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Der Polizeityrann.

Erzählung.


I.

Es war ein Frühlingsabend des lustigen Jahres 1848. In einem einfach ausgestatteten, aber äußerst sauber gehaltenen Zimmer saß eine bereits bejahrte Frau in gebückter Stellung und scheinbar schlafend in einem Lehnstuhle. Die abgezehrten Hände waren auf die Stuhllehnen gelegt, der Kopf der Dasitzenden war fast bis auf die Brust herabgesunken. Die bleichen Wangen und die tiefen Furchen in dem Gesichte der Frau verriethen deutlich, daß Krankheit und Sorgen sie schwer heimgesucht hatten.

Sie schlief nicht. Dann und wann öffnete sie die Augen und folgte mit denselben den Bewegungen eines jungen, kaum zwanzigjährigen Mädchens, welches mit sichtbaren Zeichen der Unruhe im Zimmer auf und abging, bald horchend an den geschlossenen Fensterladen stillstand, bald sich der Thür zuwandte, als ob es das Zimmer verlassen wollte.

»Was hast Du, Margarethe?« fragte die Frau endlich, indem sie sich emporrichtete und in dem Sessel sich anlehnte.

»Nichts – nichts, Mutter,« entgegnete die Gefragte, deren hastige, unruhige Antwort, deren verlegener Blick nur zu deutlich verrieth, daß sie der Frage auszuweichen wünschte.

Die Alte schwieg einige Augenblicke nachsinnend.

»Kind, Du bist heute anders als sonst,« fuhr sie dann fort. »Ich habe Dich lange beobachtet, es liegt Dir etwas auf dem Herzen, welches Du bezwingen möchtest und das Dir doch keine Ruhe läßt. Was ist es?«

»Es ist nichts, Mutter,« versicherte das Mädchen noch einmal, indem es zu der Alten trat und die Hand auf ihre Schulter legte.

Die Frau erfaßte die Hand und hielt sie fest in ihrer Rechten.

»Du täuschest mich dennoch nicht,« sprach sie. »Meinst Du, ich kenne nicht jede Deiner Gewohnheiten, jeden Deiner Blicke? Du bist heute anders als sonst. Und wo bleibt Heinrich? Es ist selten, daß er nicht rechtzeitig zum Abendessen erscheint, und weshalb hast Du noch nicht Sorge dafür getragen?«

Diese Frage schien das Mädchen noch mehr in Verlegenheit zu setzen. Gewaltsam mußte es alle Kräfte zusammenraffen, um antworten zu können.

»Heinrich hat mir gesagt, daß er heute später zum Abendessen kommen werde – vielleicht gar nicht.«

»Vielleicht gar nicht?« wiederholte die Frau, indem sie den Kopf emporrichtete, um dem Mädchen in das Auge zu schauen. »Margarethe, was geht vor? Schon den ganzen Tag über ist mir Euer seltsames Wesen aufgefallen. Ihr sprachet leise mit einander, damit ich Euch nicht höre – Was habt Ihr vor?«

»Nichts, Mutter,« wiederholte die Gefragte mit leise bebender Stimme. »Und wenn wir Etwas vorhätten – sei überzeugt, daß weder Heinrich noch ich etwas Unrechtes thun werden!«

»Ja, das weiß ich,« sprach die Alte, indem sie die Hand ihrer Tochter liebkosend strich, »etwas Unrechtes thut Ihr nicht, dazu habt Ihr Eure Mutter zu lieb – Ihr seid ja meine einzige Freude!«

Sie sank erschöpft in den Sessel wieder zurück.

Margarethe setzte sich an den Tisch und nahm ein Nähzeug zur Hand. Sie wollte ruhig erscheinen, dennoch glitt ihr Auge wiederholt zum Fenster hinüber und ihre Hand hielt still, während ihr Ohr aufmerksam lauschte.

In dem Zimmer war Alles ruhig und Nichts zu vernehmen, als der gleichmäßige Pendelschlag der Wanduhr.

Auch auf der sonst lebhaften Straße war es fast unheimlich ruhig. Nur selten wurden die Tritte eines rasch Vorübereilenden hörbar.

Margarethe's Ohr lauschte mit wachsender Unruhe. Ein dumpfes Geräusch wie von zahlreichen fernen Menschenstimmen wurde vernehmbar, sie konnte sich auch täuschen, dennoch zuckte sie erschreckt zusammen. Hastig sprang sie auf und eilte an das Fenster, dessen Laden sie halb öffnete.

»Was hast Du, Margarethe?« wiederholte fragend die Kranke in dem Sessel.

»Nichts – nichts,« erwiderte das Mädchen hastig, ohne sich umzublicken. »Es ist schwül in dem Zimmer – die frische Abendluft thut mir wohl.«

Die Alte schüttelte schweigend mit dem Kopfe. Sie fröstelte und sie begriff deshalb ihre Tochter nicht.

Deutlicher wurde jetzt durch das geöffnete Fenster fernes Schreien und Toben von vielen Menschenstimmen vernehmbar. Lautes, gellendes Pfeifen tönte unheimlich dazwischen. Auf der Straße eilten mehrere Männer mit schnellen Schritten unter dem Fenster vorüber – Margarethe wollte sie anrufen und doch wagte sie es nicht. Ihr Herz schlug fast hörbar laut, sie preßte die Hand darauf, allein das Blut, welches ihr bald heiß in die Wangen schoß, bald ungestüm zum Herzen zurückdrang, ließ sich nicht beruhigen.

So oft das Schreien und Toben aus der Ferne zu ihr drang, zuckte sie zusammen. Bald schien es näher zu kommen, bald gänzlich aufzuhören.

Die Alte hinter dem Ofen hörte von All' dem nichts. Sie hatte die Augen wieder geschlossen und saß halb schlafend, halb wachend da – ihr ganzes Leben war ja nur noch ein halbes.

Plötzlich klang das Schreien viel näher, wenn auch vereinzelter. Margarethe glaubte sogar einzelne Stimmen herauszuhören. Das Pfeifen hatte aufgehört. Mehrere Reiter sprengten im schnellsten Galopp vor dem Hause vorüber, es war zu dunkel, um sie zu erkennen, allein deutlich hatte sie das Klirren von Waffen und das Rasseln der Säbel gehört, welche an die Flanken der Pferde schlugen.

Eine namenlose Angst bemächtigte sich des Mädchens. »Hülfe! Hülfe!« hörte sie aus der Ferne einige Stimmen deutlich rufen. Es klang so ängstlich und schmerzvoll. Was sollte sie beginnen? Es war ihr unmöglich, an dem Fenster stehen zu bleiben, sie hätte hinauseilen mögen, um Hülfe zu bringen und sich zu überzeugen, wer sie bedürfte. Sie konnte ihre Mutter nicht allein lassen.

Sie zitterte. Jeder Schrei und Hülferuf drang ihr tief in's Herz hinein, sie hätte mit beiden Händen die Ohren verschließen mögen, um nichts mehr zu hören, und dennoch hielt es sie mit unbezwingbarer Gewalt am Fenster zurück.

Da kamen einzelne Männer und Knaben in wilder Hast auf der Straße daher gerannt. Sie wollte ihnen zurufen, sie fragen, allein sie vermochte kein Wort über die Lippen zu bringen, eine namenlose Angst hielt diese geschlossen. Die Zahl der Fliehenden mehrte sich. Wieder kamen Reiter von der entgegengesetzten Seite die Straße herab gesprengt.

»Hülfe! Hülfe!« ertönte es auf's Neue.

Entsetzt fuhr Margarethe zurück. Sie hatte die Stimme, welche um Hülfe rief, erkannt. Mit dem Rufe: »Allmächtiger Gott!« wollte sie zur Thür eilen, da wurde dieselbe aufgerissen, und ein junger Mann stürzte athemlos, erschöpft, blutend in das Zimmer. In ihren Armen brach er zusammen.

»Heinrich, Heinrich, allmächtiger Gott!« rief sie, indem sie den halb Besinnungslosen aufrecht zu halten versuchte.

Das Blut floß von des jungen Mannes Stirn, rann über Margarethe's Arm hin und tropfte langsam auf die Erde.

Der Verwundete raffte sich gewaltsam zusammen.

»Margarethe, verbirg mich!« rief er, »sie sind mir auf der Spur, sie verfolgen mich, ich bin verloren, wenn sie mich finden!«

Die Alte hatte sich erschreckt emporgerichtet, sie hatte noch keine Worte gefunden, sie wollte auf ihren Sohn zueilen, kraftlos brach sie in dem Sessel zusammen. Weder Margarethe noch Heinrich bemerkten es.

»Wer – wer verfolgt Dich?« fragte Margarethe mit bebender Stimme. Jeder Blutstropfen schien aus ihren Wangen gewichen zu sein und ihre großen dunkeln Augen waren mit einer unsagbaren Angst auf den geliebten Bruder gerichtet.

»Die Polizei – sie verfolgen mich!« brachte der Gefragte mühsam hervor. »Ich muß mich verbergen – ich höre sie kommen – ich bin verloren!«

Er wollte zur nahen Kammerthür eilen, ehe er sie erreicht hatte, sank er ohnmächtig nieder.

Mit lautem Aufschrei warf sich Margarethe neben ihn nieder. Seinen Kopf hob sie empor und legte ihn auf ihren Schooß, ein Tuch riß sie sich ab und preßte es auf die stark blutende und weit klaffende Wunde auf seiner Stirn.

»Er stirbt – allmächtiger Gott, er stirbt!« rief sie und nur mit Mühe vermochte sie sich selbst aufrecht zu erhalten.

Dieser Ruf hatte auch die Mutter wieder wach gerufen.

Zitternd richtete sie sich empor, laut wehklagend beugte sie sich über den bewußtlos daliegenden Sohn – sie hatte keine Ahnung, was geschehen war, der Schreck und der Schmerz ließen sie auch nicht darnach fragen. Sie sah ihn scheinbar leblos daliegen – wie es gekommen, war ihr in diesem Augenblicke gleichgiltig.

Unter dem heftigsten Schluchzen erfaßte sie seine Hand und preßte sie an ihre Lippen.

Die Thür des Zimmers wurde hastig geöffnet und zwei Polizeidiener traten ein.

»Ha! Da ist er ja, den wir suchen!« sprach der eine derselben. »Ich glaubte, er würde weiter entkommen sein und uns mehr Mühe verursachen,« fügte er hinzu, indem er an den Verwundeten herantrat.

Mit starrem Auge hatte Margarethe die beiden Eingetretenen angeblickt. Sie wußte, was sie wollten, allein der Zustand, in welchem ihr Bruder sich befand, mußte diesen ja schützen. Sie schien es für unmöglich zu halten, daß man ihn jetzt, in dieser Lage verhaften könne.

»Was wollen die Männer?« fragte die Frau ihre Tochter.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Margarethe, indem sie mit Mühe die Worte hervorbrachte. Sie konnte ihrer schwachen, kranken Mutter die Wahrheit nicht sagen.

»Diesen Burschen hier wollen wir verhaften!« fuhr derselbe Polizeibeamte fort, »und ich denke, er wird uns nicht zuviel Umstände machen.«

»Meinen Sohn, meinen Heinrich verhaften!« schrie die Frau erschreckt auf. Die Angst verlieh ihr Kraft. »Weshalb? weshalb?« fuhr sie aufgeregt fort. »Was hat er begangen? Er hat nie einem Menschen ein Leid zugefügt, hat nie ein Unrecht gethan!«

»Ein Empörer ist er! ein Revolutionär, ein Republikaner!« gab der Polizeibeamte zur Antwort. »Dem Polizeidirector haben sie die Fenster eingeworfen, sein Haus wollten sie zerstören, und Der war der Verwegenste von Allen, er war der Anführer. Wir waren gottlob darauf vorbereitet und haben sie mit blutigen Köpfen heimgeschickt, daß ihnen wohl zum zweiten Versuche die Lust vergangen sein wird!«

Die Frau verstand seine Worte nicht. Von dem Freiheitshauche, der in jenen Tagen mit dem Westwinde über Deutschland hinwehte, der Tausend und Tausend Köpfe erfüllte und in so mancher Brust hochfliegende Hoffnungen wachrief, hatte sie noch nichts vernommen. Man hatte ihr absichtlich jede Nachricht darüber und die Gährung, welche sich fast allgemein der Gemüther bemächtigt hatte, verschwiegen, um sie nicht aufzuregen. Ihr durch Krankheit und Sorgen geschwächter Geist würde dies Alles ohnehin nicht begriffen haben.

Sie schien noch eine Frage an die Polizeibeamten richten zu wollen, Margarethe kam ihr zuvor.

»Laß nur Mutter,« sprach sie, indem sie sich emporrichtete und gewaltsam alle Kräfte zusammennahm. »Man wird Heinrich nicht verhaften – jetzt nicht! – Sie sehen, in welcher Lage er sich befindet,« wandte sie sich mit bebender Stimme an die beiden Männer. »Er ist der Hülfe dringend bedürftig, wenn sie nicht zu spät kommen soll. Hat er Etwas gethan, was strafbar ist – nun Sie sehen daß er Ihnen nicht entfliehen kann.«

»Das kümmert uns nicht,« entgegnete der Beamte. »Wir haben den strengen Befehl, ihn zu verhaften. Uebrigens stirbt so Einer nicht so leicht, und es wird auch wohl zeitig genug sein, wenn er im Gefängnisse verbunden wird.«

»Sie wollen meinen Bruder in diesem Zustande verhaften?« rief Margarethe erschreckt.

»Gewiß!«

»Nimmermehr!« rief das Mädchen entschlossen, indem seine dunkeln Augen leuchteten. »Sie würden ihn dadurch morden! Er bedarf der Hülfe und Pflege – mit meinem Leben bürge ich Ihnen, daß er nicht entflieht.«

»Unser Befehl lautet, ihn zu verhaften, wo und wie wir ihn treffen,« war die Antwort.

»Seien Sie barmherzig,« flehte Margarethe. »Sie sehen die Gefahr, in der er sich befindet – es wäre unmenschlich, ihn in diesem Zustande fortzuführen!«

Der Polizeidiener zuckte mit den Schultern. »Wir müssen unsern Befehl ausführen!«

»Dann müssen Sie auch mich mit verhaften!« rief das Mädchen in höchster Aufregung. »Ich verlasse meinen Bruder nicht, ich gehe mit ihm, wohin er auch gebracht werden mag – ja, ich werde ihn schützen, ich werde das Aeußerste wagen, ehe ich dulde, daß Jemand die Hand an ihn legt!«

Schützend stellte sie sich vor den noch immer bewußtlos Daliegenden hin, dessen blutende Stirn sein Gesicht fast unkenntlich gemacht hatte.

Es war nur ein schwaches Mädchen, welches den beiden Männern gegenüber stand, dennoch standen diese unentschlossen da. War es der aus ihren Augen leuchtende Muth, der ihnen imponirte, oder war es die Schönheit des Mädchens, welche in diesem Augenblicke mehr als je hervortrat, denn der Unwillen hatte auf ihre bleichen Wangen ein leichtes Roth gerufen, ihr dunkles volles Haar hatte sich halb aufgelöst, als sie sich über den Bruder beugte und fiel nun ungezwungen bis auf ihre Schulter herab. Das Tuch, welches sie sich abgerissen, um das Blut des Verwundeten zu stillen, hatte ihren Hals entblößt und die schönen Formen desselben traten unverhüllt hervor.

Wieder wurde die Thür geöffnet, leise, kaum hörbar, und ein mittelgroßer, fast schmächtig gebauter Mann trat ein. Sein kleines, graues, stechendes Auge durchflog schnell das Zimmer und hatte mit einem Blicke die ganze Situation erfaßt. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht hin.

Margarethe zuckte erschreckt zusammen, als sie ihn erblickte; die beiden Polizeidiener traten zur Seite.

»Ah, da ist ja der Revolutionär! Weshalb verhaften Sie den Menschen nicht?« wandte sich der Eingetretene fragend an die beiden Polizeidiener. »Sie wissen, daß es heute noch mehr Arbeit giebt und deshalb keine Zeit zu verlieren ist.«

»Das Mädchen hier beschwor uns, von der Verhaftung jetzt abzustehen,« erwiderte der eine der Beamten. »Der Verwundete ist ihr Bruder und er scheint in der That schwer verletzt zu sein.«

»Das zu beurtheilen kommt dem Arzte und nicht Ihnen zu. Sie haben nur Ihre Pflicht zu thun!«

Der Eingetretene sprach diese Worte mit einem halb befehlenden und halb verweisenden Tone. Er sprach nicht laut, dennoch hatte seine Stimme etwas Scharfes, Durchdringendes. Ueber Margarethe hatte er nur einen flüchtigen Blick hingleiten lassen, er that, als ob er sie nicht bemerke, obschon sie dicht vor ihm stand und das Auge angstvoll, fragend auf ihn gerichtet hielt.

»Herr Polizeidirector, haben Sie Mitleid mit meinem unglücklichen Bruder!« rief sie, die Hände flehend zu ihm erhebend. »Er ist schwer verwundet – er ist dem Tode nahe – seine Schuld ist ja noch nicht einmal erwiesen!«

Das kleine Auge des Genannten blickte zu dem flehenden Mädchen auf, es schloß sich halb, als ob es den Blick desselben nicht ertragen könnte. Wieder glitt um seinen Mund ein Lächeln hin, es war halb spöttisch, halb triumphirend.

»Für seine Schuld sind hinreichende Zeugen,« erwiderte er. »Es thut mir leid, die Rücksicht, welche Sie wünschen, nicht nehmen zu können. Das Gesetz schreibt mir vor, ihn verhaften zu lassen.«

»Das Gesetz kann so Unmenschliches nicht vorschreiben, Jemand, der dem Tode nahe ist, dessen Rettung allein von schneller Hülfe abhängt, zu verhaften!« rief Margarethe. »In Ihrer Hand liegt es, ihn zu schonen. Haben Sie Mitleid mit ihm, mit meiner unglücklichen Mutter – und – auch mit mir. Er kann Ihnen ja nicht entfliehen. Mit meinem Leben bürge ich dafür, daß er dies Haus nicht verlassen soll.«

»Ich darf keine Rücksichten nehmen,« entgegnete der Polizeidirector ruhig.

»Sie dürfen es – die Menschlichkeit verlangt es sogar von Ihnen,« fuhr Margarethe immer erregter fort. »Lassen Sie die Männer fortgehen, damit ich zu einem Arzte eilen kann, ehe es zu spät ist!«

»Ich werde Sorge tragen, daß der Verhaftete sofort von einem Arzte untersucht wird, wenn er im Gefängnisse angelangt ist.«

»Sie wollen kein Erbarmen üben!« rief das Mädchen leidenschaftlich. »Oh, ich weiß auch weshalb – aber mit Gewalt werde ich mich der Verhaftung meines Bruders entgegensetzen, denn Sie morden ihn und meine Mutter!«

»So wenden Sie Gewalt an!« sprach der Polizeidirector halb lächelnd und doch streng befehlend zu den beiden Dienern. »Wir haben nicht Zeit, hier besondere Rücksichten zu nehmen.«

Mit lautem Schrei warf Margarethe sich über ihren Bruder, um denselben mit ihrem Körper zu schützen.

Noch immer zögerten die Polizeidiener. Ein befehlender Blick ihres Directors trieb sie an, seinen Auftrag auszuführen.

Mit geringer Mühe war das schwache Mädchen zur Seite geschoben, dann hoben sie den Bewußtlosen empor und trugen ihn zum Zimmer hinaus. Der Polizeidirector folgte ihnen. An der Thür stand er still und wandte den Blick zurück. Er ließ ihn auf der Gestalt des schönen Mädchens weilen, welches händeringend, knieend auf dem Erdboden lag. Kein Zug des Mitleids war in seinem Gesichte zu entdecken. Einen Augenblick lang schien es, als wolle er zu ihr zurückkehren, dann faßte er einen andern Entschluß und verließ schnell das Zimmer.

Die Alte hatte Alles ruhig, widerstandslos geschehen lassen. Der Schreck schien ihren schwachen Geist vollständig betäubt zu haben. Schweigend, heftig zitternd erhob sie sich und suchte ihren Sessel auf, in dem sie sich niederließ und starr vor sich hinblickte. Ihr war ja noch Alles ein Räthsel, sie war sich selbst nicht klar bewußt, ob es nur ein schrecklicher Traum oder Wirklichkeit war.

Margarethe lag noch immer in ihrer knieenden Stellung, nur den Kopf hatte sie auf einen Stuhl gestützt. Sie schluchzte heftig. Sie wollte aufspringen und ihrem Bruder nacheilen, um ihn zu retten – das Gefühl ihrer Ohnmacht hielt sie zurück. Sie wußte, daß sie von dem Manne, in dessen Hand jetzt sein Schicksal lag, kein Mitleid zu erwarten hatte, sie wußte, daß er sie mit kaltem Lächeln zurückweisen werde.

Mit unendlicher Angst hatte sie den ganzen Tag über dem Abende entgegengeblickt – einen solchen Ausgang hatte sie nicht erwartet, selbst die schlimmste Befürchtung hatte ihr ein so entsetzliches Bild nicht gezeigt: ihr Bruder, an dem sie mit ganzer Liebe hing, schwer verwundet und obenein verhaftet! Hätte sie bei ihm bleiben, an seinem Lager sitzen und ihn pflegen können, ihre Angst würde sich gemildert haben. Aus seinen Mienen, aus seinem Blicke, aus jedem seiner Athemzüge würde sie erkannt haben, ob Gefahr für sein Leben vorhanden sei.

Welchen Eindruck mußte es auf ihn machen, wenn er im Gefängnisse zum Bewußtsein zurückkehrte, wenn er fremde Menschen um sich erblickte und gewahr wurde, daß er ein Gefangener war! Konnte nicht dieser Eindruck ihn schon zur Verzweiflung bringen? mußte nicht der Gedanke in ihm aufsteigen, daß sie, seine eigene Schwester, ihn im Stiche gelassen habe?

Dieser Gedanke rüttelte sie auf, sie konnte ihn nicht ertragen. Sie sprang empor, um dem Bruder zu folgen. Es konnte ja Niemand so grausam sein, sie von ihm zu trennen. Nur pflegen, nur an seinem Lager sitzen wollte sie; gegen ein schwaches Mädchen konnte ja Niemand Mißtrauen fassen.

Hastig warf sie ein Tuch um. Sie trat noch einmal vor ihre kranke Mutter hin – die Alte schien zu schlafen, zum wenigsten hatte sie die Augen fest geschlossen. Einen Augenblick lang blieb Margarethe regungslos und unentschlossen vor ihr stehen. Auch die Kranke bedurfte ihrer Hülfe und Pflege – ihr Bruder bedurfte derselben noch mehr, die Mutter konnte sie der Obhut Anderer empfehlen.

Ohne die scheinbar Schlafende zu wecken, eilte sie zur Thür, ein junger Mann trat ihr hastig durch dieselbe entgegen. Auch sein Gesicht verrieth die größte Aufregung und Unruhe.

»Hermann, Hermann!« Mit diesem Rufe eilte Margarethe ihm entgegen.

»Wohin willst Du?« fragte der Eingetretene, des Mädchens Hand erfassend.

