufzubieten, um den Bruder zu retten, der Polizeibeamte hielt sie zurück. Jetzt war derselbe fort, sie durfte das Haus verlassen, sie konnte sich an Andre mit der Bitte, ihrem unglücklichen Bruder zu helfen, wenden. Allein zu wem sollte sie ihre Zuflucht nehmen, wer besaß Einfluß genug, ihn zu retten, wer wollte sich einer so verfänglichen Aufgabe unterziehen?

Der Prorector der Universität, dem ja eigentlich allein das Recht zustand, Heinrich zu bestrafen, war der Regierung, der Polizei und dem Willen des Königs gegenüber machtlos, sie kannte ihn auch nicht. Sollte sie Heinrichs Freunde um Hülfe anrufen? Sie wußte, daß die jugendlichen Herzen und Köpfe derselben Alles aufbieten würden, allein was konnten sie erreichen? Sie ließen sich vielleicht zu Handlungen hinreißen, welche das Geschick ihres Bruders nur noch verschlimmerten.

Rathlos eilten ihre Gedanken von dem Einen zu dem Andern. Wohl hatte ihr Herz sie auf Sanner hingewiesen, allein sie hatte gezögert, diesem Gedanken Raum zu geben. Konnte sie mit solcher Bitte vor ihn hintreten, nachdem ihr Bruder ihn so schroff behandelt hatte? Und doch war er vielleicht der Einzige, der für Heinrich etwas thun konnte. Entschlossen drängte sie endlich jeden Zweifel zurück, überwand die innere Scheu, den Mann aufzusuchen, der ihrem Herzen ja näher stand, als sie sich selbst gestehen mochte. Ohne Zögern warf sie ein Tuch um und verließ das Haus, ohne ihrer Mutter mitzutheilen, was sie vorhatte.

Es war noch früh am Morgen. Auf den Straßen war noch wenig Verkehr. Rasch eilte Marie der Nebenstraße zu, in welcher Sanner wohnte. Es war ihr, als ob Jeder, der ihr begegnete, ihr ansehen müsse, was sie vorhabe. Ihr Herz schlug fast hörbar laut.

Als sie vor dem Hause, in welchem Sanner wohnte, angelangt war, stand sie zögernd still. Durfte sie es wagen, ihn so zeitig am Morgen aufzusuchen? Der Gedanke an den Bruder verscheuchte jedes Bedenken.

Entschlossen, fast hastig trat sie in das Haus und stieg die Treppe empor zu Sanner's Zimmer. Sie fragte nicht, ob er daheim sei, sie pochte an seiner Thür an und als sie sein lautes »Herein« vernahm, durchzuckte es sie fast wie ein electrischer Schlag.

Sie hatte die Hand auf dem Drücker der Thür und wagte nicht, dieselbe zu öffnen. Da machte Sanner selbst die Thür auf und fuhr überrascht zurück.

»Marie Sie – Sie!« rief er. »Kommen Sie – kommen Sie,« fuhr er hastig fort, denn er errieth, was sie zu ihm führte, und zog sie in das Zimmer, dessen Thür er schloß.

Marie stand dem Manne gegenüber, den sie liebte, von dem sie Hülfe erwartete, allein ihr Herz pochte so heftig, daß sie kein Wort hervorzubringen vermochte. Ein leises Zittern der Aufregung durchzuckte ihren ganzen Körper.

»Marie, setzen Sie sich,« bat Sanner. »Ich weiß, weshalb Sie kommen.«

»Retten Sie meinen Bruder,« fiel Marie ein. »Sie allein können es, Sie allein haben die Macht dazu. Vergessen Sie, daß er Sie beleidigt hat, ich weiß, daß die schroffen Worte, die er zu Ihnen gesprochen hat, nicht aus seinem Herzen gekommen sind.«

»Glauben Sie, daß ich jetzt jener Worte noch gedenke?« entgegnete Sanner. »Ich kenne ihn ja, ich habe ihm längst verziehen – Marie, ich würde es schon Ihretwegen gethan haben. Aber Sie verkennen meinen Einfluß und meine Macht – ich kann nichts für ihn thun. Hätte ich eine Ahnung gehabt, daß er einen so tollen und unglückseligen Streich in Absicht hätte, ich würde zu ihm gekommen und ihm abgerathen haben, obschon er mir die Freundschaft aufgekündigt. Als ich es erfuhr, war es bereits zu spät, um ihn zu warnen, zu retten, Gendarmen bewachten bereits Ihr Haus. Ich wußte, was ihm bevorstand und war nicht im Stande, ihm ein einziges Warnungszeichen zukommen zu lassen.«

»Ich habe es geahnt,« rief Marie, »die Veränderung, welche während der letzten Tage mit ihm vorgegangen war, fiel mir auf, ich suchte von ihm zu erfahren, was er im Sinne hatte – er verschwieg es mir. Es ist geschehen, jetzt müssen wir Alles aufbieten, ihn zu retten. Ich kenne seinen Charakter zu genau, er erträgt es nicht, wenn er wegen dieses Jugendstreiches vielleicht längere Zeit im Gefängnisse sitzen muß.«

»Marie, glauben Sie, daß darin seine Strafe bestehen würde?« bemerkte Sanner. »Der König ist wüthend – Heinrich's Tod war bereits so gut wie beschlossen, noch ehe er verhaftet war.«

»Allmächtiger Gott!« schrie das geängstigte Mädchen erschreckt auf. »Sein Tod, sagen Sie!«

Sie war aufgesprungen, sie konnte den schrecklichen Gedanken nicht ausdenken und starr blickten ihre Augen auf Sanner's Mund, um von demselben die Antwort zu vernehmen. So weit waren ihre schlimmsten Befürchtungen nicht gegangen.

»Sein Tod war bereits beschlossen,« wiederholte Sanner, den ganzen Schmerz des unglücklichen Mädchens nachempfindend. »Doch, Marie, Sie wissen noch nicht, daß er in dieser Nacht, auf dem Wege nach Cassel seinen Wächtern entsprungen ist?« fügte er hinzu. »Mit Gewalt hat er sich seiner Fesseln erledigt und ist in der Dunkelheit der Nacht in dem Walde glücklich entkommen!«

Mariens Auge zuckte erfreut auf.

»Sanner – Sie sprechen die Wahrheit?« rief sie.

»Ich spreche die Wahrheit. Schon vor mehreren Stunden kam die Nachricht hier an.«

»Gott sei gedankt,« rief Marie und sank durch die Aufregung erschöpft auf einen Stuhl. Durch Thränen machte sie ihrem geängstigten Herzen Luft.

Mit inniger Theilnahme ruhten Sanner's Augen auf ihr. Er sah, wie in des Mädchens Herzen neue Hoffnung aufgekeimt war, wie ihre Brust sich erleichtert hob. Durfte er diese Hoffnung, auf die er selbst so wenig gab, sich befestigen lassen! Mußte das arme Mädchen nicht doppelt schwer betroffen werden, wenn sie dieselbe in sich nährte und vielleicht nur zu bald erfuhr, wie eitel dieselbe gewesen war?

Er war unentschlossen mit sich selbst. Er sagte sich, daß er das Mädchen nicht täuschen dürfe und doch war es ihm schmerzlich, die Ruhe wieder von ihr zu scheuchen.

Er trat zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter.

»Marie,« sprach er. »Es ist meine Pflicht, Sie nicht zu täuschen – geben Sie der Hoffnung nicht allzu viel Raum. Heinrich ist entflohen, das ist die Wahrheit, allein wie weit wird seine Flucht reichen in einem Lande, das durch die Polizei wie mit einem Netze überzogen ist! Schon ist die ganze Polizei, schon sind hunderte von Gendarmen aufgeboten, seiner Spur zu folgen, ihn zu suchen. Ich selbst habe den Befehl erhalten, den Flüchtling aufzusuchen, ich wünsche eben so lebhaft wie Sie, daß er glücklich entkommen, daß er gerettet werden möge, allein ich habe nur wenig Hoffnung.«

Auf's Neue erregt sprang Marie wieder auf; die Hoffnung, welche sie kaum etwas beruhigt hatte, war wieder geschwunden, neue Angst bemächtigte sich ihrer.

»Sanner,« rief sie, »giebt es denn kein Mittel, ihn zu retten?«

»Ich kenne keins.«

»Sie haben mir gesagt, daß Sie selbst den Befehl erhalten, seiner Spur zu folgen, es liegt ja in Ihrer Hand, ihn entfliehen zu lassen.«

»Marie,« entgegnete Sanner, »läge es in meiner Hand, so könnte ich Ihnen das feste Versprechen geben, daß ich den früheren Freund – Ihren Bruder nicht verrathen und verhaften würde, ja ich würde ihm sogar behülflich sein, sicher zu entfliehen, allein Sie vergessen, daß ich nicht der Einzige bin, der ihm folgt und ihn sucht. Hunderte haben denselben Befehl, verfolgen dasselbe Ziel. Ich bin machtlos, ja ich kann nichts für ihn thun, wenn er durch einen Andern eingeholt und verhaftet wird.«

Marie rang mit sich, um ihren Schmerz und ihre Angst zu beherrschen. »Sie wissen noch nicht, wohin er seine Flucht gerichtet hat?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht; allein es bleibt ihm fast nur ein Weg, eine Möglichkeit der Rettung: daß er den Harz zu erreichen sucht.«

»Folgen Sie ihm dorthin, suchen Sie ihn zu erreichen, zu retten,« sprach Marie, indem sie bittend Sanner's Rechte mit beiden Händen umschloß. »Zu Ihnen allein habe ich Zutrauen, Sanner, deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, ich kenne Ihr Herz, ich weiß, daß Sie ihn nicht in's Verderben stürzen werden! Es würde der Tod meiner armen, unglücklichen Mutter sein, wenn sie wüßte, welches Geschick Heinrich dann bevorstände. Noch beruhigt sie sich durch die Hoffnung, daß die Strafe, welche Heinrich treffen soll, eine milde sein wird. Sie darf nicht erfahren, in welcher Gefahr er sich befindet – Sanner, Sie können vielleicht das Glück von drei Menschen retten, thun Sie es!«

Das Blut war in die Wangen des jungen Mannes gestiegen, als Marie seine Rechte erfaßte und bittend drückte. Er liebte sie ja, der bittende Blick ihres dunkeln Auges drang tief in sein Herz hinein. In diesem Augenblicke empfand er, daß er auch dem Herzen dieses Mädchens nicht gleichgiltig war.

»Marie,« rief er erregt, »ich will all' meine Kräfte aufbieten, ihn zu retten und sollte ich mich selbst dadurch in's Unglück stürzen – ich will es Ihretwegen thun, denn Ihnen – Ihnen, Marie, kann ich keine Bitte abschlagen!«

Dankend blickte Marie zu ihm auf. Ihre Augen begegneten sich und ohne daß ihr Mund ein Wort sprach, schlossen ihre Herzen in diesem Augenblicke einen Bund, der fester und heiliger war, als wenn er durch Tausend Schwüre bekräftigt wäre.

»Nun lassen Sie mich eilen,« fuhr Sanner sich emporraffend, gleichsam von dieser seligen Minute sich losreißend, fort. »Ich darf keine Stunde verlieren, wenn mir nicht Andere zuvorkommen sollen. Meine Vollmacht liegt schon bereit. Nur noch Eins, Marie, – kommt es anders als ich hoffe und wünsche, lassen Sie in Ihrem Herzen keinen Vorwurf gegen mich aufsteigen – ich werde Alles thun, was ich kann.«

»Ich vertraue Ihnen!« gab Marie zur Antwort.

Sie verließ das Zimmer. Sie eilte eben so rasch, wie sie gekommen war, wieder über die Straßen, die sich bereits – mehr belebt hatten. Sie kannte die ganze Größe der Gefahr, in welcher Heinrich sich befand, allein dennoch hoffte sie auf seine Rettung, weil sie wußte, daß Einer ihm Hülfe zu bringen bereit war, Einer – dem sie das größte Vertrauen von allen Menschen schenkte!


Sanner verließ noch an demselben Morgen die Stadt, aber nicht allein, sondern in Begleitung eines geheimen Agenten der Polizei und zweier Gendarmen.

Bevor er aus Göttingen schied, erhielt er noch die Nachricht, daß Heinrich durch die ihm nachgesandten Kugeln verwundet sein mußte, wie die Blutspur, die er zurückgelassen, verrathen hatte. Als der Tag hereingebrochen war, hatte diese Spur seine Verfolger Anfangs geleitet, allein bald hatten sie dieselbe verloren und noch wußte Niemand, wohin er sich gewandt hatte. Bei der Polizei war dadurch die Vermuthung wachgerufen, daß die Verwundung, deren Größe man nach den ziemlich starken Blutspuren beurtheilte, ihm nicht gestatten werde, weit zu gelangen und daß er sich deshalb noch in der Nähe in irgend einem Verstecke aufhalte.

Sanner theilte diese Vermuthung nicht, ohne daß er seinen Begleitern seine Ansicht offen verrieth. Er kannte Heinrichs kräftigen, elastischen Körper, er wußte, daß derselbe die letzten Kräfte aufbieten werde, um seinen Verfolgern zu entkommen, daß er nicht rasten werde, so lange er noch im Stande war, sich fortzubewegen. Es gab nur eine Rettung für ihn – wenn er den Harz erreichte, dessen Schluchten und Wälder selbst die westphälische Polizei nicht zu durchdringen vermochte.

Dort gab es auch noch Menschen, welche ihm bereitwillig die Hand zur Unterstützung reichen würden, wenn sie erfuhren, weshalb er verfolgt wurde.

Aber erst jetzt wurde er sich der ganzen Schwierigkeit und Gefahr seiner Aufgabe bewußt. Er mußte Heinrich's Spur entdecken, sie verfolgen und doch gleichzeitig seinen Begleitern geheim halten. Wäre er allein gewesen, so würde er nicht gezweifelt haben, daß sein Vorhaben ihm gelingen werde, allein er war an seine Begleiter gebunden, er durfte sie nicht verlassen, ohne ihren Verdacht zu erregen.

Die westphälische Polizei war nur dadurch so mächtig, daß sie unter ihren eigenen Beamten Leute zählte, welche ihre eigenen Collegen beobachteten – Spione unter den Spionen.

Wie weit diese Fäden gingen, wer unter den Beamten wieder ein Spion für diese selbst war, wußte nur der Generaldirector der Polizei in Cassel, in dessen Hand all die Fäden zusammenliefen.

Sanner wußte, daß sein Begleiter, der Agent der geheimen Polizei, Namens Würtz, in dem Rufe stand, seine eigenen Collegen und Gefährten zu überwachen, und über dieselben fortwährend nach Cassel zu berichten. Das ganze Wesen dieses Mannes war nur dazu geeignet, diesen Verdacht zu bestätigen.

Würtz war ein Deutscher, aber einer der ehrlosesten, rohesten und schlechtesten Gesellen, die in dem ganzen Königreiche Westphalen lebten. Es war eine lange ausgedürrte Gestalt, welche die Gicht, die ihn häufig heimsuchte und nur eine Folge seines wüsten Lebens war, etwas zusammen gezogen hatte. Auf diesem langen dürren Körper saß ein verhältnißmäßig sehr kleiner Kopf. Die kleinen grauen, von starken Brauen überschatteten Augen hatten gewöhnlich einen matten, fast lebensmüden Blick, dennoch lag etwas Lauerndes und Stechendes in ihnen, zumal wenn sie aufgeregt waren.

Um das Widerliche und Häßliche des grinsenden Gesichtes noch zu erhöhen, kam hinzu, daß Würtz sich regelmäßig und mit größter Sorgfalt schminkte, wie er überhaupt auf seine äußeren Vorzüge sehr eitel war und sich trotz seines bereits vorgerückten Alters bemühte, bei Frauen und Mädchen Eindruck zu machen.

Dieser Mensch war verschlossen, verschlagen, schlau und heimtückisch. Für Geld würde er ohne Zagen seine Freunde, seine Brüder, seine Eltern, selbst seine Kinder verrathen haben. Es gab nichts, was ihm heilig war, er sann nur auf Befriedigung seiner rohen Sinnlichkeit und Eitelkeit.

Obgleich seine Vorgesetzten ihn verachteten, stand er dennoch bei ihnen gut angeschrieben, weil sie ihn zu Allem benutzen konnten. Er schreckte vor keiner That zurück, wenn sie ihm nur Geld brachte. Er war von Hause aus feige, ein Mensch, der Anderen nur aus einem sicheren Hinterhalte zu schaden suchte, die Geldgier trieb ihn öfter zu verwegenen Thaten.

Dieser Mensch war Sanner's Begleiter und, wie er mit Recht vermuthete, ihm nur deshalb mitgegeben, um ihn zu beobachten.

Sanner besaß außerordentliche Fähigkeiten und konnte der Polizei sehr nützlich werden, wenn er sich den Aufgaben derselben mit größter Hingebung widmete; hieran zweifelten seine Vorgesetzten indeß noch, da es ihnen nicht verborgen geblieben war, daß er sich vorzugsweise aus Noth gedrängt zu der Stellung gemeldet hatte. Es lag ihnen deshalb daran, ihn zunächst zu prüfen und genau zu erforschen.

Sanner wußte, daß er mit einem Male zu einer der hervorragendsten Stellen befördert werden würde, wenn es ihm gelänge, Heinrich aufzufinden. Der ganze Zorn des Königs hastete auf demselben und Jerôme hatte vor seiner Abreise von Göttingen gesagt, daß er Denjenigen reich belohnen werde, welcher den verhaßten Menschen verhafte. Trotzdem war er in seinem Entschlusse, Heinrich zu retten, nicht einen Augenblick lang schwankend.

Würtz schlug einen vertraulichen, rohen Ton gegen ihn an, betrachtete ihn als seinesgleichen und Sanner mußte dies dulden, wenn er nicht Alles vereiteln, ja sich selbst in die größte Gefahr bringen wollte. Es kam diesem Menschen auf Unwahrheiten ja nicht an, er brauchte nur einen ungünstigen Bericht über ihn nach Cassel zu senden – dann war Alles für ihn verloren.

Zum Glück war Sanner klüger und durchschaute seinen Begleiter vollkommen.

Alle Vier waren zu Pferde. Es war ein heißer Tag, als sie auf der Straße nach Herzberg dem Harze zuritten.

Sie konnten nur langsam reiten, da Würtz seiner Gicht wegen sich nur mit Mühe auf dem Pferde hielt. Der Schweiß hatte die Schminke aus seinem Gesichte verwischt und ließ die graugelbe Farbe desselben deutlich hervortreten. Er war in übler Stimmung, denn er fluchte bald über den Entflohenen, bald über die Hitze, bald stöhnte er laut vor Schmerzen. Die Stärkung, die er sich aus einer mit Rum gefüllten Flasche zu verschaffen suchte, war nicht geeignet, die Schmerzen und die Hitze zu mildern.

Schweigend ritt Sanner an seiner Seite.

»Der Flüchtige ist ja wohl ein Freund von Ihnen?« fragte Würtz endlich, indem er ihn mit den kleinen grauen Augen prüfend von der Seite beobachtete.

Ein leichtes Roth schoß wider Willen in Sanner's Wangen.

»Er ist es gewesen,« entgegnete er.

Der Polizei-Agent ließ das Auge fragend auf ihm ruhen.

»Er ist es also nicht mehr?«

»Nein,« erwiderte Sanner kurz, denn das Gespräch war ihm unangenehm.

Würtz schien das zu bemerken und setzte es gerade deshalb fort.

»Worüber haben Sie sich mit ihm verfeindet?« fragte Würtz.

»Unsere Ansichten wichen von einander ab. Mit der Freundschaft hatte es ein Ende, als ich in den Dienst der Polizei trat.«

»Haha! Das paßte Ihrem Herrn Freunde nicht!« rief Würtz roh lachend. »Es muß Ihnen aber doch unangenehm sein, der Spur eines früheren Bekannten zu folgen, und noch unangenehmer, wenn Sie in die Lage kommen, ihn zu verhaften.«

Sanner bemerkte zur rechten Zeit den lauernden Blick des Agenten. Er mußte alle seine Kräfte zusammen nehmen, um sich nicht zu verrathen.

»Nun, ich werde die Unannehmlichkeit zu überwinden suchen,« entgegnete er mit verstelltem Lächeln. »Ich weiß nicht, ob Sie schon in die Lage gekommen sind, daß ein früherer Freund sich für Sie zum Feinde verwandelt hat. Die Feindschaft pflegt dann doppelt erbittert zu sein. Deshalb wünsche ich, daß es gerade mir vergönnt sein möge, die Spur des Flüchtigen zu entdecken und ihn zu verhaften.«

»Haha! Ich kenne Das!« rief Würtz, durch Sanner's Worte vollkommen getäuscht. »Auch ich habe dies durchgemacht. Auch von mir haben sich alle Die, welche sich meine Freunde nannten, abgewandt, als ich in den Dienst der Polizei trat. Ich habe ihnen indeß ihre Freundschaft heimgezahlt! Haha! In dem Gefängniß in Cassel sitzt mehr als Einer, der es bitter bereut, mir seine Freundschaft entzogen zu haben, und ich werde sie Alle dorthin bringen – Alle! Sie sollen mich kennen und fürchten lernen, noch hat mich Niemand unbestraft beleidigt!«

Sein Gesicht nahm einen widerlich hämischen Ausdruck an.

Sanner schwieg.

»Wir können nicht immer zusammen wirken,« fuhr Würtz fort, »wir werden uns öfter trennen müssen, lassen Sie uns ein Bündniß schließen: Wer von uns Beiden den Flüchtling auch zuerst entdecken und verhaften mag, wir wollen die Belohnung theilen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ich bin es,« gab Sanner zur Antwort. »Ja, ich will mehr noch thun, ich will Ihnen die Belohnung allein überlassen, wenn Sie mir in der Verfolgung und den Anordnungen vollständig freie Hand lassen, wenn Sie meine Maßregeln unterstützen.«

Sein Auge begegnete dem lauernden Blicke des Agenten.