»Zu Heinrich – ich habe keinen Augenblick zu verlieren – bleib' Du bei der Mutter!«

»Wo ist er?« fragte der junge Mann weiter. »Ich suche ihn, ich habe ihn aus den Augen verloren, als die Soldaten uns unerwartet in den Rücken fielen. Jeder dachte nur daran, sich selbst zu retten – ich habe ihn seit der Zeit vergebens gesucht. Wo ist er?«

»Er war hier, er stürzte schwer verwundet in das Zimmer, er sank ohnmächtig nieder – da kam die Polizei, um ihn zu verhaften – bewußtlos hat sie ihn fortgetragen.«

»Er ist verwundet und verhaftet! Oh! oh!« rief der junge Mann und preßte die Hand auf die Stirn. »Ich befürchtete es, er befand sich unter Denen, auf welche die Soldaten unmittelbar eindrangen, welche sich zur Wehre setzten. Wer hat ihn verhaftet?«

»Der Polizeidirector selbst war hier!«

»Ploetz selbst? Dann ist keine Rettung für ihn!« rief Hermann mit verzweiflungsvollem Tone. »Oh, dieser Mann wird seine ganze Rache an ihm auslassen! – Er hat ja noch Niemand geschont, der in seine Gewalt gerathen ist.«

»Ich muß zu ihm, ich darf Heinrich nicht verlassen,« erwiderte Margarethe. »Ich wage Alles und sollte ich die Knie des Mannes umklammern müssen, um sein Mitleid zu erflehen!«

»Bleib hier, Margarethe,« sprach Hamann. »Glaubst Du wirklich, der Mann wäre des Mitleids fähig? Umklammere diesen Thürpfosten, flehe zu ihm, daß er Wunder thue und Heinrich zurückführe – es wird eher geschehen, – ehe Du den Polizeidirector erweichst! Die ganze Stadt könnte flehend vor ihn hintreten, alle Bürger könnten sich ihm zu Füßen werfen – er würde sie mit höhnendem Lächeln anhören, würde ihnen lächelnd erwidern, daß es ihm unendlich leid thue, ihre Bitte nicht erfüllen zu können, und mit kaltem Blute würde er dann den Befehl geben, Deinen Bruder doppelt hart und streng zu behandeln. Ich kenne ihn!«

Er warf sich erschöpft auf einen Stuhl.

Den Blick starr auf die Erde gerichtet, stand Margarethe regungslos da.

»An diesen Ausgang hatte Keiner von uns gedacht,« fuhr Hermann fort. »Alles war so vorzüglich eingeleitet und vorbereitet. Wir hofften mit Bestimmtheit, dem Manne heimzahlen zu können für All' das, wodurch er uns jahrelang gepeinigt hat – nun ist er Sieger geblieben und er wird uns seine Rache doppelt schwer empfinden lassen!«

»Und Heinrich soll ihm schutzlos überlassen bleiben?« warf Margarethe ein, deren Gedanken sich nur mit dem Bruder beschäftigten.

»Nein, nein! Du hast Recht – es darf nicht sein!« rief der junge Mann aufgeregt aufspringend. »Uns Alle wird die Rache des Mannes treffen, da ist es gleichgiltig, ob unsere Schuld noch erhöht wird. Unsere Freunde sind freilich zerstreut, viele hat Furcht und Schrecken heimgetrieben, allein ich werde sie aufsuchen, ich werde ihnen mittheilen, daß man Heinrich schwer verwundet und bewußtlos als Gefangenen fortgetragen hat, ich will sie aufstacheln, ich will ihnen zurufen, daß auch sie morgen verhaftet werden – Alle – Alle, daß das Gefängniß schon in Bereitschaft gesetzt ist, in dem sie schmachten sollen, ich will ihnen schildern, wie der Mensch triumphirt, wie er lacht, sich freut – ich will sie bis zur Verzweiflung treiben, bis sie mir endlich folgen, um Heinrich mit Gewalt zu befreien, um noch einmal zu versuchen, was uns mißlungen ist – mehr als Leben und Freiheit kann es ja doch nicht kosten!«

Er wollte aus dem Zimmer stürzen – Margarethe ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück.

»Bleib!« sprach sie mit bebender Stimme. »Hermann, willst Du auch Dich in's Unglück stürzen! Es giebt vielleicht noch einen anderen Weg, Heinrich zu retten.«

»Keinen!« unterbrach sie der junge Mann. »Morgen wird man auch mich verhaften – Alle, welche heute Abend dabei waren, Schuldige und Unschuldige, darauf kommt es ja nicht an. Wir wollen uns vertheidigen, so lange es noch möglich ist. Lass' mich fort – ehe man auch mich hier verhaftet. Ha – ich höre bereits Schritte im Hause – leb' wohl mein Herz – so leicht soll es ihnen nicht werden, mich in ihre Hände zu bekommen!«

Hastig preßte er das Mädchen an seine Brust, küßte sie, sprang dann auf das Fenster zu, riß es auf und war mit einem Sprunge auf der Straße.

Einige Sekunden später traten dieselben Polizeidiener wieder in das Zimmer. Ihr forschender Blick verrieth, daß sie Jemand suchten. Ihre Frage, ob nicht eben ein Mann im Zimmer gewesen sei, ließ Margarethe unbeantwortet. Ihr ganzer Körper zitterte – sie wäre nicht im Stande gewesen, nur ein Wort zu sprechen. Die Polizeibeamten drangen nicht weiter in sie. Sie durchsuchten das Zimmer und die angrenzende Kammer. Als sie auch dort Niemand fanden, verließen sie unwillig das Haus. Das offene Fenster mochte ihnen verrathen haben, daß Der, den sie suchten, durch dasselbe entkommen war.

Erschöpft sank Margarethe auf einen Stuhl. Zu der Angst um ihren Bruder hatte sich noch eine neue gesellt – die um ihren Geliebten. –


II.

Der Morgen des folgenden Tages war hereingebrochen. Die sonst lebhafte Stadt machte einen öden, fast unheimlichen Eindruck. Auf den Straßen war es still, die meisten Läden waren geschlossen. Es war nicht die Stille, wie sie wohl an Feiertagen in der Stadt zu herrschen pflegte. Die Menschen, welche über die Straße hinschritten, gingen meist schnell, hastig vorüber, mehr ängstlich als neugierig zur Seite blickend. Dann und wann schritten einige Soldatenpatrouillen durch die Straßen hin, das Gewehr auf der Schulter. Man konnte ihren gleichmäßigen, festen Schritt weithin vernehmen. Wer am Morgen erst in der Stadt angelangt wäre, würde den Zweck dieser Patrouillen nicht begriffen haben, denn Alles in der Stadt war still und ruhig. Es lag eben jene unheimliche Ruhe über ihr, die einer unterdrückten Empörung, einer niedergeworfenen Revolution, mag sie auch noch so gering und unbedeutend sein, folgt.

Die Schuldigen hielten sich verborgen, die Nichtschuldigen bewahrten eine scheue, ängstliche Zurückhaltung, um nicht unschuldiger Weise in Verdacht zu gerathen. Mochte auch Mancher erbittert mit den Zähnen knirschen, mochte auch manche Hand sich drohend ballen, der Groll noch so laut und heftig an die Brust pochen, öffentlich wagte Niemand dies zu zeigen. Die Schrecknisse am Abend zuvor, die zahlreichen Verwundungen, welche vorgekommen waren, die vielen Verhaftungen, dies Alles hatte die Bürger eingeschüchtert.

Die allgemeine Unzufriedenheit und Gährung hatte auch in dieser Provinzialstadt mehr und mehr um sich gegriffen und Hunderte erfaßt. Der Geist der Freiheit und Revolution, welcher in jenen Tagen über ganz Deutschland hinwehte, hatte die seit Jahren genährte Erbitterung der Bürger gegen den Polizeidirector Ploetz zu hellen Flammen angefacht, und gegen ihn allein hatte sich zunächst die kleine Revolution am Abende zuvor gerichtet. Man wollte dem Manne alle die bitteren Stunden, welche er der Stadt seit Jahren bereitet hatte, heimzahlen, wollte das Joch, welches so drückend auf den Bürgern ruhte, abschütteln und den Mann gewaltsam vertreiben, der ebenso willkürlich wie unumschränkt in der Stadt geherrscht hatte.

Dies war mißlungen. Der Gefürchtete und Gehaßte stand jetzt mächtiger da als je zuvor, und ein Jeder wußte, daß derselbe sich schwer rächen werde. –

 

Der Polizeidirector Ploetz schritt an diesem Morgen in seinem Zimmer auf und ab. Es war eine mittelgroße, fast zierliche und hagere Gestalt von ungefähr fünfzig Jahren.

Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Sein Gesicht zeigte kaum eine Spur der schlaflos und ruhelos durchbrachten Nacht; es war bleich wie immer. Um seinen Mund zuckte ein schwaches Lächeln, allein es war schwer zu erkennen, ob es Freude oder Spott andeutete. Das dünne blonde Kopfhaar war sorgfältig geordnet, um die Blöße auf dem Scheitel, welche eine lustige Vergangenheit verrieth, zu verbergen.

Nur dann und wann blieb er einen Augenblick an dem Fenster stehen und ließ seine kleinen grauen und leuchtenden Augen mit einem sichtbaren Ausdrucke der Zufriedenheit über die menschenleere Straße hingleiten. Dann setzte er seine Wanderung durch das Zimmer wieder fort.

Es pochte leise an die Thür. Sein scharfes Ohr vernahm es sofort und er stand still, das Auge halb geschlossen und scharf fixirend auf die Thür gerichtet. Sein Gesicht nahm sofort einen freundlicheren Ausdruck an, als er die lange, hagere Gestalt eines jungen Mannes von ungefähr zwanzig Jahren eintreten sah.

»Ah, guten Morgen Scherbach!« rief er dem Eingetretenen zu. »Nun, ich gratulire Ihnen.«

»Wozu?« fragte der Genannte mit einem halb verborgenen Lächeln.

»Wie unbefangen Sie sich stellen,« fuhr der Polizeidirector in heiterem Tone fort. »Glauben Sie, daß ich je die Dienste eines Mannes vergesse? Ich habe heute Morgen sogleich einen Bericht über die Revolution, welche gestern Abend und in vergangener Nacht hier stattgefunden hat und glücklich unterdrückt ist, nach der Residenz gesandt, ich habe in dem Berichte erwähnt, wie viel ich bei dem glücklichen Ausgange Ihrer Hülfe verdanke und ausdrücklich gebeten, daß man an Sie denken und Sie mit einer guten Anstellung belohnen möge.«

Die Augen des jungen Mannes leuchteten freudig auf. Er wollte seinen Dank für diese Nachricht aussprechen, allein er fand augenblicklich nicht die rechten Worte.

Ploetz bemerkte es und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Lassen Sie, lassen Sie,« sprach er. »Setzen Sie sich. Ich würde auch ohne Sie von dem, was gegen mich im Werke war, Kenntniß erhalten haben, ja ich erhielt sie sogar kurze Zeit nach Ihrer Mittheilung, allein ich werde nie vergessen, daß Sie der Erste waren, der mir diese Nachricht überbrachte. – Die Sache hat mir einen köstlichen Spaß bereitet. Ich hatte Zeit genug, die gehörigen Vorkehrungen zu treffen. Die revolutionäre Bande glaubte mich zu überraschen und traf mich statt dessen wohl gerüstet. Ich vergesse das Erstaunen und den Schreck derselben nie, als sie meine Hausthür fest verriegelt fand und während sie diese zu sprengen versuchte, plötzlich im Rücken und zu beiden Seiten von meinen Leuten und von Soldaten angegriffen wurde.«

»Die Leute haben sich aber doch zum Theil mit viel Muth gewehrt,« warf der junge Mann ein.

»Nennen Sie das nicht Muth. Ich habe Alles selbst gesehen. Wer nicht davon laufen konnte, hat sich aus Verzweiflung zur Wehre gesetzt. Ich kenne das besser, solche Bande ist wohl verwegen, wenn sie nichts zu befürchten hat, allein Muth besitzt sie nicht. – Ich allein würde mich zwischen sie gewagt haben,« fuhr der Polizeidirector fort, indem er sich in die Brust warf, »ja sogar ohne Waffen, es lag mir indeß daran, daß sie eine tüchtige Lehre empfing. Meine Leute haben frisch und entschlossen auf die Köpfe losgeschlagen, mancher der frechen Burschen wird den Denkzettel, den er empfangen hat, nie ganz überwinden, allein dies ist das einzige Mittel, um sie einzuschüchtern.«

»Und trotzdem haben sie während der Nacht noch das Gefängniß zu erstürmen versucht, um die Verhafteten zu befreien,« bemerkte der junge Mann. »Es würde ihnen auch gelungen sein, hätte ich Sie nicht früh genug davon in Kenntniß gesetzt.«

»Scherbach, ich will Ihnen einräumen, daß ich darauf nicht vorbereitet war, daß mir dies erst durch Ihre Mittheilung möglich wurde,« sprach Ploetz. »Es ist mir nur unangenehm, sehr unangenehm, daß der Anstifter und Führer dieses zweiten verwegenen Unternehmens, daß der Mensch, der Hermann Stahl, entkommen ist. Es lag mir grade an seiner Verhaftung sehr viel, ich habe meine Leute darauf aufmerksam gemacht, allein der Mensch hat sich wie ein Verzweifelter gewehrt, den Diener Grabau hat er mit einer solchen Heftigkeit niedergeschlagen, daß ich an seinem Aufkommen zweifle, er hat noch zwei andere Beamte verletzt und ist doch entkommen. Vergebens suchen ihn meine Leute – haben Sie nichts über ihn erfahren?«

Scherbach zog die Schultern empor. »Nichts,« erwiderte er. »Er wird sich versteckt haben.«

»Ich glaube vielmehr, daß er aus der Stadt entflohen ist.«

»Er flieht nicht,« bemerkte Scherbach. »Wissen Sie, was ihn hier zurückhält?«

»Ich verstehe Sie. Sie meinen das Mädchen, seine Braut, die Margarethe Bremer, die Schwester des Burschen, der den Angriff auf mein Haus leitete.«

Der junge Mann nickte zustimmend mit dem Kopfe.

»Ich muß diesen Menschen in meine Gewalt bekommen,« fuhr Ploetz fort, indem er im Zimmer auf und abschritt. »Er ist im Stande, seinen verwegenen Streich noch einmal zu wiederholen. Bieten Sie Alles auf, seinen Aufenthalt zu erfahren, es muß Ihnen dies ja leichter werden, als meinen Leuten.«

»Man scheint auch gegen mich mißtrauisch zu werden,« entgegnete Scherbach, »man scheint zu ahnen, daß ich Ihnen Mittheilungen gemacht habe, ich muß deshalb meiner eigenen Sicherheit wegen doppelt vorsichtig sein. Es wäre mir aus diesem Grunde sehr lieb, wenn ich bald in einer anderen Stadt eine Anstellung erhielte.«

Der Polizeidirector blieb vor dem jungen Manne wieder stehen.

»Scherbach, Sie sollen dieselbe haben, aber jetzt noch nicht. Sie müssen noch hier bleiben, weil ich Ihrer Dienste bedarf. Sie sind klug und gewandt – mit Ihnen ist viel aufzustellen.«

Ueber das Gesicht des jungen Mannes glitt bei diesen Worten ein Lächeln hin.

»Sie haben nichts zu befürchten,« fuhr Ploetz fort.

»Ahnt man, daß Sie mit mir in Verbindung stehen, so wird man sich doppelt hüten, Ihnen feindlich entgegen zu treten – ich schütze Sie! – Nun hören Sie mich an: Sie kennen den Literaten Knebel? – Gut. – Er schreibt für mehrere auswärtige Blätter Berichte – er wird auch über die kleine Revolution von gestern Abend schreiben. Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm – Sie werden schon eine geeignete Form und Gelegenheit finden – daß er in seinen Berichten den Vorfall gehörig ausschmückt, daß er ihn vergrößert, zu einem lange vorbereiteten und gut organisirten Aufstande gestaltet, daß er in der Angabe der Zahl der Bande, welche vor meinem Hause erschien, etwas hoch greift – mindestens einige Tausend – meist bewaffnet – sämmtlich kühne und verwegene Männer, echte Revolutionäre! Sagen Sie ihm das, es liegt mir daran, daß der Vorfall in solcher Gestalt in die Presse gelangt.«

Scherbach blickte ihn erstaunt an. Er verstand die Worte des Polizeidirectors nicht – er schien ungewiß zu sein, ob er scherze oder nicht.

»Knebel hält es ja mit den Menschen!« entgegnete er. »Er ist einer der Schlimmsten von Allen – er hat die aufreizenden Artikel in der Tagespost geschrieben.«

»Das Alles weiß ich,« warf Ploetz ruhig lächelnd ein. »Ich kenne ihn indeß. Er ist bisher gegen mich gewesen, trotzdem wird er in meinem Interesse schreiben, wenn ich ihn dafür bezahle. Hier ist Geld – geben Sie ihm das. Es wird gewaltig auf seine Gesinnung einwirken. Hahaha! Ich glaubte, Sie hätten ihn genauer gekannt. Sollte er sich weigern, so deuten Sie ihm an, daß er binnen zwei Tagen aus der Stadt verwiesen sein würde, oder daß ihm die Verhaftung bevorstände. Selbstverständlich soll er in den Berichten äußerst vorsichtig mit den Bemerkungen über meine Person sein. Sie können ihm auch andeuten, daß ich seine Feder noch weiter gebrauchen würde, natürlich sollte er seine Verbindung mit den freisinnigen Blättern aufrecht erhalten.«

Der junge Mann begriff noch immer des Polizeidirectors Absicht nicht.

»Und weshalb soll er die Berichte in der Weise schreiben?« warf er fragend ein.

Das Gesicht des Polizeidirectors nahm mit einem Male einen andern Ausdruck an, es erschien kalt, streng, der herablassend wohlwollende Ausdruck auf demselben war gänzlich geschwunden.

»Scherbach,« entgegnete er, zwar ruhig, aber doch mit einem kalten und verweisenden Tone, »die Gründe, welche mich dazu leiten, kümmern Sie nicht – Sie haben auch nicht darnach zu fragen. Wenn ich Ihnen mein Vertrauen schenke und Aufträge ertheile, so haben Sie dieselben ohne Einwand und ohne Frage auszuführen. Ich frage Sie deshalb kurz: wollen Sie zu dem Literaten Knebel gehen oder nicht?«

Dem jungen Manne war das Blut in die Wangen getreten. Er hatte von dem Polizeidirector, dem er so große Dienste erwiesen, eine freundlichere Behandlung erwartet.

Dennoch wagte er nicht »nein« zu sagen.

»Ich werde es thun,« entgegnete er.

»Gut. Nun noch Eins. Wenn ich einen Auftrag ertheile, so weiß ich auch, daß derselbe auszuführen ist, wenn er nur mit einiger Geschicklichkeit und Energie angegriffen wird. – Sie leisten mir also Bürgschaft, daß Knebel in dem Sinne, wie ich Ihnen mitgetheilt habe, über die Vorfälle des gestrigen Abends und der Nacht schreibt. Ich wiederhole noch einmal, daß ich Sie reichlich dafür belohnen werde.«

»Und wenn Knebel sich nun weigern sollte?« warf Scherbach ein.

Der Polizeidirector trat unwillig mit dem Fuße auf die Erde.

»Er darf sich nicht weigern! Er wird es auch nicht thun, denn er weiß, wie weit meine Macht reicht, und außerdem ist er ein Mensch, der seine Ueberzeugung nach dem Gewinne, dem sie ihm bringt, richtet.«

Scherbach wollte sich erheben, um den Auftrag auszuführen.

»Bleiben Sie noch,« sprach Ploetz, »ich habe noch einige Fragen an Sie zu richten, Ihnen bleibt noch Zeit genug, meinen Auftrag zu vollziehen. – Sie wissen genau, daß Stahl an der Spitze Derjenigen stand, welche in der letzten Nacht das Gefängniß zu erstürmen und Bremer zu befreien suchten?«

»Ich weiß es genau,« versicherte Scherbach.

»Sie haben mir noch nicht mitgetheilt, auf welche Weise Sie davon Kenntniß erhalten haben – erzählen Sie mir dies. In vergangener Nacht hatte ich ja kaum fünf Minuten Zeit – jetzt kann ich Sie mit mehr Ruhe anhören, denn ich denke einen dritten Versuch werden die Tollköpfe nicht wagen. Erzählen Sie!«

Scherbach ließ sich wieder auf den Stuhl nieder, auf dem er zuvor gesessen hatte.

»Ich ging gestern Abend, als der Angriff auf Ihr Haus zurückgeschlagen war,« erzählte er, »in das Wirthshaus ›zum Falken‹. Dort pflegen die unruhigsten Köpfe jeden Abend zusammen zu kommen. Es geht dort oft sehr laut her. Der Wirth, Ziegler, hält es mit ihnen, er theilt ihre Gesinnungen und weiß gewöhnlich alle anders Denkenden fern zu halten. Ich verkehre dort öfter, weil ich einen der Kellner kenne – mein Besuch konnte deshalb nicht auffallen. Ich traf im Ganzen nur Wenige dort. Es herrschte die größte Bestürzung unter ihnen –«

»Halt!« unterbrach ihn Ploetz. »Nehmen Sie sich mehr Zeit. Wen trafen Sie dort? Nennen Sie mir die Namen.«

»Den Advocat Gressing, den Lehrer Ender, den Uhrmacher Kallow, den Fabrikant Schenk –« er nannte noch die Namen mehrerer Männer.

Der Polizeidirector hatte ein Notizbuch ergriffen und zeichnete die Namen der Genannten auf. »So – nun fahren Sie fort. Ziegler war auch zugegen?«

»Ja.«

»Er nahm auch an der Unterhaltung Theil?«

»Gewiß.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Sie waren sehr bestürzt, weil ihr Plan mißlungen war. Dies schien Keiner von ihnen erwartet zu haben. Noch waren sie in Ungewißheit, wieviel verwundet und wie viel verhaftet waren.«

»War nicht der Verdacht in ihnen aufgestiegen, daß ihr Vorhaben verrathen sei?«

»Ja wohl. Sie sprachen dies offen aus.«

»Und sie nannten Niemand, den sie im Verdacht hatten?«

»Sie nannten den Namen des Posthalters.«

»Ah, Sie haben dem Manne Unrecht gethan. Ich bin überzeugt, daß er sich sehr gefreut haben würde, wenn der Plan gelungen wäre, denn er ist mein Freund nicht. Waren Sie nicht besorgt, daß sich der Verdacht auf Sie lenken könnte?«

»Ich sprach mit dem Kellner und stellte mich, als ob ich auf ihr Gespräch nicht höre.«

»Sehr klug von Ihnen. Doch weiter.«

»Es war bereits spät am Abend. Gressing wollte das Zimmer verlassen, um Nachforschungen über einige seiner Freunde einzuziehen, da stürzte Stahl herein. Er befand sich in größter Aufregung. Mit hastigen Worten erzählte er, wieviel verwundet und verhaftet seien. Er schilderte die Verhaftung Bremer's, der besinnungslos und halb todt in das Gefängniß geschleppt sei. Er versicherte, daß Alle verhaftet würden, und daß es die Pflicht eines Jeden sei, seine Freiheit so theuer als möglich zu verkaufen und die gefangenen Kameraden nicht im Stiche zu lassen. Er regte zuerst den Gedanken an, das Gefängniß zu stürmen. Er erzählte, daß er rastlos umhergeeilt sei und bereits viele bewogen habe, daran Theil zu nehmen. Das Gefängniß sei nur von wenigen Soldaten bewacht, die Polizei sei zerstreut, um Verhaftungen vorzunehmen, im Gefängnisse seien ferner Waffen, alle Gefangenen würden sofort auf ihrer Seite stehen und sicherlich lieber sterben, ehe sie die Freiheit auf's Neue sich rauben ließen. Er sprach aufgeregt, begeistert. Anfangs fand er wenig Gehör, die Meisten waren doch furchtsam geworden, als er darauf aber schilderte, in welcher Weise Sie sich an den Bürgern, an der ganzen Stadt rächen würden, als er versicherte, es gebe nur ein Mittel der Rettung –«

Er stockte.

»Welches Mittel?« fragte Ploetz, der ruhig zugehört hatte, mit spöttischem Lächeln. »Sprechen Sie es unbesorgt aus – er meinte das Mittel: mich für immer unschädlich zu machen?«

»Ja, dies sagte er,« fuhr der junge Mann fort. »Da sprang der Advocat Gressing auf den Tisch und rief Allen zu, ihm und Stahl zu folgen, zum zweiten Male könne ihr Vorhaben nicht mißlingen. Es sei Feigheit, die gefangenen Kameraden im Stiche zu lassen – er wolle lieber sterben, als den Vorwurf der Feigheit auf sich laden.«

»Und sie folgten ihm,« fügte Ploetz ruhig hinzu. »Gressing's Worte bewogen sie dazu – er ist ja ein sehr gewandter Redner. Ich habe immer behauptet, er sei ein geborener Volksredner, er hat den echten Redeductus, Kraft und Wärme, er gebraucht kühne Bilder – die wirken, und außerdem besitzt er eine ganz vortreffliche Lunge. Ja, ja! Ich kann mir die Wirkung seiner Worte sehr lebhaft vorstellen, es freut mich um so mehr, daß es mir gelungen ist, ihn sofort zu verhaften. Er ist durch einen Bajonetstich etwas übel mitgenommen – es sollte mir wirklich Leid thun, wenn seine treffliche Lunge dadurch Schaden genommen hätte!«

Er sprach diese Worte mit dem kalten, herzlosen Spotte, der eine Eigenschaft seines Charakters war und der ihm bereits so viele Feinde erworben hatte.

»Nun erzählen Sie weiter.«

»Stahl und Gressing stürmten fort, die übrigen folgten ihnen; da brach auch ich eiligst auf, um Ihnen die Nachricht rechtzeitig bringen zu können. – Ist auch der Lehrer Ender verhaftet?«

»Nein. – Doch weshalb fragen Sie darnach? Es scheint Ihnen daran zu liegen, daß auch er in Sicherheit gebracht wird.«

Scherbach blickte verlegen nieder.

»Ich werde ihn verhaften lassen. Die eine Liebe ist der anderen werth – und er hat ja an dem Aufstande Theil genommen – Sie würden es bezeugen können! – So, nun gehen Sie. Vergessen Sie meinen Auftrag nicht, halten Sie die Augen und Ohren offen und geben Sie mir sofort Nachricht, wenn Sie irgend etwas Neues erfahren. Heute Abend erwarte ich Sie auf jeden Fall.«

Scherbach entfernte sich.

Der Polizeidirector ging noch einige Augenblicke im Zimmer auf und ab. Aus seinen kalten Mienen sprach die größte Zufriedenheit. Er nahm das Notizbuch, in welches er mehrere Namen aufgezeichnet hatte, zur Hand und ein Lächeln glitt über sein Gesicht hin.

Der Polizeidiener Fabian trat ein und blieb mit militärischem Respecte an der Thür stehen. Man sah an der Haltung des Mannes auf den ersten Blick, daß er einst Unterofficier gewesen war – vielleicht auch nur ein Gefreiter.

Ploetz richtete auf ihn nur einen fragenden Blick.

»Wir haben den Schuhmacher Flügel und den Literaten Knebel verhaftet,« sprach der Beamte.

»Knebel?« fragte Ploetz erstaunt.

»Zu Befehl, Herr Polizeidirector.«

»Wer hat Ihnen den Befehl dazu gegeben?« fragte Ploetz unwillig.

»Er ist bei der Revolte in vergangener Nacht einer der Ersten, einer der Führer gewesen.«

»Wer heißt Sie, nach eigenem Gutdünken zu handeln?« fuhr Ploetz heftig auf. »Ich werde mir dieses eigenmächtige Verfahren von Ihnen merken!«

»Herr Polizeidirector, der Wachtmeister hat mir den Auftrag dazu ertheilt,« erwiderte der Polizeidiener.

»Der Wachtmeister hat keinen Auftrag zu ertheilen. Wo befindet sich Knebel?«

»Auf der Wache.«

»Eilen Sie sofort zurück und lassen Sie ihn wieder frei – ich befehle es! – Warten Sie; haben Sie Stahl gefunden?«

»Nein. Wir haben fast die ganze Stadt vergebens durchsucht.«

»Setzen Sie die Nachforschungen fort – er befindet sich noch in der Stadt. Auf Ihre Wachsamkeit kann ich mich wenig verlassen. Sie haben nichts davon erfahren, was gestern Abend gegen mein Haus im Werke war; hätte ich allein Ihre Unterstützung, so würde das Gefängniß in der vergangenen Nacht unfehlbar erstürmt worden sein!«

Der Polizeidiener stand mit niedergeschlagenem Blicke da; er wagte nichts zu erwidern.

»Wo ist der Wachtmeister?« fuhr Ploetz fort. »Weshalb erstattet er mir nicht Bericht?«

»Er setzt die Nachforschung nach Stahl fort.«

»Ist Alles ruhig in der Stadt?«

»Alles. Die Bürger wagen kaum die Hausthüren zu öffnen.«

»Gut. Jetzt eilen Sie, Knebel in Freiheit zu setzen und dann verhaften Sie den Lehrer Ender, den Fabrikant Schenk und den Wirth ›zum Falken‹ Ziegler. Sie haften mir dafür, daß mein Befehl pünktlich ausgeführt wird. Die Nachforschung nach Stahl setzen Sie auch fort.«

»Zu Befehl, Herr Polizeidirector!« erwiderte der Polizeidiener und verließ das Zimmer.

Gleich darauf folgte ihm auch Ploetz. Langsam, als ob nichts vorgefallen wäre, gleichsam als gehe er nur spazieren, schritt er durch die Straßen dahin, um den Bürgern zu zeigen, daß er keine Furcht kenne, daß er sich wieder vollständig Herr der Stadt fühle.

Und er erreichte seinen Zweck. Manche, die ihn vor ihren Häusern vorübergehen sahen, traten scheu von den Fenstern zurück. Sie mochten den Mann nicht grüßen und sie wagten auch nicht, ihn nicht zu grüßen.


III.

Scherbach hatte den von dem Polizeidirector empfangenen Auftrag bei dem Literaten Knebel ausgeführt und er war ihm wider Erwarten gelungen. Knebel hatte zwar Anfangs mit heftigen Worten auf Ploetz geschimpft, als Scherbach indeß einige Banknoten auf den Tisch gelegt und ihm gesagt hatte, daß Ploetz ihm dieselben schicke, war er freundlicher geworden und hatte schließlich mit der Wendung, da die Revolution nun einmal mißglückt sei, so sei es das Klügste, sich der Macht zu fügen, versprochen, dem Wunsche des Polizeidirectors nachzukommen. Nur das eine Versprechen hatte er Scherbach abgenommen, das tiefste Schweigen zu beobachten.

In lustiger Stimmung schritt die lange, hagere Gestalt Scherbach's dem Thore der Stadt zu. Wer die wenig einnehmende Gestalt des jungen Mannes, sein noch weniger gewinnendes, fast stupides Gesicht betrachtete, würde ihm wenig Fähigkeiten und Geist zugetraut haben, und doch war er mit einer ziemlichen Portion Schlauheit gesegnet, und in den Adern seines langen und dürren Körpers floß ein leidenschaftliches, glühendes Blut.

Er gehörte zu den Charakteren, die ein Ziel, welches sie sich einmal gesteckt haben, mit unerbittlicher Zähigkeit verfolgen, die vor keinem Mittel zurückschrecken und unter der Maske äußerer Höflichkeit die größte Rücksichtslosigkeit und Eigenliebe verbergen. Er kannte kein Mitleid mit Anderen, er würde ruhig fünfzig Menschen dem Verderben preisgegeben haben, wenn er dadurch seinem Ziele näher geführt wäre.

Nur wer sein kleines Auge aufmerksamer beobachtete, vermochte zu errathen, wie stürmisch und leidenschaftlich es oft in seinem Innern aussah.

Er war von niederem Herkommen. Als Schreiber bei einem Advocaten hatte er seine Laufbahn begonnen, er besaß außerordentliche Fähigkeiten, dennoch war es ihm noch nicht gelungen, sich eine Stellung zu erringen, weil er selten bei einem Herrn lange ausgeharrt hatte. Acten zu copiren, sagte ihm nicht zu, er war klüger, als andere Schreiber und wähnte auch zu etwas Besserem berufen zu sein.

Schon seit längerer Zeit spielte er den Winkelconsulenten und nicht ohne Geschick. Denn durch die Uebung und einen scharfen Verstand hatte er sich mehr Kenntnisse erworben, als mancher Advocat besaß.

Die Hände in beiden Hosentaschen, den Oberkörper vornüber gebeugt, verließ er die Stadt. Sein Auge schien nur auf den Weg, auf dem er hinschritt, gerichtet, und dennoch ließ er den Blick flüchtig und scharf beobachtend nach beiden Seiten schweifen.

Vor einem kleinen Hause, welches rings vom Garten umgeben war, stand er endlich still. Ehe er die Thür öffnete, blickte er vorsichtig, prüfend umher. Es war hier draußen vor der Stadt noch stiller als auf den Straßen derselben. Ob auch bis hierher die Unruhe der letzten Nacht gedrungen war?

Schnell entschlossen trat er in das Haus ein. In einem kleinen Zimmer traf er eine Frau. Sie war so fleißig mit Nähen beschäftigt, daß sie sein Eintreten durch die halbgeöffnete Thür nicht bemerkt hatte; erst als er dicht vor ihr stand, blickte sie überrascht, fast erschreckt auf.

»Ah, Sie sind es, Scherbach,« sprach sie sichtbar beruhigt.

Der Genannte reichte ihr die Hand zum Gruße dar.

Sein Gesicht hatte einen überaus freundlichen, fast einschmeichelnden Ausdruck angenommen.

»Sie haben mich wohl nicht erwartet, Frau Krüger,« erwiderte er. »Ich komme freilich um diese Zeit selten hierher. Unser einer muß des Morgens arbeiten, fleißig arbeiten, wenn man weiter kommen will.«

»Doch, ich habe Sie erwartet,« entgegnete die Frau, indem sie die Hände mit dem Nähzeuge in den Schooß fallen ließ. »Ich habe Sie erwartet,« wiederholte sie noch einmal. »Nach dem, was gestern Abend und in der vergangenen Nacht in der Stadt sich ereignet hat, war ich der festen Ueberzeugung, daß Sie kommen und uns Nachricht bringen würden.«

Scherbach hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und schaukelte seine langen Beine.

»Es soll sehr wild hergegangen sein,« fügte die Frau hinzu, als er nicht sogleich antwortete.

»Sehr wild!« versicherte Scherbach. »Es war ein Spektakel, als ob die ganze Stadt gestürmt würde. Und heiß ist es hergegangen! Die Tollköpfe wollten sich nicht eher beruhigen, als bis ihnen die Köpfe blutig geschlagen waren; das haben sie erreicht. Eine Anzahl von ihnen sitzt bereits im Gefängnisse, dort haben sie Zeit, über ihre Thorheit nachzudenken.«

Er sprach diese Worte mit einem eigenthümlichen, spöttischen Lächeln.

»Ich bedauere die armen, unglücklichen Menschen,« bemerkte die Frau. »Ich will ja nicht sagen, daß sie klug und recht gehandelt haben, allein ich begreife, wie sie dazu gekommen sind. Die Aufregung steckt jetzt in allen Gemüthern, und der Groll gegen den Polizeidirector hat sich seit Jahren angesammelt. Uebrigens soll ihm vorher Alles verrathen sein.«

»Ich glaube es nicht,« warf Scherbach ein. »Er ist klug genug, um ein Unternehmen, welches mit so wenig Vorsicht begonnen ward, selbst wahrzunehmen. Und wer soll den Verräther gespielt haben?« fügte er fragend hinzu.

»Ich weiß es nicht. Wer es gethan hat, muß sich jedenfalls die heftigsten Vorwürfe machen, denn ohne den Verrath würde weniger Blut geflossen sein. – Scherbach, wir waren besorgt, daß auch Sie sich zu tief in das Unternehmen eingelassen haben könnten, daß auch Sie gestern Abend an dem Aufstande betheiligt seien. Sie waren dabei?«

»Gewiß,« versicherte der Genannte, »mich hatte indeß eigentlich nur die Neugierde hingetrieben, Theil habe ich an der Thorheit nicht genommen. Es war eine Thorheit, weil sie nicht genügend vorbereitet war. Es ist mir jetzt doppelt lieb, daß ich mich fern gehalten habe.«

»Ich erwartete dies von Ihrer Klugheit und Besonnenheit,« sprach die Frau. »Anna stimmte mir jedoch nicht bei, sie sagte, Sie seien einer der Unzufriedensten über die ganzen jetzigen Verhältnisse.«

»Das bin ich auch, nur sehe ich ein, daß ich nicht im Stande bin, sie zu ändern, und noch weniger fühle ich mich berufen, für Andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Wo ist Anna?«

»Sie ist in die Stadt gegangen. Die Aufregung und auch die Neugier ließen ihr keine Ruhe mehr.«

»Es ist mir lieb, daß ich Sie allein treffe, Frau Krüger,« bemerkte Scherbach, seinen Stuhl näher an die Frau heranrückend. »Ich bin zu Ihnen gekommen, um eine Sache mit Ihnen zu bereden.«

Die Frau schien zu errathen, was er im Sinne hatte, verlegen blickte ihr Auge auf das Nähzeug.

»Ich werde nächstens eine gute Anstellung erhalten,« bemerkte Scherbach mit einem gleichgiltigen Tone, obschon sein Auge scharf beobachtete, welche Wirkung diese Worte hervorriefen.

»Ah, das freut mich,« erwiderte die Frau rasch. »Ich gönne sie Ihnen, denn Sie haben lange genug darauf gewartet. Darf ich fragen wo?«

»Nein – nein!« wehrte Scherbach lächelnd zurück. »Dies ist noch mein Geheimniß und es ist mir lieb, wenn auch Sie noch darüber schweigen. Sie wissen, ehe solche Sachen amtlich nicht bekannt gemacht sind, darf man nicht darüber plaudern, ich möchte auch damit überraschen. Die Stelle ist gut, besser als ich gehofft habe, sie entspricht ganz meinen Neigungen und Fähigkeiten, und ich bin überzeugt, daß Tausende mich darum beneiden werden. Nur zu einem Zwecke können Sie von dieser Mittheilung Gebrauch machen – ich hoffe, es wird nicht ganz ohne Wirkung sein!«

»Ich verstehe Sie, Scherbach,« entgegnete die Frau. »Ich habe erst noch gestern mit Anna darüber gesprochen, allein Sie wissen auch, ein Mädchenkopf ist oft schwer zu einem Entschlusse zu bringen.«

»Was hat sie erwidert?« fragte Scherbach hastig.

»Das alte Lied. Sie sagt nicht nein, aber auch nicht ja – sie bittet, daß wir ihr noch Zeit lassen möchten. Es sei ein Entschluß, der über ihr ganzes Leben entscheide, deshalb müsse sie ihn doppelt reiflich überlegen.«

»Aber ich verliere zuletzt die Lust darüber!« rief der junge Mann unwillig.

Die Frau blickte fast ängstlich zu ihm auf.

»Haben Sie nur noch kurze Zeit Geduld,« bat sie. »Ich habe Ihnen versprochen, daß Anna die Ihrige werden soll, und ich halte Wort. Ich kenne des Mädchens Kopf am Beßten, man muß ihm Zeit lassen, dann kommt er von selbst zur Vernunft.«

»Und wenn er nun nicht dazu kommt?« warf Scherbach ein. »Wenn Anna's Herz nun bereits einem Andern gehört? Wenn ich ihr nicht mehr bin als ein Bekannter, kaum ein Freund?«

Die Frau schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.

»Anna's Herz ist noch frei,« entgegnete sie. »Ich habe sie stets sorgfältig überwacht, oder glauben Sie, daß das Herz eines Mädchens der eigenen Mutter verborgen bleibt?«

Scherbach zuckte mit den Schultern.

»Weshalb nicht?« bemerkte er. »Auch die Augen einer Mutter sind zu täuschen. Jedenfalls nimmt Anna an dem Geschicke Ender's sehr lebhaften Antheil.«

»Er ist ihr Lehrer gewesen,« erwiderte die Frau über diese Worte unwillig, »er hat sich ihrer und auch meiner auf das Wärmste angenommen, seitdem ihr Vater todt ist.«

»Ich weiß, Frau Krüger, daß Sie ihm stets das Wort geredet haben,« warf Scherbach ein. »Hätten Sie nur halb so günstig für mich gesprochen, so würde Anna mir längst das Jawort gegeben haben. Sobald ich die Stelle, von der ich sprach, erlangt habe, werde ich mich verheirathen, wirken Sie also dahin, daß Anna sich bald entscheidet.«

Er stand auf und schickte sich zum Fortgehen an. Die Frau bat ihn zu warten, bis ihre Tochter zurückgekehrt sei.

»Ich habe keine Zeit,« entgegnete er. »Alle Welt verlangt meinen Rath und meine Hülfe. Ich bin schon zu lange hier gewesen und habe bereits zu viel versäumt. Ich möchte meine Kräfte verzehnfachen können, um allen Anforderungen, die an mich gestellt werden, zu genügen.«

Mit einem fast kalten Gruße verließ er das Zimmer.

Ohne ihre Arbeit wieder aufzunehmen, blickte Frau Krüger ihm nach, als er durch den kleinen Garten vor dem Hause hinschritt. Eine gemischte Empfindung und Stimmung erfüllte sie. Sie wußte, daß so Mancher von Scherbach's Charakter nicht das günstigste Urtheil fällte, wiewohl sie keinen Beweis hatte, daß er je Unrecht gethan, gegen sie und Anna, war er stets zuvorkommend und aufmerksam gewesen, sie hatte sogar von seiner Klugheit die beßte Meinung und hegte die feste Ueberzeugung, daß er durch die Beharrlichkeit, mit der er ein einmal vorgestecktes Ziel verfolgte, und durch die Kenntnisse, welche er besaß, sich einst eine gute Stellung gründen werde. Sie wußte ferner, daß er Anna liebte, und sie hatte Alles aufgeboten, diese Liebe zu fördern und die Gegenliebe in Anna's Herzen wach zu rufen.

Und dennoch waren in der letzten Zeit Zweifel in ihr aufgestiegen, ob ihre Tochter auch wirklich glücklich dadurch werde. Auch heute regte sich dieser Zweifel wieder in ihr, als sie die lange Gestalt durch den Garten hinschreiten sah. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß Scherbach in seinem Aeußern wenig Anziehendes und Gewinnendes für das Herz eines jungen Mädchens besaß. War sie auch zu vernünftig, um auf die äußere Erscheinung viel Werth zu legen, so war ihr doch gerade an diesem Tage auch in Scherbach's Wesen ein bitterer, spöttischer Zug aufgefallen, als er von Anna sprach.

Sie glaubte sich zu täuschen, allein je mehr sie sich seine Worte und Mienen in das Gedächtniß zurückrief, um so mehr gelangte sie zu der Ueberzeugung, daß sie ganz richtig gehört und gesehen habe. Und doch lag es ihr sehr am Herzen, daß ihre Tochter sich bald verheirathe und eine sichere Stütze finde, denn der Gedanke, daß sie sterben und das noch unerfahrene Mädchen allein und verlassen zurücklassen müsse, hatte ihr schon in mancher Stunde die Ruhe geraubt.

Es war ihr lieb, daß Anna in diesem Augenblicke in das Zimmer trat und ihre trüben Gedanken ganz unterbrach. Die Wangen des kaum zwanzigjährigen, hübschen Mädchens glühten vor innerer Aufregung. Die Nachrichten über die Vorgänge am Abend zuvor und während der Nacht hatten sie so sehr erregt. Sie wußte, daß der Polizeidirector ein harter und mitleidsloser Mann war, allein sie hatte nicht vermuthet, daß er mit solcher Strenge verfahren werde, nachdem kaum die Gefahr von ihm abgewendet war.

»Du bist aufgeregt, Anna?« fragte ihre Mutter, die auf des Mädchens Gesichte zu lesen schien, was in dessen Innern vorging.

»Ich bin entrüstet über des Polizeidirectors Verfahren!« rief Anna. »Die Verhaftungen nehmen unausgesetzt ihren Fortgang, er schont Niemand – er hat gesagt, daß er sich für den Angriff auf sein Haus rächen werde und er hält Wort. Das Gefängniß ist bereits überfüllt und fortwährend bringen die Polizeidiener Neue, welche sie verhaftet haben. Ich traf Margarethe vor der Thür des Gefängnisses. Sie wollte ihren Bruder besuchen, welcher schwer verwundet, besinnungslos verhaftet und in das Gefängniß geschleppt ist, sie wurde zurückgewiesen, Ploetz hat den strengen Befehl gegeben, Niemand hineinzulassen.«

»Er ist ein harter Mann,« fügte die Frau bestätigend hinzu.

»Ein Tyrann ist er!« rief Anna. »Weshalb hat man denn gestern Abend sein Haus stürmen wollen? Weil er die ganze Stadt seit Jahren beherrscht, geknechtet, chicanirt hat. Es ist kaum ein Mensch in der Stadt, der ihn nicht haßt, kein Einziger, der ihn nicht fürchtet. Heute Morgen hat er eine bedeutende Summe durch die Post nach der Residenz geschickt, es soll sein Geld sein, welches er sich auf unredliche Weise erworben hat –«

»Sei still!« fiel die Frau, sich ängstlich umschauend, ein. »Wenn ein unberufenes Ohr dies Wort hörte, so könnte es auch uns in die größte Gefahr bringen. Selbst wenn es wahr ist, wer kann es ihm beweisen, und wer würde es wagen, sich seiner Rache auszusetzen?«

»Auch seine Macht wird ein Ende nehmen!«

Die Frau schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.

»Kind, ich kenne die Menschen und die Welt besser,« entgegnete sie. »Ploetz steht jetzt mächtiger da als zuvor, ich befürchte, es werden noch schwere Tage über uns kommen, er wird noch Manchen in's Unglück stürzen.«

»Mutter,« erwiderte Anna, »mir begegnete Ender, er wollte hierher gehen, um eine Bitte an Dich zu richten, und es schien ihm lieb zu sein, daß er mich traf.«

»Welche Bitte kann das sein, von der er nicht im Voraus wüßte, daß ich sie gern erfüllen werde, wenn es in meiner Macht steht?« bemerkte die Frau überrascht. »Wir haben ihm so viel zu danken, daß mir jede Gelegenheit, ihm zu dienen, willkommen ist.«

»Es steht in Deiner Macht,« fiel Anna ein, deren Auge freudig aufleuchtete. »Du weißt, daß Hermann Stahl den Angriff auf das Gefängniß in der vergangenen Nacht geleitet hat. Der Polizeidirector bietet Alles auf, um seiner habhaft zu werden, in der Stadt ist die Meinung verbreitet, daß er geflohen sei, obschon er verwundet ist; er ist indeß nicht geflohen, er will auch nicht fliehen, weil er noch nicht alle Hoffnung aufgiebt – Ender hält ihn in seiner Wohnung versteckt, allein dort ist er nicht sicher, Ender wollte Dich bitten, daß Du ihn bei Dir aufnimmst – ihn hier verbirgst –«

»Anna, Anna!« fiel die Frau erschreckt ein. »Dies ist unmöglich!«

»Es ist möglich!« fuhr das Mädchen fort. »Ich habe Ender bereits zugesichert, daß Du die Bitte nicht abschlagen werdest. Hier wird Niemand Stahl suchen, hier ist er gesichert!«

»Nein – nein, es geht nicht!« wehrte die Frau, welche den Gedanken einer solchen Gefahr noch nicht zu fassen vermochte, ab.

»Mutter, es muß gehen! Du kennst Stahl. Willst Du ihn dem sicheren Verderben preisgeben? Und er ist verloren, wenn er in des Polizeidirectors Gewalt geräth. Auf ihn hat er den größten Haß geworfen, an ihm würde er sich am Bittersten rächen. Bei Ender ist er nicht in Sicherheit – er muß gerettet werden!«

»Er muß fliehen!«

»Er flieht nicht, und die Flucht würde ihm auch hundertmal mehr Gefahr bringen, als wenn er hier bleibt, weil Ploetz bereits nach allen Richtungen hin auf ihn fahnden läßt. Außer Ender und Scherbach kommt fast Niemand zu uns, oben in der kleinen Stube kann er zum wenigsten so lange verborgen leben, bis er vollständig wieder hergestellt ist, bis seine Wunde geheilt und der Polizeidirector von seinen Nachstellungen abgelassen hat. Vielleicht tritt bis dahin eine ganz andere Zeit ein, es regt sich ja überall im ganzen Lande, selbst in der Residenz soll ein sehr blutiger Aufstand stattgefunden haben, und das Volk soll Sieger geblieben sein.«

Die Frau vermochte noch immer nicht, einen festen Entschluß zu fassen. Ihr Herz trieb sie, dem Verfolgten den verbotenen Schutz nicht zu versagen, während die Klugheit ihr rieth, eine solche Verantwortung nicht auf sich zu laden.