Er hatte sich durch diese Worte vielleicht verrathen, der Agent schien Verdacht zu schöpfen.

»Verstehen Sie mich nicht falsch,« fügte er hinzu. »Ich weiß, daß Sie mehr Erfahrung und Klugheit besitzen, Sie gelten ja mit Recht als der tüchtigste Agent, es ist nichts weniger als Mißtrauen, was mich hierzu bewegt, sondern der Wunsch, einen Menschen, den ich hasse, der mir die bittersten Worte gesagt hat, durch eigene Thätigkeit verhaftet zu haben. Es kommt noch dazu, daß ich seine Gewohnheiten und Kräfte am besten kenne, daß ich am leichtesten zu errathen vermag, dies wird er unter den Umständen gethan, diesen Weg eingeschlagen haben. Ihren Rath kann ich mir ja zu jeder Stunde einholen.«

Die Habsucht des Agenten ließ diesen auf den Vorschlag eingehen, indeß schien er den einmal gefaßten Verdacht keineswegs überwunden zu haben.

»Und wie soll es mit dem Berichte nach Cassel gehalten werden, wenn wir wirklich so glücklich sind, den Entflohenen zu ergreifen?« warf er ein.

»Sie geben in dem Berichte an, daß wir beide ihn ergriffen hätten, dann wird man uns beide befördern, und es hat Keiner Nachtheil davon.«

Dies leuchtete Würtz ein. Er konnte in dem Berichte, den er abfaßte, sich ja immerhin das größte Verdienst beimessen.

Sie kamen nur sehr langsam von der Stelle, da sie jedes Dorf auf das Sorgfältigste durchsuchten und die genauesten Nachforschungen anstellten, denn es mußte ihnen vor Allem daran liegen, zuerst die Spur des Flüchtlings zu entdecken. Würtz beobachtete Sanner fortwährend mit den schärfsten Blicken, allein der Eifer, den dieser entwickelte, verscheuchte seinen Verdacht mehr und mehr, und er mußte sich selbst gestehen, daß Sanner eine Erfahrenheit an den Tag legte, als wäre er selbst in dem Dienste der Polizei ergraut.

»Haha! Sie scheinen Geschmack an dem Geschäfte eines Polizisten zu finden!« sprach Würtz. »Es ist mir die liebste Beschäftigung, Jemand zu verfolgen, weil man fortwährend in Aufregung erhalten wird. Jetzt verleidet mir freilich die verdammte Gicht das Vergnügen und es sind außerdem zu Viele hinter dem Wilde her, welches wir jagen. Es wird mich ärgern, wenn ein Anderer uns zuvor käme und ihn verhaftete!«

»Das darf nicht geschehen!« rief Sanner.

»Wollen Sie es hindern?« warf der Agent spöttisch ein.

»Mir sagt ein inneres Gefühl, daß wir ihn verhaften werden!«

»Haha! Sie sind abergläubisch!« rief Würtz lachend. »Sie glauben es fest, weil Sie es wünschen. Ich lasse nie ein solches Gefühl in mir aufkommen, weil es den ruhigen Blick trübt. Es ist mit einem solchen Gefühl nicht anders, als mit einem Rausche. Hat man sich einen recht tüchtigen Hieb getrunken, dann glaubt man auch das wunderlichste Zeug und bildet sich ein, die halbe Welt umstürzen zu können, ist man aber wieder nüchtern geworden, dann begreift man erst, welch ein Thor man gewesen ist!«

 

Tagelang waren sie umhergestreift, ohne von Heinrich die geringste Spur entdeckt zu haben. Sanner's Hoffnung fing bereits an zu schwinden. Es kam hinzu, daß sich Ermüdung bei ihm einstellte, weil er sich Tag und Nacht keine Ruhe gegönnt hatte. Nur der Gedanke an Marie frischte seine Kräfte wieder auf.

Vor der glühenden Mittagssonne hatten sie in einem am Wege gelegenen Wirthshause Schutz gesucht.

Würtz, der an diesem Tage besonders stark der Rumflasche zugesprochen, hatte sich auf eine Bank gelegt und eine Zeitlang geschlafen. Auch Sanner hatte dasselbe zu thun versucht, seine aufgeregten Nerven ließen ihn indeß keine Ruhe finden. Er dachte an die Besorgniß und Angst, in der Marie und deren Mutter sich befanden, er hatte dem geliebten Mädchen versprochen, Alles aufzubieten, um ihren Bruder zu erretten, und ohnmächtig stand er da. Vielleicht war Heinrich bereits gefangen und befand sich an Händen und Füßen gefesselt auf dem Wege nach Cassel. Daß er zum zweiten Male Gelegenheit finden werde, zu entfliehen, daran war nicht zu denken.

Er dachte unwillkürlich an die heiteren, glücklichen Stunden, die er mit Heinrich zusammen verlebt hatte. Er erinnerte sich an die Stunde, in der er Heinrich zum ersten Male besucht und zum ersten Male Marie gesehen hatte.

Die Begegnung war nur eine flüchtige gewesen, dennoch trug er das Mädchen seit dem Augenblicke in seinem Herzen.

Würtz dehnte sich laut gähnend auf der Bank. Die eintretende Wirthstochter, ein junges und hübsches Mädchen, brachte den alten Wüstling empor. Er vergaß seine Gicht und erhob sich schnell von der Bank.

Mit schmeichelnden Worten trat er an das befangene Mädchen heran, strich ihm mit der dürren Hand über die Wangen und suchte es zu umfassen, das Mädchen wollte sich ihm entziehen.

»Hoho! Mein Schätzchen!« rief er mit seiner etwas heiseren Stimme. »Ich habe schon ganz andere Täubchen, wie Du bist, gekirrt! Sei nicht so spröde, als ob sich nach diesem einsam gelegenen Neste täglich die jüngsten Burschen verliefen und Dir den Hof machten! Still, Du kleine Hexe! Wenn Du wüßtest, wer ich bin, würdest Du Dich weniger zieren. Sieh', es steht in meiner Macht, all' die Burschen, welche Du gern hast, binnen vier und zwanzig Stunden nach Cassel zu schicken, und sind sie erst dort, so können sie getrost für einige Jahre Abschied vom Sonnenlichte nehmen!«

Aengstlich, mit errötheten Wangen blickte das Mädchen gleichsam Hülfe flehend auf Sanner.

Dieser hätte den frechen Menschen am liebsten zurückstoßen und für seine Frechheit züchtigen mögen, aber er war ohnmächtig ihm gegenüber. Um dem Blicke des Mädchens auszuweichen, trat er an das Fenster und blickte hinaus auf die Landstraße, die im glühenden Sonnenschein vor ihn lag.

Unwillkürlich war ihm das Blut in die Wangen geschossen, er mußte es verbergen, damit Würtz es nicht bemerkte.

Auf der Landstraße kam langsam ein mit einem Pferde bespannter und mit einen Leinenplane überzogener Wagen daher. Gleichgiltig ließ Sanner den Blick auf dem Wagen ruhen. Neben dem Fuhrmanne saß vorn auf dem Wagen noch ein zweiter Mann. Der Wagen war noch zu entfernt, um den Mann zu erkennen. Sanner bemerkte indeß, daß er den einen Arm im Verbande trug. »Ha, wenn dieser Mann Heinrich wäre!« schoß es durch seinen Kopf hin, nur flüchtig und dennoch vermochte er diesen Gedanken nicht los zu werden.

»Es ist Thorheit,« sprach er zu sich selbst. »Können nicht auch Andere außer Heinrich am Arme verwundet oder verletzt sein!«

Langsam kam der Wagen näher. Erschreckt zuckte Sanner zusammen – seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht – der Mann mit dem Arm im Verbande war Heinrich.

Einen Augenblick stand Sanner rathlos da. Der Unglückliche war verloren, wenn er nicht rechtzeitig gewarnt wurde, und doch durfte er das Zimmer nicht verlassen, ohne daß es auffiel.

Warf Würtz oder einer der beiden Gendarmen, welche schläfrig am Tische saßen, nur einen Blick durch das Fenster, so mußten sie den Flüchtling bemerken. Sanner's Herz pochte fast hörbar laut. Es gab nur eine Rettung für den, welcher sich scheinbar ganz sorglos näherte.

Sanner öffnete das Fenster, als ob er Kühlung vor der in dem Zimmer herrschenden Schwüle suche, und bog den Kopf hinaus. Einen Hund, der unter dem Fenster lag, rief er lockend und streckte die Hand zu ihm hinab, um ihn schmeichelnd zu klopfen.

Dabei blickte sein Auge verstohlen nach dem sich nahenden Wagen.

Er hätte laut aufjauchzen mögen, als er bemerkte, daß der Flüchtling mit sichtbarer Hast unter die Plane des Wagens kroch und wenige Minuten hinten an demselben hinabglitt und einem nahen Gebüsch zueilte. Er wußte, daß Heinrich ihn erkannt hatte.

Hätte er ihm doch nur ein einziges Wort zurufen können, daß er ihn nicht zu fürchten habe, – aber es ging nicht.

Würtz und die beiden Gendarmen wurden auf den Wagen aufmerksam, als sie das Knarren desselben vernahmen. Prüfend richtete der Agent das Auge auf denselben. Die Tochter des Wirthes war seinen Händen entwischt und seine Laune deshalb eine nicht besonders goldene.

»Halt!« rief er dem Fuhrmann zu, als derselbe sich dem Wirthshause näherte. »Untersucht den Wagen,« befahl er den beiden Gendarmen. »Der scheue Blick des Mannes ist verdächtig und ich denke, unter solcher Plane könnten zehn Flüchtlinge stecken!«

Die Gendarmen eilten aus dem Zimmer und Würtz folgte ihnen, um selbst bei der Untersuchung zugegen zu sein.

Mit pochendem Herzen blieb Sanner am Fenster stehen.

Heinrich war noch immer verloren, wenn der Fuhrmann ihn verrieth.

»Woher kommt Er?« fragte Würtz, ein Verhör mit ihm anstellend.

»Von Göttingen, mein Herr,« gab der Fuhrmann, der durch einen Blick Sanner's mehr Ruhe gewonnen zu haben schien, zur Antwort.

»Und was hat Er auf dem Wagen?«

»Eine Ladung Flachs für Andreasberg.«

»Haha! Flachs ist ein weiches Lager, selbst für Jemand, dem der Arm abgeschossen ist!« rief Würtz und ließ den Wagen durch die Gendarmen untersuchen.

Die Nachforschung blieb erfolglos.

»Ist Er nicht einem jungen Manne unterwegs begegnet, der einen verletzten Arm hatte?« fragte Würtz weiter.

»Nein,« entgegnete der Fuhrmann. »Sie meinen den Studenten, welcher auf den König geschimpft haben soll – ich habe die Worte wieder vergessen.«

»Woher weiß Er dies?«

»Es ist mir in Göttingen erzählt, ehe ich abfuhr und mein Wagen ist bereits mehrere Male auf dem Wege bis hierher durch Gendarmen durchsucht. Ich habe nichts mit Flüchtlingen zu schaffen!«

Trotz dieser Worte schien der Agent durch irgend Etwas Verdacht geschöpft zu haben, denn auch er durchsuchte den Wagen noch einmal und warf einen prüfenden Seitenblick auf den Fuhrmann, den er dann indeß ungehindert weiter fahren ließ.

Sanner athmete erleichtert auf.

»Kennen Sie den Fuhrmann?« fragte ihn Würtz, als er wieder in das Zimmer trat.

»Nein. Ich habe ihn zum ersten Male gesehen.«

»Der Mann warf Ihnen einen Blick zu, als habe er Sie nicht zum ersten Male gesehen, es wäre ja möglich, daß Sie ihm bereits in Göttingen einmal begegnet wären!«

Sanner fühlte, daß ihm das Blut in die Wangen geschossen war, weil das stechende Auge des Agenten auf ihm ruhte.

»Ich habe mich in Göttingen nicht in den Wirthshäusern bewegt, in welchen die Fuhrleute zu verkehren pflegen,« entgegnete er kurz.

»Nun, meine Frage sollte Sie nicht beleidigen,« lenkte Würtz ein, »mir war nur der Blick, den der Mann Ihnen zuwarf, aufgefallen. Und der Fuhrmann selbst gefiel mir nicht – ein verschlagener Gesell!«

Er trat an das Fenster und blickte dem Wagen nach.

Langsam fuhr derselbe auf der Straße hin.

Es wurde Sanner schwer, das, was in ihm vorging, zu verbergen. Er war dem, dem er seit Tagen nachforschte, so nahe und durfte ihm doch nicht folgen. Hätte er nur wenige Worte mit Heinrich wechseln können! Er sann nach, ob es ihm nicht möglich sein werde, sich für einige Stunden von Würtz zu trennen, um Heinrich aufzusuchen – er durfte es nicht wagen, weil er befürchten mußte, der Agent werde ihm, da er einmal Verdacht geschöpft habe, heimlich folgen.

Würtz blieb noch mehrere Stunden in dem Wirthshause, um sich Ruhe zu gönnen und Sanner war gern damit einverstanden, denn Heinrich erhielt dadurch wenigstens einen kurzen Vorsprung.

Als die Hitze nachgelassen hatte, brachen sie endlich auf. Langsam ritten sie auf Herzberg zu. Es war bereits spät am Abende, als sie dort anlangten.

»Folgen Sie mir,« sprach Würtz. »Ich kenne hier einen Wirth, bei dem sind wir am Besten aufgehoben. Sein Haus macht freilich keinen freundlichen Eindruck, allein der Mann führt einen Wein und Rum, wie man ihn in ganz Cassel nicht besser findet. Haha! Und er besitzt zwei Töchter, hübsche Mädchen und auch nicht allzu spröde. Ich kenne den Mann bereits seit Jahren.«

Sanner war gern damit einverstanden. Er selbst war in Herzberg unbekannt und sehnte sich nach Ruhe.

Als sie vor dem niedrigen, am anderen Ende der Stadt gelegenen Wirthshause anlangten, war er dennoch etwas enttäuscht. Es schien eine ganz gewöhnliche Herberge für Fuhrleute zu sein. Würtz liebte freilich solche Orte, denn er traf in ihnen meistens Gäste, die auf der gleichen Bildungsstufe mit ihm standen und seine rohen Scherze belachten, wenn er in heiterer Laune war.

Die Gendarmen nahmen ihnen die Pferde ab, um sie in den Stall zu führen. Sanner trat mit Würtz in das niedrige, mit Rauch erfüllte Gastzimmer. Eine Anzahl Fuhrleute saß in demselben. Zwei Mädchen mit nicht häßlichen, aber rohen Gesichtszügen traten ihnen entgegen.

Die Augen des Agenten leuchteten freudig auf.

»Nun Ihr Hexen, da bin ich wieder!« rief er, den Mädchen vertraulich in die Wangen kneifend. »Haha! Ihr braucht nicht zu verbergen, daß Ihr Euch freut, denn ich weiß schon im Voraus, daß die eine wieder ein neues Tuch, die andere eine Schürze nöthig hat. Still, Ihr Hexen, Ihr sollt beides haben! Wo ist denn der Alte, Euer Vater?«

Das eine der Mädchen erwiderte, daß ihr Vater soeben einen Gast, der kurze Zeit zuvor angekommen sei, auf sein Zimmer begleite.

»Setzt auch für uns ein Zimmer in Bereitschaft,« fuhr Würtz fort. »Aber zwei gute Betten wollen wir haben, Ihr Hexen. Ich treibe mich schon seit Tagen wieder umher ohne in der ganzen Zeit sechs ruhige Stunden gefunden zu haben, ich muß mich endlich ausruhen. Bin ich morgen früh nicht frisch wie ein Fisch, so ergeht es Euch schlecht und ich reise weiter, ohne Euch Adieu gesagt zu haben!«

Die Mädchen lachten. Sie schienen an diesen Ton gewöhnt zu sein. Das eine von ihnen erfaßte ein Licht, um sie auf das verlangte Zimmer zu bringen.

Als sie die Treppe emporstiegen, hörte Sanner in einem Zimmer, an dessen Thür sie vorüberschritten, die Stimme zweier Männer. Erschreckt fuhr er zusammen – zum Glück ging Würtz vor ihm und konnte es nicht bemerken. Deutlich hatte er Heinrich's Stimme erkannt, er konnte sich nicht täuschen. Das Blut wich aus seinen Wangen. Auch Würtz stand lauschend still. Ha! Sollte auch er Heinrich's Stimme gehört haben! Sanner dachte in diesem Augenblicke nicht daran, daß der Agent den Flüchtling ja nicht kannte.

»Da ist ja der Alte!« sprach Würtz und rief dann laut: »Siegel! Siegel!« den Namen des Wirthes.

Der Gerufene trat aus dem Zimmer. Sanner warf durch die geöffnete Thür einen flüchtigen Blick – er sah einen Mann in blauem Kittel – es war Heinrich.

Er preßte die Hand auf das Herz, weil er befürchtete, das laute Pochen desselben müßte gehört werden.

Zum Glück schöpfte Würtz keinen Verdacht. Er schüttelte dem Wirthe die Hand.

»Da bin ich wieder!« rief er. »Und nun Alter laßt uns ein Essen herrichten, bei dem zwei vollständig erschöpfte Menschen sich erfrischen können. Zuvor aber bringt uns ein Glas Wein. Meine Zunge ist so trocken, als wäre seit vier Wochen kein Tropfen darüber gekommen.! Solch ein heißer Tag trocknet Alles aus!«

»Nun, ich wette, daß sie noch keine zwei Stunden trocken ist, ich kenne ja meine Leute,« entgegnete der Wirth lachend.

»Ich nehme die Wette an. Verloren – Ihr habt sie verloren!« rief Würtz. »Seit drei Stunden bin ich nicht vom Pferde gekommen. Sanner, Sie müssen mir dies bezeugen, Sie müssen auch bezeugen, daß wir um eine Flasche Wein von der besten Sorte gewettet haben! Holt sie – holt sie, Ihr habt die Wette verloren!«

Sanner war nicht im Stande zu antworten, er dachte nur an die Gefahr, in der Heinrich sich befand.

»Hoho!« fiel der Wirth ein. »Das beweist noch nichts. Man kann auch auf dem Pferde trinken, zumal wenn es Einem wegen der Gicht schwer wird abzusteigen. So leicht laß ich mich nicht fangen! Nicht ein Wort ist von einer Flasche Wein die Rede gewesen!«

»Ihr habt die Wette verloren, deshalb müßt Ihr sie bezahlen!« fuhr Würtz in heiterer Laune fort. »Wenn Ihr Euch weigert, so verlassen wir sofort Euer Haus und kehren in einem andern Wirthshause ein. Ich bin eigentlich nur aus Mitleid hierher gekommen. Nun schnell den Wein herbei!«

Der Wirth kannte seinen Gast und ging fort, den Wein zu holen.

»Wir trinken ihn im Gastzimmer!« rief Würtz ihm nach.

Der Agent trat mit Sanner in das für sie bestimmte Zimmer.

»Ein prächtiger Kerl, dieser Alte!« fuhr der Agent in lustigster Stimmung fort. »Wenn Sie erst seinen Wein gekostet haben, werden Sie mir beistimmen. Und er versteht einen Scherz! Er soll sie zum Besten geben, denn dieser alte Fuchs hat mich ohnehin schon manchen Thaler in meinem Leben gekostet!«

Sanner warf sich auf einen Stuhl – er war erschöpft.

Noch mehr sehnte er sich aber nach Ruhe, um nachsinnen zu können, wie er Heinrich warne und rette. Er durfte keine Zeit verlieren, vielleicht hing von wenigen Minuten Alles ab. Würtz brauchte den Wirth nur nach dem Gaste zu fragen – dann war es zu spät.

Er dachte daran, das Zimmer zu verlassen und Heinrich nur ein Wort zuzurufen – er durfte es nicht wagen, da Würtz ohnehin mißtrauisch gegen ihn war. Derselbe konnte zufällig aus dem Zimmer treten, konnte es bemerken – dann war er selbst verloren.

Der Kopf brannte ihm. Gedanken auf Gedanken jagten durch denselben hin und er verwarf sie alle als unausführbar. Er dachte daran, selbst mit Heinrich zu fliehen, die Nacht lag ja vor ihnen, allein er durfte seine bejahrte Mutter nicht hülflos im Stiche lassen. Würtz achtete nicht auf ihn, sondern war damit beschäftigt, sein Gesicht von dem Staube zu reinigen und neue Schminke darauf zu legen. Rasch zog Sanner ein Blatt Papier aus der Tasche und schrieb die flüchtigen Worte darauf: »Fliehe sofort – sofort! die Polizei, die Dich sucht, ist hier im Hause!« Er hoffte auf irgend eine Gelegenheit, Heinrich diesen Zettel zukommen zu lassen.

Für wenige Minuten war der Agent noch mit seiner Toilette beschäftigt – diese Zeit mußte er benutzen.

»Ich werde in das Gastzimmer gehen,« sprach er. »Sie kommen wohl auch bald?«

»Sogleich!« rief Würtz. »Haha! Sanner ich durchschaue Sie! die beiden Mädchen stecken Ihnen im Kopfe! Lassen Sie die Aelteste in Ruhe – die ist für mich – für mich!«

Sanner verließ das Zimmer. Hastig trat er an die Thür des Zimmers, in welchem Heinrich sich befand – er wollte sie öffnen, sie war verschlossen. Er wollte vorsichtig pochen, in demselben Augenblicke trat der Wirth mit dem Weine aus dem Keller – er durfte es nicht mehr wagen.

Rasch schob er den Zettel unter der Thür hindurch in das Zimmer und folgte dann dem Wirthe in das Gastzimmer.

Wenige Minuten später trat auch Würtz ein. Der Wirth füllte die Gläser und langsam schlürfte der Agent das seinige aus.

»Nun Sanner, was sagen sie zu diesem Tropfen?« rief er. »Nicht wahr, in einem solchen elenden Wirthshause sucht man nicht solchen Wein! Haha! dies kommt auch nur daher, weil Siegel selbst gern ein gutes Glas trinkt.«

Der Wein war in der That gut, allein Sanner schmeckte nichts davon, obschon er sein Glas geleert hatte. In peinigender Unruhe saß er da. Hatte Heinrich seinen Zettel gefunden? Gelang es ihm zu fliehen? – diese Fragen beschäftigten ihn. Er mußte jeden Augenblick befürchten, daß Würtz den Wirth nach dem Gaste fragte.

Zum Glück traten die beiden Mädchen wieder ein und nahmen des Agenten ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er sprang auf und ruhte nicht eher, als bis beide an dem Tische Platz genommen hatten.

»Trinkt, trinkt!« rief er ihnen lachend zu. »Euer Alter hat zwei Flaschen von dieser Sorte durch eine Wette verloren, die wollen wir austrinken, ehe das Essen fertig ist!«

»Nichts habe ich verloren!« warf der Wirth ein. »Und jetzt sollen es sogar schon zwei Flaschen sein! Haha! Glaubt Ihr denn, daß mein Keller unerschöpflich ist! Von dieser Sorte liegen nur noch wenige Flaschen darin, dann ist es vorbei damit.«

»Siegel, Ihr sprecht nicht die Wahrheit!« rief Würtz. »An dem Lachen Eurer Mädchen sehe ich es, daß Ihr mich täuschen wollt. Ich werde nachher selbst in Euren Keller steigen und mich überzeugen!«

»Nein, nein,« wehrte der Wirth hastig ab, »das wäre schlimmer als wenn ein Wolf in eine Schafheerde einbräche! Ich kenne Euren Durst! Ihr sagt immer, Ihr habet die Gicht von den vielen Strapazen – von dem Weine rührt sie her! Wenn Ihr weniger tränket, würden sich Eure Beine besser befinden!«

»Still, still Alter!« fiel Würtz ein. »Mädchen, glaubt ihm nicht, Ihr wißt ja, daß er in seinem ganzen Leben noch nicht zehn wahre Worte gesprochen hat! Ich nehme es noch mit dem Jüngsten im Wettlaufe auf, allein wenn man Tag und Nacht auf dem Pferde sitzt, schmerzen Einen zuletzt die Beine! Mädchen, sobald ich mich ein wenig erholt habe, will ich Euch zeigen, wie flott ich noch tanzen kann!«

Der Wein übte seine Wirkung auf ihn aus, er war in lustigster Stimmung.

»Nun, wenn Ihr tanzt, so erbiete ich mich dazu, zu pfeifen!« rief der Wirth lachend.

»Still, Alter!« bemerkte Würtz. »Ihr habt das Pfeifen längst verlernt, weil Eure Frau Euch zu viel vorgepfiffen hat.«

Der Wirth setzte den Scherz fort.

»Wem seid Ihr denn jetzt wieder auf der Fährte?« fragte er endlich. »Wenn Ihr hier einkehrt, so weiß ich schon, daß Ihr irgend einem unglücklichen Menschenkinde das Leben schwer macht.«

»Es ist ein sehr flüchtiges Wild, dem ich diesmal nachjage, ein Vogel, der die Mühe lohnt,« entgegnete Würtz. »Er hat uns freilich schon seit mehreren Tagen nicht zum Athem kommen lassen, allein ich werde ihn dennoch fassen, und dann hat er sein letztes Lied gepfiffen!«

Er erzählte dem Wirthe mit halblauter Stimme, wen sie verfolgten.

Sanner sah, wie der Wirth mit gesteigerter Aufmerksamkeit zuhörte.

»Wie alt ist der Student ungefähr?« fragte er.

»Nun, so alt wie alle Studenten, zwanzig oder einige zwanzig Jahre,« gab Würtz zur Antwort. »Greise pflegen nicht mehr zu studiren.«

»Ihr sagtet, er sei an dem einen Arm verwundet?« fuhr der Wirth fort.

»Eine Kugel ist ihm durch denselben hingefahren. Ich wollte, sie hätte seinen Kopf getroffen.«

»Würtz,« sprach der Wirth, indem er näher an den Agenten herantrat, »ich glaube, den Vogel habe ich im Hause und er hat sich selbst in der Falle gefangen.«

Würtz blickte ihn überrascht, erstaunt an. Er schien indeß noch zu zweifeln, ob der Alte nicht einen Scherz im Sinne habe.

»Kurze Zeit, ehe Ihr hier anlangtet,« fuhr der Wirth fort, »trat ein junger Mann in dem blauen Kittel und der Kleidung eines Fuhrmanns hier ein. Ich schätze ihn auf zwanzig Jahre. Er schien sehr ermüdet zu sein und trug den einen Arm in einem Tuche. Er erzählte mir auf meine Frage, daß er einen unglücklichen Fall gethan habe. Mir fielen sein blasses Gesicht, seine zierlichen und weißen Hände auf. Wer bei Wind und Wetter draußen sein muß, hat eine andere Gesichtsfarbe und auch andere Hände. Was ging mich dies indeß an! Da er ein besonderes Zimmer verlangte, habe ich ihm ein solches gegeben, ich war grade bei ihm, als Ihr mich riefet. Ich denke, es wird der Vogel sein, den Ihr sucht.«

»Er ist es!« rief Würtz emporspringend. »Sanner, Sie kennen ihn, er hat dunkles Haar.«

»Auch das stimmt,« bemerkte der Wirth.

Sanner war kaum im Stande, zu antworten. Er raffte sich indeß zusammen und wollte aus dem Zimmer eilen, um den Flüchtling zu verhaften.

»Halt!« rief Würtz. »Wir wollen vorsichtig sein, damit der Vogel uns nicht entwischt, denn er wird Alles aufbieten, um davon zu kommen, weil er weiß, daß er die Freiheit nie wieder erlangt, wenn ihm zum zweiten Male die Flügel gebunden sind. Siegel, hat er uns kommen sehen?«

»Nein. Er war bereits auf dem Zimmer und dasselbe liegt nach dem Garten hinaus.«

»So ruft die beiden Gendarmen zu mir,« fuhr Würtz fort. »He, Freund,« fügte er zu Sanner gewendet hinzu, »hier hätte ich ihn wahrhaftig nicht vermuthet! Läuft gerade hinein in die Höhle des Löwen und er müßte mehr als ein Hexenmeister sein, wenn er dieselbe anders als gut gebunden wieder verließe. Ich selbst werde ihm die Hände und Füße fesseln und meine Fesseln hat noch Niemand abgeschüttelt. Haha! Ich bin nicht so weichherzig, daß ich mich viel darum kümmere, ob die Stricke ein wenig in das Fleisch schneiden! Wen ich binde, dem kann man nach vier und zwanzig Stunden dreist jede Fessel abnehmen und er ist doch in drei Tagen nicht im Stande, sich von der Stelle zu bewegen!«

Die Gendarmen traten in das Zimmer ein; Würtz ertheilte ihnen seine Befehle. Der Eine von ihnen wurde im Garten unter den Fenstern als Wache aufgestellt, wenn der Flüchtling vielleicht versuchen sollte, durch das Fenster zu entkommen.

»Haut ihn nieder, wenn er sich zur Wehre setzen sollte,« befahl er. »Und Ihr,« wandte er sich an den zweiten Gendarmen, »Ihr begleitet uns auf das Zimmer. Sanner, nun kommen Sie! Sie stehen ja so still da! Ich glaube wahrhaftig, es fehlt Ihnen an Muth, nun es heißt, den Vogel einfangen. Seien Sie ohne Sorge, er wird nicht wagen, sich gegen uns Drei zu widersetzen. Solche Burschen haben gewöhnlich nur das große Wort, bis sie sehen, daß es ernst gemeint ist, dann ziehen sie sich feige zurück.«

Sanner raffte sich zusammen.

»Ich kenne keine Furcht,« entgegnete er. »Ich erbiete mich, ihn ganz allein zu verhaften.«

»Nein, den Spaß lasse ich mir nicht nehmen. Der Bursche hatte die Courage, Pereat Napoleon! auf ein Transparent zu schreiben, weil er hoffte, unentdeckt zu bleiben, Sie sollen sehen, wie er jetzt um Pardon bitten wird! Siegel, schließt für alle Fälle die Hausthüre und dann leuchtet uns!«

Sie traten aus dem Zimmer und stiegen hastig die Treppe empor. Würtz holte rasch aus seinem Zimmer ein Pistol, dann traten sie vor die Thür des Zimmers, in welchem sich Heinrich befand.

Sanner's Wangen waren bleich. Er zitterte vor Aufregung und Besorgniß. Vergebens strengte er sein Ohr an, um in dem Zimmer irgend einen Laut zu vernehmen.

Die Thür war von innen verschlossen.

Würtz pochte heftig, laut an. Drinnen blieb es still.

»Aufgemacht! Im Namen Seiner Majestät des Königs!« rief der Agent, noch lauter anpochend.

Auch jetzt ließ sich drinnen noch kein Laut vernehmen.

»Der Vogel hofft vielleicht, durch das Fenster zu entfliegen, der Weg ist ihm auch versperrt!« fuhr Würtz fort.

Er stieß nun so heftig mit dem Fuße gegen die Thür, daß er vor Schmerz die Zähne aufeinander pressend das gichtkranke Bein zurückzog.

Die Thür gab erst nach, als der Gendarm mit aller Kraft sich dagegen stemmte.

»Im Namen Seiner Majestät des Königs sich nicht gerührt!« Mit diesen Worten drang Würtz gleichzeitig mit dem Gendarm und Sanner in das Zimmer ein. Er hatte das Pistol gespannt und hielt es schußfertig in der Hand.

Das kleine Zimmer war leer. Das Bett stand noch unangerührt da. Betroffen blieb der Agent stehen. Er riß dem Wirthe das Licht aus der Hand und leuchtete unter das Bett, dann stürzte er an das Fenster, ein Flügel desselben stand offen.

»Fort, fort!« rief er mit namenloser Wuth.

Er fragte den Gendarm im Garten unter dem Fenster, ob er den Flüchtling gesehen habe. Dieser hatte Niemand bemerkt.

»Ha! Er ist fort! Hier ist Verrath im Spiele!« rief Würtz.

Sanner durchsuchte eifrig das Bett, nur um sein Gesicht abzuwenden.

»Thorheit,« entgegnete der Wirth, »er hat entweder Euch oder die Gendarmen gesehen, und es vorgezogen, Euren Besuch nicht abzuwarten!«

»Schweigt!« rief der Agent unwillig, denn er war nicht aufgelegt, zu scherzen. Er hatte die reiche Belohnung bereits in der Hand zu haben geglaubt, nun war sie zum Kukuk. »Weshalb habt Ihr mir nicht sogleich gesagt, wen Ihr beherbergtet?« fuhr er erbittert fort.

»Habt Ihr mir vielleicht gesagt, wen Ihr suchtet?« entgegnete der Wirth. »Errathen kann ich das nicht und erzählt hat mir der Bursch auch nicht, daß Ihr auf seiner Fährte wäret!«

Sanner's Herz schlug freudig. Zum zweiten Male hatte er Heinrich gerettet. Er mußte Alles aufbieten, um sich nicht zu verrathen.

»Er kann noch nicht weit gelangt sein,« sprach er.

»Wir müssen ihm ohne Säumen folgen!«

»Dann müssen Sie bessere Augen haben, als eine Eule, Herr,« bemerkte der Wirth. »Der Abend ist dunkel und draußen im Walde ist es noch finstrer. Da kann er sich hinter jedem Baum verstecken und Sie können in einer Entfernung von zwei Schritten an ihm vorübergehen, ohne daß Sie ihn sehen.«

Der Wirth hatte Recht, obschon sich sein Bestreben, die Gäste die Nacht über bei sich zu behalten, leicht errathen ließ.

»Wer sagt Euch denn, daß er in den Wald geflohen ist?« rief Würtz.

»Mein Bischen Verstand, der sich freilich um solche Sachen nie viel gekümmert hat. Allein ich denke, wer den Weg von Göttingen bis hieher zurückgelegt hat, um den Harz zu erreichen, wird nicht ein solcher Thor sein, denselben Weg zurückzulaufen. Der Wald nimmt ihn hier ja gleichsam von allen Seiten mit offenen Armen auf.«

Gegen die Richtigkeit dieser Worte war nichts zu sagen.

»Kann er nicht vielleicht versucht haben, sich hier in der Stadt für die Nacht ein anderes Unterkommen zu verschaffen?« warf Sanner ein.

»Wozu?« entgegnete der Wirth. »Der Hunger zwingt ihn nicht dazu, denn er hat, wie Sie an dem leeren Teller hier auf dem Tische sehen, sich gerade Zeit genug genommen, sich zu stärken. Es war eine tüchtige Portion Essen, damit kann er es zur Noth vierundzwanzig Stunden lang aushalten. Die Zeche zu bezahlen, hat er vergessen!«

»Siegel hat Recht, jetzt wäre es Thorheit, ihm zu folgen!« rief Würtz. Er war in der erbittertsten Stimmung. »Tage lang sind wir vergebens umhergestreift, um seine Spur zu finden, und jetzt ist er uns entwischt, wo er uns sicher war; wenn wir nur kurze Zeit früher eine Ahnung davon gehabt hätten. Der Teufel scheint in dem Burschen zu stecken und ihm beizustehen. Wird es in Cassel bekannt, so wird man es uns obenein als Nachlässigkeit auslegen und unsere Kameraden werden uns auslachen. Das ist der Lohn für all diese niederträchtigen Strapatzen!«

»Wie soll es in Cassel bekannt werden, wenn Sie nichts darüber berichten,« warf Sanner ein. »Ich hoffe, daß wir ihn trotzdem erreichen werden.«

Der Agent schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.

»Ist es ihm gelungen, bis hieher zu kommen, so wird es ihm noch leichter werden, sich zu verbergen, wo jedes Thal, jeder Fels ihm ein sicheres Versteck darbietet, wo ihn jeder Jäger, Holzhauer und Köhler bereitwillig aufnehmen wird, denn diese Harzer sind alle gegen die französische Herrschaft, sie hassen den König, sie hassen die Polizei und freuen sich, wenn sie ihr heimlich entgegenwirken können. Ich kenne sie, ein hinterlistiges, verrätherisches Volk!«

»Nicht Alle!« warf der Wirth ein. »Ihr thut uns wahrhaftig unrecht!«

Würtz antwortete ihm nicht. Er ging hinab in das Gastzimmer, um seinen Groll zu vertrinken. Auch Sanner ließ sich den Wein jetzt schmecken, und hielt nur mit Mühe seine freudige Aufregung zurück. Er mußte um so vorsichtiger sein, weil Würtz dennoch einigen Verdacht gegen ihn zu hegen schien, und noch einmal die Vermuthung aussprach, daß der Entflohene durch irgend Jemand gewarnt sei.

Selbst durch das beste Essen, welches der Wirth hatte bereiten lassen, gewann der Agent seine frühere lustige Stimmung nicht wieder. Um den Aerger zu vergessen, sprach er der Flasche über die Gebühr zu, und wurde einige Stunden später durch den Wirth und Sanner schwer angetrunken zur Ruhe gebracht.

Sanner war zu freudig erregt, als daß er trotz seiner Abspannung das Bedürfniß des Schlafes empfunden hätte.

Noch lange Zeit stand er an dem geöffneten Fenster und blickte hinaus in die Nacht, der Beschützerin des Entflohenen. Seine Gedanken trugen ihn nach Göttingen zurück, nach dem kleinen Hause vor dem Thore. Auch Marie sah er im Geiste am Fenster stehen und betrübt in die Nacht hinausschauen. Könnte er ihr doch zurufen, daß er ihren Bruder bereits zweimal gerettet habe, daß er auch ferner wie sein guter Engel über ihm wachen werde!

Wie des Mädchens Wangen freudig erröthen würden!

Und dann eilten seine Gedanken noch weiter in die Zukunft hinaus. Er wußte noch nicht, wie sein Lebensgeschick sich gestalten werde, dennoch fühlte er sich gleichsam von zwei liebenden Armen fest umschlungen, und dies Gefühl machte ihn glücklich!

 

Als er am folgenden Morgen erwachte und sich rüstete, die Scheinverfolgung fortzusetzen, theilte ihm Würtz mit, daß er unfähig sei, ihn zu begleiten, weil die Gicht mit voller Heftigkeit sich bei ihm eingestellt habe.

Sanner hätte aufjauchzen mögen.

»Meinetwegen verfolgen Sie ihn!« sprach der Agent. »Ich sage Ihnen indeß voraus, daß Sie wochenlang umher schweifen können, ohne daß Sie zwischen diesen verdammten Bergen nur eine Spur von ihm auffinden. Und haben Sie die Spur gefunden, dann seien Sie auf Ihrer Hut, daß nicht irgend eine Kugel Sie eher trifft, ehe Sie am Ziele anlangen!«

Eine Stunde später ritt Sanner, da er auch die beiden Gendarmen zurückgelassen hatte, allein in dem frischen lieblichen Thale der Siewer nach Andreasberg zu. Der Morgen war so prächtig, die Stille ringsum that ihm so wohl, er war von dem Zwange und dem Auge des Spähers befreit und in ihm schlug das Herz schnell und freudig.

»Du wirst ihn erreichen, Du wirst ihn sprechen!« rief es in ihm, »und Du wirst Alles aufbieten, ihn zu retten und Dein Wort einzulösen!«


Als Heinrich auf dem Wagen des Fuhrmanns sitzend den früheren Freund erkannt hatte, und in Folge dessen rechtzeitig geflohen war, hatte er nicht daran gedacht, daß es Sanner's Absicht gewesen sei, ihn zu warnen. Erst durch den Zettel, den er durch Sanner's Hand in dem Wirthshause zu Herzberg erhalten hatte, war es ihm klar geworden, daß Sanner ihn zu retten bemüht war.

In diesem nur von Fuhrleuten besuchten, geringen Wirthshause hatte er sich für die Nacht völlig sicher gewähnt; er bedurfte der Ruhe nothwendig, denn er war bis zum Umsinken erschöpft. Als er durch das Fenster glücklich entkommen, war er ohne bestimmtes Ziel, ohne Kenntniß der Gegend so lange in dem Walde weiter geeilt, bis er zusammen gebrochen war.

Die Gefahren, denen er nur mit größter Mühe und vom Glücke begünstigt, mehrere Male entronnen war, die ihn noch fortwährend umgaben, die übermäßigen Anstrengungen hatten seine Nerven in krankhafter Weise erregt. Er zweifelte nicht, daß seine Verfolger seine Spur entdeckt hatten, fortwährend wähnte er die Tritte derselben zu vernehmen und dann raffte er auf's Neue die letzten Kräfte zusammen und schleppte sich mühsam weiter.

Selbst in den fast unwegsamen Schluchten des Harzes fühlte er sich nicht sicher, er vermied die Dörfer und Wohnungen und nur wenn der Hunger ihn zwang, suchte er die Hütte eines Köhlers auf.

Mit der Kraft seines Körpers war auch sein Lebensmuth geschwunden. Er war oft nahe daran, sich selbst der Polizei auszuliefern, um dem Elende, in dem er sich befand, ein Ende zu machen.

Was hatte er durch seine That erreicht? Sein eigenes Lebensglück vernichtet, für seine Mutter und Schwester unsagbare Angst und Sorgen heraufbeschworen. Der Gedanke, daß Jerôme an ihnen, den Unschuldigen, seinen Zorn auslassen werde, hatte ihn fast zur Verzweiflung getrieben!

Wie ganz anders hatte er sich die Wirkung und die Folgen seines Transparentes im Geiste ausgemalt, als er Nachts auf seinem kleinen Zimmer heimlich daran arbeitete! Er wußte, welche Erbitterung im Volk gegen das französische Joch, gegen die Regierung des Königs Jerôme herrschte. Die kühnen Unternehmungen Kattes, Dörenbergs, Schills Friedrich von Katte (1770-1836) kam im April 1809 mit einem kleinen Kontingent von Freiwilligen bei Sandau über die Elbe nach Stendal, besetzte die Stadt und beschlagnahmte die dortige Staatskasse; dann mobilisierte er etwa 300 weitere Freischärler für den beabsichtigten Marsch auf das von den Franzosen nur schwach besetzte Magdeburg. Hier scheiterte er am Verrat eines Kammerjunkers am Hof Jérôme Bonapartes in Kassel, durch den der französische Befehlshaber in Magdeburg vorgewarnt war. – Wilhelm von Dörnberg (1768-1850) führte am 22. April 1809 in Hessen einen Aufstand gegen die französische Fremdherrschaft an; südlich von Kassel kam es zu einem kurzen Gefecht, das die westphälischen Regierungstruppen mit wenig Mühe gewannen. – Ferdinand von Schill (1776-1809) wollte Ende Mai 1809 mit seinem Freikorps Schillschen Jäger aus Damgarten in Stralsund ein Fanal für die Befreiung von der französischen Fremdherrschaft erreichen. Der französischen Übermacht war der Aufstand nicht gewachsen. Schill selbst fand dabei den Tod. In »Ein deutsches Mädchen« hat Fr. Friedrich die Vorgänge in Stralsund novellistisch gestaltet. [ Anm.d.Hrsg.], welche ein Jahr früher stattgefunden, waren ja von dem ganzen Volke mit dem größten Jubel begrüßt und er schrieb es nur einem verhängnißvollen Geschicke zu, daß sie gescheitert waren. Wohin er hörte, vernahm er nur Erbitterung gegen die Regierung, wohin er sah, bemerkte er so viel Groll in den Gemüthern, so viel Zündstoff aufgehäuft, daß er überzeugt war, es bedürfe nur eines einzigen Funkens und der Stoff müsse explodiren, das erbitterte Volk müsse sich erheben, die Bewegung, der Aufstand müsse sich gleich einer Woge des aufgeregten Meeres weiter wälzen von Dorf zu Dorf, von Land zu Land, bis das schmachvolle Joch zerbrochen und der Feind von deutschem Boden zurückgedrängt sei.