Sie sprach dies gegen Anna aus, allein diese bat so innig, so drängend, daß sie endlich nachgab.

»Gut, ich will es thun,« sprach sie, »ich will Deine Bitte erfüllen und Stahl eine Zufluchtsstätte gewähren, allein Kind, auch ich habe eine Bitte an Dich und ich hoffe, daß Du gegen die Bitten Deiner Mutter gleich willig gesinnt bist.«

Anna schien zu errathen, was ihre Mutter im Sinne hatte, denn eine leichte Röthe flog über ihre Wangen hin und unwillkürlich senkte sich ihr Auge. Sie antwortete nicht.

»Scherbach war hier,« fuhr die Frau fort, während ihr Blick prüfend aus dem Gesichte des Mädchens haftete. »Er hat mich gebeten, in Dich zu dringen, ihm endlich eine entscheidende Antwort auf seine Werbung zu geben.«

»Laß mir Zeit Mutter,« erwiderte Anna unruhig und bittend.

»Kind, Du hast Zeit genug gehabt. Er will nicht länger warten; er hat eine gute Stelle in Aussicht und drängt deshalb auf Entscheidung. Ich befürchte, er trifft eine andere Wahl, wenn Du noch länger zögerst, so aufrichtig er Dich auch liebt.«

Des Mädchens Augen leuchteten sichtbar erfreut auf.

»Laß ihn, laß ihn, Mutter!« rief sie. »Ich habe ohnehin kein Vertrauen zu ihm und glaube nicht, daß ich ihn je innig lieben könnte!«

Die Züge der Frau nahmen einen bekümmerten Ausdruck an, sie schien eine andere Antwort erwartet zu haben.

»Kannst Du ihm irgend Etwas vorwerfen, daß ihn Deines Vertrauens unwürdig macht?« fragte sie.

»Nein, Mutter. Allein, wenn er neben mir sitzt, fühle ich mich fast beklemmt. Es liegt in seinem Wesen etwas Geheimnißvolles und es ist mir immer, als ob er sich anders gäbe als er wirklich ist.«

»Du thust ihm Unrecht. Ich kenne ihn länger als Du, und die Erfahrung hat meinen Blick mehr geschärft als den Deinigen. Anna, in Deiner Hand liegt es, die Sorge um Deine Zukunft, welche mich Tag und Nacht nicht verläßt, von mir zu nehmen, ich hoffte den kommenden Tagen ruhig entgegen gehen zu können, Du willst es nicht. Ich habe Dir zu Liebe soeben Deine Bitte erfüllt, obschon eine innere Stimme mir zuruft, ich hätte es nicht thun sollen – Du nimmst auf meine Bitte, auf meine Sorge keine Rücksicht, und doch habe ich stets nur Dein Glück im Auge.«

Ein Seufzer rang sich aus ihrer Brust empor, bekümmert stützte sie den Kopf auf die Hand.

Anna stand regungslos da. Ihr Auge glitt über die gebeugte Gestalt ihrer Mutter hin, es ruhte einen Augenblick lang auf den gramdurchfurchten Zügen derselben und unwillkürlich zuckte sie bebend zusammen. Das schnelle Pochen ihres Herzens, das hastige, kurze Athmen ihrer Brust verrieth, daß sie schwer mit sich kämpfte. Endlich schien sie einen Entschluß gefaßt zu haben, denn rasch trat sie auf ihre Mutter zu, legte den Arm um ihren Nacken, beugte sich über sie und sprach hastig, ehe der Entschluß sie gereue, ehe sie wieder wankend werde: »Ich will Scherbach heirathen – Du kannst es ihm sagen!«

Erfreut richtete die Frau sich empor, über ihr Gesicht glitt ein Zug der freudigen Ueberraschung hin, sie wollte Anna an ihr Herz ziehen, allein diese wandte sich schnell der Thür zu und verließ das Zimmer, um die Thränen zu verbergen, welche sich in ihre Augen drängten, um die Mutter nicht sehen zu lassen, daß sie mit den wenigen Worten fast ihr ganzes Lebensglück zum Opfer brachte.


IV.

Spät am Abende desselben Tages saß Margarethe allein im Zimmer. Die Wangen des hübschen Mädchens waren bleich, die Augen von all den Thränen, welche sie an diesem Tage vergossen hatte, geröthet, auf ihrem Gesichte lag ein Ausdruck der Erschlaffung und des Schmerzes.

Die Lampe, welche neben ihr auf dem Tische stand, brannte düster – sie bemerkte es nicht, ihr Auge blickte starr hin auf den Boden.

Wie unendlich viel war seit vierundzwanzig Stunden auf sie eingestürmt und mit welchem Bangen blickte sie der Zukunft entgegen. War die Sorge auch schon früher oft in dies Haus eingekehrt, hatte die kranke, geistesschwache Mutter ihr auch manche Angst und unendliche Mühe bereitet, so hatte sie sich trotzdem glücklich gefühlt und erst jetzt empfand sie, wie viel sie verloren hatte.

Ihr zur Seite hatte ihr Bruder Heinrich gestanden, an dem sie mit ganzer Liebe hing. Sein frischer, heiterer Sinn hatte stets die Sorgen von ihr gescheucht. Er war noch jung, trotzdem hatte er durch die Arbeit seiner Hände die Schwester ernährt. Die Arbeit machte ihm Lust und er hatte oft über die Schwester gelacht, wenn sie besorgt war, daß er sich allzu sehr anstrengen könne.

»Ich merke nicht, daß die Arbeit so beschwerlich ist,« hatte er scherzend so oft gesagt, »man muß sie nur als ein Vergnügen ansehen, dann hat man Freude und Verdienst zugleich!«

Sie war mit Hermann Stahl verlobt und liebte ihn mit ganzer Innigkeit, jeden Abend war er zu ihr gekommen und in dem kleinen Zimmer hatten dann die glücklichsten Herzen geschlagen. Auch Stahl hatte einen offenen, ehrlichen Charakter, der Margarethe die sicherste Bürgschaft bot, daß sie an seiner Seite einst glücklich werde.

Nun war Alles dahin. Der Bruder lag schwer verwundet im Gefängnisse, und sie wußte nicht einmal, ob er noch lebte. Alle Versuche, welche sie am Tage gemacht hatte, zu ihm zu gelangen, waren gescheitert, erbarmungslos hatte man sie zurückgewiesen. Sie hatte gefleht, daß man sie nur für einen Augenblick zu ihm lassen möge, sie wollte ihn nur sehen, um sich zu überzeugen, ob Besserung in seinem Zustande eingetreten sei, selbst dies hatte man ihr verweigert; ja man hatte ihr nicht einmal die Gewißheit gegeben, daß er noch am Leben sei.

Auch Stahl hatte sie seit dem Abende zuvor nicht wiedergesehen. Sie hatte gehört, daß er während der Nacht Alles aufgeboten habe, ihren Bruder zu befreien und zu retten, sie wußte, daß dieser Versuch gescheitert, daß Stahl verwundet war. Wo befand er sich? Sie konnte nur annehmen, daß er geflohen sei, sonst würde er ihr sicherlich Nachricht haben zukommen lassen.

Und von allen Seiten wurde ihr mitgetheilt, welche Anstrengungen der Polizeidirector machte, um Stahl in seine Gewalt zu bekommen. Zweimal schon hatten die Diener desselben an diesem Tage ihre Wohnung durchforscht, als hofften sie ihn bei ihr zu finden.

Noch immer durchzogen Patrouillen die Straßen, sie erkannte dieselben an dem gleichmäßigen Schritte und jedes Mal zuckte sie erschreckt zusammen.

Dies Alles war in der kurzen Spanne Zeit auf sie eingestürmt und lastete zum Erdrücken schwer auf ihr. Sie hätte ihre geisteskranke Mutter beneiden mögen, welche das Vorgefallene noch immer nicht völlig begriff und ruhig nebenan in der Kammer schlief.

Wohl hätte es ein Mittel gegeben, ihr sofort den Zutritt zu ihrem Bruder zu verschaffen, ein Mittel, das ihm und auch Stahl vielleicht die Freiheit retten würde, und in ihrer Verzweiflung hatte sie bereits daran gedacht, dann war ihr aber eingefallen, daß Heinrich und Stahl eher sterben würden, ehe sie ihre Einwilligung zu diesem Mittel geben, ehe sie ihre Freiheit durch ein solches Opfer erkauften.

Der Polizeidirector hatte Margarethe nachgestellt und sich um ihre Gunst beworben, er war sogar zu ihr ins Haus gedrungen, da hatte ihr Bruder von seinem Hausrechte Gebrauch gemacht und ihn zur Thür hinaus geworfen. Seit dem Tage verfolgte er Heinrich und auch Stahl mit glühendem Hasse. Es hatte ihm nur an einer günstigen Gelegenheit gefehlt, um gegen sie einzuschreiten, jetzt war dieselbe von ihnen selbst gegeben, und auf Mitleid konnten sie Beide bei ihm nicht rechnen.

Dies war es, was Margarethe's Angst noch erhöhte, dies trieb ihr die Gedanken wild und wirbelnd durch den Kopf und sie sah keinen Ausweg, keine Rettung. Wie oft hatte sie schon an diesem Tage verzweiflungsvoll die Hände gerungen, jetzt waren ihre Kräfte erschöpft und in dumpfem schmerzvollen Brüten saß sie da.

Die Thür des Zimmers wurde langsam, vorsichtig geöffnet und ein Mann trat ein. Einen Augenblick lang blieb er an der Thür stehen und ließ den Blick rasch, flüchtig durch das Zimmer hinschweifen, dann schritt er mit kaum hörbarem Tritte auf Margarethe zu. Diese bemerkte ihn erst, als er dicht vor ihr stand. Erschreckt fuhr sie empor, sie wollte laut aufschreien, allein die Stimme versagte ihr, denn Der, welcher vor ihr stand, war der Polizeidirector.

»Ich habe Sie erschreckt,« sprach er, während ein Lächeln über sein Gesicht hinglitt und sein Auge verlangend auf den schönen Zügen und Formen des Mädchens ruhte. »Auf mein Pochen erhielt ich keine Antwort – da bin ich eingetreten.«

Margarethe fand noch immer keine Worte, um zu antworten.

»Sie sind allein, Margarethe?« fragte er und sein Blick glitt über die Thür der Kammer hin, in welcher ihre Mutter schlief. Die Thür war verschlossen. »Es ist mir lieb, denn ich habe mit Ihnen zu sprechen, mit Ihnen allein?

»Was – was haben Sie mir zu sagen?« brachte das geängstigte Mädchen mit Mühe hervor.

»Viel, viel,« erwiderte Ploetz, halb scherzend und halb vertraulich. »Sehen Sie mich an als einen Freund, der in der Noth zu Ihnen kommt – der es ehrlich mit Ihnen meint – wahrhaftig, Margarethe, ich meine es aufrichtig und ehrlich!«

Er erfaßte ihre Hand, allein sie entzog sie ihm wieder.

»Lassen Sie uns Platz nehmen und fassen Sie Vertrauen zu mir,« fuhr Ploetz fort, indem er sich niederließ. »Es hat sich in den letzten vierundzwanzig Stunden außerordentlich viel geändert. Ihr Bruder –«

»Was macht mein Bruder?« unterbrach ihn Margarethe hastig, erregt.

»Auch das werde ich Ihnen sagen.«

»Sagen Sie mir nur, ob er noch lebt, ob gesicherte Hoffnung vorhanden ist, daß sein Leben erhalten bleibt,« fuhr Margarethe fort, bei der jeder andere Gedanke in diesem Augenblicke in den Hintergrund trat.

»Er lebt noch,« sprach Ploetz. »Ob er am Leben erhalten wird, darüber wage ich nichts Bestimmtes zu behaupten.«

»Allmächtiger Gott!« rief Margarethe und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

»Sie verstehen mich falsch, liebe Margarethe,« fuhr Ploetz fort, indem er sich bemühte, ihre Hände von ihrem Gesichte zu ziehen, »oder ich habe mich vielmehr falsch ausgedrückt. Es ist nach der Versicherung des Arztes sogar sehr begründete Hoffnung vorhanden, daß er gerettet wird, vorausgesetzt nämlich, daß er die größte Ruhe und sorgfältigste Pflege genießt. Es darf aber nichts bei ihm versäumt werden, das kleinste Versehen, befürchte ich, wird eine tödtliche Wirkung zur Folge haben.«

»Lassen Sie mich zu ihm, lassen Sie mich ihn pflegen,« bat Margarethe. »Ich will über ihm wachen Tag und Nacht. Kein Schlaf soll in meine Augen kommen, aus dem Zucken seines Mundes oder seines Auges will ich errathen, was er bedarf. Lassen Sie mich zu ihm, es wird ihn Niemand pflegen wie ich!«

In ihrer Angst und Aufregung schien sie ganz zu vergessen, an wen sie diese Worte richtete.

Um den Mund des Polizeidirectors zuckte ein lächelnder, befriedigender Zug. Dies hatte er erreichen wollen.

»Ich befürchte selbst, daß ihm im Gefängnisse nicht die nöthige Pflege zu Theil werden wird,« entgegnete er. »Die Wärter sind meist rohe Gesellen, sie verstehen nicht mit einem Kranken umzugehen, und wie gesagt, ich befürchte, daß ein Versehen – selbst ein geringes Versehen – sehr schlimme Folgen nach sich ziehen kann.«

»Lassen Sie mich zu ihm – lassen Sie mich ihn pflegen!« bat Margarethe noch einmal.

»Margarethe, Sie wissen, was er sich hat zu Schulden kommen lassen, er ist jetzt Gefangener wie jeder Andere, das Gesetz will keine Ausnahmen, keine Bevorzugung, und wenn ich in diesem Falle eine besondere Rücksicht eintreten lassen würde, so thäte ich es nur Ihretwegen, würden Sie aber auch dankbar dafür sein?«

»Ich würde es nie – nie vergessen!« erwiderte Margarethe.

Er erfaßte ihre Hand und suchte sie an sich zu ziehen, aus seinen Augen blickte eine lüsterne, wilde Gluth.

Erschreckt wandte Margarethe sich ab und suchte ihm die Hand zu entziehen.

»Ist dies die Dankbarkeit, welche Sie mir soeben versprochen haben?« rief er, indem er den Arm um ihre Taille schlang. »Margarethe, ich liebe Sie mit einer Gluth, von der Sie keine Ahnung haben, die mir Tag und Nacht keine Ruhe läßt. Sie müssen mein werden, ich habe es geschworen und wahrhaftig, Sie wären die Erste, die meinem festen Willen entgegen zu treten wagte, die Erste, die mich zwänge, meinen Schwur unerfüllt zu lassen!«

Seine Züge waren noch häßlicher geworden, die glühende Leidenschaft verzerrte sie.

Das geängstigte Mädchen suchte sich mit Gewalt von ihm los zu reißen, allein noch fester zog er sie an sich.

»Ich lasse Sie nicht, ehe Sie mir nicht versprochen haben, mein zu werden, mein für immer!« fuhr er fort und seine Stimme erklang fast flüsternd. »Ich will jeden Deiner Wünsche erfüllen, Du sollst über mich gebieten, mit Gold und Seide will ich Dich schmücken – Alles, Alles will ich für Dich thun, nur sage, daß Du mein werden, daß Du mir gehören willst!«

Er wollte sie zu sich niederziehen, um sie zu küssen.

Mit der Kraft der Verzweiflung und der höchsten Angst riß sich Margarethe von ihm los; ihr Blick war seinem Auge begegnet, und eine unheimliche, dämonische Gluth sah sie darin lodern.

»Nie, nie!« rief sie – mehr vermochte sie nicht hervorzubringen, allein sie wendete sich von ihm ab, als ob sie seinen Anblick nicht ertragen könne.

Ploetz sprang heftig auf, seine Augen schlossen sich halb, seine Lippen zuckten vor Erregung.

»Nie – nie!« wiederholte er mit bitterem, höhnenden Spotte. »Ha! Sie scheinen zu vergessen, daß ich Sie vollkommen in meiner Gewalt habe. Ihr Bruder befindet sich als Aufrührer im Gefängnisse, ohne mich werden Sie ihn nie wiedersehen. Oder glauben Sie etwa, daß ich ihm eine besondere Schonung und Rücksicht werde angedeihen lassen? Was kümmert es mich, wenn er seinen Wunden erliegt, wenn er stirbt?«

»Halten Sie ein – haben Sie Mitleid mit ihm!« rief Margarethe in höchster Angst und erhob flehend die Hände zu ihm. »Lassen Sie ihn den Groll nicht entgelten, den Sie gegen mich hegen! Auch in Ihrer Brust schlägt ja ein Herz, auch Sie haben vielleicht Geschwister – fühlen Sie Mitleid!«

»Dadurch erweichen Sie mich nicht,« entgegnete Ploetz spöttisch. »Ich bin stolz darauf, daß ich meinem Herzen solche thörichten Erregungen längst abgewöhnt habe. Und weshalb soll ich Mitleid mit Ihrem Bruder haben – weshalb? Hat er nicht den Pöbelhaufen angeführt, um mein Haus zu demoliren? Würde er vielleicht Schonung an mir geübt haben, wenn ich in seine Hände gerathen wäre? Ich kenne die blinde Wuth des Pöbels.«

»Nein,« rief Margarethe, »mein Bruder würde nie unmenschlich gehandelt haben, denn er ist edel und hochherzig!«

Der Polizeidirector lachte spöttisch auf.

»Ich kenne die Hochherzigkeit des Pöbels. Er ist grausam, wenn er siegt, feige und kopflos, wenn er unterlegen ist. – Sie scheinen indeß noch nicht Alles zu wissen, es scheint Ihnen noch unbekannt zu sein, daß auch der Mensch, an den Sie Ihre Liebe weggeworfen haben, sich in meiner Gewalt befindet.«

»Allmächtiger Gott! auch Hermann Stahl!« rief Margarethe fast zusammenbrechend.

»Auch er,« fuhr Ploetz mit höhnendem Lächeln und sich an dem Schmerze des Mädchens weidend, fort. »Daß sein thörichter Versuch, das Gefängniß zu erstürmen, mißlungen ist, wissen Sie. Dank der Thätigkeit meiner Leute ist er verhaftet, ehe es ihm gelungen ist zu fliehen. Auch er befindet sich jetzt im Gefängnisse hinter sicheren Mauern und dürfte in zehn bis fünfzehn Jahren dasselbe sicherlich nicht verlassen, wenn er dann überhaupt noch am Leben ist. Auch er ist verwundet, und die Gefängnißluft ist für unruhige Köpfe außerordentlich zehrend.«

Sprachlos, heftig zitternd stand Margarethe da. Das arme Mädchen war auf diese Nachricht nicht vorbereitet, sie hatte im Gegentheil die feste Hoffnung gehegt, daß Stahl gerettet sei.

Mit namenloser Angst ruhte ihr Blick auf dem spöttisch lächelnden Gesichte des Polizeidirectors. Wirr schossen ihr die Gedanken durch den Kopf hin, die Besinnung drohte ihr zu schwinden. Da warf sie sich mit dem Rufe: »Haben Sie Erbarmen!« dem Manne zu Füßen und umklammerte seine Knie.

Ploetz beugte sich zu ihr hinab. Kein Zug in seinem Gesichte verrieth, daß er wirklich Mitleid fühlte.

»Sie kennen ja meine Bedingungen, unter denen ich Gnade üben will,« entgegnete er. »Es steht ja in Ihrer Hand, sowohl Ihren Bruder, wie Ihren Verlobten zu retten. Fordern Sie deshalb von mir kein Mitleid, da Sie es selbst nicht üben wollen.«

Margarethe schwieg. Sie schien diese Worte kaum zu hören. Oder ob sie mit sich kämpfte, ob sie, um Die, an denen ihr Herz hing, zu retten, das Verlangen des Mannes erfüllen sollte? Ihre ganze Gestalt zitterte, ihre Brust holte kurz, hastig Athem.

»Sind Sie noch unschlüssig?« fuhr Ploetz, der nicht einen Augenblick lang seine kalte, berechnende Ruhe verlor, fort.

»Ich will Ihnen nur das Eine noch sagen, auf Ihren Verlobten müssen Sie doch verzichten, und ich begreife überhaupt nicht, was Sie an ihm verlieren würden. Bei mir sollen Sie es gut haben, in meinen Armen nie Ihren Entschluß bereuen. Ich lasse mich nach der Residenz versetzen, wenn Ihnen dies lieber ist, Sie ziehen mit mir – kein Mensch soll erfahren, daß mir Ihre Liebe gehört. Wollen Sie nun mein werden?«

Margarethe sprang auf, ihr Entschluß schien fest zu stehen.

»Nein, nie!« rief sie mit vor Unwillen erglühten Wangen. »Nie!« wiederholte sie noch einmal. »Mein Bruder wie mein Bräutigam werden lieber sterben, ehe sie mich der Schande preisgeben; es würde der sicherste Tod für sie sein, wenn ich, um sie zu retten, meine Ehre zum Opfer brächte!«

»Ah, ah! Sie sind sehr tugendhaft!« erwiderte Ploetz spottend, indem er, um seine Erbitterung zu verbergen, die Lippen aufeinander preßte. »Nun, wie Sie es wünschen. Ha ha ha! Ich erhalte Ihre Liebe später, vielleicht noch um einen geringeren Preis!«

Die Thür wurde in diesem Augenblicke aufgerissen, und ein Mann mit verbundener Stirn stürzte in das Zimmer.

Ueberrascht blieb er an der Thür stehen, als er den Polizeidirector erblickte, und auch dieser trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

Mit dem lauten Rufe: »Hermann, Hermann!« stürzte Margarethe ihm entgegen und warf sich an seine Brust es war Stahl.

Mit der Linken umschloß dieser fest die Geliebte, während sein Auge beobachtend und drohend auf dem Polizeidirector ruhte.

»Hermann, Du bist also nicht gefangen? Du bist nicht in der Gewalt des Mannes da? Du bist frei?« rief Margarethe fragend.

»Ja, ich bin frei!« erwiderte Stahl, der aus der Geliebten Frage das Vorhergegangene zu errathen schien.

»Aber nur bis zu diesem Augenblicke!« entgegnete Ploetz und trat an das Fenster, um dasselbe zu öffnen und den draußen harrenden Polizeidienern einen Befehl zuzurufen.

Stahl schob Margarethe hastig zur Seite und sprang auf Ploetz zu, ehe dieser das Fenster noch erreicht hatte.

Mit kräftiger Hand erfaßte er ihn und hielt ihn zurück.

»So leicht soll es Ihnen jedenfalls nicht werden, mich verhaften zu lassen!« rief er, und seine Hand hielt den Arm des Polizeidirectors mit eiserner Kraft umschlossen.

»Los, frecher Mensch!« rief Ploetz, der, obschon er erblaßt war, den Muth nicht verloren hatte. »Ein einziger Ruf und meine Leute sind im Zimmer! In's Zuchthaus mit Dir!«

Er suchte den Arm mit Gewalt zu befreien, allein Stahl erfaßte ihn an der Brust und schleuderte ihn mit solcher Kraft an die Wand, daß er mit einem halblauten Aufschrei taumelnd niederstürzte.

Stahl wollte sich über ihn werfen und in seiner Aufregung und seinem Hasse würde er den Tyrannen vielleicht ermordet haben, allein Margarethe hielt ihn zurück.

Ploetz benutzte diesen Augenblick, sprang empor und schlüpfte zur Thür hinaus.

»Hermann, rette Dich!« rief Margarethe.

»Ja – ja! Ich sehe Dich aber wieder mein Mädchen!« rief Stahl, preßte die Geliebte noch einmal hastig, fest an das Herz und stürmte dann aus dem Zimmer, durch die Hinterthür des Hauses in den kleinen Garten, durch welchen er gekommen war.

Kaum eine halbe Minute später drang Ploetz mit mehreren Polizeidienern durch die Vorderthür in das Haus und in das Zimmer. Ein einziger flüchtiger Blick, den er durch das Gemach schweifen ließ, verrieth ihm, daß Stahl entflohen war.

»Ihm nach durch die Hinterthür und in den Garten!« rief er zweien der Diener befehlend zu, während er selbst mit einem dritten in dem Zimmer blieb.