Sein jugendlicher, begeisterter, zur schnellen That geneigter Sinn kannte noch zu wenig den Charakter des deutschen Volkes. Er wußte nicht, daß dasselbe so lange geduldig den Nacken unter das Joch beugt, bis er zu brechen droht, daß es für die Freiheit wohl zu schwärmen, aber nicht zu handeln versteht. So war es damals, so ist es heute noch.

Seine eigene Begeisterung hatte ihn zu weit getragen, nun war er von allen Seiten verlassen. Tausende hatten mit begeistertem Munde Pereat Napoleon! gerufen, dann hatten sich alle ängstlich zurückgezogen. Wie ein gehetztes Wild wurde er verfolgt, und er besaß nicht einmal eine Waffe und die Kraft, sich gegen die Verfolger zur Wehre zu setzen.

Mit solchen trüben verzweiflungsvollen Gedanken lag er am Abhange eines Berges auf dem weichen Moose unter einem Baume. Lautlose Stille herrschte ringsum. Nicht einmal die Stimme eines Vogels vernahm er, denn selbst die Vögel fühlen sich ja aus der Tiefe des Waldes zu der Nähe der Menschenwohnungen hingezogen, gleichsam um den Pulsschlag des allgemeinen Verkehres mitzuempfinden.

Er war matt und hoffnungslos. Die Wunde am Arme, welche bei Ruhe und Pflege schon geheilt sein würde, schmerzte heftig. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt.

Da sah er plötzlich einen großen, schönen Jagdhund vor sich stehen. Der Gedanke, daß der Besitzer dieses Hundes nicht fern sei, durchzuckte ihn, er wollte emporspringen und fliehen, ehe er indeß dazu kam, rief ihm eine nahe Stimme: »Halt!« zu.

Die große und kräftige Gestalt eines Försters, dessen nahende Schritte er auf dem weichen Moose nicht vernommen hatte, trat auf ihn zu. Es war ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, sein Haar und Bart waren ergraut, allein der Körper zeigte noch in jeder seiner Bewegungen eine jugendliche Kraft und Frische. Eine kurze Büchse hing über seiner Schulter, an seiner Seite ein Hirschfänger.

»Wer seid Ihr?« fragte der Förster und seine Stimme klang rauh und befehlend, obschon aus seinen großen Augen eine unverkennbare Offenheit und Gutmüthigkeit leuchtete.

Die trüben Gedanken, aus denen Heinrich soeben aufgescheucht war, die Müdigkeit und Abspannung, die er empfand, das ganze Elend seiner Lage hatten ein Gefühl der Gleichgültigkeit und Abstumpfung in ihm zurückgelassen. Er wollte sich nicht länger gegen sein Geschick anstemmen, ihm war es recht, daß es nun ein Ende nahm. Mehr als das Leben konnte der Zorn Jerôme's ihm auch nicht nehmen.

»Wer seid Ihr?« wiederholte der Förster noch einmal.

»Ein Verfolgter, ein fast zu Tode Gehetzter,« entgegnete Heinrich, die letzten Kräfte zusammen raffend. »Liefern Sie mich der Polizei aus, bringen Sie mich nach Cassel, Sie werden vielleicht eine reiche Belohnung dafür empfangen! Oder besser noch – schießen Sie mir eine Kugel durch die Brust, dann hat all das Elend mit einem Male ein Ende, denn meine Kraft reicht nicht aus, es länger zu ertragen!«

Die Brauen des Försters zogen sich unwillig zusammen.

»Ich bin weder ein Scherge der Polizei, noch ein Henker,« entgegnete er. »Wer verfolgt Euch?«

»Die Polizei. Ha! die ganze Meute ist auf mich losgelassen, sie folgt meiner Spur wie ein Schweißhund der Fährte des angeschossenen Wildes. Länger als acht Tage hetzt sie mich bereits umher, ich werde ihr doch in die Hände fallen, auch ohne Sie!«

Mit gesteigertem Interesse ließ der Förster das Auge auf ihm ruhen. Schon seine Sprache verrieth ihm, daß er ein Anderer war, als der beschmutzte und zerrissene Kittel zeigte.

»Was habt Ihr verbrochen?« fragte er.

Heinrich erzählte, was er gethan hatte, offen, ohne irgend Etwas zu verschweigen.

Des Försters Auge leuchtete auf.

»Das habt Ihr gethan?« rief er und aus dem Tone seiner Stimme klang eine innere Freude hervor.

»Ich habe es gethan,« bestätigte Heinrich, »glaubte freilich, daß es anders kommen werde!«

»Und der König hat die Worte gelesen?« fuhr der Förster fort.

»Er hat sie gelesen und mehr denn Tausend Stimmen haben sie ihm laut entgegengerufen. Er ist wüthend deshalb – und ich werde die Thorheit mit meinem Leben bezahlen!«

»Hoho! Junger Freund, so weit ist es noch nicht!« rief der Förster. »Ich bin kein Verräther! Nur den Kopf hoch! Ha! Ich begreife den Zorn des Königs! Einen solchen Gruß hat er noch nicht gehört, er wird ihm in den Ohren klingen, ihm wird, wenn er sich nach seinen wüsten Schwelgereien zum Schlafen niederlegt, träumen, das ganze Volk wiederhole den Ruf, er halle wieder von Land zu Land und das wird ihn im Schlafe stören! Haha! Er wird in sehr ungemüthlicher Stimmung sein! Aber faßt Muth. König Jerôme soll Euch trotz all seiner Polizei nie in seine Hände bekommen, dafür werde ich sorgen und ich meine es ehrlich – gebt mir die Hand!«

Er streckte Heinrich die Rechte entgegen.

Dieser wußte kaum wie ihm geschah. Er fand Hülfe, wo er bereits die letzte Hoffnung aufgegeben hatte. Und es ist ein eigenes Ding mit dem Leben. Jeder klammert sich daran, obschon für Viele es wirklich kaum der Mühe lohnt. Scheint der Lebensmuth schon vollständig erloschen zu sein, ein einziger Sonnenstrahl facht ihn wieder an, das Blut rinnt wieder frischer durch die Adern und das Herz schlägt pochend einem neuen Leben entgegen.

Heinrich schlug die dargereichte Hand nicht aus.

»Ihr seid erschöpft, halb zu Tode gehetzt!« fuhr der Förster fort, indem er rasch die Büchse ablegte und neben Heinrich niederkniete. »Ich kenne ja die niederträchtigen Schelme, aus denen die ganze Polizei besteht. Die kennen kein Mitleid und kein Erbarmen! Aber in meinem Hause sollt Ihr Euch bald wieder erholen. Seht das liegt nicht fern von hier, rings von Wald umgeben, an dem Abhange eines Berges. Nur ein einziger Weg führt zu ihm, auf dem können die sich nicht heranschleichen, wie ein Dieb bei der Nacht, dafür habe ich meine Hunde, die sich den Kukuk darum kümmern, ob sie einen königlichen Polizeiagenten niederreißen. Haha! Und wenn sie zehnmal Eure Spur bis an die Thür meines Hauses auffinden, drinnen sollen sie Euch doch vergebens suchen! Nun thut einen tüchtigen Zug aus dieser Flasche, das wird Euch stärken. Ich weiß ja, wie schlecht Einem zu Muthe sein kann, wenn man über die Maßen ermüdet ist, da wird der stärkste Muth klein!«

Er reichte ihm aus seiner Jagdtasche eine Flasche, Heinrich trank daraus und fühlte sich in der That bald gekräftigt, schon die unerwartete Hülfe, die er, gefunden, hatte ihn wieder aufgerichtet. Wie eine Mutter war der Förster um ihn besorgt.

»Euren Arm werde ich untersuchen, wenn Ihr erst in meinem Hause seid,« fuhr er fort, »und auch ihn werden wir bald wieder herstellen, denn ein alter Waidmann wie ich, muß sich darauf verstehen, Wunden zu heilen. Fühlt Ihr Euch nun kräftig genug, den Weg bis zu meiner Wohnung zurückzulegen? Er ist nicht weit.«

Neu gekräftigt richtete sich Heinrich von dem Förster unterstützt empor.

»Ihr braucht Euch nicht scheu umzublicken,« sprach der Förster, während sie auf einem Waldwege langsam dahinschritten, »hierher kommt die Polizei so leicht nicht, ich wüßte auch nicht, was sie hier zu suchen hätte! Ihr könnt hier ein ganzes Jahr lang jeden Tag gehen und werdet Niemand treffen als einige Holzhauer oder einen Köhler. Diese Gegend ringsum ist gleichsam eine Freistätte, wohin sich noch keiner von all den Franzosen und Franzosenfreunden, welche jetzt das Land unglücklich machen, gewagt hat!«

Um jede Besorgniß von Heinrich zu verscheuchen, erzählte er ihm, daß von seinem Hause aus ein geheimer Gang führe, welcher oberhalb des Hauses mitten zwischen Felsen münde, zu denen außer ihm Niemand den Weg kenne.

»Seht,« fuhr er fort. »Mein Großvater hat sich den Gang gemacht und Niemand außer meinem Vater und mir und meiner Tochter hat darum gewußt. Mein Großvater ließ sich einen Keller tief in den Felsen hinein sprengen, dabei bemerkte er eines Tages eine kleine Höhlung, welche in dem Felsen emporstieg. Als der Keller fertig war und die Arbeiter ihn verlassen hatten, erweiterte er diese Höhlung und führte sie hinauf bis oben zwischen die Felsen. Niemand wußte darum. Er hatte seinen eigenen Grund, weshalb er dies that. Es wurde damals in seinem Reviere so viel gewilddiebt, wie an irgend einer Stelle auf dem ganzen Harze. Er war nicht der Mann dazu, sein Wild den Wilderern gutwillig preiszugeben, sondern er stand mit denselben fortwährend auf dem feindlichsten Fuße. Furcht kannte er nicht und er hat mehr als einen der frechen Gesellen dem Zuchthause überliefert. Mehr als hundert Mal haben sie ihm den Tod geschworen, mehr als eine Kugel ist auf ihn geschossen, allein keine einzige traf ihn, es war als ob er durch eine höhere Hand beschützt werde. War er im Walde, so wagte keiner der Wilddiebe sich mit der Büchse blicken zu lassen, allein so bald er heimgekehrt war, gaben sie einander Zeichen, denn ihm zum Aerger hatten sie es gerade auf sein Revier abgesehen. Es ging zuletzt so weit, daß sie unfern von seinem Hause Wachen aufstellten, welche ihren Kameraden ein Zeichen geben mußten, wenn er das Haus wieder verließ. Er wußte dies Alles. Da entdeckte er jene Höhlung und stellte den geheimen Gang her. Wenn er nun heimgekehrt war und die Wilderer sich vollkommen sicher wähnten, weil die ausgestellten Wachen ihnen kein Zeichen gaben, dann verließ er öfter auf jenem geheimen Wege das Haus und stand plötzlich mitten unter den Wilderern. Diese begriffen nicht, wie dies zuging, da die Wachen nicht gesehen hatten, daß er das Haus verlassen, es kam noch hinzu, daß ihn bis dahin keine Kugel getroffen hatte, mein Großvater kam in den Ruf, daß er mit dem Teufel im Bunde stehe. Dies war ihm indessen schon Recht, denn nur selten wagte sich noch ein Wilddieb in sein Revier und er hatte Ruhe vor ihnen. Sowohl mein Vater wie ich haben diesen Gang eigentlich nie benutzt, dennoch haben wir ihn stets geheim gehalten, weil wir nicht voraussehen konnten, ob er uns nicht doch einst noch dienen könne und wäre es selbst nur für den Fall, daß die Wilddiebe ihr altes Treiben wiederholen sollten. Die Polizei wird aber diesen Gang nimmermehr entdecken, denn vor dem engen Eingange liegt schon seit Jahren ein altes Faß, hinter dem Niemand etwas vermuthet.«

Nach kurzer Zeit langten sie in des Försters Wohnung an. Dieselbe lag gleichsam versteckt zwischen mächtigen Tannen und Felsen, und Heinrich begriff, daß hierher sich selten der Fuß eines Fremden verirren konnte.

Dammer, so hieß der Förster, lebte in dieser Waldeinsamkeit allein mit seiner achtzehnjährigen Tochter Selma und einem Jäger. Geboren und aufgewachsen in diesem Walde, fühlte er kein Bedürfniß nach Menschen und einem geselligen Leben. Die Bäume ringsum vertraten bei ihm die Stelle der Menschen. Mit ihnen unterhielt er sich geistig, sie schienen zu ihm zu sprechen und jeder einzelne von ihnen Erinnerungen aus seinem einfachen Leben wachzurufen.

Er war ein schlichter, derber, aber durchaus gutmüthiger Charakter. Was er für Recht hielt, vertrat er mit der ganzen Zähigkeit und Unbeugsamkeit seines Charakters.

Er würde eher sein Leben gewagt, als einen Zoll breit nachgegeben haben.

Mit glühender Leidenschaftlichkeit haßte er die Franzosen und vor Allen den König Jerôme, dessen wüstes, ausschweifendes Leben ihn mit Erbitterung erfüllte. Er begriff nicht, daß das Volk sich die Knechtschaft eines solchen Schwächlings gefallen ließ.

Von ihrem Vater hatte Selma das große offene Auge und den gutmüthigen Charakter geerbt. Sie war eine reizende, frische Erscheinung. Unwillkürlich mußte Jeder, der sie sah, sie mit einer frischen Waldblume vergleichen, die am Abhange eines Berges blüht, unberührt von einer Menschenhand. Ihr Sinn war unbefangen und heiter und mit dieser Heiterkeit erhellte sie gleichsam das ganze Leben ihres Vaters, der mit ganzer Liebe an ihr hing. Wohl hatte er früher oft mit dem Schicksal gegrollt, weil es ihm keinen Sohn beschieden, der einst in seine Stelle treten könne, die seit langen Jahren stets ein Dammer inne gehabt hatte, aber als thue er durch solche Gedanken Selma Unrecht, war er dann gegen sie um so zärtlicher, sie machte ihm ja das Leben so heiter und leicht, wie er es nur wünschen konnte, sie küßte jede Falte von seiner Stirn fort.

In diesem Hause fand Heinrich die freundlichste Aufnahme und liebevollste Pflege. Das Herz des Försters hatte er von vornherein durch die Erzählung seiner That gewonnen. Das war nach des Försters Sinn. Lange erwägen und die Folgen abmessen war seine Sache nicht, er war ein Mann der That, unerschrocken und trotz seines grauen Kopfes noch heißblütig. So oft er daran dachte, daß durch Heinrich dem Könige ein tausendstimmiges Pereat Napoleon! zugerufen war, lachte er laut.

»Sieh', Junge,« sprach er zu Heinrich, den er schon nach wenigen Tagen mit diesem vertraulichen Namen nannte, »und wenn die ganze westphälische Polizei anrückt, ich liefere Dich nicht aus. Es sollte ihr schlecht bekommen. Nur von der Seite dort könnten sie sich dem Hause nähern und den Weg bestreiche ich von diesem Fenster aus mit meiner Büchse. Sie sollten erfahren, wie der alte Dammer schießt. Seit meinem achten Jahre gehe ich mit der Büchse um und habe wenig Fehlschüsse in meinem Leben gethan und solch' einen Schergen der Polizei würde ich wahrhaftig nicht verfehlen. Du bleibst hier und wirst ein Waidmann wie ich es bin. Mit Deinem Studiren ist es doch vorläufig vorbei und Du hast einen zu lustigen Kopf, als daß Du Dir denselben dadurch verderben solltest. In dem grünen Rocke eines Jägers wird die Polizei Dich nicht suchen. Lerne nur erst das Leben eines Waidmanns kennen, dann wird es Dich nicht wieder loslassen. Es ist ein unsagbares Gefühl, nur die grünen Wipfel der Tannen, den Himmel und Gott über sich zu haben und sich um keinen Menschen zu kümmern! Hier zwischen diesen Bergen giebt es noch Freiheit, die Brust wird weiter und das Auge fester!«

Heinrich fühlte sich wohl durch dieses Leben angezogen, noch hatte er indeß keinen festen Entschluß für die Zukunft gefaßt.


Die lustige Stimmung und das freie Gefühl, mit denen Sanner gen Andreasberg zugeritten war, waren nur von kurzer Dauer gewesen. Er hatte sein Pferd, welches ihm auf den bergigen Pfaden mehr hinderlich als förderlich sein mußte, in einem Wirthshause zu Andreasberg zurückgelassen und setzte seine Wanderung zu Fuß fort. Die herrliche Natur ringsum erhob ihn. Nie zuvor hatte er diese Gegend betreten. Ueber den Bergen und den hundertjährigen Tannen schwebte ein unentweihter Hauch. Wie erbärmlich erschien ihm gegen diese Riesen, die noch kein Sturm zu brechen vermocht hatte, das ganze Menschendasein mit seinem kleinlichen Neid und Haß!

Halb in Gedanken versunken schritt er auf der Straße dahin. Das laute Pochen eines Schmiedehammers weckte ihn daraus. In geringer Entfernung erblickte er vor sich hart an der Straße gelegen eine Schmiede. Die Krümmung des Weges hatte sie bis dahin seinen Blicken entzogen. Aus der offenen Thür schimmerte ihm das Feuer des Ofens entgegen. Wie lustig der einfache Hammerschlag in der ringsum so stillen Natur klang! Es war der erste Laut von Menschen, der seit Stunden an sein Ohr drang. Er hatte sich nicht darnach gesehnt, die Stille und Einsamkeit des Waldes hatte ihm wohlgethan, dennoch beschlich ihn bei diesem Klange ein heimisches Gefühl.

Vor dem Hause hing das Zeichen einer Schenke, denn der Besitzer schlug nicht allein den Pferden neue Eisen unter, sondern löschte auch den Durst der Fuhrleute, und Eisen wie Durst wurden auf diesem steilen und schlecht bestellten Wege gleich tüchtig mitgenommen.

Dicht an das Haus grenzte ein kleiner Garten, eben groß genug, um wenige Blumen und eine dicht mit Epheu überzogene Laube unter dem Fenster zu fassen.

Mit stillem Behagen ließ Sanner seinen Blick über diese Laube schweifen. Wie viele Jahre mochte der Epheu gebraucht haben, ehe er sie so dicht überzogen und sich an der ganzen Giebelwand empor gerankt hatte!

Einladender konnte dem Wandrer, der auf dem Wege den Berg hinauf den Schweiß mehr als einmal von der Stirn getrocknet hatte, kein Platz winken als die einfache Bank unter dem dunkeln Grün.

Sanner trat ein in den kleinen Garten und ließ sich auf der Bank nieder. Er wollte erst ausruhen, ehe er seine Ankunft dem Wirthe mittheilte. Erschien ihm doch dieser Platz wie eine Freistätte, welche die Gastfreundschaft, die zwischen diesen Bergen noch heimisch war, selbst dem Aermsten gestattete.

In dem Zimmer, dessen eines Fenster sich unmittelbar nach der Laube zu öffnete, vernahm er die Stimmen zweier Männer, welche in lebhaftem Gespräche begriffen waren. Die Gespräche Anderer zu belauschen, war nicht seine Gewohnheit, dazu stand er erst zu kurze Zeit in dem Dienste der Polizei, und dennoch horchte er betroffen und aufmerksam, weil ihm die eine der Stimmen sofort bei dem ersten Laut durch ihren eigenthümlichen Klang aufgefallen war.

Er war zusammen gezuckt, als er ihn vernommen, das war die Stimme des Polizeiagenten. Er suchte über die Lebhaftigkeit seiner Einbildung zu lächeln, Würtz lag ja in dem niedrigen Hause der Schenke und die Gicht hielt ihn vielleicht noch manchen Tag dort fest, dennoch konnte ihn sein Ohr so sehr nicht täuschen. Zu deutlich hatte sich ihm die unangenehme Stimme des Agenten eingeprägt.

Vorsichtig richtete er sich empor, um durch das geöffnete Fenster einen Blick in das Innere des Zimmers zu werfen. Der eine der beiden Männer war offenbar der Wirth, ein geschwärztes Gesicht verrieth zu deutlich, daß er noch kurze Zeit zuvor an dem Amboß gestanden hatte; der Andere schien einer von jenen Hausirern zu sein, welche mit wenigen Waaren das Land durchziehen und mehr durch die Wanderlust als durch den Gewinn, den ihnen dies Geschäft bringt, dazu getrieben werden. Auf der Bank neben ihm lag das Bündel, in welchem er seine wenige Waaren barg.

»Dein Ohr hat Dich dennoch getäuscht!« rief es in Sanner. »Es ist einer jener harmlosen Männer, welche ihre Waaren und die gehörten Neuigkeiten von einem Orte zum andern und ihren Durst durch das ganze Land tragen.« Da wandte der Mann den Kopf zur Seite. Sanner sah das scharf geschnittene Profil des Gesichtes und erschreckt fuhr er rasch zurück, er hatte sich dennoch nicht geirrt, dieser Mann war Würtz.

»Wie kommt er zu dieser Verkleidung? Wie hat er sich so schnell von der Gicht, die ihn noch am Morgen zuvor scheinbar so tüchtig geschüttelt hatte, erholt?« Diese Fragen fuhren durch seinen Kopf hin, ohne daß er sie beantworten konnte.

»Sollte der Verdacht, den er gegen Dich hegt, ihn veranlaßt haben, Dir heimlich zu folgen?« Diese Frage legte er sich weiter vor. Die Unterhaltung, welche in dem Zimmer geführt wurde, nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Ja, Ihr macht Euch von der Wirthschaft, welche in Cassel herrscht, keine Vorstellung,« hörte er den Agenten sprechen. »Haha! Ein sauberer König, geht seinem Lande mit gutem Beispiel voran, was Trinken und Schlemmen und liederliche Frauenzimmer betrifft. Einen Tag geht's wie den andern. Was dort oft an einem Abende verthan wird, davon könnten hundert rechtschaffene Familien ein ganzes Jahr lang leben! Nun, das Land muß das Geld ja aufbringen! An Steuern fehlt's nicht und langen diese nicht zu, so wird es genommen, wo es noch etwas zu nehmen giebt! Lange wird es, denke ich, freilich nicht mehr so fortgehen. Unser einer kommt viel im Lande umher, hört wie die Leute sprechen und sieht, daß bald zum Ausbruche kommen muß, was längst in den Gemüthern heimlich gährt!«

»Es geht nicht so schnell,« bemerkte der Wirth, der ihm aufmerksam zugehört hatte. »Es sind freilich schwere Zeiten, allein ein Jeder trägt es so lange, als er es ertragen kann. Wer Weib und Kind hat, darf nicht Alles auf's Spiel setzen. Es wird einst anders kommen, wann's geschieht, weiß Niemand!«

»Haha! Weil es an Männern fehlt, die etwas Muth in der Brust tragen! Wer so die Herrlichkeit in Cassel sieht, wie sie aufgeputzt ist mit Gold und Glanz, mit Festen und gestickten Uniformen, der läßt sich wohl dadurch blenden, allein innen ist Alles hohl und morsch, ein tüchtiger Stoß wirft das ganze Königthum über den Haufen und Jerôme ist nicht der Mann, es zu halten. Er hat genug mit seinen Liebschaften zu thun, die haben ihm Kraft und Muth geraubt, wenn er Beides je besessen hat! Ich sage Euch, es gährt überall! Ich war jüngst in Göttingen, als auch der König dort war, da hat er gehört, wie es in dem Herzen des Volkes aussieht!«

Er erzählte nun dem Wirthe Heinrich's That und die dadurch hervorgerufene Aufregung.

»Jugendübermuth!« bemerkte der Wirth vorsichtig. »Was hat es dem Studenten genützt? Es kann ihm schlimm ergehen, wenn er entdeckt wird!«

»Das Leben wird es ihn kosten, wenn er entdeckt wird, denn der König ist wüthend. Er ist indeß entflohen und die ganze Polizei sitzt ihm nun auf dem Nacken. Ich bin unterwegs genug Gendarmen und Polizisten begegnet, die seiner Spur folgen. Hierher soll er sich gewendet haben. Mich dauert der junge Mensch! Es wird ihm schwer werden zu entkommen, zumal er durch einen Schuß im Arme verwundet ist. Das ist eine schlimme Mitgabe auf eine Reise, auf der es ohnehin an Mühen und Gefahren nicht fehlt! Ihr müßt ihn leicht erkennen, wenn er hier durch kommt, gebt ihm eine Warnung, daß er auf seiner Hut ist.«

»Hier ist noch Niemand durchgekommen, der ihm gliche,« warf der Wirth ein.

»Der Schlimmste seiner Verfolger ist ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren,« fuhr Würtz fort. »Er ist groß und schlank, sein Gesicht ist bleich, eine Narbe über dem rechten Auge macht ihn leicht kenntlich, gestern oder heut muß er hier durchgekommen sein, habt Ihr ihn nicht bemerkt?«

»Nein,« entgegnete der Wirth. »Nur mir bekannte Fuhrleute sind hier durchgekommen, außer ihnen habe ich Niemand bemerkt.«

»Achtet auf ihn,« sprach der Agent. »Dieser Mensch ist noch vor kurzer Zeit sein Freund gewesen, jetzt verfolgt er ihn!«

Das Gespräch stockte.

Sanner's Herz schlug hörbar laut. Tief in die Ecke der Laube drückte er sich, um nicht gesehen zu werden. Nicht einen Augenblick lang konnte er noch in Zweifel sein, daß Würtz seine Krankheit nur geheuchelt hatte, um ihm heimlich zu folgen und zu beobachten. Sollte er vielleicht hoffen, auch Heinrich's Spur auf diese Weise zu entdecken?

Sanner's Gefühl empörte sich gegen diese heimtückische Hinterlist; er hätte emporspringen und dem Agenten entgegentreten mögen, seine eigene Sicherheit verlangte, sich verborgen zu halten

Wenige Minuten später trat Würtz, ein Bündel auf dem Rücken, aus dem Hause und schlug dieselbe Richtung ein, aus der Sanner gekommen war. Er ging ziemlich rasch und verrieth deutlich, daß die Gicht ihn nicht mehr plagte.

Sanner verbarg sich hinter dem dichten Laube des Epheus. Erleichtert athmete er auf, als die Gestalt des Agenten hinter den Bäumen verschwand. Er trat jetzt vor in das Haus, um eine Erfrischung zu verlangen. Ueberrascht und mit scheuen Blicken betrachtete ihn der Wirth. Schweigend setzte er das Bier, welches Sanner verlangt hatte, auf den Tisch und wollte dann das Zimmer verlassen.

»Bleibt für einige Augenblicke hier,« bat Sanner.

»Was wünschen Sie, Herr?« entgegnete der Wirth mit unwilliger Stimme. »Unser einer hat mehr Arbeit als …!«

Er beendete die Worte nicht.

»Als ein Beamter der Polizei, wollt Ihr sagen,« fügte Sanner lächelnd hinzu. »Ihr mögt Recht haben, allein Ihr habt ja auch dem Manne, der vor wenigen Minuten dies Haus verlassen hat, Gehör geschenkt. Kennt Ihr ihn?«

»Ich kümmere mich nicht um diejenigen, welche hier einkehren, um ein Glas Bier zu trinken. Das Schenkzeichen hängt draußen über der Thür, deshalb muß ich einem Jeden, der es verlangt und bezahlt, Essen und Trinken verabreichen!«

»Haha! Sonst würdet Ihr mir das Glas Bier nicht gegeben haben, weil ich hier die Narbe über dem Auge trage und Ihr mich für einen Polizisten haltet!« warf Sanner ein.

Der Wirth stutzte. Fragend und prüfend blickte er Sanner an.

»Nun, ich will Euch Aufklärung geben. Dort draußen in der Laube habe ich Euer Gespräch mit dem Manne mitangehört. Er hat Euch die Wahrheit erzählt, der Student hat das Transparent gemacht, ist entflohen und wird nun von der Polizei mit größtem Eifer verfolgt. Aber darin hat er Euch belogen, daß ich ihn verfolge, um ihn zu verderben; er hat Euch belogen, indem er sich für einen Hausirer ausgab und unter dieser Maske sich in Euer Vertrauen zu schleichen versuchte. Er ist einer der gefährlichsten Polizeiagenten, sein Name ist Würtz. Er schimpfte auf den König und die in Cassel herrschende Wirthschaft, um Euch zu einigen unüberlegten Worten hinzureißen, dann würde er Euch wahrscheinlich verhaftet und nach Cassel geschleppt haben. Es wäre nicht das erste Mal, daß er solche Mittel anwendet, um die unschuldigsten Menschen in's Unglück zu stürzen und sich selbst seinen Vorgesetzten gegenüber beliebt zu machen.«

»So habe ich mich doch in dem Menschen nicht getäuscht!« rief der Wirth. »Es lag in seinen Augen etwas Lauerndes und Falsches, ich mißtraute ihm und hielt deshalb mit meinen Ansichten zurück. Er mag sich übrigens nicht zum zweiten Male hier sehen lassen.«

»Verrathet nicht, daß Ihr ihn kennt,« warf Sanner ein. »Er ist gefährlicher, als Ihr glaubt, denn sein Gewissen würde ihn nicht im Geringsten belästigen, wenn er Euch in's Elend brächte. Weicht ihm aus, wenn es geht, und kommt er wieder zu Euch, so seid freundlich gegen ihn.«

»Dann hat er mich auch über Sie getäuscht, Herr. Sie sind kein Polizeibeamter?«

Eine leichte Röthe zog über Sanner's Gesicht hin. Es wäre ihm lieber gewesen, der Wirth hätte diese Frage nicht an ihn gerichtet, denn er konnte sich nicht entschließen, ihm die Unwahrheit zu sagen.

»Ich bin Polizeibeamter,« entgegnete er.

Des Wirthes Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an. Er schien zweifelhaft zu werden, ob er ihm oder Würtz Glauben schenken solle.

»Ihr könnt mir vertrauen,« fuhr Sanner fort, da er bemerkte, welchen Eindruck seine Worte hervorgebracht. »Verhältnisse haben mich genöthigt, diese Stellung anzunehmen. Der Flüchtling war mein Freund, ich billige seine That nicht, weil von ihr kein Erfolg zu erwarten war, allein ich will ihn nicht in's Verderben führen!«

»Und doch sind Sie unter seinen Verfolgern?« warf der Wirth ein.

»Ich mußte dem Befehle gehorchen und ich hoffte auch, ihn retten zu können. Ich weiß, daß er sich auf dem Harze befindet, sollte er hierher kommen, so bietet Alles auf, ihn zu retten, die Zeiten bleiben nicht immer dieselben und einst wird es Euch gelohnt werden.«

Der Wirth schwieg. Den Blick ließ er forschend auf Sanner ruhen und schien mit einem Entschlusse zu kämpfen.

»Was würden Sie thun, wenn Sie den Flüchtling träfen?« fragte er.

»Ich weiß es noch nicht, allein ich würde Alles aufbieten, ihn zu retten. Von seinem Leben hängt zugleich noch das Glück anderer Menschen ab. Er hat eine Mutter und Schwester in Göttingen, die seinetwegen in Angst schweben!«

»Nun, ich will Vertrauen zu Ihnen fassen,« entgegnete der Wirth, »weil ich überzeugt bin, daß Ihr Auge nicht lügt. Der, den Sie suchen, ist heute Morgen früh hier durchgekommen. Er trug den blauen Kittel eines Fuhrmanns, allein mein Auge errieth sofort, daß er dies Kleid nur geborgt hatte. Ich habe ihn nicht gefragt, wer er sei, daß er ein Unglücklicher war, sah ich aus seinem Auge. Er schien sehr erschöpft zu sein, dennoch brach er nach kurzer Zeit wieder auf.«

»Wohin hat er sich gewandt?« fragte Sanner hastig.

»Ich habe ihn nicht darnach gefragt, allein er schlug den Weg nach Lauterbach ein. Ob er indeß dorthin gegangen ist, weiß ich nicht. Ich hätte ihm gern meine Hülfe zu Theil werden lassen, wenn er mich darum ersucht hätte.

Er that es nicht und unsereiner muß in diesen schlimmen Zeiten auch vorsichtig sein!«

»Ja, ja!« fiel Sanner ein. »Der Unschuldigste ist nicht mehr sicher Ihr braucht nur das Mißfallen eines Polizeiagenten zu erregen, so läßt Euch derselbe aus der Mitte der Eurigen reißen, und nach Cassel schleppen. Monatelang könnt Ihr dort im Gefängnisse sitzen, ohne daß Ihr nur verhört werdet. Es sind schlimme Zeiten, deshalb seid vorsichtig. Ich hoffe den Flüchtling jetzt einzuholen. Verrathet gegen Niemand, daß derselbe hier gewesen ist und daß ich bei Euch eingekehrt bin!«

Der Wirth versprach es.

 

Ohne Säumen brach Sanner auf, um Heinrich's Spur zu folgen. Dieselbe blieb indeß verloren und tagelang irrte er in der Kreuz und Quer umher, ohne sie zu entdecken. Seine Hoffnung schwand zuletzt, und schon tauchte der Gedanke in ihm auf, nach Göttingen zurückzukehren, denn er hatte ja Alles, was in seinen Kräften stand, gethan.

Unkundig mit den Wegen hatte er sich im Walde verirrt. Fast den ganzen Tag war er umher gestreift, ohne ein Dorf zu treffen oder einem Menschen zu begegnen. Seine Kräfte schwanden mehr und mehr. Von einer Anhöhe sah er endlich in einiger Entfernung Rauch aus dem Walde emporsteigen. In der Hoffnung dort ein Dorf oder eine Försterwohnung zu treffen, brach er sich, um die Richtung nicht zu verlieren, durch ein Tannendickicht Bahn. Die spitzen Nadeln stachen ihm Gesicht und Hände blutig – er achtete wenig darauf.

Endlich erreichte er den Ort, von welchem der Rauch emporgestiegen war, allein seine Hoffnung hatte ihn betrogen. Er erblickte nur den glimmenden Meiler eines Köhlers und in geringer Entfernung davon die einfache aus Tannenzweigen und Moos erbaute Köhlerhütte.

Dennoch schritt er auf die Hütte zu und bereitwillig gab ihm der einfache Bewohner etwas Brot zur Erfrischung. Das nächste Dorf war mehrere Stunden entfernt. Sanner streckte sich auf das einfache Mooslager des Köhlers nieder, um sich zu erholen, ehe er seine Wanderung fortsetzte. Abgespannt und ermüdet wie er war, schlossen sich seine Augen bald zum Schlafe.

Das Gespräch zweier Männer weckte ihn endlich wieder auf. Ein Holzhauer stand neben dem Köhler vor der Hütte. Das Gespräch interessirte ihn nicht. Nur als der Holzhauer erzählte, daß der Förster einen neuen Jäger in Dienst genommen habe und daß der Jäger am Arme verletzt sei, horchte er aufmerksam zu, denn der Gedanke, daß dieser Jäger Heinrich sein könne, war in ihm aufgestiegen.

Er lächelte über sich selbst. »Kann nicht auch ein Jäger sich am Arme verletzt haben?« sprach er zu sich. »Du glaubst, daß es Heinrich sei, weil Du es wünschest, weil Deine Gedanken sich fortwährend mit ihm beschäftigen.«

Er wollte sich auf dem Moose wieder niederstrecken, da fuhr der Holzhauer fort: »Es ist eine eigene Geschichte mit diesem Jäger. Zum Jägerburschen ist er zu alt und ein Jäger kann er nicht sein, denn als der Förster mit ihm zu mir in die Schlucht, wo ich Bäume fällte, kam, setzte er ihm Alles auseinander, wie ein Baum gefällt und dann zersägt wird, wie man ihn von den Bergen ins Thal schafft. Haha! dachte ich bei mir, der ist noch kein Jäger, denn sonst müßte er dies Alles wissen! Und dann ging der Förster auch mit ihm um, als ob es ein Freund von ihm wäre; mit seinen Jägern ist er kürzer angebunden.«

»Und kann es nicht ein Freund oder Verwandter von ihm sein?« warf der Köhler ein.

»Freilich!« bestätigte der Holzhauer. »Er zieht vielleicht einen Verwandten zum Jäger heran, der einst in seine Stelle tritt, da er selbst keinen Sohn hat!«

Der Holzhauer entfernte sich. Die in Sanner aufgestiegene Vermuthung befestigte sich mehr und mehr.

»Wie heißt der Förster, von dem Ihr mit dem Holzhauer sprachet?« fragte er den Köhler.

»Dammer,« entgegnete dieser.

»Wohnt derselbe weit von hier?«

»Dort hinter dem Berge liegt das Försterhaus. In einer Stunde kann man es von hier erreichen, wenn man die Waldwege kennt.«

»Wollt Ihr mich zu ihm bringen?«

Der Köhler zögerte mit der Antwort.

»Kennen Sie den Förster, Herr?« fragte er endlich.

»Nein.«

»Nun, was wollen Sie dann bei ihm?«

»Nichts Schlimmes!« gab Sanner zur Antwort. »Seid ohne Sorge, ich hoffe sogar dem Förster einen Dienst erweisen zu können!«

Jetzt erklärte sich der Köhler bereit, ihm den richtigen Weg zu zeigen.

»Der Förster meint es gut mit Allen, die er kennt,« erzählte er Sanner, während er rasch auf einem kaum sichtbaren Waldwege voraufschritt. »Wir hängen deshalb Alle an ihm. Den Meisten von uns hat er bereits mehr als einmal aus einer schlimmen Lage geholfen, tritt ihm indeß Jemand entgegen oder stellt sich feindlich zu ihm, dann kann er wild werden, und ich möchte dann nimmer Etwas mit ihm zu schaffen haben. Er ist bereits ziemlich hoch in den Jahren, allein an Kraft und Gewandtheit nimmt er es noch mit dem jüngsten Manne auf. Die Dammer sind eine ganz besonders zähe Art; so war sein Vater, so auch sein Großvater, gutmüthig und ehrlich, allein es steckte doch ein heftiges Blut in ihnen.«

»So, nun können Sie nicht mehr irren,« sprach der Köhler endlich, »dieser Weg führt Sie bis zu dem Försterhause.«

Sanner wollte ihm ein Geldstück als Belohnung geben, er lehnte dasselbe ab.

»Der geringe Dienst, den ich Ihnen geleistet habe, ist nicht der Mühe werth,« entgegnete er.

»So kauft Euren Kindern Etwas dafür,« warf Sanner ein. »Mir habt Ihr einen großen Dienst geleistet, und ich würde Euch gern das Doppelte geben.«

Jetzt nahm der Köhler die Gabe an.

Nach kurzer Zeit erblickte Sanner das Försterhaus und das Blut floß schneller durch seine Adern. Stand ihm wieder eine Täuschung bevor? Wenn Heinrich wirklich in diesem so friedlich und abgeschieden gelegenen Hause eine Zufluchtsstätte gefunden hätte!

Er beeilte seine Schritte, um so rasch als möglich hierüber Gewißheit zu erlangen. Als er sich dem Hause näherte, stürzten ihm mehrere große und schöne Jagdhunde laut bellend entgegen. Sie hielten ihn auf dem Flecke, wo er stand, fest. Er war nicht furchtsam, dennoch würde er nicht gewagt haben, einen Schritt vorwärts oder rückwärts zu thun.

In der Thür des Försterhauses erschien ein Mann mit ergrautem Haupte und ließ einen lauten Pfiff hören. Es war der Förster selbst. Augenblicklich wichen die Hunde zurück und ließen Sanner ungehindert, ja ohne nur zu bellen, auf das Haus zuschreiten.

Der Förster war in der Thür des Hauses stehen geblieben; ruhig ließ er das Auge auf dem sich Nahenden ruhen. Als Sanner ihn grüßte, erwiderte er den Gruß kurz und kalt, während er den Blick nicht von ihm wandte.

Sanner fragte ihn, ob er das Vergnügen habe, den Förster Dammer vor sich zu sehen.

»Ja, mein Name ist Dammer,« entgegnete der Förster. »Was wünschen Sie?«

Es lag, obschon keine seiner Mienen Unruhe verrieth, in der ganzen Haltung des Mannes, in dem festen Blicke etwas Herausforderndes.

»Herr Förster, ich habe gehört, daß seit kurzer Zeit ein ein junger Jäger in Ihrem Dienste steht,« begann Sanner. »Bin ich recht berichtet?«

In dem Auge des Försters zuckte es etwas auf, die Brauen zogen sich mehr zusammen.

»Herr ich kenne Sie nicht, ich weiß auch nicht, was Sie mit dieser Frage beabsichtigen,« entgegnete er. »Ehe ich auf irgend eine an mich gerichtete Frage Antwort gebe, muß ich wissen, wohin dieselbe zielt. So habe ich es immer gehalten und so werde ich es auch heute halten. Ich wünsche nichts von Ihnen, sondern Sie etwas von mir, deshalb ist es an Ihnen, mir Aufklärung zu geben. Ich betrete keinen Weg, wenn ich nicht weiß, wohin derselbe führt.«

»Ich wünsche nur den Namen des jungen Mannes zu erfahren,« bemerkte Sanner. »Ich denke diese Frage ist unverfänglich!«

»Und ich werde Ihnen auf keine Frage Antwort geben, bis ich weiß, weshalb Sie fragen!« rief der Förster. »Ich denke, das ist auch unverfänglich!«

»Sie mißtrauen mir,« warf Sanner ein. »Sie haben keinen Grund dazu.«

»Einem Manne, den ich nicht kenne, mißtraue ich nicht, allein ich traue ihm auch nicht. Wenn Sie sich indeß nicht offener erklären wollen – nun dann sind wir fertig und ich wünsche Ihnen glückliche Reise!«

Der Förster wandte sich, um in das Haus zurückzutreten.

»Herr Förster,« sprach Sanner mit gedämpfter Stimme, als fürchte er, daß ein Unberufener ihn hören könne, »der junge Mann, der bei Ihnen weilt, heißt Heinrich Halm!«

Der Förster drehte sich hastig um. Das Blut war ihm in's Gesicht geschossen und er konnte die Bestürzung, die ihn erfaßt hatte, nicht verbergen.

»Und wenn er hundert Mal so hieße, so geht Sie das nichts an, Herr!« rief er heftig. »Er heißt aber nicht so. Nun Gott befohlen! Machen Sie, daß Sie aus meinem Gebiete kommen, denn meine Hunde haben vor ungebetenen Gästen wenig Respect!«

In diesem Augenblicke stürzte ein junger Jäger aus dem Hause.

»Sanner! Sanner!« rief er laut und schloß den Ueberraschten in seine Arme, ehe dieser seiner Freude Worte geben konnte.

»Heinrich! Habe ich Dich endlich gefunden!« rief Sanner.

Der Förster stand ziemlich verlegen daneben.

»Zum Kukuk, Herr!« rief er endlich, auf Sanner zutretend und ihm die Hand entgegenstreckend. »Weshalb stecken Sie denn nicht sogleich die rechte Fahne heraus! Meine Hunde waren wahrhaftig nahe daran, Ihnen den Rückmarsch zu blasen und ich gebe ihnen mein Wort, daß er Ihnen wenig Vergnügen gemacht haben würde! Das kommt von den verdammten Schleichwegen! Ich liebe ein offenes Visir! Durch diesen da kenne ich Sie,« fügte er auf Heinrich deutend hinzu, »und deshalb heiße ich Sie willkommen!« –

Kurze Zeit später saß Sanner in des Försters Zimmer mit Dammer und Heinrich am Tische bei einer Flasche Wein.