Auf Margarethe, welche zitternd und unwillkürlich mit gefalteten Händen, gleichsam für die Rettung des Geliebten betend, dastand, warf er kaum einen flüchtigen Blick des Hasses. Die Erbitterung, daß er zu spät gekommen war, preßte ihm die Lippen aufeinander. Rücksichtslos schritt er auf die Kammerthür zu und riß sie auf. In demselben Augenblicke trat ihm die abgezehrte, gebeugte Gestalt von Margarethe's Mutter, welche durch das Geräusch erweckt ward, entgegen. Er wollte die Kranke zurückschieben um in die Kammer zu gelangen, allein die Frau vertrat ihm den Weg.

»Zurück!« rief er heftig, »sonst lasse ich auch diese Beiden hier verhaften und zu dem übrigen Gesindel in das Gefängniß werfen!«

Die Kranke kannte ihn nicht, allein eingeschüchtert trat sie zur Seite.

Ploetz kehrte schon nach wenigen Minuten aus der Kammer zurück. Die Durchsuchung derselben war erfolglos geblieben.

»Wir sprechen uns wieder und dann sollst Du zittern vor mir!« rief er Margarethe halblaut zu, als er an ihr vorüber schritt und mit dem Polizeidiener das Haus verließ.

Margarethe hatte regungslos dagestanden. Jetzt waren ihre Fassung und ihre Kräfte erschöpft. Laut schluchzend warf sie sich vor ihrer Mutter, welche an ihrer gewohnten Stelle auf dem Sessel hinter dem Ofen Platz genommen hatte, nieder und barg ihr Gesicht in deren Schooß.

»Kind, wer waren die Männer? Was wollten sie?« fragte die Mutter, indem ihre Hand liebkosend und beruhigend über das volle Haar der Tochter hinstrich. »Ist Heinrich noch immer nicht da? Er bleibt heute wieder lange, und doch habe ich ihn den ganzen Tag über nicht gesehen!«

Ihr schwacher Geist hatte den Auftritt am Abend zuvor bereits wieder vergessen, und Margarethe hatte nicht gewagt, das Geschehene ihr mitzutheilen.


V.

Tage waren seitdem verflossen. Eine Menge Personen waren noch verhaftet, unter ihnen auch der Lehrer Ender. Die anfängliche Bestürzung, welche in der Stadt geherrscht hatte, war einer namenlosen Erbitterung gegen den Polizeidirector gewichen.

Nicht die rücksichtslose Strenge und Härte, mit der er verfuhr, hatten die Erbitterung auf diese Höhe getrieben, sondern seine unverhohlene Schadenfreude, sein Spott und Hohn, mit denen er die Verhaftungen vornehmen ließ und die Verhafteten behandelte. Er machte gar kein Geheimniß daraus, daß es ihm Vergnügen gewährte, solche Strenge üben zu können.

Die Gefangenen selbst ließ er wie Verbrecher behandeln, obschon die gebildetsten und angesehensten Männer sich unter ihnen befanden. Er nannte sie nicht anders als »Pöbel« und so behandelte er sie.

Durch die Feder des Literaten Knebel war der geringe Aufstand, welcher vorzugsweise gegen Ploetz's Person gerichtet war, in verschiedenen Blättern als eine große politische Bewegung dargestellt, und diese Berichte fanden auswärts um so mehr Glauben, weil sie in freisinnigen Blättern erschienen.

In äußerst geschickter Weise war darin des Polizeidirectors seltene Umsicht und Energie, mit welcher er den Aufstand niedergeworfen hatte, hervorgehoben. Hiermit stimmten auch die Berichte überein, welche Ploetz selbst nach der Residenz gesandt hatte. Er hatte sogar, um die Größe seiner Aufgabe und seines Verdienstes zu erhöhen, bewirkt, daß das in der Stadt liegende Militär um eine Compagnie vermehrt wurde, obschon nicht die geringste Befürchtung mehr vorlag, daß die Unruhen sich wiederholen würden.

Scherbach stand noch immer in Ploetz's Diensten, ja dieser hatte ihn tiefer und tiefer in dieselben hineingezogen, so daß es für ihn unmöglich war, zurück zu treten. Auf einem Umwege durch eine kleine Hinterthür gelangte Scherbach jeden Abend in die Wohnung des Polizeidirectors.

Die Dunkelheit war hereingebrochen und hastig, vorsichtig nach allen Seiten spähend, schritt Scherbach zwischen Gärten hin, um zu der kleinen Hinterthür zu gelangen, zu der nur er den Schlüssel besaß. Er befand sich in einer unwilligen Stimmung. Seitdem er Anna's Versprechen, daß sie die Seinige werden wollte, hatte, war dies Verhältniß, in welchem er zu Ploetz stand, ihm peinlich geworden.

Er wußte, daß Anna sofort zurücktreten werde, sobald sie dasselbe erfahre, denn in des Mädchens Brust lebte ein begeisterter Sinn für die Freiheit. Sie nahm an den Geschicken aller Derer, welche in den Gefängnissen schmachteten, den lebhaftesten Antheil, sie haßte den Polizeidirector, wie ihn ja die Meisten in der Stadt haßten.

Ohnehin sah Ploetz ihn jetzt nicht mehr anders an, als seinen Diener, dem er Befehle ertheilte und der dieselben ohne Widerrede auszuführen hatte.

Er war an der kleinen Pforte angelangt, öffnete sie vorsichtig, schlüpfte schnell durch dieselbe in das Haus und verschloß sie wieder hinter sich. Ein langer, dunkler Gang führte ihn bis an das Zimmer des Polizeidirectors. Vor dem Zimmer blieb er horchend stehen, weil er ziemlich laut darin sprechen hörte. Er legte das Ohr an das Schlüsselloch. Außer Ploetz's Stimme erkannte er die des Untersuchungsrichters Blumer. Sie sprachen über die Untersuchung, welche gegen die Verhafteten bereits eingeleitet war.

Blumer bemerkte, daß gegen den Uhrmacher Kallow und gegen den Fabrikant Schenk zu wenig vorliege, um sie länger in Haft zu behalten.

»Zu wenig?« warf der Polizeidirector ein, und Scherbach glaubte an dem Tone seiner Stimme zu bemerken, daß er das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln verzog. »Ich glaube es wird hinreichend genug sein, um Jedem von ihnen einige Jahre Gefängniß einzubringen.«

»Schwerlich,« erwiderte der Untersuchungsrichter. »Aus ihrem eigenen Verhöre geht nur hervor, daß die Neugierde sie auf die Straße gelockt hat, als sie den Spektakel gehört haben. Sie haben sich in dem Volkshaufen befunden, ohne an einer Thätlichkeit Theil genommen zu haben. Mehr sagen auch die Zeugen nicht aus, welche ich über sie verhört habe, und wir müssen die halbe Stadt verhaften lassen, wenn alle Diejenigen, welche aus Neugierde hingelaufen sind, zur Strafe gezogen werden sollten.«

»Ich würde auch davor nicht zurückschrecken,« warf Ploetz kalt ein. »Die Gelegenheit ist darnach angethan, um keine Rücksichten und keine Milde obwalten zu lassen.«

»Herr Polizeidirector, ich nehme keine anderen Rücksichten als diejenigen, welche sich mit meiner Pflicht und meiner Stellung vereinen lassen,« bemerkte der Untersuchungsrichter scheinbar verletzt.

»Sie verstehen mich falsch,« entgegnete Ploetz einlenkend. »In dem Sinne habe ich die Worte nicht gesprochen. Sie werden aus den Zeitungen gelesen haben, wie der Aufstand in anderen Städten mehr und mehr um sich greift, wie er an einigen Orten eine wirklich bedenkliche Höhe und Ausdehnung angenommen hat, wie der Pöbel sogar in einigen Städten über das Militär gesiegt hat. Hier ist das Gottlob verhütet, und ich darf dreist sagen, durch meine Vorsicht und Energie. Wir müssen streng, außerordentlich streng sein. Und was Kallow und Schenk anlangt – dieselben haben sich an dem Aufstande betheiligt, sie haben denselben sogar mit vorbereitet – ich weiß es.«

»Aus den Aussagen der Zeugen hat sich nichts Derartiges ergeben,« bemerkte Blumer.

»Ich werde Ihnen die Zeugen stellen, welche dies gesehen haben, welche Ihnen den Beweis liefern werden,« fuhr Ploetz fort.

»Sie sind mit Schenk verfeindet, Herr Polizeidirector?« warf Blumer fragend ein.

»Ja, doch das hat hiermit nichts zu schaffen. Ich pflege weder Privatfeindschaften, noch Privatfreundschaften in Erwägung zu ziehen, wo es sich um das Interesse des Staates und der allgemeinen Sicherheit handelt.«

Der Untersuchungsrichter erwiderte Etwas, was Scherbach nicht verstand. Es schien ihm, als ob Blumer sich der Thür nähere, und rasch zog er sich tiefer in den Gang zurück, um nicht gesehen zu werden. Er hatte sich nicht geirrt, denn gleich darauf trat der Untersuchungsrichter aus dem Zimmer und ging fort.

Scherbach zögerte noch einige Zeit, ehe er zu dem Polizeidirector in das Zimmer trat, denn dieser sollte nicht ahnen, daß er gehorcht hatte. Als er endlich eintrat, fand er Ploetz nicht in der besten Stimmung. Er schritt im Zimmer auf und ab und das pflegte er nur zu thun, wenn er aufgeregt war und dies verbergen wollte.

Kaum mit einem Nicken des Kopfes erwiderte er Scherbach's Gruß.

»Ich habe Sie gestern bereits erwartet, weshalb sind Sie nicht gekommen?« fragte er.

»Es war mir nicht möglich,« erwiderte Scherbach. »Ich war auch nicht im Stande, Ihnen die gewünschte Auskunft zu überbringen.«

»Sind Sie es heute?« fiel Ploetz rasch ein, indem er vor dem jungen Manne stehen blieb und den Blick forschend auf dessen Gesichte ruhen ließ.

»Nein. All' mein Forschen ist vergebens gewesen. Ich bin überzeugt, daß Stahl nicht mehr in der Stadt ist, ich hätte seinen Aufenthalt sonst längst entdeckt.«

»Sie scheinen ein sehr großes Vertrauen zu sich zu haben,« bemerkte Ploetz spöttisch, »und dennoch wiederhole ich Ihnen, daß der Mensch sich noch immer in der Stadt befindet.«

»Sie vermuthen es, Herr Polizeidirector.«

»Ich weiß es, und selbst in meinen Vermuthungen pflege ich mich selten zu irren. Ich habe sogar einen sicheren Beweis dafür. Dieser Brief ist gestern Abend hier zur Post gegeben. Sie sehen, er ist von Stahl – von Hermann Stahl, er spricht in dem Briefe sogar aus, daß er sich noch immer hier in sicherem Verstecke befindet und vor der Hand nicht daran denkt, die Stadt zu verlassen, weil er noch immer auf einen Umschwung der gegenwärtigen Verhältnisse hofft.«

»Wie ist dieser Brief in Ihre Hände gelangt?« fragte Scherbach. Diese Frage entschlüpfte ihm gleichsam wider seinen Willen und er bereute sofort, sie gethan zu haben, als er den finstern Blick des Polizeidirectors bemerkte. Er wußte ja, daß Ploetz das Briefgeheimniß nicht wahrte und mit der Post deshalb in geheimer Verbindung stand. »Ich wollte sagen, wer hat den Brief zur Post gebracht?« fügte er verlegen hinzu.

»Wenn ich das wüßte, brauchte ich Ihre Hülfe nicht mehr,« entgegnete der Polizeidirector. – »Er ist gestern Abend, als es dunkel war, in den an dem Postgebäude befindlichen Briefkasten geworfen. Der Mensch ist übrigens klüger und vorsichtiger, als ich geglaubt habe. Nicht mit einer Silbe verräth er, wo er sich befindet, und er ist über die gegenwärtigen Verhältnisse hier sehr gut und genau unterrichtet.«

»Es ist mir unbegreiflich,« warf Scherbach ein. »Seine Freunde wissen nichts davon, daß er noch hier ist, sie sind der festen Ueberzeugung, daß er geflohen ist.«

»Seine Freunde haben Ihnen dies gesagt, aus dem einfachen Grunde, weil sie Ihnen nicht mehr trauen. Doch genug hierüber. Ich habe geglaubt, Ihre Verbindungen seien in dieser Beziehung besser. Ich werde ihn auch ohne Sie finden und ich hoffe sehr bald. – Wegen einer anderen Sache habe ich noch mit Ihnen zu sprechen. – Sie haben mehrfach gehört, daß Kallow und Schenk sich in dem Falken über den von ihnen in Scene gesetzten Aufstand ausgesprochen haben.«

»Darüber habe ich nichts vernommen,« erwiderte Scherbach.

»Sie haben mir dies früher selbst erzählt.«

»Ich habe nur gesagt, daß sie sehr freie Reden geführt haben.«

»Und worin bestanden dieselben? Wie lauteten sie?«

»Ich kann mich ihrer Worte nicht mehr entsinnen.«

»Ihr Gedächtniß scheint sehr schwach geworden zu sein. – Sie haben dieselben an dem Abende unter dem Pöbel gesehen, als dieser gegen mein Haus rückte!«

Ploetz schwieg. Mit hastigen Schritten durchmaß er das Zimmer. Seine Zähne nagten an der Unterlippe.

Endlich blieb er vor Scherbach stehen.

»Ich weiß, daß Beide den Aufstand mit vorbereitet haben, daß sie daran Theil genommen haben,« sprach er, »namentlich Schenk. Sie werden der Bestrafung nicht entgehen – sie dürfen ihr nicht entgehen. Es ist kein anderer Zeuge gegen sie aufzufinden, ich habe deshalb dem Untersuchungsrichter Sie als Zeugen genannt.«

»Mich?« rief Scherbach überrascht, erschreckt.

»Ja Sie!« entgegnete Ploetz fest, bestimmt.

»Ich kann nichts gegen sie aussagen, weil ich nichts weiß!«

Der Polizeidirector schloß die Augen halb, ließ sie aber gleichwohl scharf beobachtend auf dem Gesichte des jungen Mannes ruhen.

»Sie können nichts aussagen?« wiederholte er langsam, fast flüsternd. »Ihr Gewissen scheint mit einem Male sehr bedenklich geworden zu sein. Sie sollen ja nur aussagen, was wahr ist – oder zweifeln Sie an meinen Worten?«

»Nein,« erwiderte Scherbach halb verwirrt.

»Vergessen Sie nicht, daß ich zehn Andere finden kann, die dies bezeugen, an sie würde ich dann auch natürlich die Ansprüche an die gute Stelle übertragen, welche ich Ihnen versprochen habe.«

Auf Scherbach's Stirn traten die Schweißtropfen der Aufregung und Angst.

»Ich würde einen Meineid begehen!« erwiderte er.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß Sie nur die Wahrheit bezeugen würden. – Doch wie Sie wollen!« fügte Ploetz mit einem Zucken der Achseln hinzu. »Als Sie den Verräther Ihrer Freunde und Bekannten spielten, waren Sie weniger bedenklich. Es scheint Ihnen an meiner Gunst nichts mehr zu liegen, Sie vollziehen meine Befehle ungern und unwillig und deshalb auch ungenügend, vergessen Sie nicht, daß ich Sie vollkommen in meiner Hand habe. Ich glaube, Sie würden nicht die beste Rolle hier in der Stadt spielen, wenn ich morgen erzählen lasse, welche Nachrichten Sie mir überbracht haben, ja ich bin sogar überzeugt, daß Ihre Sicherheit sehr gefährdet werden dürfte. Ein Verräther pflegt in der Regel sehr wenig Achtung zu genießen. Geben Sie sich auch nicht der Hoffnung hin, vielleicht die Stadt zu verlassen, denn dies dürfte Ihnen ohne meine Einwilligung sehr schwer werden, jedenfalls würden Sie schon nach wenigen Tagen hierher zurückgebracht werden, denn meine Macht und mein Einfluß reicht weiter, als Sie je gelangen können.«

Scherbach saß schweigend da; allein in seinem Innern stürmte es heftig. Er bereute, daß er diesem Manne je einen Dienst geleistet, daß er sich je in seine Hände begeben hatte. Er fühlte, daß er jetzt vollständig von ihm abhängig war, daß Ploetz ihn vernichten konnte, wenn er wollte.

Dies erbitterte ihn innerlich. Er haßte den Mann und gleichwohl konnte er sich von ihm nicht lossagen, gleichwohl mußte er ihm gehorchen. Er glaubte klug zu sein und hatte sich selbst in eine Schlinge begeben, die der Andere nach Belieben zuziehen konnte. Wohl wußte er genug, um auch Ploetz bloßzustellen, allein er hatte keinen einzigen Beweis gegen ihn in Händen und wenn er gegen den Polizeidirector hätte auftreten wollen, so würde er damit sein eigenes Verderben herbeigeführt haben. Er wußte, daß Ploetz vor keiner That zurückschreckte.

Der Polizeidirector schien zu errathen, was in dem Kopfe des jungen Mannes vorging, das spöttische Lächeln, welches seinen Mund umzog, verrieth dies.

»Sie bereuen, mir einige kleine Dienste erwiesen zu haben,« fuhr er fort. »Sie haben sich vielleicht gar eingebildet, daß ich dadurch in eine gewisse Abhängigkeit von Ihnen gerathen werde. Darin haben Sie sich in der That sehr geirrt. Ich lasse mich von Niemand in Abhängigkeit bringen, am wenigsten von Ihnen! Sie können morgen erzählen, daß Sie Ihre Freunde verrathen haben, es würde mich nur ein Wort kosten, um Sie als Lügner hinzustellen, allein ich würde dies nicht thun, ich würde sogar bestätigen, daß Sie die volle Wahrheit gesprochen hätten. Thun Sie es, wenn Sie es wagen! – Noch Eins will ich Ihnen hinzufügen. Ich bin sehr dankbar gegen Diejenigen, welche mir Dienste erweisen, allein dann verlange ich einen unbedingten Gehorsam. Gehorchen Sie mir in Allem, was ich von Ihnen verlange, so dürfen Sie auch versichert sein, daß ich Sie nie im Stiche lassen werde, und ich denke, mein Einfluß reicht weit genug, um jede Unannehmlichkeit, in welche Sie möglicherweise gerathen könnten, von Ihnen abzuwenden. Ich werde Sie nie im Stiche lassen. Ich frage Sie deshalb kurz, ob Sie gegen Schenk und Kallow zeugen wollen?«

Scherbach war der Angstschweiß auf die Stirn getreten. All die Hoffnungen, welche er seit Tagen genährt hatte, sah er mit einem Male erschüttert, sie waren vernichtet, wenn er nein sagte. Er wußte nur zu sicher, daß er nie auf Margarethe's Liebe und Besitz werde rechnen können, wenn sie erfuhr, daß er zum Verräther geworden war. Dieser Gedanke brachte die bessere Stimme, welche in ihm laut geworden war, zum Schweigen. Der Polizeidirector war ja für alle Fälle mächtig genug, um ihn zu schützen. Und beging er denn wirklich einen Meineid, wenn er Das aussagte, was ihm der Polizeidirector als wahr versichert hatte? Fiel nicht auf diesen alle Verantwortung, wenn es dennoch nicht wahr war?

Das Gewissen eines schwachen und characterlosen Menschen findet stets an seinem Verstande den bereitwilligsten Anwalt. Ohne Zagen hilft dieser ihm, wenn Bedenken vor ihm aufsteigen, durch eine Menge Gründe hinweg. Scherbach war eigentlich nicht schwach, man konnte viel eher von ihm sagen, daß sein sehr dehnbares Gewissen nur noch nicht bis zu diesem Punkte geweitet war. Auch darüber gelangte er indeß hinweg.

»Ich werde zeugen,« erwiderte er nach kurzem Bedenken mit fester und bestimmter Stimme.

»Es ist mir lieb, daß Sie endlich zur Vernunft kommen,« fuhr Ploetz freundlicher fort. »Sie sind zu klug, als daß ich noch nöthig hätte, Ihnen den Rath zu geben, stets Ihr Interesse im Auge zu behalten. Wer dies nicht thut, kommt nie weiter, und in Ihnen steckt Ehrgeiz und Streben, und wenn Sie klug handeln, können Sie es noch einmal weit in Ihrem Leben bringen. – Wie steht es mit Ender? Sie sind kein Freund desselben, – ich weiß es – wollen Sie auch gegen ihn als Zeuge auftreten?«

»Nein,« erwiderte Scherbach fast hastig.

»Weshalb nicht?« fragte Ploetz.

Der junge Mann schwieg.

»Weshalb nicht?« wiederholte der Polizeidirector noch einmal. »Sie hassen ihn ja, und ich habe ihn eigentlich nur verhaften lassen, um Ihnen einen Gefallen zu erweisen.«

»Er ist ein Freund meiner Braut,« erwiderte Scherbach, »und diese würde es mir nie vergeben, wenn ich gegen ihn als Zeuge auftreten wollte.«

»Ah, Sie sind verlobt?« warf Ploetz ein. »Weshalb haben Sie mir dies nicht schon früher mitgetheilt? Haha! Nun begreife ich Alles. Sie waren etwas eifersüchtig auf den Lehrer und wünschten ihn vorläufig aus dem Wege geschafft zu sehen. Nun, das ist ja geschehen, und sobald wird Ender wohl nicht wieder in Freiheit gelangen. Wenn dies geschieht, sind Sie vielleicht längst verheirathet – wie heißt denn die Glückliche, deren Herz Sie erworben haben?«

Scherbach's Wangen waren geröthet. Er hätte es gern vermieden, auf diese Frage zu antworten, jetzt konnte er es nicht mehr.

»Anna Krüger,« erwiderte er.

»Ah, ich kenne sie. Sie haben keine üble Wahl getroffen – ein allerliebstes Mädchen. Sie sind schon lange mit ihr verlobt?«

»Nein, erst seit wenigen Tagen.«

»Nun begreife ich, weshalb Sie sich nach einer Stelle sehnen – nun Sie kennen ja den Weg, der zu derselben führt. – Sie werden also in den nächsten Tagen als Zeuge von dem Untersuchungsrichter vorgeladen werden – lassen Sie auch Stahl nicht aus den Augen!«

Er brach das Gespräch ab und wandte sich seinem Arbeitstische zu.

Scherbach verließ das Zimmer und auf demselben Wege das Haus, auf welchem er hineingelangt war.

Ploetz war nur wenige Minuten lang in Gedanken versunken an seinem Arbeitstische stehen geblieben, dann zog er heftig und ungeduldig an einer Klingelschnur, welche über dem Tische von der Decke herabhing.

Ein Polizeidiener trat auf dies Zeichen in das Zimmer.

»Sie kennen den jungen Mann, den früheren Schreiber, Scherbach heißt er?« fragte Ploetz, mit dem Rücken sich an den Arbeitstisch lehnend.

»Ja wohl, Herr Polizeidirector, eine lange, hagere Gestalt.«

»Ganz Recht. Geben Sie genau auf ihn Acht, merken Sie sich namentlich, mit wem er umgeht und wo er verkehrt.«

»Ja wohl,« lautete die Antwort des Dieners, an dessen straffer Haltung man erkennen konnte, daß er früher Militär gewesen war.

»Sie können wieder gehen,« sprach Ploetz, allein der Mann blieb dennoch an der Thür stehen.

»Was wollen Sie noch?« fügte Ploetz fragend hinzu.

»Herr Polizeidirector,« erwiderte der Diener nicht ohne einen befangenen halb ängstlichen Ausdruck. »Ich war heute Nachmittag im Gefängnisse – mit dem einen der Gefangenen sieht es schlimm aus.«

»Mit welchem?« fragte Ploetz rasch.

»Mit dem jungen Bremer. Der Wärter sagte mir, er werde wohl nicht mit dem Leben davon kommen, ich habe ihn gesehen und ich glaube es selbst nicht. Ich bin kein Arzt, allein ich glaube doch, der Tod blickt ihm schon aus dem Gesicht heraus.«

Ploetz zuckte gleichgiltig mit den Achseln.