Der Förster war in heiterer Stimmung.

»Es ist das erste Mal, daß ein Stück Polizei unter diesem Dache sitzt!« rief er lachend. »Ich hätte es nimmer für möglich gehalten, denn ohne Sie beleidigen zu wollen, Herr, ich liebe die Herren von der Polizei nicht, noch weniger als die Wilddiebe, und die wünsche ich alle zum Kukuk! Unnützes Gesindel!«

»Sehen Sie mich nur als Heinrichs Freund an,« entgegnete Sanner lächelnd, »dann wird sich Ihr Gewissen erleichtert fühlen!«

»Hoho! Mein Gewissen hat nichts damit zu schaffen – dies ist Privatneigung!« rief der Förster. »Doch einem Freunde des Jungen da mag ich nimmer wehe thun! Nun trinken Sie nur aus, denn ich glaube, Sie sind viel umher gelaufen und ganz leicht wird es Ihnen auch nicht geworden sein, dies Nest hier zu finden!«

Sanner erzählte, daß er nur durch einen glücklichen Zufall, durch die Unterhaltung des Köhlers mit dem Holzhauer, hierher geleitet sei.

»Ich werde den Burschen andeuten, daß sie künftig den Mund halten!« entgegnete der Förster. »So gut wie Sie es waren, konnte es auch ein Anderer sein, der ihre einfältigen Reden vernahm. Die Leute haben sich den Kukuk nichts um meine Angelegenheiten zu scheeren! Aber weshalb halte ich sie für dummer als sie sind!«

Das Gespräch kam auf Heinrichs Flucht und Sicherheit. Sanner hielt ihn an diesem Orte nicht für hinreichend gesichert und rieth ihm, weiter zu fliehen, um die preußische Grenze zu erreichen.

»Bleibe noch kurze Zeit hier,« sprach er, »bis die Aufregung und der Eifer der Polizei sich etwas gelegt hat, dann fliehe weiter!«

Mit schlecht verhehlter Unruhe saß der Förster da.

»Heinrich bleibt hier!« rief er endlich. »Bei mir ist er sicherer als an irgend einem andern Orte.«

»Er ist verloren, wenn Würtz seine Spur entdeckt!« warf Sanner ein.

»Hoho! entgegnete der Förster. »So schnell geht's nicht! Und wenn derselbe zehnmal die Spur entdeckt, wie will er in mein Haus gelangen! Herr, hätte ich den Hunden nicht gepfiffen, Sie ständen jetzt noch genau auf demselben Flecke und Sie würden auch morgen früh dort noch stehen, denn die Thiere hätten Sie weder einen Schritt vorwärts noch rückwärts gelassen. Lassen Sie den Mann kommen und versuchen, ob er größere Ausdauer besitzt, oder die Thiere!«

»Und wenn er nun mehrere Gendarmen als Beistand mit bringt?« bemerkte Sanner.

»So werden die Hunde auch diese in gehöriger Entfernung halten. Was soll Heinrich beginnen, wenn er wirklich die preußische Grenze glücklich errreichte! Mit seinem Studiren ist es zu Ende, denn ihm fehlen die Mittel dazu. Er wird ein Waidmann und ich hoffe, kein schlechter, denn ich werde ihn dazu heranbilden!«

»Bist Du damit einverstanden?« fragte Sanner den Freund.

Des Försters Tochter trat in diesem Augenblick in das Zimmer und die leichte Röthe, welche Heinrichs Wangen überzog, war für Sanner bereits eine hinreichende Antwort.

»Ja, ich werde hier bleiben!« rief Heinrich mit einem Ausdruck freudiger Begeisterung. »Ich habe hier nicht allein Hülfe und Schutz, sondern auch ein zweites Vaterhaus gefunden. Ich will Waidmann werden, und wenn die Polizei mich wirklich in diesem neuen Kleide entdecken sollte – lebend wird sie mich nimmermehr nach Cassel bringen!«

»So ist es recht, Junge!« rief der Förster erfreut. »Du bleibst hier und kommt's zum Schlimmsten, dann bin ich auch noch da! Die Polizei mag sich vor der Büchse des alten Dammer in Acht nehmen, die fehlt das Ziel nicht. Haha! Und sie reicht auch weiter, als die Nasen all der Herren!«

Sanner gab sein Vorhaben, Heinrich zur weitern Flucht zu bewegen, auf.

»Dann müssen wir versuchen, die Polizei von Deiner Spur abzulenken,« sprach er. »Du mußt Deiner Mutter einen Brief schreiben, in dem Du ihr mittheilst, daß Du glücklich die preußische Grenze erreicht habest und dieser Brief muß an einem preußischen Orte zur Post gegeben werden.«

»Und wozu soll das dienen?« warf der Förster ein, der Sanner's Absicht nicht begriff.

»Damit die Polizei den Brief liest. Sie wird ihn öffnen, wenn er an Heinrich's Mutter adressirt ist, es werden ja die meisten Briefe durch die Polizei geöffnet und gelesen, ehe sie an ihre Empfänger gelangen.«

»Also nicht einmal das Briefgeheimniß wird mehr bewahrt!« rief Dammer. »So weit ist es mit dieser Regierung bereits gediehen! Ich hasse und verachte sie, allein ich habe doch noch eine bessere Meinung von ihr gehabt! Den Brief Heinrichs werde ich besorgen, in Berlin habe ich einen Verwandten, der soll ihn dort zur Post geben.«

»Wenn die Polizei erfährt, daß Heinrich in Berlin ist, so wird sie die Nachforschungen einstellen,« fuhr Sanner fort.

»Ich werde seiner Mutter und Schwester erzählen, daß er hier eine Zufluchtsstätte gefunden hat.«

»Und daß er hier bleibt und ein Jäger wird,« fügte der Förster hinzu. »Lange kann die französische Wirthschaft in Deutschland unmöglich noch währen; sind die Fremden über den Rhein zurück, dann kann Heinrich das Haupt wieder frei erheben und ich hoffe, er wird seine That nie bereuen!«

»Nein, ich bereue sie nicht!« rief Heinrich, und seine Stimme klang begeistert. »Was ich durch das Transparent ausgesprochen habe, das lebt in viel Tausend Herzen, das ganze Volk empfindet dasselbe, ich werde nie aufhören, die zu hassen, die das Vaterland unterdrückt haben!«

Der Wein machte die Stimmung immer belebter. Auf des Försters Bitten blieb Sanner die Nacht über in dem Försterhause und seit langer, langer Zeit hatte in des Försters Zimmer nicht ein so lustiges Leben geherrscht.

»Seht,« rief der Förster, dessen Wangen von dem Weine glühten, endlich aus, »Ihr macht mein altes Herz wieder jung! Ich kann noch empfinden wie Ihr und ich hielt mein Herz schon für alt und vertrocknet, weil mein Kopf ergraut ist!«

 

Als Sanner am folgenden Morgen das Försterhaus verließ, schüttelte der Förster ihm wie einem Freunde die Hand. Heinrich stand daneben.

»Nun, Heinrich,« sprach Sanner, den der Abschied erregte, »darf ich Dich jetzt wieder Freund nennen?«

Statt der Antwort schloß ihn Heinrich in die Arme.

»Vergiß die Worte, die ich Dir einst gesagt habe!« rief er. »Dein Herz war größer als das meinige, Dein Blick reicht weiter, ohne Deine Freundschaft läge ich jetzt vielleicht schon in der Erde! Nun, ich weiß einen Mund, der Dir noch besser danken wird als ich, grüße meine Schwester und meine Mutter!«

Sanner riß sich aus den Armen des Freundes los und eilte fort. Er hatte jede Begleitung abgelehnt; allein so lange er das Försterhaus noch sehen konnte, erblickte er Dammer und Heinrich in der Thür stehend und der Alte winkte ihm mit der Mütze noch einen Gruß nach.

In heiterer Stimmung schritt er auf dem bergigen Pfade dahin. Er hatte seinen Zweck erreicht und nicht mehr nöthig, für Heinrichs Sicherheit zu bangen. Er malte sich aus, wie er vor Marie hintreten und sagen wolle: »Ihr Bruder ist gerettet, gerettet durch mich!« Er sah im Geiste des Mädchens Freude, wie ihre Wangen sich rötheten, wie ihr Auge dankend auf ihm ruhte.

Er sehnte sich zurück nach Göttingen und auf dem kürzesten Wege eilte er nach Andreasberg, wo er sein Pferd zurückgelassen hatte. Spät am Abende langte er dort an; am andern Morgen wollte er seine Reise fortsetzen. Er konnte dann Göttingen an einem Tage erreichen. Zeitig legte er sich zur Ruhe. Er dachte an Würtz, von dem er nichts wieder gehört hatte. Er hatte keine Lust, ihn zu erwarten, denn derselbe konnte vielleicht noch Tagelang umherschweifen oder schon nach Göttingen zurückgekehrt sein.

Als er am folgenden Morgen erwachte, schien die Sonne bereits freundlich in's Zimmer. Rasch sprang er empor, um den schönen Morgen in dem lieblichen Thale, welches nach Herzberg führt, zu genießen. Da trat unerwartet Würtz in das Zimmer. Er konnte ein unangenehmes Gefühl, welches ihn beim Anblicke dieses Menschen beschlich, nicht verbergen.

»Nun, treffe ich Sie endlich wieder!« rief der Agent mit freundlichem Lächeln, wobei indeß sein Auge mit einem lauernden Ausdrucke auf Sanner ruhte. »Sie scheinen tüchtig umhergestreift zu sein; haben Sie den Flüchtling gefunden?«

»Nein,« entgegnete Sanner. »Nicht die geringste Spur von ihm habe ich entdeckt. Und Sie?«

»Ich bin auch nicht glücklicher gewesen. Der Mensch muß Freunde hier besitzen, welche seine Flucht begünstigt und ihn beim Fortkommen unterstützt haben.«

»Es ist schwer, hier in diesen Wäldern und Schluchten eine Spur zu verfolgen. Jeder Fels bietet fast ein sicheres Versteck dar.«

»Gewiß, gewiß,« bemerkte Würtz mit eigenthümlichem Lächeln, »für Jemand, der diese Gegend genau kennt. Ein Fremder läuft Gefahr, sich zu verirren und im schlimmsten Falle zu verhungern. Ich kenne den Harz!«

»Werden Sie mit nach Göttingen zurückkehren?« fragte Sanner.

»Ja, allein ich reise sofort weiter nach Cassel und auch Sie werden mich dorthin begleiten.«

»Auch ich?« warf Sanner erstaunt ein.

»Ja, denn Sie sind mein Gefangener und ich habe die Pflicht, Sie sicher zu geleiten!«

Erschreckt trat Sanner einen Schritt zurück. Bange Gedanken schossen durch seinen Kopf hin.

»Ihr Gefangener!« rief er. »Weshalb? Was habe ich mir zu Schulden kommen lassen?«

Der Agent zuckte höhnisch lächelnd mit den Schultern.

»Ich habe nur den Auftrag, Sie zu verhaften und nach Cassel zu transportiren. Es ist mir sehr unangenehm, daß gerade ich auserlesen bin, diesen Befehl zu vollziehen, allein Sie wissen, daß Gehorsam die erste Pflicht ist. Ich hoffe, daß Sie sich willig fügen und mir keine Schwierigkeiten bereiten werden, wir sind ja Collegen!«

Es schwindelte Sanner. Nicht einen Augenblick lang war er in Zweifel, daß er nur auf Würtz' Veranlassung verhaftet werde, der schadenfrohe Blick dieses Menschen verrieth es deutlich. Derselbe war ihm ja heimlich gefolgt und hatte ihn beobachtet. Vielleicht hatte er auch Heinrich's Zufluchtstätte entdeckt und wußte, daß er dort gewesen war. Eine harte Strafe erwartete ihn in dem Falle und auch Heinrich war verloren. Sollte er sich ruhig fügen? Was hatte er zu verlieren, wenn auch er floh und den Freund von der ihm drohenden Gefahr benachrichtigte.

All diese Gedanken schossen flüchtig, schnell durch seinen Kopf hin. Der Kraft des Agenten fühlte er sich gewachsen.

»Nein, ich werde mich nicht willig fügen!« rief er. »Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen! Nur Sie tragen die Schuld meiner Verhaftung, Sie haben Falsch es über mich berichtet, haben mich verläumdet, verrathen …!«

Er sprang zur Thür, um zu entfliehen.

»Haha! Glauben Sie, daß ich so thöricht bin, Sie entkommen zu lassen!« rief Würtz lachend.

Sanner riß die Thür auf – zwei Gendarmen traten ihm entgegen.

»Verhaften Sie den Herrn,« sprach Würtz. »Sie sehen, daß er einige Lust hat, zu entfliehen; Sie werden deshalb gut thun, wenn Sie ihn so fesseln, daß er solche thörichten Gedanken aufgiebt. Ich werde mich übrigens selbst überzeugen, wie Sie meinen Auftrag ausführen, ich verstehe Etwas davon.«

Sanner befand sich in einer Aufregung, die er nicht zu beherrschen vermochte. An die überlegenen Kräfte, die ihm gegenüberstanden, dachte er nicht, er hatte nur den einen Gedanken, zu fliehen.

Er stürzte sich auf die Gendarmen, um sie zur Seite zu schieben, und sich gewaltsam den Ausgang zu erkämpfen.

Mit der Kraft der Verzweiflung rang er mit ihnen und der Erfolg wäre vielleicht zweifelhaft gewesen, wäre Würtz nicht auf ihn zugetreten und hätte ihm mit dem Kolben der Pistole, welche er in der Hand hielt, einen Schlag auf den Kopf versetzt.

Halb besinnungslos sank er nieder und wurde nun widerstandslos gefesselt.

Höhnend trat Würtz an ihn heran.

»Sie werden jetzt eingesehen haben, daß mit mir nicht zu spaßen ist,« rief er. »Sie sind so thätig für Ihren Freund, den Flüchtling, gewesen, nun wollen wir sehen, ob auch er Ihnen zu helfen vermag!«

Er zog die Stricke, mit denen Sanner gefesselt war, noch stärker an.

Sanner preßte die Lippen fest auf einander und schwieg.

Daß er von diesem Menschen kein Mitleid erwarten durfte, wußte er. Dunkel zog die Zukunft vor seinem Geiste vorüber. Wohin er die Gedanken auch richtete – nirgend sah er Rettung. Was er für den Freund gethan, wurde ihm selbst zum Unglücke. Er würde sein Geschick ruhiger ertragen haben, hätte ihn nicht der Gedanke an seine alte Mutter, die nun ganz hülflos dastand, schwer niedergebeugt.

Langsam fuhr der Wagen, auf dem er an Händen und Füßen gefesselt saß, auf der Straße nach Göttingen hin. Der Abend war bereits hereingebrochen, als er sich der Stadt näherte. Sanner hatte noch die Hoffnung, seiner Mutter von seinem Geschicke Kenntniß zu geben; auch diese Hoffnung wurde vereitelt, denn auf Würtz Befehl mußte der Wagen auf einem Nebenwege die Stadt umfahren, ohne sie zu berühren.

Als sie in Cassel anlangten, stieg die Sonne am östlichen Himmelssaume empor, ruhig und golden, gleichsam um Sanner noch einen Gruß aus der Heimath zu überbringen. –


Wochen waren verschwunden.

Von Sanner's Geschicke hatte weder seine Mutter, noch Marie eine Ahnung und vergebens blieb all ihr Nachforschen. Die Polizeibehörde, seine Vorgesetzten, stellten in Abrede, irgend Etwas über ihn zu wissen, und für die unglücklichen Frauen blieb nur die Befürchtung übrig, daß ihm auf dem Harze ein Unglück begegnet sei. Wäre er noch am Leben, so würde er ihnen sicherlich eine Nachricht von sich haben zukommen lassen.

Sanner's Mutter erlag bald dem Schmerze um ihren Sohn, auf den all ihre Lebenshoffnungen gebaut waren. Waren Marie und ihre Mutter auch über Heinrichs Geschick beruhigt, da sie von Berlin aus den Brief erhalten hatten, in welchen er ihnen auf Sanner's Rath seine glückliche Flucht mittheilte, so litt Marie doch unendlich durch die Ungewißheit über das Geschick ihres Geliebten.

Mit vollem Rechte sah sie Sanner als ihren Geliebten an. Hatte derselbe ihr seine Liebe auch noch nicht gestanden, so wußte sie doch, daß ihre Herzen für immer an einander gekettet waren.

Vergebens überdachte sie alle Möglichkeiten, um sich Sanner's Verschwinden zu erklären. Wäre er mit ihrem Bruder geflohen, so würde er ihr doch wohl irgend eine Nachricht von sich gegeben haben; wäre er auf dem Harze verunglückt, so würde doch die Polizei hiervon Kenntniß erhalten haben. Alle Fälle überdachte sie, nur den einen nicht, daß Sanner verhaftet sei und im Gefängnisse sitze.

Sanner hatte in dem engen Raume des Gefängnisses bange Tage und Nächte zugebracht. Nur einmal war er verhört. Er vernahm, daß er angeschuldigt wurde, Heinrich, zu dessen Verfolgung er beordert war, in dem kleinen Wirthshause in Herzberg bei der Flucht unterstützt und seine Verhaftung durch ein ihm gegebenes Warnungszeichen verhindert zu haben. Daß diese Anklage durch Würtz gemacht war, konnte er nicht bezweifeln. Er stellte die That, deren er beschuldigt wurde, in Abrede, obschon er befürchtete, daß dennoch irgend ein Zeuge derselben gegen ihn auftreten könne.

Nach diesem Verhöre schien man ihn gänzlich vergessen zu haben. Allein saß er in seiner Zelle. Der Wärter, welcher ihm täglich Speise und Trank brachte, war ein finsterer Mann, der auf keine Frage antwortete. Vergebens hatte er ihn gebeten, nur wenige Zeilen an seine Mutter zu besorgen, durch welche sie über sein Geschick aufgeklärt werde.

Nicht eine Zeile wurde ihm gestattet. Er war abgeschlossen von allem Leben und es war ihm oft, als ob sein eigenes Leben bereits seinen Abschluß gefunden habe.

Er besaß nicht einen so starken Charakter, daß er, sein Geschick mit Fassung ertragen hätte. Bald erfaßte ihn vollständige Muthlosigkeit und Verzweiflung, dann richtete er wieder mit namenloser Angst all seine Gedanken auf die Flucht. Al seine Versuche, sich die Freiheit zu verschaffen, scheiterten indeß an der Festigkeit des Gefängnisses. Das eiserne Gitter vor dem kleinen Fenster spottete seiner Kraft, die starke Thür war mit Eisen beschlagen, und er besaß kein Instrument, um die Mauer zu durchbrechen.

Er wußte, welches Verfahren gegen die Gefangenen angewandt wurde, für deren Vergehen man keine genügende Beweise hatte, und die man gleichwohl nicht in Freiheit setzen mochte; man ließ sie im Gefängnisse, ohne sich um sie zu kümmern. Dort waren sie unschädlich, von dort drang ihr lautester Ruf nicht in die Oeffentlichkeit, und die dumpfe Gefängnißluft, die kärgliche Ernährung mußten das Ihrige dazu beitragen, um die Unglücklichen ohne Verurtheilung bei Seite zu schaffen. Ganz in der Stille wurden sie auf dem Kirchhofe begraben, Niemand erfuhr ihren Namen – sie waren todt und damit zugleich vergessen.

Dies Geschick schwebte auch ihm vor und ängstigte ihn. Die schlaflosen Nächte raubten ihm die Kräfte. Es war ihm oft, als wenn er keinen Gedanken mehr zu fassen vermöge, so sehr hatte er Tage und Nächte lang seinen Kopf angestrengt, um eine Möglichkeit der Flucht zu entdecken.

So waren Wochen vergangen.

Da empfing die Zelle über ihm einen neuen Bewohner.

Derselbe schien ein unruhiger, entschlossener Kopf zu sein, denn sofort versuchte er sich durch Zeichen mit ihm in Verbindung zu setzen, und er hörte deutlich in der Stille der Nacht, wie derselbe an der Decke über ihm arbeitete. Bald war eine kleine Oeffnung hergestellt, durch welche sie sich zu verständigen vermochten.

Sanner erfuhr von dem Mitgenossen im Elende, daß er im königlichen Forste ein Reh geschossen habe, um für seine hungrige Familie zu sorgen.

»Dafür wird man mich zwanzig Jahre in's Zuchthaus stecken,« rief der Unglückliche mit gedämpfter Stimme hinab, »denn man würde es mir eher verzeihen, wenn ich einen Menschen erschlagen hätte. Haha! Menschen giebt's ja genug, aber die Rehböcke will der König selbst schießen. Ich habe aber nicht Lust, zwanzig Jahre im Zuchthause zuzubringen, in drei Tagen muß ich frei fein oder todt!«

Er theilte Sanner ferner mit, daß er im Besitze eines guten Brecheisens sei, damit wolle er die dickste Wand durchbrechen, allein seine Zelle liege sehr hoch und wenn er sich auch aus seiner Decke ein Seil verfertige, so reiche dasselbe doch nicht aus, er müsse noch eine zweite Decke haben, wenn Sanner bereit sei, mit ihm zu fliehen, so wolle er den Boden seiner Zelle durchbrechen, sich herablassen und ehe der Morgen hereinbreche, wollten sie Cassel bereits den Rücken zuwenden.

Mit vollster Freude begrüßte Sanner diesen Plan. Der Mann über ihm begann die Decke zu durchbrechen und er selbst machte sich daran, aus seiner Decke ein Seil anzufertigen.

Noch war keine Stunde verflossen, so ließ sich der Gefangene durch die Oeffnung in der Decke in seine Zelle herab. Es war zu dunkel, als daß Sanner das Gesicht desselben hätte erkennen können. Er erfaßte die Hand seines Genossen und schüttelte sie. Die seinige zitterte.

Der Andere bemerkte es.

»Ihr habt Furcht?« fragte er. »Ich weiß nicht, weßhalb man Euch eingesteckt hat, allein wenn Ihr Euch nur halb so sehr nach der Freiheit sehnt wie ich, dann fürchtet Ihr Euch vor nichts. Ich will frei sein oder sterben. Und da mir mein Leben lieber ist, als das eines andern Menschen, so mag sich ein Jeder hüten, mir in dieser Nacht entgegen zu treten. Ich bin in einer solchen Erbitterung, daß ich Niemand schonen würde!«

Es sprach aus seinen Worten ein wilder trotziger Sinn. Seine Gestalt war groß und kräftig.

»Nun an's Werk,« fuhr er entschlossen fort. »In einer Stunde müssen wir fort sein. Macht das Seil nur kräftig, daß es nicht reißt. Haha! Ich will meine Aufgabe schon gut durchführen, denn vor Jahren bin ich Maurer gewesen und ich kenne mein Handwerk. Diese Mauern sind zwar dick, aber nicht sehr fest; der Mörtel hat die Steine nicht fest verbunden. Wer dies Haus aufgeführt hat, hat es vielleicht mit den Gefangenen gut gemeint und hat ihnen den Weg zur Flucht nicht allzuschwer machen wollen, oder er ist ein Spitzbube gewesen und hat seinen Bauherrn betrogen. Nun Gott schenke ihm die Seligkeit, denn uns kommt seine schlechte Arbeit zu statten.«

Er hatte die Stelle, an der die Mauer am Besten zu durchbrechen war, schnell gefunden und begab sich ohne Zögern an's Werk, während Sanner mit der Anfertigung des Seiles beschäftigt war.

Sanner's Herz schlug laut vor Aufregung und Besorgniß, daß ihr Vorhaben vereitelt werden könne. Seine Hand, die an solche Arbeit nicht gewöhnt war, zitterte. Nur langsam schritt sein Werk von statten.

Rastlos arbeitete sein Genosse an der Mauer, einen Stein nach dem andern hob derselbe aus. Sein lautes, rasches Athmen verrieth, wie sehr er sich anstrengte. »Noch zehn Minuten,« sprach er endlich, »und die Oeffnung ist groß genug. Seht, der Himmel ist unserm Vorhaben gewogen, denn ein Gewitter zieht herauf. Schon heult der Wind und der Regen wird nicht lange mehr ausbleiben. Sputet Euch, denn diese Zeit müssen wir benutzen. Wir werden zwar tüchtig durchnäßt werden, es ist aber immer besser, als hier im Trocknen zu sitzen.«

Mit fieberhafter Hast arbeitete Sanner weiter.

»Gebt her, Eure Hände scheinen nicht an Arbeit gewöhnt zu sein,« rief sein Schicksalsgenosse nach kurzer Zeit, »mein Werk ist fertig. Das Loch ist groß genug, daß morgen der König selbst durchkriechen kann, wenn er Lust dazu hat und den Rücken etwas krumm macht. Solche Herren haben freilich wenig Lust, sich zu beugen. – Horcht, wie jetzt der Regen niederfährt. Der treibt auch die Schildwachen in's Trockne. Wenn er nur eine Stunde so anhält, dann sollen sie uns Morgen vergebens suchen.«

Mit kräftiger Hand zerriß er den Rest der Decke und knüpfte die Enden an einander. An dem Gitter des Fensters befestigte er das eine Ende.

»Nun haltet Euch bereit,« sprach er. »Ich will Euch den Vorrang lassen, denn Ihr seid um Vieles leichter als ich. Reißt bei mir das Seil, so würdet Ihr oben in der Falle zurückbleiben, ich gönne aber Jedem, der in diesen Mauern sitzt, die Freiheit.«

Sanner befand sich in einer solchen Aufregung, daß ihm der Tod lieber war als die Gefangenschaft. Er erfaßte das Seil, zwängte sich durch die Oeffnung in der Mauer und ohne Unfall gelangte er unten an. Der Regen schlug ihm so heftig in's Gesicht, daß er nicht sehen konnte, wo er sich befand. Nach wenigen Minuten war auch sein Gefährte bei ihm.

»Gelungen!« rief dieser mit gedämpfter Stimme. »Nun sind wir frei! Seht, das Brecheisen habe ich mit mir genommen, ich will es zur Erinnerung mein Lebtag aufheben und jetzt dient es mir als Waffe, es ist schwer genug, um Jeden, der uns entgegenzutreten wagt, damit niederzuschlagen. – Wohin wollt Ihr fliehen?«

»Nach dem Harze,« erwiderte Sanner.

»Dorthin geht auch mein Weg, wir bleiben also beisammen. Kommt, kommt, wenn wir erst aus der Stadt sind, soll uns die ganze Polizei vergebens suchen, denn ich kenne von hier bis zum Harze jeden Wald, jedes Gebüsch. Ich kenne Verstecke, zu denen noch Niemand gedrungen ist. Nun schnell, ehe der Regen nachläßt!«

Die Straßen waren leer. Die Heftigkeit des Gewitters hatte selbst die Wächter eine trockene Zufluchtsstätte aufsuchen lassen. Ungehindert gelangten die beiden Entflohenen aus der Stadt. Sie wandten sich den Thälern zu, welche die Fulda und Werra zwischen Cassel und Göttingen gebildet haben.

Bis auf die Haut durchnäßt, entkräftet durch die lange Haft, war Sanner kaum im Stande, seinem kräftigen Gefährten zu folgen. Mehr als einmal mußte er still stehen, um sich zu erholen. Dennoch mußte er endlich gestehen, daß er nicht mehr im Stande sei, weiter zu eilen. »Das ist schlimm.« entgegnete sein Begleiter, dem er erzählt hatte, weshalb er verhaftet und im Gefängnisse behalten war. »Ich hatte gehofft, daß wir weiter kommen würden, denn so wie der Tag anbricht und man unsere Flucht entdeckt, wird man uns verfolgen. Zum Glück hat der Regen unsere Spur verwischt und der beste Schweißhund ist nicht mehr im Stande, dieselbe aufzufinden. Ich fühle keine Ermüdung; bis zum Harze wollte ich wandern, ohne auszuruhen, wir sind indeß gemeinschaftlich entflohen, nun wollen wir auch zusammenhalten. Seid ohne Sorge, ich verlasse Euch nicht, denn ich befürchte, ohne mich würdet Ihr bald wieder in demselben Hause sitzen.«

In einem Steinbruche in einer engen Hütte, welche sich die Arbeiter zum Schutze gegen Unwetter errichtet hatten, fanden sie eine Zuflucht. Völlig erschöpft sank Sanner auf dem Moose und trocknen Laube, aus welchem in der Hütte ein Lager gebildet war, nieder. Seine Kleidung war völlig durchnäßt, Fieberfrost schüttelte seine Glieder.

Sein Begleiter – Brandt war sein Name – schien kaum zu empfinden, daß auch er durchnäßt war. Ohne sich Ruhe zu gönnen, eilte er fort, um aus dem nächsten Dorfe einige Erfrischungen zu holen.

»Ich habe dort einen Bekannten,« sprach er, »allein ich muß zurück sein, ehe der Tag graut, damit kein unberufenes Auge mich sieht.«

Nach kaum einer Stunde kehrte er zurück und brachte Brod und eine Flasche mit Branntwein.

Den Tag über blieben sie in der Hütte und erst als die Dunkelheit des Abends hereinbrach, setzten sie ihre Flucht fort.

Sanner fühlte sich elend, er war so schwach, daß er kaum zu gehen vermochte, allein das Verlangen, seine Freiheit und sein Leben zu retten, trieben ihn weiter. Brandt unterstützte ihn nach Kräften. Die unwegsamsten Pfade schlugen sie ein, um ihren Verfolgern auszuweichen und als der Morgen graute, hatten sie kaum ein paar Meilen zurückgelegt.

Ein Bauer nahm sie mitleidig in seinem Hause auf. Sanner suchte Brandt zu bewegen, allein weiter zu fliehen und zunächst für seine eigene Sicherheit Sorge zu tragen; der sonst so wilde und heftige Mann lehnte dies indeß ab.

»Ich habe noch nie einen Kameraden im Stiche gelassen,« entgegnete er, »und wir sind jetzt Kameraden. Sobald wir den Harz erreicht haben, sind wir geborgen. Dort habe ich lange Jahre gelebt, ich kenne dort jeden Weg, habe dort zahlreiche Freunde, welche uns gern aufnehmen und eher ihr eigenes Leben in Gefahr bringen, ehe sie uns verrathen.«

Es vergingen indeß noch Tage, ehe sie den Harz erreichten, und Sanner würde dort vielleicht nie angelangt sein, hätte nicht ein Bauer Mitleid mit ihnen empfunden, und sie zur Nachtzeit bis nach Herzberg gefahren.

Sanner bangte, als er sich diesem Orte wieder näherte, da derselbe bereits einmal für ihn verhängnißvoll geworden war, sein Begleiter wußte indeß die Besorgniß zu verscheuchen.

»Wir umgehen die Stadt,« sprach er. »Haltet dann nur noch eine Stunde aus und ich bringe Euch in das Haus eines Freundes, wo Ihr so sicher seid, als hättet Ihr bereits die Grenze überschritten. Der Mann ist ein Holzhauer; wenn die Nächte hell sind, hängt er freilich die Büchse über die Schulter und legt sich auf den Anstand. Die Jäger sind ihm nicht gewogen, er ist indeß treu und zuverlässig. Ich habe ihn einmal gerettet, als er nahe daran war, von einem Jäger auf dem Anstande überrascht zu werden, das vergißt er mir nie. Sein Haus liegt ganz allein mitten im Walde, dort sucht uns Niemand.«

Glücklich gelangten sie in diesem Hause an. Sanner's letzte Kräfte waren erschöpft. Schon seit Tagen wurde er vom Fieber heimgesucht und nur die Aufregung, in der er sich befand, hatte ihn noch aufrecht erhalten. Ihm wurde sofort ein Lager bereitet und wochenlang sollte er auf demselben zubringen, schwankend zwischen Leben und Tod, meist besinnungslos und durch die heftigsten Fieberphantasien gequält.

Als er endlich wieder zu sich kam, erschien ihm alles Geschehene wie ein wüster Traum, bis die Einzelheiten deutlich in seine Erinnerung zurückkehrten. Seine Lage war eine traurige. Hatte die Frau des Mannes, in dessen Hause er sich befand, ihn auch mit der größten Sorgfalt gepflegt, so konnte sie ihm doch nichts bieten, was seine Genesung und Kräftigung beschleunigt hätte. Dazu kam die Sorge um seine Mutter, von deren Tode er noch keine Ahnung hatte.

Er sehnte sich fort aus der engen, niedrigen Kammer, in der er lag, und doch konnte er noch nicht einmal das Bett verlassen. Stundenlang lag er allein da, weil die Frau ihren Geschäften nachgehen mußte und verlassener hatte er sich selbst in dem Gefängnisse nicht gefühlt..

Unerwartet trat eines Tages sein Begleiter wieder zu ihm in's Zimmer.

»Ich will nur sehen, wie es Euch ergeht,« sprach er, Sanner die Hand reichend. »Ihr habt hier schwer darnieder gelegen und ich habe nicht geglaubt, daß Ihr davon kommen würdet.«

»Seid Ihr hier in der Nähe geblieben?« fragte ihn Sanner.

»Nur wenige Stunden von hier entfernt habe ich mein Quartier. Ich muß noch immer sehr vorsichtig sein, wenn ich es am Tage verlassen will. Die Polizei hat Alles aufgeboten, uns wieder zu erlangen, fast auf allen Heerstraßen befanden sich Gendarmen, welche uns suchten, jetzt ist es etwas stiller geworden. Sie mögen wohl die Hoffnung aufgegeben haben, uns in ihre Gewalt zu bekommen.«

»Wovon lebt Ihr jetzt?« forschte Sanner weiter.

Ein halb verlegenes Lächeln zuckte über das Gesicht des Mannes hin.

»Ich trage Sorge, daß das Wild nicht überhand nimmt und die Felder der Armen verwüstet. Die Zeiten sind ohnehin schlimm genug.«

Sanner verstand ihn.

»Ihr wilddiebt wieder?« warf er fragend ein.

Brandt nickte zustimmend mit dem Kopfe.

»Es ist so, wenn ich es auch nicht gern so nenne,« entgegnete er. »Was bleibt mir Anderes übrig? Am Tage darf ich mich nicht ohne Gefahr sehen lassen, womit soll ich also mein Brod verdienen? Ich muß außerdem noch für meine Familie Sorge tragen. Ich sehe kein Unrecht darin, sondern glaube nur Gutes dadurch zu thun. Die Förster schonen das Wild. Ihr solltet nur einmal sehen, wenn ein Rudel Hochwild oder Schwarzwild eine Nacht auf einem Ackerfelde zugebracht hat, wie dasselbe dann aussieht! Die Erndte desselben, die vielleicht bestimmt war, eine ganze Familie zu ernähren, ist in einer Nacht vernichtet und Niemand ersetzt den Schaden.«

»Und wenn Ihr nun zum zweiten Male dabei abgefaßt werdet?«

»Haha! Ein Fuchs geht selten zum zweiten Male in die Falle. Ich bin vorsichtiger geworden. Späterhin hoffe ich, mir durch Arbeit mein Brot zu verdienen. Wie lange gedenkt Ihr noch hier zu bleiben?«

»Ich hoffe, bald wieder so kräftig zu sein, daß ich meine Flucht fortsetzen kann. Es liegt mir schwer auf dem Herzen, daß ich ohne alle Mittel und nicht im Stande bin, meinen Wohlthätern meinen Dank zu beweisen.«

»Macht Euch keine Sorgen deshalb!« rief Brandt. »Die Leute verlangen nichts dafür und würden kaum etwas annehmen. Ihr findet hier auf dem Wege Tausende, die gern bereit sind, einem Unglücklichen zu helfen und die willig ihr Letztes mit ihm theilen. Wohin wollt Ihr Euch zunächst wenden?«

»Zu dem Förster Dammer. Ein Freund von mir ist bei ihm, derselbe, um dessentwillen ich verhaftet bin. Ich muß ihn sprechen, denn es werden vielleicht Jahre vergehen, ehe ich ihn wiedersehe.«

»Gut, ich kenne den Förster, ich werde Euch zu ihm bringen auf Wegen, die so sicher sind wie dieses Zimmer. Nur geduldet Euch, bis Ihr wieder völlig gekräftigt seid. Haha! In Cassel in dem Gefängniß war es noch einsamer! Hier könnt Ihr zum wenigsten hinausschauen in den Wald und könnt auch ohne Besorgniß in ihm spazieren gehen. Denn hieher kommt die Polizei nicht.«


Acht Tage später holte Brandt seinen Fluchtgenossen ab, um ihn zum Förster Dammer zu bringen. Es war ein ruhiger Abend, als sie das Haus verließen, in welchem Sanner wochenlang gelegen hatte. Der größeren Vorsicht wegen hatte Brandt zu dieser Wanderung die Nachtzeit gewählt. Er konnte auch die geheimsten Gebirgspfade im Dunkeln finden und war ein sicherer Führer.

Sanner's Brust war wieder mit frischem Muthe und neuer Lebenshoffnung erfüllt. Es schritt sich so leicht auf dem weichen mit Moos und Tannennadeln bedeckten Pfade. Schweigend wölbten sich die Wipfel der hohen Tannen über ihnen und nur zuweilen rauschte der Nachtwind durch sie hin.

»Seht,« erzählte Brandt, der Alles aufbot, um Sanner zu unterhalten und dadurch den Weg zu kürzen, »diese Pfade kenne ich seit langen Jahren, denn in dieser Gegend habe ich das erste Wild geschossen – ich war noch ein junger Bursch. Mein Vater war, als er ein Stück Wild erlegt hatte, von einem Jäger todt geschossen. Ein Kamerad, der bei ihm gewesen war, erzählte, daß der Jäger sich an sie herangeschlichen und auf meinen Vater geschossen habe, ohne ihn zuvor anzurufen. Es war nur die That einer Rache. Der Jäger beschwor, daß mein Vater zuerst die Büchse auf ihn angelegt habe und daß er in der Lage der Nothwehr gewesen sei; er ging frei aus, denn der Kamerad meines Vaters konnte nicht als Zeuge gegen ihn auftreten, weil auch er sonst wegen Wildfrevel bestraft wäre. Ich war kaum sechszehn Jahre. Der schmähliche Tod meines Vaters erfüllte mich mit tiefstem Groll. Ich sparte so lange von meinem geringen Verdienste, bis ich mir eine Büchse kaufen konnte, dann legte auch ich mich des Nachts auf den Anstand, ich hatte es indeß nicht auf ein Wild, sondern auf den Mörder meines Vaters abgesehen. Der Himmel hatte es anders beschlossen, ich traf den Jäger nicht ein einziges Mal und kurze Zeit darauf verließ er diese Gegend; er mochte erfahren haben, daß es für ihn hier nicht mehr sicher war. In mir war indeß die Lust zum Jagen dadurch erweckt; daß mein Vater dadurch den Tod gefunden hatte, schreckte mich nicht ab, ich wurde zum gefürchteten Wilderer, dem die Jäger mehr als einmal den Tod schworen, der ihnen indeß immer entging. Manches Stück Wild habe ich seit der Zeit geschossen. Ich that es nicht des Gewinnes wegen, sondern weil mich eine unbezähmbare Leidenschaft dazu hinriß. Dort hinter jenen Felsen habe ich einmal zwei Tage und zwei Nächte gelegen, weil die Jäger alle Ausgänge besetzt hielten. Ich hatte weder Speise noch Trank bei mir, dennoch würde ich lieber verhungert sein, ehe ich mich ergeben hätte und in das Gefängniß gewandert wäre. Nur durch einen glücklichen Zufall entkam ich in der dritten Nacht. Es war finster und der Regen strömte heftig nieder. Ich hoffte, daß die Jäger sich zurückgezogen haben würden, um an irgend einer trockenen Stelle Schutz zu suchen, und wagte mich vorsichtig hervor. Ich hatte mich indeß geirrt. Kaum war ich hinter den Felsen hervor gekommen, so hielt mir einer der Jäger die Büchse entgegen. Sie versagte indeß, weil das Pulver feucht geworden war. Nun stürzte ich mich auf meinen Gegner, warf ihn zur Erde und entkam glücklich in der Dunkelheit. Noch in derselben Nacht verließ ich indeß diese Gegend.«

Rastlos schritten sie weiter, der Morgen brach bereits an, als sie das Försterhaus erreichten. Des Försters Hunde stürzten ihnen entgegen und ließen sie nicht weiter schreiten, allein gleich darauf trat Dammer aus dem Hause und kam auf sie zu.

»Wer seid Ihr?« fragte er kurz und ließ prüfend den Blick über sie hingleiten. Er erkannte Sanner nicht, so sehr hatten die Gefangenschaft und Krankheit sein Gesicht verändert.

Sanner gab sich zu erkennen.

Fast erschreckt trat der Förster einen Schritt zurück, ergriff dann aber hastig seine Hand und zog ihn mit sich in das Haus. Auch Heinrich erkannte ihn nicht sofort und war nicht weniger erschreckt, den Freund in dieser Lage wieder zu finden.

»Jetzt bin ich selbst an Flüchtling,« sprach Sanner, nachdem er erzählt hatte, weshalb er verhaftet war und welche Beschwerden er ertragen hatte. »Wäre ich damals sogleich mit Dir geflohen, so würde mir manche trübe Stunde erspart sein. Um die Lage meiner Mutter zu erleichtern, nahm ich die Stellung als Polizeibeamter an, es ist für sie und mich zum Unheil gewesen, denn noch weiß sie nicht, was aus mir geworden ist!«

»Du hast auch meine Mutter und Schwester nicht gesprochen?« warf Heinrich fragend ein.

»Ich wurde verhaftet, ehe ich Göttingen erreicht hatte und sofort nach Cassel gebracht!«

»Nun begreife ich, weshalb ich von den Meinigen noch keine Nachricht habe,« fuhr Heinrich fort, »Sie wissen nicht, daß ich hier bin. Tag für Tag habe ich auf einen Brief von ihnen gehofft, vergebens. Schon wollte mein Wohlthäter sich aufmachen und nach Göttingen reisen, um mir selbst Nachricht zu holen.«

»Und ich werde es heute noch in Ausführung bringen!« rief Dammer. »In drei Tagen bin ich zurück, Sanner bleibt so lange hier, dann hoffe ich für alle eine gute Kunde mitzubringen. Es sind ohnehin schon Jahre her, daß ich nicht in Göttingen gewesen bin!«

Der Alte ließ sich von dem einmal gefaßten Entschluß nicht abbringen. Ohne Säumen rüstete er sich zur Reise und kaum zwei Stunden später verließ er das Haus.

Auch Sanner würde Heinrich kaum wieder erkannt haben, wenn er ihm unerwartet im Walde begegnet wäre. Der grüne Jägerrock stand ihm vortrefflich, seine Wangen hatten sich frisch geröthet und aus seinen Augen leuchtete das höchste Glück.

Dies Glück hatte er durch Selma gefunden, deren Herz ihm gehörte.

»Freund!« rief er begeistert, als er mit Sanner allein war, »ich segne das Geschick, welches mich in dieses Haus geführt hat, denn ein ganz neues Leben ist mir hier aufgegangen. Der Umgang mit diesen vortrefflichen Menschen, der tägliche Verkehr mit der stillen und großartigen Natur haben in meiner Brust Empfindungen wachgerufen, welche ich bis dahin kaum gekannt hatte. Selma's Liebe hat mich zum glücklichsten Menschen gemacht! Du kennst ihr Herz noch nicht. An ihrer Seite werde ich nie das Bedürfniß empfinden, in ein bewegtes Leben zurückzukehren. Es ist mir, als ob sich jeder Baum hier über unser Glück freue, als wären es Bekannte, denen ich erzählen könnte von dem Glück in meiner Brust. Nur der eine Gedanke trübt dies Glück jetzt, der Gedanke, daß Du, durch den ich es errungen habe, dafür leiden mußt.«

Ueber Sanner's Gesicht zog ein wehmüthiges Lächeln.