»Ich kenne ihn von früher,« fuhr der Diener fort. »Er hat mit meinem Jungen viel gespielt, als er noch in die Schule ging, und ich habe mich oft über den lustigen und wilden Knaben gefreut. Es steckte viel Leben in ihm, das ist jetzt freilich dahin.«

»Er hat sich die Verwundung selbst zuzuschreiben,« erwiderte der Polizeidirector kalt.

»Ich will ihn auch nicht in Schutz nehmen, allein es ging mir doch nahe, als ich ihn so elend daliegen sah. Wo sind die frischen Wangen geblieben und der lebensfrische Blick! Er scheint zu, ahnen, daß er sterben muß, denn er hat nur einen Wunsch – er möchte seine Schwester noch einmal sehen.«

»Seine Schwester?« wiederholte Ploetz und sein Auge leuchtete unwillkürlich auf.

»Er bittet seinen Wärter den ganzen Tag darum, und ich habe versprochen, es Ihnen mitzutheilen und die Erlaubniß von Ihnen zu erbitten.«

Ein Zug der Schadenfreude und des Triumphes zuckte über des Polizeidirectors Gesicht hin. »Sie kennen seine Schwester?« fragte er.

»Nur vom Ansehn.«

»Gut – gehen Sie zu ihr und theilen Sie ihr den Zustand und den Wunsch ihres Bruders mit. Will sie ihn sprechen – so – nun so mag sie selbst mich darum bitten.«

»Darf ich noch heute Abend zu ihr gehen?«

»Ja – sobald es Ihre Zeit gestattet.«


VI.

Margarethe hatte ihren Verlobten seit dem Abende, an welchem derselbe bei ihr mit dem Polizeidirector in so heftiger Weise an einander gerathen war, nicht wieder gesehen, allein sie war über dessen Geschick einigermaßen beruhigt, weil sie wußte, daß er sich in dem Hause ihrer Freundin in guter Pflege und auch in Sicherheit befand, denn wer sollte ihn in dem stillen und abgelegenen Hause suchen?

Fast jeden Tag hatte sie einen Brief von ihm erhalten, den Anna durch irgend einen zuverlässigen Boten ihr zusandte. Wohl trieb es sie, den Geliebten selbst zu besuchen, die Vorsicht hielt sie aber zurück. Sie wußte, daß die Polizei jeden ihrer Schritte genau beobachtete, sie würde dieselbe dadurch selbst auf die Spur gelenkt haben, wo sie den Gesuchten finden könne.

Stahl selbst hatte sie bitten lassen, nicht zu ihm zu kommen. Er war wohl entschlossen und kühn, allein zugleich fehlte es auch ihm nicht an der nöthigen Vorsicht.

An dem Abende dieses Tages war Anna selbst zu der Freundin geeilt, um ihr einige Zeilen und zugleich Grüße von dem Geliebten zu überbringen. Beide Mädchen saßen zusammen in dem kleinen Zimmer. Dies war die erste Stunde seit jenem unheilvollen Abende, an welchem Heinrich schwer verwundet in das Zimmer gestürzt und bewußtlos von der Polizei fortgebracht war, in der Margarethe's Herz wieder mit froherer Hoffnung für die Zukunft schlug.

War es ihr auch noch nicht gelungen, zu dem Bruder zu kommen, so wußte sie doch, daß er noch am Leben war, und schon dieser Umstand gab ihr die Hoffnung, daß sein Zustand sich gebessert habe. Auch Stahl's Verwundung gab zu keiner Befürchtung Raum, derselbe war bereits vollständig wieder genesen. Immer und immer wieder mußte Anna von ihm erzählen. Margarethe beneidete die Freundin, weil sie ihn täglich sehen und sprechen, weil sie unter einem Dache mit ihm schlafen konnte.

»Und er ist wirklich heiter?« fragte sie.

»Er ist so heiter, als man es unter diesen Verhältnissen nur verlangen kann,« versicherte Anna. »Wohl ist er um das Geschick Deines Bruders besorgt, allein er giebt die Hoffnung noch nicht auf, daß sich dasselbe bald zum Besseren wenden wird. Täglich muß ich in die Stadt gehen, um ihm Nachricht zu bringen, was die Zeitungen aus anderen Städten berichten. Er ist der festen Ueberzeugung, daß die freiheitliche Bewegung hier nur für kurze Zeit niedergeworfen sei, daß sie vielleicht bald doppelt kräftig sich wieder erheben werde. Wohl sitzen die besten und entschlossensten Männer im Gefängnisse, allein wenn zuletzt das ganze Land sich erhebt und aufsteht, dann muß auch hier die Macht des Polizeidirectors gebrochen werden.«

»Und wenn das Land sich nun nicht erhebt?« warf Margarethe zweifelnd ein. »Wenn der Polizeidirector hier so mächtig bleibt, als er jetzt ist? Es zittert ja ein Jeder vor ihm. Niemand wagt, ihm entgegen zu treten! Er könnte noch größeres Unrecht begehen, als er bereits begangen hat, so würde doch Keiner wagen, ihn zu hindern. Alle fürchten ihn.«

»Nein, Stahl fürchtet ihn nicht.« entgegnete Anna. »Es belustigt ihn, daß alle Macht und Mühe des Polizeidirectors nicht ausreicht, um ihn aufzufinden. Gestern war er bei uns im Zimmer, da ging Ploetz in einiger Entfernung an unserm Hause vorüber; er sah ihn und lachte so laut, daß ich unwillkürlich erschreckt zusammenzuckte, weil ich befürchtete, der Polizeidirector könne dies Lachen gehört haben.«

»Hermann ist jetzt zwar bei Deiner Mutter und Dir in Sicherheit;« bemerkte Margarethe, »allein er kann doch nicht immer bei Euch bleiben. Was soll aus ihm werden? Zuletzt muß er doch fliehen!«

Anna erfaßte die Hand der Freundin.

»Margarethe, mach' Dir nicht solche Sorgen!« rief sie heiter. »Wer weiß, was der morgende Tag bereits bringen kann!«

In diesem Augenblicke trat der von dem Polizeidirector gesandte Polizeidiener in das Zimmer. – Unwillkürlich fuhren beide Mädchen erschreckt zusammen. Margarethe hatte seit wenigen Tagen so viel erfahren, daß der Anblick dieses Mannes wohl neue Befürchtungen in ihr wach rufen konnte.

In ruhiger Weise theilte der Polizeidiener Margarethe den Wunsch ihres Bruders und die Bedingung des Polizeidirectors mit.

Das arme Mädchen war auf das Heftigste erschreckt.

»Sie zweifeln an seiner Herstellung – Sie haben ihn gesehen?« rief sie.

»Ich will Ihnen nicht vergebliche Hoffnungen machen,« erwiderte der Mann ehrlich und gutmüthig. – »Sie wissen, daß ich Ihren Bruder kenne, ich war heute Nachmittag bei ihm, – ich habe ihn gesehen und ich zweifle, daß er seine Wunden überwinden wird.«

Margarethe rang verzweiflungsvoll die Hände.

»Die Pflege in dem Gefängnisse ist ohnehin nicht die beste;« fuhr der Mann fort. »Ich verstehe von dergleichen Sachen nicht viel, allein ich meine, Ruhe würde für ihn das Nothwendigste gewesen sein, und die findet er dort freilich nicht.«

»Der Polizeidirector hat ihn auf dem Gewissen, wenn er sterben sollte!« rief Margarethe. – »Weshalb hat er ihn nicht hier gelassen! All' meine Bitten waren vergebens, und doch hätte Heinrich, elend und verwundet wie er war, nicht entfliehen können. Mit meinem Leben würde ich für ihn eingestanden sein. – Aber ich muß zu ihm – heute noch! Verschaffen Sie mir Zutritt zu ihm, und ich will Ihnen geben, was Sie verlangen, – Alles, was ich mein nenne! Ich muß zu ihm!«

»Hinge es von mir ab, so würde ich Sie wahrlich nicht hindern,« bemerkte der Polizeidiener. »Ich habe gehört, wie Ihr Bruder nach Ihnen verlangte, ich selbst würde Sie zu ihm bringen – es wäre ja nicht mehr als menschlich, denn mit einem Menschen, der dem Tode so nahe ist, muß man Mitleid haben. Ich kann nichts für ihn thun. Der Herr Polizeidirector hat den strengsten Befehl gegeben, Niemand zu den Gefangenen zu lassen – Niemand. Gehen Sie zu – ihm und bitten Sie ihn, er wird es Ihnen nicht abschlagen – deshalb hat er mich zu Ihnen geschickt.«

»Er hat Sie geschickt?« rief Margarethe. »Zu ihm soll ich gehen, der meinen Bruder gemordet hat, ihn soll ich bitten? Nein, ich kann es nicht! Oh, ich weiß ja, weshalb er Sie sendet, weshalb ich ihn bitten soll – ich kann es nicht!«

»Denken Sie an Ihren armen Bruder,« warf der Polizeidiener ein. »Es ist sein einziger Wunsch, Sie noch einmal zu sehen.«

Margarethe erfaßte in der Aufregung des größten Schmerzes die Hand des Mannes. »Bringen Sie mich zu ihm.,« bat sie. »Ihnen wird man ja die Thür des Gefängnisses nicht verschließen.«

»Ich darf es nicht. – Der Herr Polizeidirector hat es streng verboten.«

»Thun Sie es,« fuhr das arme Mädchen flehend fort. »Es ist ja kein Unrecht, was Sie thun! Ich will nichts mit meinem Bruder sprechen, was Sie nicht hören dürften, Sie sollen dabei zugegen sein. Nur sehen will ich ihn, nur seine Hand erfassen – selbst ein Verbrecher wird nicht mit dieser Strenge behandelt!«

Noch einmal versicherte der Polizeidiener, daß es nicht in seiner Macht stehe, des Mädchens Bitte zu erfüllen.

»Der Gefängnißwärter würde uns auch die Thür nicht öffnen,« fügte er hinzu. »Es würde ihm sowohl wie mir Stellung und Brot kosten, wenn wir dem uns gegebenen Befehle zuwiderhandelten.«

»Nun so will ich zu ihm gehen und ihn fußfällig bitten!« rief Margarethe endlich. »Ich will meinen Widerwillen gegen ihn überwinden, denn ich muß Heinrich sehen!«

»Margarethe, ich gehe mit Dir,« sprach Anna, welche wußte, wie sehr Ploetz der Freundin nachstellte. »Sagen Sie dem Polizeidirector, daß meine Freundin noch heute Abend zu ihm kommen werde,« wandte sie sich an den Polizeidiener; »allein verschweigen Sie ihm, daß ich sie begleiten werde.«

Der Polizeibeamte entfernte sich.

»Anna, wenn Ploetz Dich nun zurückweist? wenn er mich allein sprechen will?« warf Margarethe besorgt ein.

»Ich lasse mich nicht zurückweisen!« entgegnete die Freundin, »ich fürchte ihn auch nicht, denn gegen ein Mädchen, wie ich es bin, kann er unmöglich hart und grausam verfahren. Komm, ehe es zu spät wird, um Deinen Bruder heute noch zu sehen.«

Wenige Minuten später verließen beide Mädchen das Haus. –

 

Ploetz ging um dieselbe Zeit in seinem Zimmer auf und ab. Um seinen Mund zuckte ein triumphirendes, freudiges Lächeln. Der Polizeidiener hatte ihm gemeldet, daß Margarethe zu ihm kommen werde. Er hatte diese Nachricht in dem Sinne aufgefaßt, daß die Angemeldete endlich entschlossen sei, ihren Widerstand aufzugeben. Ob er sie durch die Angst um das Geschick ihres Bruders dahin gebracht habe, war ihm gleichgiltig, wenn er nur seine Absicht erreichte und die in ihm lodernde Leidenschaft befriedigen konnte. Ohne Gewissensbisse würde er fünf Menschenleben geopfert haben, wenn ihn dies mit Gewißheit zum Ziele geführt hätte.

Schon sah er im Geiste das hübsche Mädchen, welches er so glühend und leidenschaftlich liebte, vor sich, und unwillkürlich malte seine Phantasie, daß sie seine Liebe endlich erwiedre, weiter aus. Nur dann und wann ließ er den Blick durch das matt erleuchtete Zimmer schweifen und über die dicht zugezogenen Vorhänge. Mehr als einmal stand er an der Thür lauschend still, um zu horchen, ob er Margarethe's Schritte noch nicht vernehme.

Alles war zu ihrem Empfange bereits vorbereitet. Auf einem Tische in der Ecke stand eine Flasche Champagner und zwei Gläser dabei; der Polizeidiener hatte den strengen Befehl erhalten, sein Zimmer nicht zu verlassen. Ungestört wollte er sein und er kannte in der That Niemand, der es wagen werde, ihn zu stören.

Seine Ungeduld wuchs von Minute zu Minute. Schon hatte er im Geiste die Entfernung berechnet und die Zeit, welche Margarethe nöthig hatte, um den Weg zurückzulegen.

Endlich hörte er wie die Hausthür geöffnet wurde und leichte Schritte die Treppe emporstiegen. Sein Herz schlug fast hörbar laut. Jede Vorsicht vergessend öffnete er die Thür, um Margarethe entgegen zu eilen. Als er auf den Corridor trat, stand sie bereits vor ihm.

In dem schwachen Lichte, das durch die halbgeöffnete Stubenthür drang, erblickte er Anna nicht, welche kaum zwei Schritte hinter der Freundin stand.

»Es ist gut, daß Sie kommen,« sprach er, Margarethe's Hand erfassend und sie mit sich in das Zimmer ziehend.

Margarethe war durch diesen Empfang so sehr überrascht, daß sie ihm unwillkürlich folgte. Anna schritt dicht hinter ihr.

»Ich weiß, weshalb Sie kommen,« fuhr Ploetz fort, »und Sie sollen keine Fehlbitte thun. Sie wissen ja, daß ich gern Ihre Wünsche erfüllen werde, wenn –« er wollte sie an sich ziehen, in demselben Augenblicke erblickte er Anna.

Erschreckt und überrascht zugleich trat er einen Schritt zurück.

»Wer sind Sie und was wollen Sie hier?« rief er, und seine Stimme klang drohend.

»Es ist meine Freundin, welche mich hierher begleitet hat,« bemerkte Margarethe.

»Wer hat Ihnen die Berechtigung gegeben, hier einzutreten?« fuhr Ploetz auf Anna los, ohne daß diese dadurch eingeschüchtert wurde.

»Meine Freundin hat bereits gesagt, daß ich sie begleitet habe,« erwiderte sie ruhig.

»Sie haben hier nichts zu suchen, deshalb entfernen Sie sich!« rief Ploetz barsch.

»Es ist meine Freundin,« fiel Margarethe halb bittend ein.

»Sie ist unaufgefordert in mein Zimmer getreten, das dulde ich von Niemand. Ich verlange, daß sie sich entfernt.«

»Dann werde ich mit ihr gehen, denn allein bleibe ich hier nicht,« sprach Margarethe.

»Also deshalb haben Sie die Freundin mitgebracht?« rief Ploetz mit höhnendem Lächeln und verbissenem Grimme, denn er sah, daß er sich in seinen Erwartungen und Wünschen getäuscht hatte. »Also deshalb?« wiederholte er.

»Nur deshalb,« warf Anna ein. »Ich selbst habe meiner Freundin meine Begleitung angeboten. Sie ist ja auch nur gekommen, um Sie zu bitten, ihr den Besuch ihres Bruders zu gestatten.«

»Schweigen Sie!« unterbrach sie der Polizeidirector barsch. »Sie haben kein Recht, hier zu sprechen.«

»Gestatten Sie mir, meinen Bruder zu sehen,« fiel Margarethe bittend ein.

Ploetz's Erbitterung war zu groß, als daß er im Stande gewesen wäre, sich zu beherrschen. »Heute nicht!« rief er. »Vielleicht morgen. Fragen Sie morgen früh wieder nach.«

»Morgen früh!« rief Margarethe. »Er verlangt nach mir, er soll die lange Nacht noch hinbringen, ohne daß sein Wunsch erfüllt wird! Er ist elend, dem Tode nahe, wenn er stürbe, ohne daß ich ihn noch einmal gesprochen hätte!«

Ploetz zuckte gleichgiltig mit den Achseln.

»Dann ist es nicht meine Schuld,« erwiderte er.

»Es ist Ihre Schuld!« fuhr Margarethe mit der gesteigerten Aufregung des Schmerzes fort. »Herr Polizeidirector, ich beschwöre Sie, schlagen Sie mir diese Bitte nicht ab.«

»Ich sage Ihnen ja, daß Sie morgen wieder nachfragen mögen,« erwiderte Ploetz. »Heute ist es bereits zu spät – Ihr Bruder bedarf auch der Ruhe.«

Er sprach diese letzten Worte mit höhnendem Lächeln.

»Es wird ihn am Meisten beruhigen, wenn er mich sieht,« bemerkte Margarethe. »Ich werde ihn nicht aufregen, ich will mich beherrschen, will ruhig sein, nicht eine Thräne soll in mein Auge kommen!«

»Fragen Sie morgen wieder nach!«

»Herr Polizeidirector,« rief das sonst schüchterne Mädchen durch die Angst und Verzweiflung getrieben, »Sie selbst haben mich auffordern lassen, heute zu Ihnen zu kommen und die Bitte an Sie zu richten – und dennoch schlagen Sie mir dieselbe ab!«

Ploetz richtete sich empor.

»Wer hat Ihnen das gesagt, daß Sie heute kommen sollten?« fragte er. »Ich habe dem Manne, der zu Ihnen gekommen ist, nur aufgetragen, Sie von dem Wunsche Ihres Bruders in Kenntniß zu setzen.«

»O Gott! Wie kann ein Mensch so hart und grausam sein!« rief Margarethe, in ihrem Schmerze sich vergessend.

»Genug!« unterbrach sie der Polizeidirector. »Ich habe nicht Zeit, Klagen anzuhören. Fragen Sie morgen wieder nach!«

Er wandte sich ab und kehrte dem unglücklichen Mädchen den Rücken zu.

Regungslos blieb dieses stehen.

»Komm, Margarethe!« sprach Anna, die Hand der Freundin erfassend. »Deine Bitte würde nur erfüllt worden sein, wenn Du allein gekommen wärest. Komm!«

Rasch wandte Ploetz sich um. Sein Auge ruhte drohend auf dem Mädchen, welches ihm gegenüber so dreist zu sprechen wagte, welches seine Absicht durchschaut hatte. Seine Lippen waren fest auf einander gepreßt. Er schien in heftiger Weise antworten zu wollen, allein er beherrschte sich und schwieg.

Ohne ein Wort zu sagen, ließ er beide Mädchen sich aus dem Zimmer entfernen.

Einige Secunden lang blieb er auf derselben Stelle stehen, die Lippen immer noch fest geschlossen. Er hörte, wie Margarethe und Anna die Treppe hinabstiegen und das Haus verließen. Sein Blick glitt über die Champagnerflasche hin, welche auf dem Tische stand, seine Zähne nagten an der Lippe.

Hastig trat er an den Tisch und zog heftig zweimal an der über demselben hängenden Klingel.

Gleich darauf trat derselbe Polizeidiener ein, den er zu Margarethe gesandt hatte.

»Was haben Sie zu dem Mädchen gesagt, zu dem Sie gegangen sind?« fragte er in drohendem Tone.

»Ich habe ihr nur den Wunsch ihres Bruders mitgetheilt und hinzugefügt, daß sie sich an Sie mit einer Bitte wenden möge, wenn sie den Kranken zu sehen wünsche.«

»Ich werde künftig einen Esel senden, der wird meinen, Auftrag noch besser ausführen, als Sie!« rief Ploetz heftig. »Ich werde übrigens Ihre ganz besondere Fähigkeit für spätere Zeit mir einprägen!«

Mit einem befehlenden Winke der Hand wies er den bestürzten Diener aus dem Zimmer.


VII.

Heinrich Bremer war am Morgen des folgenden Tages in dem Gefängnisse gestorben. Schon einige Stunden später wurde sein Tod bekannt und zugleich auch, daß derselbe ein sehr schwerer gewesen war, weil der Sterbende den Gedanken nicht hatte aufgeben können, daß er seine Schwester noch einmal sehen müsse. Von Minute zu Minute hatte er sie erwartet, unzählige Male ihren Namen gerufen, selbst als sein Auge schon halb gebrochen war, und »Margarethe« war das letzte Wort gewesen, was seine Lippen gesprochen.

Das Ende des jungen Mannes war ein so schweres gewesen, daß selbst das ziemlich abgehärtete Herz seines Wärters dadurch erschüttert war, dieser hatte auch davon erzählt.

Er würde es vielleicht nicht gethan haben, wenn er hätte voraussehen können, welche Aufregung und Erbitterung dadurch in der Stadt hervorgerufen wurde; daß Margarethe den Polizeidirector wiederholt gebeten hatte, ihren Bruder besuchen zu dürfen, selbst noch am Abende zuvor, als dessen Tod schon in seinem Gesichte ausgeprägt gewesen war, wurde gleichfalls bekannt, und selbst Diejenigen, welche über Ploetz's Härte und Tyrannei aus Besorgniß und Vorsicht geschwiegen hatten, sprachen jetzt ihren Unwillen gegen Bekannte unverhohlen aus, weil diese Härte des Polizeidirectors sich in keiner Beziehung rechtfertigen und in Schutz nehmen ließ, weil sie zu deutlich als ein Act der Rache erschien.

Wären nicht die entschlossensten Männer in den Mauern eingekerkert gewesen, so würde der Tod dieses jungen Mannes, der unter anderen Verhältnissen von Tausenden kaum beachtet sein würde, leicht und mit ziemlicher Gewißheit zu einem neuen Aufstande geführt haben, der jetzt sicherlich ein anderes Ende als der erste genommen hätte, weil er fast bei Allen Theilnahme gefunden haben würde.

Dem scharfen Blicke des Polizeidirectors entging die in der Stadt herrschende Aufregung nicht und sofort traf er im Geheimen die nöthigen Vorkehrungen, um einem etwaigen Aufstande mit Energie entgegentreten zu können. All' seine Untergebenen und Werkzeuge waren in voller Thätigkeit und mußten ihm von Stunde zu Stunde über die in der Stadt herrschende Stimmung berichten.

Auch Scherbach war den ganzen Tag über in Thätigkeit gewesen. Am Morgen war er durch den Untersuchungsrichter Blumer verhört, hatte gegen Schenk und Kallow ausgesagt, daß er im Wirthshause aufrührerische Reden von ihnen gehört und am Abende gesehen habe, daß sie sich an dem Aufstande und dem Angriffe auf des Polizeidirectors Haus betheiligt; und er hatte diese Aussage beschworen. Dann war er auf Ploetz's Befehl in verschiedenen Wirthshäusern gewesen, um die dort geführten Gespräche zu belauschen und die Stimmung der Bürger zu erforschen.

Nicht ohne inneres Zagen hatte er am Morgen den Meineid geleistet, nicht sein Gewissen allein empörte sich dagegen, es stieg zugleich die Befürchtung in ihm auf, daß seine That entdeckt werden könne, und er wußte nur zu gut, wie hart ein Meineid bestraft wurde. Zwar besaß der Polizeidirector viel Einfluß und seine Macht reichte weit, allein es stiegen doch Zweifel in ihm auf, ob dieselbe in einem solchen Falle ausreichen werde, ihn zu schützen und vor der Bestrafung zu sichern, er traute dem Manne obenein zu, daß er ihn im Stiche lassen werde, um jeden Verdacht seiner Mitwirkung abzuwenden.

All' diese Regungen seines Gewissens, diese Befürchtungen und Zweifel hatte er in reichlichem Genuß von Bier zu ertränken gesucht; der Befehl des Polizeidirectors hatte ihn ohnedies in verschiedene Wirthshäuser geführt.

Gerade im Trinken war er sonst sehr mäßig, das Bier war ihm deshalb mehr zu Kopfe gestiegen, als ihm lieb war.

In dieser erregten Stimmung schritt er zu dem kleinen Hause vor dem Thore, um seine Braut zu besuchen. Er traf sowohl Anna, wie deren Mutter sehr traurig an. Anna war soeben von Margarethe zurückgekehrt, die sie besucht hatte, um sie zu trösten. All' ihre Versuche hatten nicht den geringsten Einfluß auf den verzweiflungsvollen Schmerz des armen Mädchens geübt.

Scherbach begriff in seinem aufgeregten Zustande die traurige Stimmung seiner Braut nicht recht. Anna schilderte ihm den Schmerz ihrer Freundin und sprach sich unverhohlen über die Härte des Polizeidirectors aus. Ohne eine Ahnung davon zu haben, daß er mit Ploetz in Verbindung stand, erzählte sie, daß sie am Abende zuvor ihre Freundin zu Ploetz begleitet hatte und in welcher schroffen Weise sie von ihm empfangen und behandelt war.

»Er hat Dich aus dem Hause gewiesen?« rief Scherbach auffahrend. »Er hat Dich in der Weise behandelt, wie Du mir erzählt hast?«

»Ja!« erwiderte Anna, welche die Aufregung ihres Verlobten nicht begriff. »Er war ärgerlich, daß ich Margarethe begleitete. Er hatte gehofft, daß sie allein zu ihm kommen werde, er liebt sie und verfolgt sie schon seit längerer Zeit in der zudringlichsten Weise.«

»Er liebt sie!« rief Scherbach laut und spöttisch auflachend. »Hahaha! Er liebt sie! – Woher weißt Du das?«

Anna theilte ihm mit, daß ihre Freundin es ihm erzählt habe, und sie fügte hinzu, daß Ploetz deshalb gegen ihren Bruder so hart gewesen sei, weil derselbe ihn vor einiger Zeit aus dem Hause geworfen habe.

»Das ist wahr – wahr?« rief Scherbach aufspringend.

»Margarethe hat es mir sofort erzählt,« erwiderte Anna.

»Ha! Nun begreife ich seinen Haß gegen Bremer – es war Rache! Nun begreife ich seine Freude über die Gefangennahme desselben! Nun ist es mir klar, weshalb ihm so viel daran gelegen ist, Stahl in seine Gewalt zu bekommen – Stahl ist ja mit dem Mädchen, welches er liebt, verlobt! Er ist eifersüchtig auf ihn – er haßt deshalb auch ihn! – Weshalb hast Du mir dies nicht schon früher erzählt?«

»Ich habe es meiner Freundin wegen verschwiegen,« entgegnete Anna. »Weshalb setzt Dich dies so sehr in Erstaunen? Hast Du dem Polizeidirector das nicht zugetraut? Kennst Du ihn näher?«

Diese Frage erinnerte Scherbach daran, daß er sich durch seine Worte fast verrathen hatte und mahnte ihn auch zugleich, vorsichtiger zu sein.

»Ich kenne ihn, wie ihn Jeder hier in der Stadt kennt – weiter nicht, denn was sollte ich mit ihm zu schaffen haben? allein ich traue ihm Alles zu – Alles! Ich traue ihm zu, daß er Stahl vergiften, daß er ihn im Gefängnisse verhungern oder ermorden lassen würde, nur um einen Nebenbuhler aus der Welt zu schaffen! Pah! Er hat kein Gewissen – ich weiß genau, daß er keins hat! – Weißt Du, wo Stahl ist?« fragte er weiter; er hatte bisher seiner Verlobten diese Frage noch nicht vorzulegen gewagt, gleichsam aus Scheu, sie in feine verrätherischen Absichten mit hineinzuziehen.

»Margarethe Bremer ist ja Deine Freundin, sie weiß, wo ihr Verlobter ist – sie muß es wissen, hat sie es Dir nicht mitgetheilt?

Anna schwieg verlegen. Sie warf einen fragenden Blick zu ihrer Mutter hinüber und erst als sie deren Blinzeln mit den Augen bemerkt hatte, erwiderte sie halb verlegen: »Ich weiß es nicht!«

Scherbach war in seinem halb trunkenen Zustande nicht fähig, dies kurze Zögern und die Verlegenheit der Antwort zu bemerken.

»Stahl ist noch in der Stadt,« fuhr er fort, »ich weiß es und auch der Polizeidirector weiß es. Er hält sich in irgend einem Hause versteckt, anders ist es ja nicht möglich! Frage Margarethe nach ihm – sie weiß, wo er ist.«

»Welches Interesse hast Du daran, seinen Aufenthalt zu erfahren?« fragte Anna, der Scherbach's Worte auffielen.

»Interesse – ich – keins,« erwiderte Scherbach. »Nur neugierig bin ich, auf welche Weise er es angefangen hat, den Nachforschungen der Polizei zu entgehen. Ploetz würde viel darum geben, wenn er auch ihn in seine Gewalt bekäme, und doch gönne ich ihm die Freude nicht.«

Anna zog in diesem Augenblicke ein Tuch aus der Tasche, ein Brief, der daneben gesteckt hatte, fiel dabei auf die Erde.

Sie wollte ihn hastig aufheben, allein Scherbach kam ihr zuvor. Er laß die Aufschrift desselben.

»Ah, an Hermann Stahl!« rief er und unwillkürlich leuchtete sein Auge freudig auf. Er vergaß jede Vorsicht und Selbstbeherrschung.

»Gieb mir den Brief!« rief Anna und suchte ihm denselben zu entreißen.

»Nein, nimmermehr! Von wem ist er?«

»Von Margarethe.«

»Und Du sollst ihm den Brief übergeben,« fuhr Scherbach fort. »Du weißt also, wo er ist, wo er sich versteckt hält, Du hast die Verbindung zwischen ihm und seiner Braut unterhalten!«

Anna war zu bestürzt und zu verlegen, um antworten zu können.

»Wo ist Stahl? Ich verlange es von Dir zu wissen! Du mußt es mir sagen, nicht eher gebe ich den Brief heraus!«

Schweigend hatte Anna's Mutter bisher dagesessen, allein sie hatte Scherbach auf das Schärfste beobachtet.

»Und wenn sie es nun wüßte! Wenn sie es Ihnen nicht sagen wollte!« warf sie ein. »Wollen Sie etwa hingehen und sie dem Polizeidirector verrathen?«

Scherbach schwieg betroffen.

»Ich bin kein Verräther!« erwiderte er halb verlegen.

»So geben Sie den Brief zurück, denn er ist nicht an Sie gerichtet, und Sie haben auch kein Anrecht daran,« fuhr die Frau fort.

Scherbach zögerte noch immer, der Aufforderung nachzukommen, der Brief enthielt vielleicht eine Aufklärung, die für ihn von größter Wichtigkeit werden konnte.

»Geben Sie den Brief zurück!« wiederholte die Frau noch einmal mit voller Entschiedenheit.

Scherbach gab ihn zurück. Er sah ein, daß er sich durch den Augenblick hatte hinreißen lassen. Selbst wenn der Brief die Mittheilung von Stahl's Versteck enthielt, hätte er davon Gebrauch machen können? Würde er nicht Anna dadurch in die größte Verlegenheit, selbst in Gefahr gebracht haben?

Sein Kopf war wüst, die Gedanken schossen wirr durch denselben hin. Er hatte aber noch soviel Ueberlegung, einzusehen, daß er sich mehr und mehr verrieth, daß er nicht mehr im Stande war, sich genügend zu beherrschen, er schützte deshalb ein dringendes Geschäft vor und ging fort.

Anna würde das auffallende Benehmen ihres Verlobten vielleicht nicht richtig beurtheilt, sie würde Alles seinem aufgeregten Zustande zugeschrieben haben, allein ihre Mutter hatte ihn von Anfang an scharf beobachtet. Sie hatte schon seit einigen Tagen durch eine unvorsichtige Aeußerung, die er gethan, den Verdacht gegen ihn gefaßt, daß er mit dem Polizeidirector in Verbindung stehe – jetzt sah sie denselben nur noch bestätigt. Sie hatte gegen ihre Tochter darüber geschwiegen, sie wollte sich auch erst mehr Gewißheit verschaffen – nun durfte sie nicht mehr schweigen.

»Anna, Scherbach steht mit dem Polizeidirector in Verbindung!« sprach sie.

Die Genannte blickte ihre Mutter erstaunt, überrascht an; ihr Verlobter sollte mit dem Manne, den sie so sehr verachtete, in Verbindung stehen? Es war ihr unmöglich dies zu glauben, als ihre Mutter indeß ihre Worte und ihren Verdacht durch die Mittheilung ihrer Beobachtungen begründete, da gewann auch in ihr der Verdacht Raum! und sie sprach ihre Entrüstung offen aus.

»Er darf unser Haus nie wieder betreten!« rief sie. »Nie spreche ich wieder mit ihm ein Wort!«

»Kind,« fuhr die Frau, die über diese Entdeckung betrübt war, weil eine Hoffnung für das Glück ihres Kindes wieder dahin sank, fort, »Kind, ich werde mir erst Gewißheit verschaffen, ob mein Verdacht auch begründet ist. Ist dies der Fall, so werde ich ihm selbst die Thür weisen, allein jetzt liegt uns noch eine andere Sorge näher. Er weiß nun, daß Dir Stahl's Versteck bekannt ist, er wird sicherlich auf den Gedanken kommen, daß wir ihm Schutz gewähren, daß er in diesem Hause sich befindet – Stahl ist bei uns nicht mehr in Sicherheit, er muß fort – noch in dieser Nacht!«

Auch Anna sah dies ein.

»Wohin soll er sich wenden?« fragte sie. »Wo wird er einen Ort finden, an dem er so sicher ist, als bei uns?«

»Ich weiß es nicht,« entgegnete die Frau. »Hier in der Stadt kann er ohnehin nicht lange mehr bleiben, denn wer weiß, wann sich hier die Verhältnisse anders gestalten werden, ich befürchte nie! Der Polizeidirector läßt in seinen Nachforschungen nicht ab, weil er ihn haßt.«

»Wird Margarethe diesen neuen Schmerz ertragen?« warf Anna ein. »Der Gedanke, daß Stahl in ihrer Nähe ist, ist ihre einzige Beruhigung, sie wird sich in Angst um ihn verzehren, wenn er fliehen muß, wenn sie nicht täglich Nachricht von ihm empfängt!«

»Kind, es steht nicht in unserer Macht, ihr diesen Schmerz zu ersparen. Sie selbst wird in seine Flucht einwilligen, wenn sie erfährt, in welcher Weise seine Freiheit bedroht ist. Sie wird natürlich wünschen, ihn noch einmal zu sehen und zu sprechen, und es ist dieser Wunsch nur zu gerechtfertigt, denn wer weiß, wann sie sich wiedersehen werden, wer weiß – es ist vielleicht ein Abschied für immer! Ich werde mit Stahl sprechen, ihm Alles mittheilen und ihn zur Flucht vorbereiten – er selbst giebt ja immer mehr die Hoffnung auf, daß die Verhältnisse sich hier anders gestalten. Eile Du zu Margarethe, bringe sie hierher, damit sie zum wenigsten noch einmal mit Stahl zusammen ist. Ich würde Alles thun, um diese schwere Stunde von dem armen Mädchen abzuwenden – es ist unmöglich!«

Während sie zu dem kleinen Zimmer, welches Stahl als Zufluchtsstätte diente, emporstieg, um ihn vorzubereiten, das Haus zu verlassen, eilte Anna zu der Freundin.

 

Eine Stunde später saßen Anna und ihre Mutter, Margarethe und Stahl in dem kleinen Zimmer zusammen. Die Fensterläden waren geschlossen, so daß keinem Unberufenen ein Einblick in das Zimmer gestattet war.

Es war ein trauriges Beisammensein. Stahl hatte den Entschluß gefaßt, noch während der Nacht zu fliehen. Er durfte hoffen, daß es ihm gelingen werde, die Residenz eines benachbarten Staates, in welcher die Kämpfer für die Freiheit gesiegt hatten, zu erreichen und dort drohte ihm keine Gefahr mehr.

Margarethe's Hand fest in der seinigen haltend, suchte er sie zu trösten und zu beruhigen, er verbarg, so viel es ihm möglich war, seinen eigenen Schmerz, er schilderte absichtlich die Gefahren, welche ihn während der Flucht bedrohten, als ganz gering und suchte neue Hoffnungen in ihr zu erwecken.

Margarethe saß schweigend, anscheinend ruhig da. Der Schmerz um den Tod des Bruders hatte sie so sehr abgestumpft, daß sie keine Thräne mehr fand. Starr blickte ihr Auge vor sich hin auf den Boden, nur wer ihre bleichen Wangen sah, vermochte zu errathen, wie unendlich sie litt.

Alles schien ihr genommen zu werden, für immer das Glück sich von ihr zu wenden, keine Hoffnung sah sie mehr vor sich. Allein blieb sie mit der kranken Mutter zurück, welche nicht im Stande war, ihren Schmerz zu begreifen und sie zu beschützen.

Sie sah ein, daß Stahl nicht bleiben dürfe, daß er fliehen müsse, allein zugleich hatte sich der Gedanke ihrer bemächtigt, daß sie ihn nie wiedersehen werde. Und sie konnte diesen Gedanken nicht verdrängen, immer kehrte er wieder zurück.

Stahl errieth dies Alles.

»Fasse Muth, Margarethe!« rief er. »Ich habe die feste und freudige Zuversicht, daß ich bald zurückkehren werde, und dann wird Alles gut!«

»Und wenn Du Dich nun täuschest, wenn Du nicht zurückkehrst?« warf Margarethe, ohne aufzublicken, mit tonloser Stimme ein.

»Dann sind unsere Herzen und ist unser Glück nicht an diesen Ort gebunden,« fuhr Stahl fort. »Ich bin noch jung, mir steht die ganze Welt offen, und mit meiner Kraft und Lust zum arbeiten werde ich uns überall einen Herd gründen. Nur laß mich die feste Zuversicht mit mir nehmen, daß Du nicht verzagen wirst, Du kennst ja mein Herz und weißt, daß Du ihm vertrauen kannst.«

Margarethe streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich vertraue ihm und werde auch nicht verzagen,« entgegnete sie, und nur an dem leisen Beben ihrer Stimme hörte man, wie unendlich schwer es ihr ward, ihre volle Ruhe und Entschlossenheit zu bewahren.

Und sie bewahrte dieselbe selbst in dem Augenblicke des Abschiedes. Keine Thräne kam in ihr Auge. Sie blickte Stahl, der sie mit beiden Armen umschlossen hielt, nur eine Minute lang schweigend, aber mit der ganzen Innigkeit und Tiefe ihrer Liebe in's Auge, dann riß sie sich von ihm los und eilte schnell aus dem Zimmer.

Anna hatte erkannt, wie unendlich schwer ihr der Abschied ward, und mit den Worten: »Margarethe, ich begleite Dich heim!« eilte sie der Freundin nach.

Als die beiden Mädchen aus dem Hause traten, sahen sie eine dunkle Gestalt flüchtig aus dem kleinen Garten eilen. Anna erkannte in derselben mit ziemlicher Gewißheit die lange Figur Scherbach's, sie zuckte unwillkürlich erschreckt zusammen, verschwieg indeß der Freundin ihre Wahrnehmung, um sie nicht noch mehr aufzuregen.


VIII.

Am Nachmittage des folgenden Tages wurde die Leiche des im Gefängnisse gestorbenen jungen Mannes zum Friedhofe getragen. Trotz der Fürsorge des Polizeidirectors war die Stunde des Begräbnisses nicht geheim geblieben, und zahlreiche Neugierige hatten sich vor dem Gefängnisse und in den Straßen, durch welche der Todte gebracht werden mußte, versammelt.

Seit Jahren hatte kein Todesfall in der Stadt ein solches Aufsehen erregt. Selbst ruhige Bürger, welche Heinrich Bremer kaum von Ansehn gekannt haben, waren entschlossen, sich dem Leichenzuge anzuschließen. Sie wollten dadurch gegen Ploetz eine Demonstration machen, die dieser unmöglich verhüten und die ihnen ebensowenig Gefahr bringen konnte.

Die Menge vor dem Gefängnisse war aber eine so große geworden, und die Aufregung derselben war so heftig, daß der Gefängnißinspector, ehe er den Todten hinaustragen ließ, zu dem Polizeidirector eilte, um diesen um eine Aufschiebung der Beerdigung des Todten zu ersuchen.

Er traf Ploetz scheinbar in größter Ruhe in seiner Wohnung an und theilte ihm seine Bitte mit.

Ein Lächeln glitt über des Polizeidirectors Gesicht hin.

»Und weshalb sollte die Beerdigung aufgeschoben werden?« fragte er. »Das Grab ist fertig – ich möchte den Todtengräber nicht warten lassen.«

»Schieben Sie die Beerdigung nur um zwei Stunden hinaus,« fuhr der Inspector fort, »dann werden Hunderte die Geduld verlieren und des Wartens müde heimkehren. Die Menge ist so heftig aufgeregt, daß ich das Aeußerste befürchte!«

»Und was wäre das Aeußerste?« fragte Ploetz mit demselben Lächeln.

»Ich befürchte, daß sie Gewaltthätigkeiten ausübt, daß ein neuer Aufstand losbricht!«

»Glauben Sie, daß ich dies Alles nicht vorausgesehen habe?« entgegnete Ploetz. »Ich weiß, welchen Antheil die Menge an dem Tode des jungen Menschen nimmt, allein seien Sie versichert, daß ich bereits hinreichende Maßregeln getroffen habe, um jeder Gewaltthat, jedem Aufstande mit der größten Energie entgegen zu treten. Das Militair steht mit scharfen Patronen versehen in der Kaserne unter Waffen, es bedarf nur eines Zeichens und dasselbe rückt sofort aus. Die Thoren, welche sich zu irgend einer Gewaltthat, selbst nur zu einer Unruhe hinreißen lassen, werden dieselbe schwer zu büßen haben – sehr schwer. Ich weiß nicht, durch wen die Zeit der Beerdigung bekannt geworden ist, nun sie einmal bekannt ist, werde ich auf keinen Fall eine Verzögerung eintreten lassen! Der Pöbel soll nicht etwa glauben, daß ich ihn fürchte, wer Furcht zeigt, ist ihm gegenüber bereits halb verloren.«

»Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, nur der Pöbel nehme Antheil an der Beerdigung,« warf der Gefängnißinspector ein. »Sie werden sehr viele, selbst angesehene Männer in der Menge finden.«

»Ich weiß es, ich könnte Ihnen sogar die Namen derselben nennen. Seien Sie versichert, daß ich von Allem sehr genau unterrichtet bin. Ich will sogar noch hinzufügen, daß man durch zahlreiche Betheiligung an dem Leichenzuge, eine Demonstration gegen mich beabsichtigt – ich lache darüber; wehe aber Jedem, der über diese unschuldige Demonstration nur um einen Schritt hinausgeht! Ich weiß, daß Sie wenig Raum mehr haben – ich würde Rath schaffen und sollte ich meine eigene Wohnung zum Gefängnisse umgestalten müssen. Eilen Sie zurück, die Beerdigung soll zu der einmal bestimmten Stunde stattfinden!«

Der Gefängnißinspektor eilte fort.

Die Beerdigung fand eine größere Theilnahme, als irgend Jemand vermuthet hatte. Hunderte, ja Tausende folgten dem einfachen Sarge, welcher den Leichnam des jungen Mannes barg, allein Alle verharrten in einem dumpfen Schweigen. Kaum ein Einziger wagte, in halblauten Worten seinem Unwillen und Grolle Luft zu machen. Es fehlten die Führer, es fehlte jeder Plan zum Handeln, jede Vorbereitung, ja jede vorherige Besprechung.

Viele warfen mit einer stillen Verwünschung gegen Ploetz eine Hand voll Erde in das Grab des jungen Mannes hinab, allein als die Todtengräber den Hügel über demselben aufgeworfen hatten, verließen sie ruhig den Friedhof und kehrten entweder heim, oder gingen in ein Wirthshaus, um dort im vertrauten Kreise noch einmal ihren Groll auszusprechen. Mehr geschah nicht.

Ploetz war durch diesen Ausgang befriedigt, weil er ihm zeigte, wie sehr er gefürchtet werde, auf der andern Seite würden ihm einige Ruhestörungen und Gewaltthätigkeiten auch willkommen gewesen sein, weil sie ihm Veranlassung gegeben hätten, mit aller Härte einzuschreiten und die Trefflichkeit seiner Vorkehrungen und Maßregeln zu zeigen. Er würde dann an Manchem noch haben Rache nehmen können, gegen den er einen heimlichen Groll hegte.

Es war auch nicht Aengstlichkeit gewesen, daß er während der Beerdigung sich nicht auf der Straße gezeigt hatte, er war nur deshalb in seiner Wohnung geblieben, um einen sicheren Punkt zu haben, von dem aus er sofort die nöthigen Befehle ertheilen konnte und wo alle Fäden seiner Vorkehrungen zusammen liefen.

Trotzdem traf ihn Scherbach in einer unwilligen, aufgeregten Stimmung, als er am Abende dieses Tages zu ihm in's Zimmer trat. Ploetz ließ einen scharfen, durchdringenden Blick auf ihm ruhen. »Wissen Sie noch immer nicht, wo Stahl sich befindet?« fragte er, die Worte scharf betonend.

Dieser Ton fiel Scherbach auf und eine leichte Röthe der Verlegenheit glitt über sein Gesicht hin.

»Nein!« erwiderte er ziemlich kurz.

»Wirklich nicht?« fragte Ploetz weiter. »Sie sind in dem Hause, in welchem er versteckt gehalten wird, so oft gewesen, es ist doch kaum anzunehmen, daß Ihre Braut ein solches Geheimniß vor Ihnen haben sollte.«

»Meine Braut?« warf Scherbach scheinbar erstaunt ein.

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Polizeidirector.«

»Nicht! haha! Sie scheinen plötzlich sehr schwer zu begreifen! Sie haben um das Versteck des Menschen gewußt, Sie haben es mir verschwiegen und dafür werden wir noch eine Abrechnung zu halten haben.«

»Ich weiß von nichts,« versicherte Scherbach.

»Seien Sie still!« unterbrach ihn Ploetz heftig. »Sie haben geglaubt, mich täuschen zu können, dann hätten Sie vorsichtiger zu Werke gehen müssen. Hier sehen Sie diesen Brief, die Adresse lautet an Ihre Braut und der Inhalt des Briefes ist an Stahl gerichtet. Nun, der Plan ist nicht so ganz übel, unter der Adresse eines Briefes an ein so einfaches Mädchen sucht Niemand einen solchen Inhalt, die Post würde ihn auch unbesorgt befördert haben, wenn ich ihr nicht den Auftrag gegeben hätte, auf alle aus B. kommenden Briefe genau zu achten. Sie haben vergessen, daß vor wenigen Tagen ein Brief Stahls, der an einen Freund in B. gerichtet war, in meine Hände gerieth. Ich beförderte denselben natürlich an seine Adresse, weil ich vermuthete, der Freund werde antworten – hier ist die Antwort; deshalb ließ ich alle aus B. kommenden Briefe mir vorlegen.«

Scherbach schwieg, er war über diesen Beweis in den Händen des Polizeidirectors zu sehr überrascht, um sofort Worte zu finden. Er wußte, daß Stahl bereits geflohen war, und er konnte voraus sehen, daß Ploetz nun seinen Groll gegen Anna und deren Mutter richten werde.

»Nun, was erwidern Sie darauf?« fragte Ploetz mit spöttischer Freundlichkeit. »Wagen Sie noch zu behaupten, daß Sie um Stahl's Versteck nicht gewußt haben?«

»Ich habe es erst gestern Abend erfahren.«

»Ihre Braut, die Beschützerin des Menschen, sollte Ihnen dies geheim gehalten haben? und trotzdem haben Sie soeben geleugnet, darum zu wissen! Es war Ihnen doch bekannt, wieviel mir an der Verhaftung dieses Menschen gelegen war, ich hatte Sie beauftragt, sein Versteck zu erforschen, Sie wissen dasselbe und haben die Frechheit, es mir verbergen zu wollen!«

Das Zucken der Lippen verrieth die innere Aufregung des Polizeidirectors.

Scherbach fühlte sich durch diese Worte auf das Heftigste verletzt. Solche Worte mußte er von dem Manne hören, den er haßte, der sich eine Herrschaft Über ihn anmaßte, die er noch keinem Menschen zugestanden hatte.