»Auch ich gebe die Hoffnung auf ein gleiches Glück noch nicht auf,« entgegnete er. »Heinrich, mein Mund hat Marie noch nicht gestanden, daß ich sie liebe, dennoch weiß ich, daß unsere Herzen einander gehören und daß sie treu aushalten werden, bis auch für uns einst die Zeit kommt, in der wir die Hände ruhig in einander legen können. Vielleicht finde ich in der Fremde früher eine sichere Existenz und neue Heimath, als ich zu hoffen wage, dann stehe ich Dir an Glück nicht nach!«

 

Sanner thaten die Tage, welche er in dem stillen Försterhause zwischen den glücklichen Menschen verlebte, außerordentlich wohl und mehr und mehr schwanden die letzten Spuren seiner Krankheit und Leiden.

Dammer blieb länger fort als er versprochen hatte.

Heinrich sowohl wie Sanner waren seinetwegen nicht ohne Besorgniß, nur Selma verrieth nicht die geringste Befürchtung, so fest vertraute sie auf die Klugheit ihres Vaters.

Und sie hatte Recht. Als Dammer endlich am fünften Tage heimkehrte, schwenkte er schon aus der Ferne grüßend die Mütze und rief ihnen ein lautes Hallo! entgegen.

Heinrich und Selma stürzten ihm entgegen und umschlangen ihn mit ihren Armen.

»Es steht Alles gut!« rief er Heinrich zu. »Deine Mutter und Schwester machten zwar große Augen, als ich ihnen erzählte, daß ich Dich unter meine Flügel genommen habe und einen rechtschaffenen Waidmann aus Dir mache, sobald ich indeß schilderte, wie gut Dich der grüne Rock kleide und daß Du zum Studiren eigentlich viel zu gut seiest, waren auch sie gern damit einverstanden! – Nun laßt mich los! Haha! Ich sehe es Euch an, daß Ihr meinetwegen in Sorge gewesen seid, weil ich länger fortgeblieben bin! Thorheit, ein alter Jäger, wie ich, läßt so leicht Niemand an sich heran kommen!«

Seine heitere Stimmung schwand indeß auf kurze Zeit, als Sanner an ihn herantrat. Bewegt streckte er ihm die Hand entgegen.

»Sanner, für Sie bringe ich keine freudige Botschaft,« sprach er.

»Was macht meine Mutter?« fragte Sanner hastig.

»Sie hat Ihr Geschick nicht erfahren, und sie wird es auch nie erfahren, denn – Sanner, sie ist todt, – schon seit Wochen!«

»Todt, todt!« rief Sanner erschüttert. Die Thränen traten ihm in die Augen. »Die Sorgen um mich haben sie getödtet!«

»Sanner,« sprach Dammer, ihm die Hand auf die Schulter legend, »auch das Alter hat sein Recht geübt. Heinrich's Schwester hat ihr die Augen zugedrückt, sie ist in Ruhe geschieden mit dem Bewußtsein, daß sie ein Herz zurückgelassen hat, welches Sie noch inniger liebt, als Sie nur eine Mutter lieben konnte – hier diese Zeilen sendet Ihnen Marie!«

Sanner wandte sich ab. Er mußte allein sein, um seinen Schmerz zu überwinden und seinem Herzen Zeit zu lassen, durch den Schmerz hindurch die Freude über Mariens Brief zu empfinden. –

 

Dammer saß wieder in seinem Zimmer in dem allen Lehnstühle und es war ihm, als ob ihn alle Gegenstände ringsum nach der kurzen Trennung doppelt freundlich anblickten. Er mochte nicht eingestehen, wie sehr er sich freute, wieder daheim zu sein, allein seine leuchtenden Augen, sein lächelndes Gesicht verriethen es deutlich genug. In heiterster Weise erzählte er von seiner kurzen Reise.

»Ich habe mir die Stelle angeschaut, wo Du Dein Transparent angebracht hast,« rief er Heinrich zu, »ich habe sie sofort gefunden, und es hätte wenig gefehlt, so hätte ich noch nachträglich in den Ruf: Pereat Napoleon! Eingestimmt. Man wagt in Göttingen kaum davon zu sprechen, und den Bürgern ist der Ruf nicht gut bekommen. Die Stadt steckt voll geheimer Polizei, die horcht auf jedes Wort. Die Geschichte ist zu Napoleon's Ohren gekommen und er soll sich sehr unwillig darüber nach Cassel hin ausgelassen haben. Am meisten ärgert den König, daß Du der Strafe entgangen bist. Es hätte Dich wahrhaftig das Leben gekostet, wenn Du ihnen nicht entsprungen wärst. Die Gendarmen, welche Dich haben entwischen lassen, sitzen noch jetzt in Cassel im Gefängnisse, der König hat sie in seinem Zorne erschießen lassen wollen!«

In heiterer Weise schwand der Tag hin.

Sanner blieb noch einige Tage in dem Försterhause, bis er sich vollständig erholt hatte.

Dammer versah ihn mit Geld, damit er nicht ganz mittellos die preußische Grenze überschreite, und schon nach kurzer Zeit konnte er unter einem andern und vorher bestimmten Namen melden, daß er glücklich in Berlin angelangt sei und in einem kaufmännischen Geschäfte eine Stellung gefunden habe, durch welche seine Existenz hinreichend gesichert war. –


Ruhig, ja eintönig schwand die Zeit in dem Försterhause dahin.

Heinrich fühlte sich in seiner Umgebung und in seinem neuen Berufe glücklich. Zwar mußte er noch immer unter angenommenen Namen leben, mußte jeden öffentlichen Verkehr vermeiden und konnte seine Mutter und Schwester, nach denen er sich oft sehnte, nicht sehen, dies Alles wog indeß Selma durch ihre Liebe hundertmal auf.

Dammer war fast immer in heiterer Stimmung. Er sah Heinrich als den Sohn an, welchen das Geschick ihm versagt hatte und der nun doch durch einen glücklichen Zufall ihm zugeführt war. Nur wenn er von einem neuen Siege Napoleon's las, oder von dem ausschweifenden Leben des Königs Jerôme hörte, zogen sich seine buschigen weißen Brauen finster zusammen und ein Jeder that wohl, ihm an solchem Tage auszuweichen.

Er hoffte, daß das Volk, dessen Nacken unter dem schweren Joche fast brach, sich endlich aufraffen und die Fremdherrschaft abschütteln werde, er freute sich darauf, auch seinen alten Arm zur Befreiung des Vaterlandes erheben zu können – sein Wunsch wurde nicht erfüllt.

Das deutsche Volk vermag ja mehr zu tragen, zu dulden als andere Völker.

Napoleon's eigener Uebermuth und maßloser Ehrgeiz sollte endlich an der Grenze anlangen, die auch ihm gesteckt war. Als die erste Kunde von der Vernichtung seines Heeres in Rußland in dem stillen Försterhause anlangte, war die Freude Dommer's unendlich. Er lag krank darnieder, allein in seiner freudigen Erregung vergaß er Krankheit und Schmerzen, wie ein Fest wurde diese Nachricht im Försterhause gefeiert.

»Heinrich,« rief er begeistert, »in Rußland haben sie Dein Transparent zur Wahrheit gemacht, dort haben sie ihm den Untergang bereitet und Schmach jetzt über das ganze deutsche Volk, wenn es sich jetzt nicht erhebt, um dem überwundenen Unüberwindlichen den letzten Schlag zu versetzen! Was ihn groß gemacht hat, seine Armee und der Ruf der Unbesiegbarkeit – beide sind dahin und er kann sie nimmer wieder erlangen!«

Und Tag auf Tag kamen neue Nachrichten über den entsetzlichen Untergang der französischen Armee. Lauter und lauter wurden die Stimmen, welche die Erhebung des deutschen Volkes predigten.

Dammer befand sich fortwährend in der größten Aufregung. Da erließ endlich der König von Preußen den Aufruf an sein Volk, die Freiwilligen strömten in Breslau zusammen, Begeisterung hatte das ganze Volk erfaßt, Jünglinge und Männer, Knaben und Greise, Frauen und Mädchen, Alle strebten das Ihrige dazu beizutragen, um Deutschland von dem französischen Joche zu befreien.

Länger vermochte auch der alte Förster seine Aufregung nicht zu beherrschen.

Er brachte seine Büchse in Ordnung und war fest entschlossen, sich den Freiwilligen anzuschließen und seinen immer noch kräftigen Arm gegen den verhaßten Feind zu erheben.

Vergebens waren alle Vorstellungen und Bitten Heinrich's und Selma's; er beharrte auf seinem Entschlusse.

»Ich überschätze meine Kräfte nicht,« entgegnete er, »allein ich weiß auch, daß mein Arm noch stark genug ist, um die Büchse zu heben, und ich werde mein Ziel nicht verfehlen. Meine Haare sind wohl weiß, dennoch werde ich es mit manchem jungen Burschen aufnehmen, denn dieser alte Körper ist von Jugend auf gestählt und an Beschwerden gewöhnt. Die Gefahren schrecken mich nicht zurück. Trifft mich eine Kugel – nun, die Jahre, welche ich noch zu leben habe, sind ohnehin gering und ich kann eher abkommen, als mancher junge Mann. Wer eine Büchse tragen kann, der muß sich dem Vaterlande stellen, und ich meine, das Alter soll der Jugend mit gutem Beispiele vorangehen und sie anfeuern. – Heinrich, zusammen wollen wir Beide uns stellen, dicht nebeneinander wollen wir dem Feinde entgegentreten, und Du sollst erfahren, daß mein Herz keine Furcht kennt!«

Selbst Selma's Thränen schienen nicht zu helfen.

»Kind, Du stehst nicht allein,« sprach er. »Jeder meiner Bekannten wird Dich mit Freuden zu sich nehmen und für Dich sorgen, als wenn Du sein Kind wärst. Es wird nicht Jeder, der in den Krieg zieht, todt geschossen; wir Beide werden unversehrt zurückkehren und dann soll dies alte Haus ein Freudenfest erleben, wie noch keins in ihm gefeiert ist.

Heinrich war von Anfang an entschlossen, in die Reihen der Freiwilligen einzutreten und Dammer sah dies als selbstverständlich an. Auch der Alte würde bei seinem Entschlusse beharrt sein, wenn nicht ein anderer Umstand hinzugekommen wäre, und ihn gehindert hätte.

Seine Gesundheit war in der letzten Zeit geschwächt und die Größe seiner Aufregung hatte dieselbe noch mehr erschüttert. Er suchte es zu verbergen, allein auch dies gelang ihm nicht. Er war unwillig darüber, daß sein Körper mit seinem noch jugendlich frischen und leicht erregbaren Geiste nicht gleichen Schritt hielt und er mußte sich endlich doch darin ergeben, von seinem Vorhaben abzustehen. Er that es widerstrebend.

Um so eifriger drängte er Heinrich zur Abreise. Seine beste Büchse gab er ihm mit und versah ihn reichlich mit Geld. Er würde mit Freuden Alles, was er besaß, geopfert haben.

Heinrich's Begeisterung für die große Sache war nicht geringer, dennoch wurde es ihm schwer, aus dem Försterhause, wo er so glückliche Stunden verlebt hatte, zu scheiden. Die Trennung von Selma ging ihm nahe.

 

Die Stunde der Abreise war gekommen. Es war ein stiller, lauer Frühlingsabend.

Heinrich wollte die Nacht benutzen, um sicher über den Harz zu kommen, da er noch jetzt nach Jahren immer eine Entdeckung zu befürchten hatte. Der Förster hätte ihn gern selbst begleitet, seine geschwächte Gesundheit ließ es nicht zu. Ein erfahrener und mit den geheimsten Wegen vertrauter Waldarbeiter sollte ihn geleiten.

Selma hatte bis zu diesem Augenblicke den Schmerz und die Besorgniß, welche sie empfand, ihres Vaters wegen beherrscht – jetzt war sie nicht mehr dazu im Stande. Laut schluchzend warf sie sich an Heinrich's Brust, der Alles aufbot, sie zu beruhigen. Sein eigenes Herz war ja schwer, seine Worte blieben deshalb ohne Wirkung.

Dem Förster selbst ging der Abschied nahe, er ließ es indeß nicht merken.

Schweigend stand er da und sah seines Kindes Thränen; sie halfen nichts, denn geschieden mußte doch sein.

»Komm, Heinrich,« sprach er endlich. »Das Mädchen macht Dir das Herz unnöthig schwer. Zum Kukuk, Ihr solltet Euch freuen, daß endlich dieser Tag gekommen ist, wir haben ihn seit Jahren herbei gesehnt! Nun macht's kurz. Gebt Euch einmal die Hand, schaut Euch ins Auge so – so – nun fort!«

Er erfaßte Heinrich's Arm und zog ihn fast gewaltsam mit sich.

»Ich gebe Dir noch eine kurze Strecke das Geleite,« fuhr er fort, als sie das Haus verlassen hatten – seine eigene Stimme klang bewegt. »Heinrich, ich brauche Dich nicht zu mahnen: halt Dich brav – ich weiß, daß Du es thun wirst, denn ich kenne Dich ja! Denk an das Transparent, welches Du einst in Göttingen an dem Bibliothekgebäude angebracht hast – jetzt gilt es, dasselbe zur Wahrheit zu machen, laß das Deinen Wahlspruch sein: Pereat Napoleon! – Du weißt, wie gerne ich mit Dir gezogen wäre, es hat nicht sein sollen, dieser alte Körper hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht; allein ich will ihn zum wenigsten schonen, damit ich den Tag erlebe, an dem Du als Sieger heimkehrst und mir entgegenrufen kannst: Auf deutschem Boden steht kein Franzose mehr! Junge – Heinrich, den Ruf will ich erst von Dir hören, dann will ich Deine und Selma's Hand für immer ineinander legen und dann kann ich getrost abfahren, denn dann habe ich hier auf Erden nichts mehr zu wünschen und auch nichts mehr zu schaffen! – So – nun geh' allein weiter und Gott schütze Dich! Junge – komm noch einmal an meine Brust – so – so! halt Dich brav und vergiß nicht, was uns Noth thut: Freiheit – Freiheit!«

Noch einmal drückte er Heinrich die Hand und wandte sich dann rasch ab. Auf einem Felsstücke ließ er sich nieder, als er Heinrich nicht mehr zu sehen vermochte, und jetzt drängten sich auch ihm die Thränen in die Augen und rannen über die alten, gebräunten Wangen. Er ließ sie ruhig fließen.

»Ich durfte dem Jungen doch nicht zeigen, daß auch ich weinen kann,« sprach er zu sich selbst und fuhr mit der Hand über die Augen. »Wahrhaftig so eng und schwer ist es mir noch nie in der Brust geworden – der Junge ist mir ans Herz gewachsen!«

Dann erhob er sich. und richtete sich fest empor, als er dem Hause wieder zuschritt. Selma sollte nicht sehen, was in ihm vorgegangen war.


Es war still und geräuschlos in dem Försterhause geworden, dennoch war die alte Ruhe dahin.

Selma war niedergeschlagen und traurig, die Besorgniß um Heinrich raubte ihr jede Ruhe. Sie würde dies leichter ertragen haben, hätte sie ein Herz besessen, dem sie ihr Bangen offen hätte anvertrauen können.

Der Förster hielt seinen Blick nur auf die großen, öffentlichen Ereignisse gerichtet, außer ihnen schien für ihn jetzt nichts mehr vorhanden zu sein. Er, der früher so außerordentlich gewissenhaft in seinem Dienste gewesen war, kümmerte sich jetzt kaum um denselben und selbst wenn er in den Wald ging, erschienen ihm die Bäume ringsum nur wie aufgestellte Truppen.

Ein unerschütterliches Vertrauen zu der deutschen Sache erfüllte ihn und selbst die Siege, welche Napoleon noch erfocht, vermochten dasselbe nicht zum Wanken zu bringen. Er hielt an der Ueberzeugung fest, daß ein Volk, welches mit solcher Begeisterung für seine Freiheit kämpfte, nicht zu besiegen sei.

Maßlos war seine Freude, wenn er die Siege der Preußen und Verbündeten vernahm.

Als er die erste Kunde von der Schlacht bei Leipzig erhielt, fiel er Selma um den Hals und weinte vor Freude. Selma's Herz bangte bei dem Gedanken, daß auch Heinrich unter den Tausenden sein könne, welche dieser Sieg zum Opfer verlangt habe.

Der Förster dachte nicht daran, ihm erschien kein Opfer zu groß für diesen Sieg und diesen Tag der Befreiung Deutschlands.

Napoleon's Heer war vernichtet, der Rest desselben floh dem Rheine zu. Er rief die Förster und Jäger seiner Gegend zusammen und bewaffnete die Feldarbeiter, um die Franzosen, wenn ein Theil derselben über den Harz fliehen sollte, zu empfangen und zu vernichten.

Das flüchtige Heer entsprach indeß seinem Wunsche nicht, sondern wählte die Straße zwischen dem Harze und Thüringen.

Auch dahin wäre Dammer gern mit seinen Bewaffneten gezogen, wenn mehr zu folgen ihm bereit gewesen wären.

Heinrich hatte in der Schlacht bei Leipzig mit gekämpft und bald langte die Nachricht von ihm an, daß er unversehrt war. Selma hoffte nun, daß er bald zurückkehren werde, ihr Vater selbst gestand ja ein, daß Deutschland nun befreit sei, allein ihr ungeduldiges Hoffen sollte noch auf eine harte Probe gestellt werden. Heinrich zog mit den Verbündeten nach Frankreich und Paris und erst acht Monate später langte ein Brief von ihm an, der den Tag seiner Heimkehr verkündete.

 

Es war ein sonniger, heiterer Tag. Rings im Walde herrschte fast feierliche Stille, die nur dann und wann durch den Gesang eines Vogels unterbrochen wurde. Um so lauter und geschäftiger ging es in dem Försterhause zu. Kränze und Guirlanden wurden gewunden und das alte Försterhaus wie eine Braut damit geschmückt. Alles hatte einen festlichen Schmuck und Ton, am festlichsten und glücklichsten sah es aber doch in den Herzen der Menschen aus, welche an diesem Tage das alte Haus schmückten. Der alte Förster konnte die Zeit kaum erwarten, bis die Stunde nahte, in der Heinrich kommen mußte. Selma sang während sie die Kränze wand, aus ihren Augen strahlte das seligste Glück und ihre Wangen waren frisch geröthet.

Und noch zwei Menschen hatte Dammer herbeigeholt, damit sie die Freude des Tages mit feierten – Heinrich's Mutter und Schwester. Beide waren nicht weniger glücklich und doch legte sich auf Mariens Freude eine wehmüthige Trauer, wenn sie auf Selma's glücklich strahlendes Gesicht schaute. Auch sie erwartete einen Geliebten, der den ganzen Krieg mitgemacht hatte und als Sieger zurückkehren mußte – Sanner, allein seit mehreren Wochen hatte sie keine Nachricht von ihm empfangen und vergebens suchte ihr Herz die Angst zu verscheuchen, die sie seinetwegen empfand.

Endlich, endlich brach der Abend herein, der Heinrich bringen mußte. Dammer hatte bereits seit Stunden das Haus verlassen, um ihm entgegen zu eilen. Die Ungeduld ließ ihn nicht daheim. Auch Selma, Marie und deren Mutter schritten endlich den Weg entlang, auf dem er kommen mußte – in dem Hause war ja Alles zum festlichen Empfange bereit. In dem Walde dunkelte es bereits stark und der Abendwind rauschte leise in den Wipfeln der hohen Tannen.

Vergebens strengte Selma die Augen an, ob sie den Erwarteten nicht kommen sehe. Endlich tönte ein lautes und lustiges Hollah! Hollah! durch die Stille des Waldes hin.

»Das ist mein Vater – er kommt!« rief Selma und länger vermochte auch sie sich nicht zu halten. Ungeduldig mit pochendem Herzen eilte sie dem Geliebten entgegen.

»Da bringe ich ihn!« rief ihr der Alte schon aus der Ferne zu, »und noch einen Zweiten bringe ich mit! Hollah! Heute Abend geht's lustig zu in dem alten Hause!«

Heinrich und Selma hielten einander bereits fest umschlungen.

Auch Marie und ihre Mutter kamen näher. Als Marie den Mann erblickte, der an des Försters Seite ging, zuckte sie fast erschreckt zusammen. Sie stand still – der Athem stockte in ihrer Brust – allein nur einen Augenblick lang, dann stürzte sie ihm mit einem lauten Aufschrei der Freude entgegen – es war Sanner.

Glückliches Wiedersehen und glückliche Herzen!

Der alte Förster wußte kaum, was er in seiner Freude und in dem Glücke, welches er empfand, beginnen sollte.

»Nun kommt, Kinder, kommt!« rief er endlich und drängte dem Försterhause zu und als sie sich demselben näherten, ließ er noch einmal sein lautes und lustiges Hollah! ertönen und gleich darauf flammte es auf zwischen den beiden alten Tannen, welche vor dem Försterhause standen, und hoch in der Luft strahlte ihnen ein mächtiges Transparent entgegen.

»Lies, Junge, lies! Wie heißt das?« rief Dammer, Heinrich's Hand erfassend.

» Pereat Napoleon!« rief Heinrich.

»Ja, Pereat Napoleon!« wiederholte der Alte laut, begeistert stimmten die Andern mit ein. Es hallte durch den Wald hin und tönte als Echo von den Bergen vielstimmig zurück: Pereat Napoleon!

* * *


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