»Ich habe erst gestern Abend davon erfahren,« wiederholte er halb trotzig.

»Gut, dies Alles wird sich ja bald aufklären,« fuhr Ploetz fort. »Stahl selbst kann vielleicht nähere Mittheilung darüber machen, meine Leute sind bereits unterwegs, um ihn zu verhaften. Der Brief von seinem Freunde enthält zu wenig Wichtiges, sonst würde ich ihm denselben mitgesandt haben,« fügte er spottend hinzu.

Scherbach sah voraus, daß Ploetz auf das Heftigste erzürnt sein werde, wenn er Stahl's Flucht erfuhr. Ein Gefühl der Freude, daß der Wunsch dieses Mannes vereitelt war, erfüllte ihn, dennoch fürchtete er dessen Zorn und wollte sich entfernen, um nicht der Erste zu sein, der von demselben betroffen wurde.

»Sie bleiben hier, bis der Mensch gebracht ist!« rief Ploetz befehlend.

Scherbach schützte ein dringendes Geschäft vor, um fort zu kommen.

»Sie bleiben hier!« wiederholte Ploetz noch einmal und schritt ungeduldig, aufgeregt im Zimmer auf und ab, ohne von dem jungen Manne weitere Notiz zu nehmen.

Kurze Zeit darauf traten zwei Polizeidiener ein und meldeten, daß sie Stahl in dem ihnen bezeichneten Hause nicht mehr getroffen hätten, daß derselbe bereits entflohen sei.

»Entflohen!« rief Ploetz, und seine fast kleine Gestalt schien zu wachsen, so hoch richtete er sich empor. »Entflohen!« wiederholte er noch einmal. »Wohin? Wohin?«

Die Polizeidiener wußten keine Antwort darauf zu geben.

»Wohin ist der Mensch entflohen?« rief Ploetz vor Scherbach hintretend.

»Ich weiß es nicht!« erwiderte dieser mit der Achsel zuckend.

»Ha! Sie wissen es nicht! Sie wagen mir zu trotzen!« rief Ploetz vor Aufregung bebend.

Auf einen Wink von ihm entfernten sich die Polizeidiener aus dem Zimmer.

»So – jetzt werden Sie mir sagen, wann und wohin Stahl entflohen ist!« sprach der Polizeidirector, dicht vor Scherbach hintretend. Seine Worte klangen ruhig, dennoch verriethen sie nur zu deutlich die Erbitterung.

»Ich weiß es nicht!« erwiderte der Gefragte mit demselben Trotze. Er verschwieg es nicht, um Stahl zu schonen – was kümmerte ihn derselbe! – sondern um Ploetz's Befehlen nicht zu gehorchen.

»Treiben Sie Ihre Frechheit nicht zu weit!« rief Ploetz, dessen Zorn immer mehr hervorbrach, weil er einen solchen Widerstand nicht gewöhnt war. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich die Macht besitze, Sie zum Sprechen zu bringen!«

»Vielleicht würde ich dann mehr sprechen, als Ihnen lieb wäre,« entgegnete Scherbach.

»Haha! Auf diesen Standpunkt stellen Sie sich! Sie erbärmlicher Mensch, glauben Sie nicht, daß es Gefängnisse für Sie giebt, durch deren Mauern kein Wort, kein Schrei hallt? Sie wollen mir entgegen treten?«

Um des Polizeidirectors Mund zuckte ein spöttisches Lächeln.

»Ich werde mich nie zu einem blinden Werkzeuge hergeben!« entgegnete Scherbach, der nicht länger im Stande war, sich zu beherrschen. »Ich will mich von Niemand als Sclaven behandeln lassen! Und wenn ich schon früher gewußt hätte, wo Stahl verborgen war, wer hätte mich zwingen können, ihn zu verrathen? Ich habe auf Ihr Verlangen mehr gethan, als mein Gewissen zuläßt, ich habe sogar einen Meineid geschworen, mehr werde ich nimmermehr auf mich nehmen – ich bin Niemandes Diener!«

Der Polizeidirector hatte ihn ruhig aussprechen lassen; eine solche Sprache hatte noch Niemand ihm gegenüber gewagt, und für den ersten Augenblick war er in der That dadurch in Erstaunen versetzt. Schweigend trat er an seinen Arbeitstisch und zog heftig an der Klingelschnur.

»Verhaften Sie den Menschen und bringen Sie ihn in's Gefängniß!« rief er den eintretenden Polizeidienern zu.

Scherbach sprang erschreckt empor. Dies hatte er nicht erwartet.

»Mich verhaften?« rief er. »Ich habe kein Unrecht begangen! – Niemand hat ein Recht dazu!«

»Verhaften Sie ihn!« wiederholte Ploetz mit ruhiger Kälte, »und dann verhaften Sie auch die Anna Krüger!«

Diese letzten Worte raubten Scherbach den Rest der Besonnenheit. Selbst das geliebte Mädchen sollte der Härte und Rache dieses Mannes ausgesetzt werden! Er kannte sich selbst vor Aufregung und Wuth nicht mehr.

»Wage Niemand mich anzugreifen!« rief er mit wild funkelndem Auge. »Das Unrecht, was ich begangen habe, fällt nicht auf mich, sondern auf Den, der mich dazu verleitet hat! Ihn trifft die Verantwortung! Und ich werde sprechen – ich werde …!«

»Verhaften Sie den Menschen!« rief Ploetz, ihn unterbrechend, den Polizeidienern zu. »Wenn er Widerstand leistet, so binden Sie ihn, und wenn er schreit, so stopfen Sie ihm den Mund! Sagen Sie dem Gefängniß-Inspector, er solle ihm eine Zelle anweisen, in der er ungehindert seinen Groll austoben kann, ohne Andere zu stören!«

Er lehnte sich an den Schreibtisch, als ob er einem völlig gleichgiltigen Schauspiele zusehe.

Die Beamten ergriffen den jungen Mann, der sich mit aller Kraft der Verzweiflung zur Wehre setzte, aber nur zu bald unterlag. Er schrie laut um Hülfe – ein Tuch, welches ihm in den Mund gestopft wurde, machte jeden ferneren Laut unhörbar.

Mit auf den Rücken gefesselten Händen, mit dem Tuche im Munde stand Scherbach da. Sein Körper zitterte vor Wuth. Sein glühendes Auge war drohend auf den Polizeidirector gerichtet, der diesen Blick mit einem spöttischen Lächeln erwiderte.

Dieses ruhige, höhnende Lächeln hätte Scherbach fast wahnsinnig gemacht. Ohnmächtig stand er dem Manne gegenüber, den er so glühend haßte, wie er nie einen Menschen zuvor gehaßt.

»Jetzt werden Sie hinreichend Zeit gewinnen, über Ihre Thorheit nachzudenken,« sprach Ploetz und gab durch ein Zeichen der Hand den Befehl, den Gefesselten fortzuführen.

Scherbach folgte ohne Widerstand, allein wäre er in diesem Augenblicke im Stande gewesen, seine Fesseln zu zersprengen, so würde er mit der Wuth eines wilden Thieres sich auf den Polizeidirector gestürzt haben, um durch dessen Blut seinen Groll zu löschen.


IX.

Auch Anna ward noch an demselben Abende verhaftet. Das sonst so frische und kecke Mädchen war hierüber so heftig erschreckt, daß aller Lebensmuth von ihm gewichen war. Schon der Gedanke an das Gefängniß hatte immer etwas Schreckliches für sie gehabt, sie hatte jeden Gefangenen bedauert, weil er allein in der unheimlichen Gefängnißzelle zubringen müsse, und nun sollte sie selbst dieselbe kennen lernen.

Kein Schlaf senkte sich während der ganzen Nacht auf ihre Augen. Sie weinte unablässig, bis auch die Thränen zuletzt versiechten. Finstere, schreckliche Bilder malte die aufgeregte Phantasie ihr vor. Der Mond warf ein schwaches, gebrochenes Licht in ihre kleine Zelle, und unheimliche Gestalten tauchten an den grauen Wänden derselben auf.

Sie erblickte bleiche, abgezehrte Gesichter, welche mit den tiefliegenden Augen sie gespenstisch anblickten. Welche unendlichen Leiden, welche Verzweiflung sprach aus diesen hohlen Augen! Und dann schienen die Gesichter sich wieder zu einem grinsenden, wahnsinnigen Lächeln zu verzerren.

Sie begriff, wie leicht ein Unglücklicher in diesen Räumen wahnsinnig werden könne.

Zitternd vor Angst saß sie regungslos auf der hölzernen Bank da. Sie wollte schreien, um Hülfe rufen, allein sie wagte es nicht. Sie schloß die Augen, nur um diese grinsenden Gesichter nicht mehr zu sehen, vergebens. Immer noch standen sie vor ihr, sie schienen Leben zu gewinnen, sie bewegten sich, sie umtanzten sie in wildem, dämonischen Reigen.

Mit beiden Händen hatte sie sich fest an der Bank angeklammert, um nicht umzusinken. Die wilden Gestalten empfanden kein Mitleid mit ihr, sie schienen sich zu freuen, daß ihnen ein neues Opfer zugeführt war. Was kümmerte es sie, ob sie unschuldig war. Weshalb sollten denn bloß die Schuldigen büßen? – War das Weib, welches von dem Vater ihrer Kinder verlassen, ausgestoßen von der Welt, weil sie ihrer Liebe mehr vertraut als den Formen der Gesellschaft, getrieben durch den Schrei um Brot ihrer Kleinen, verlassen von jeder Hoffnung, ohne jede Hülfe, welches halb in Verzweiflung zuletzt die Hand nach fremdem Gute ausgestreckt hatte, nur um ihre Kinder zu sättigen, – war sie nicht auch unschuldig? Und doch hatte sie in dem Gefängnisse büßen müssen.

Die wilden, unheimlichen Bilder schwanden erst vor Anna's Augen, als das Licht des neuen Tages endlich in die Zelle fiel, als die grauen Wände sie leer und trostlos anstarrten und sie begriff, daß alle die schrecklichen Gestalten nur ein Spiel ihrer aufgeregten Phantasie gewesen waren.

Der langen und heftigen Aufregung folgte nun nothwendig die Ermattung, und endlich senkte sich der Schlaf auf die ermüdeten Augen.

Den Kopf an die Wand gelehnt, halb auf die Schulter niedergebeugt, saß Anna schlafend da. Der Traum schien milder zu sein und ihr friedlichere Bilder vorzuführen, denn ihre Züge waren ruhig, um den Mund schwebte sogar ein leichtes Lächeln. Zwar verriethen die Augen noch immer, daß sie viel geweint hatten, allein auf den Wangen schimmerte bereits wieder ein leichtes und duftiges Roth durch.

Der Tag war bereits vollständig und längst hereingebrochen, Anna schlief immer noch. Da wurde die Thür langsam geöffnet, und der Polizeidirector trat ein. Seine Stirne war in Falten gezogen, allein unwillkürlich glättete sich dieselbe, als er das schlafende Mädchen erblickte, und sein Auge blieb auf dem lieblichen Bilde desselben haften.

Der unschuldsvolle Hauch auf Anna's Gesicht übte auf sein rohes Gemüth für den Augenblick doch einen solchen Eindruck, daß er sich kaum zu nähern wagte, um die Schlafende nicht zu wecken.

Endlich gewann die ihm fast angeborene Frivolität die Ueberhand, sein Auge nahm wieder den ihm eigenthümlichen frivolen Ausdruck an und fester auftretend ging er an die Schlafende heran.

Erschreckt fuhr Anna aus dem Schlafe empor, die Traumbilder, welche sie umgeben hatten, schienen noch eine Zeitlang in ihr gleichsam nachzuhallen, denn sie war nicht im Stande, sich zu fassen und ihre Lage zu begreifen. Der Anblick der grauen, leeren Wände, das Gesicht des Polizeidirectors riefen aber nur zu bald in ihr das Bewußtsein wach, daß sie eine Gefangene war.

»Ich bedauere, daß ich Sie gestört habe,« sprach Ploetz lächelnd. »Sie schliefen so ruhig, Sie schienen so angenehm zu träumen. –«

Anna erwiderte kein Wort. Angstvoll war ihr Blick auf den gefürchteten und gehaßten Mann gerichtet.

Ploetz bemerkte dies.

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten,« fuhr er fort, indem sein lüsternes Auge mit immer wachsendem Wohlgefallen das Mädchen anschaute. »Ich habe Sie verhaften lassen, um Ihnen einen kleinen Schreck einzujagen, um Sie dadurch zu einem um so offeneren Geständnisse zu bewegen.«

»Ich will Alles, – Alles gestehen, nur lassen Sie mich fort aus diesem Raume, lassen Sie mich zu meiner Mutter zurückkehren!« rief Anna flehend.

»Das wird geschehen, wenn Sie mir ganz offen Alles gestehen und nichts verschweigen! – Seit wann ist Stahl in Ihrem Hause gewesen?«

Anna nannte den Tag, soweit ihr derselbe noch in der Erinnerung war.

»Wer hat ihn zu Ihnen gebracht?« forschte Ploetz weiter.

Anna schwieg. Durfte sie ihren Lehrer verrathen, dem sie so viel zu verdanken hatte?

Noch einmal wiederholte Ploetz, dessen Blicke forschend auf ihr ruhten, seine Frage.

»Niemand,« erwiderte Anna.

»Ich will die Wahrheit wissen!« rief der Polizeidirector. »Sie verlassen nur dann diesen Raum, wenn Sie Alles offen gestanden haben.«

»Ender,« sprach das geängstigte Mädchen kaum hörbar.

»Ah, Ender! Ich hätte es fast ahnen können! Derselbe ist ja viel bei Ihnen verkehrt und auch in seinem Kopfe spuken verrückte Freiheitsideen. Nun vielleicht wird das Gefängniß ihn etwas abkühlen. Wohin ist Stahl entflohen?«

Anna nannte die Stadt, wohin Stahl sich wenden wollte. Sie konnte dies ohne Bedenken thun, denn jetzt hatte er dieselbe sicherlich bereits erreicht.

»Haben Sie gewußt, daß Sie sich strafbar machten, indem Sie einen Menschen verbargen, der von der Polizei gesucht wurde?«

»Nein.«

»Aber Ihre Mutter muß es gewußt haben. – Sie sind mit Scherbach verlobt?«

»Ja.«

»Hat er darum gewußt, daß Stahl von Ihnen versteckt gehalten wurde?«

»Nein.«

»Ich will die Wahrheit wissen!«

»Ich habe sie gesagt.«

Anna sprach diese Worte so offen, daß Ploetz an der Wahrheit derselben kaum zweifeln konnte.

»Es ist auffallend, daß Sie dies sogar Ihrem Verlobten geheim gehalten haben! Weshalb haben Sie es ihm nicht mitgetheilt?«

»Meine Mutter wünschte es nicht. Sie hatte Mißtrauen gegen ihn gefaßt und befürchtete, daß er Stahl verrathen könne.«

»Und was würden Sie gemacht haben, wenn er dies wirklich gethan hätte?«

Anna blickte ihn fragend an. Sie verstand seine Frage nicht recht.

»Würden Sie ihn auch dann noch geheirathet haben?«

»Nein!« entgegnete das Mädchen mit Bestimmtheit. »Ich würde nie wieder mit ihm ein Wort gesprochen haben!«

Ueber das Gesicht des Polizeidirectors glitt ein Zug der Freude hin.

»Scherbach ist ein Verräther!« rief er. »Er hat Bremer und Stahl, er hat Ender und fast all die Männer, welche im Gefängnisse sitzen, mir verrathen. Durch ihn wußte ich bereits von dem gegen mich gerichteten Aufstande, ehe derselbe losbrach. In den Wirthshäusern, in welchen jene Menschen Zusammenkunft hielten und sich über ihr Vorhaben besprachen, hat er sie behorcht und unaufgefordert hat er mir Alles mitgetheilt.«

Auf Anna's Gesicht sprach sich die Entrüstung hierüber so offen aus, daß Ploetz dieselbe nicht verkennen konnte.

»Er darf nie wieder das Haus meiner Mutter betreten!« rief sie.

Der Polizeidirector trat näher an sie heran.

»Sie sowohl, wie Ihre Mutter haben sich durch Stahls Verbergung strafbar gemacht,« sprach er; »ich will Sie indeß heute noch entlassen, ich will Sie nicht bestrafen.«

Er faßte schmeichelnd ihr Kinn und hob ihren Kopf empor.

Anna war noch immer zu sehr bestürzt und zu sehr eingeschüchtert, um diese Liebkosung zurückzuweisen.

»Sie nähren sich mit Ihrer Mutter durch weibliche Handarbeit?« fuhr Ploetz fragend fort.

Anna bestätigte dies.

»Es muß dies ein beschwerliches und sehr ärmliches Loos sein – ich bin bereit, Sie zu unterstützen – ich habe mit der Armuth, welche sich ehrlich durchhilft, immer das größte Mitleid gehabt! Es wird Ihnen auch schaden, wenn Sie zu viel arbeiten – das viele Sitzen taugt nicht, ich werde Ihnen bessere und lohnendere Arbeit zuweisen können – sprechen Sie mit Ihrer Mutter darüber und kommen Sie in einigen Tagen, vielleicht schon morgen zu mir.«

Er hob ihr wieder den Kopf empor und strich ihr mit der Hand über die Wangen und den Nacken hin.

Unwillkürlich trat Anna einen Schritt zurück.

Auf dem Corridor vor der Zelle wurden mehrere Stimmen vernehmbar.

»So jetzt gehen Sie nach Hause,« sprach Ploetz, »und morgen kommen Sie zu mir.«

Anna war nicht im Stande, ihm für ihre Freilassung zu danken. Hastig eilte sie der Thür zu, eilte den Corridor entlang und fort aus dem Hause, in dem sie so entsetzliche Stunden verlebt hatte.

Wie eine Flüchtige eilte sie durch die Straßen hin und erst als sie die Stadt verlassen hatte, als sie das kleine Haus ihrer Mutter so still und friedlich daliegen sah, wagte sie langsamer zu gehen.

Mit dem lauten Aufschrei der Freude fiel sie ihrer Mutter, die sich in Gram und Sorgen um sie fast verzehrt hatte, um den Hals und weinte all die Angst aus, welche sie ausgestanden hatte.

Nur mit Mühe gelang es der Frau, sie zu beruhigen.

Anna erzählte ihr nun, was ihr Ploetz über Scherbach mitgetheilt hatte, und das Anerbieten desselben, sie zu unterstützen und ihnen lohnende Arbeit nachzuweisen.

»Kind, ich bin mit meiner Arbeit zufrieden,« sprach die Mutter. »Weder Du noch ich haben je Hunger gelitten. Du wirst nicht zu dem Polizeidirector gehen, denn wer von Anderen Dienste und Gefälligkeiten annimmt, ist zu Dank verpflichtet, und am glücklichsten ist Derjenige, der Niemand verpflichtet ist. Am wenigsten mag ich aber von dem Manne eine Gefälligkeit annehmen, der von Allen in der Stadt gehaßt ist, der so viele ehrenwerthe Männer in's Verderben gestürzt hat und obenein Freude darüber empfindet.«

Anna ging am folgenden Tage nicht zu Ploetz, sie verließ sogar tagelang das Haus nicht, um dem Manne nicht zu begegnen, den sie jetzt noch mehr fürchtete, als früher.

Der Name Scherbach wurde zwischen ihr und ihrer Mutter kaum noch genannt. Beide waren innerlich erfreut, daß sie noch zur rechten Zeit die Unwürdigkeit und Schlechtigkeit dieses Menschen erkannt hatten. –

 

Hätte Scherbach geahnt, wie Anna über ihn dachte, und daß Ploetz ihr Alles mitgetheilt hatte, so würde er noch weniger Ruhe im Gefängnisse gehabt haben. An innerer Ruhe fehlte es ihm überhaupt, so gefaßt er auch äußerlich erschien.

Der Gefängniß-Inspector würde kaum nöthig gehabt haben, ihm auf des Polizeidirektors Befehl eine besonders feste und allein gelegene Zelle anzuweisen. Seitdem er dieselbe betreten, hatte er noch kein Wort gesprochen, selbst nicht zu dem Wärter, der ihm das Essen brachte.

In finsterem Brüten versunken saß er meist still da. Die Handlungsweise des Polizeidirectors hatte ihn so gewaltig erbittert, daß er all den Haß und Groll gegen ihn kaum in sich zu bergen vermochte, er verrieth ihn indeß durch kein Wort, kaum durch eine Miene.

In den ersten Tagen beschäftigte ihn nur der eine Gedanke der Rache. Rächen wollte er sich an dem Manne, ihn vernichten, mochte er dadurch auch sein eigenes Leben auf das Spiel setzen. Was hatte er überhaupt noch vom Leben zu erwarten, er gab jede Hoffnung darauf auf.

Und als allmälig die Rachegedanken und Pläne sich in seinem Kopfe zu einem festen Entschlusse gestaltet hatten, da sann er allein auf einen Weg, auf dem er sich die Freiheit verschaffen könne, um den Entschluß auszuführen.

Unablässig war sein Verstand thätig, einen möglichen Weg zu finden. Er hatte die festen Mauern des engen Kerkers untersucht – es war unmöglich, sie zu durchbrechen, da ihm jedes Werkzeug fehlte; besaß er doch nicht einmal ein Messer, oder einen Nagel. Die starke eisenbeschlagene Thür mußte jedem Versuche, sie zu öffnen oder zu durchbrechen, spotten, das kleine Fenster war so hoch, daß er es mit der Hand kaum erreichen konnte und die starken Eisenstäbe davor hätten noch einer zwanzigmal größeren Kraft, als er besaß, getrotzt.

Dennoch verzagte er nicht und gab auch den Gedanken, sich die Freiheit zu erringen, nicht auf. Es war für ihn die einzige Beschäftigung und Unterhaltung, jede Möglichkeit der Flucht zu überdenken und sorgfältig zu prüfen.

Mit namenloser Anstrengung gelang es ihm, aus dem Gestelle, welches ihm zum Bette diente, einen Nagel auszuziehen, mit den Zähnen bog er denselben zu der Gestalt eines Dietrichs und mit der ihm eigenthümlichen Gewandheit versuchte er das große Schloß der Thüre zu öffnen.

Es gelang ihm endlich, seine Finger bluteten freilich – was fragte er darnach. Er hätte laut aufschreien mögen vor Freude.

Sein Jubel war jedoch ein voreiliger gewesen – die Thür war von außen verriegelt.

Verzweiflung erfaßte ihn jetzt. All' seine Mühe war vergebens gewesen. Die Wände des engen Raumes schienen ihn zu erdrücken, die Luft zu ersticken. Der Gefängnißwärter mußte bemerken, daß das Schloß geöffnet war, es war vorauszusehen, daß derselbe eine doppelte Vorsicht beim Schließen und Verriegeln der Thür anwenden werde. Er mußte aber frei werden, denn das glühende Gefühl der Rache, welches unbefriedigt an ihm zehrte, vermochte er nicht länger zu ertragen. Zu einer Gewaltthat war er nun entschlossen. Er wollte die Freiheit erlangen und sollte er den Weg dazu selbst mit dem Leben eines Anderen erkaufen. Nicht eine Nacht mehr konnte er in dem Raume zubringen, wenn er nicht wahnsinnig werden sollte, und schon brach der Abend herein.

Mit dem schweren hölzernen Schemel in der Hand stellte er sich hinter der Thüre auf, um den Wärter zu erwarten, der noch einmal die Abendrunde machte und auch seine Zelle untersuchte. Er hatte das Ohr an die Thür gelegt und lauschte, nicht das leiseste Geräusch auf dem langen Corridore entging ihm.

Seine Hand zitterte in fieberhafter Ungeduld, seine Stirne glühte. Nicht einen Augenblick wurde er in seinem Entschlusse wankend.

Endlich hörte er den langsamen Schritt des Wärters. Unwillkürlich zuckte er zusammen, jeder seiner Nerven bebte, allein kein besserer Gedanke stieg in ihm auf.

Mit dem erhobenen Schemel in den Händen stand er unmittelbar hinter der Thür, und als der Wärter dieselbe arglos öffnete und eintrat, traf ihn ein so schwerer Schlag auf den Kopf, daß er lautlos niederstürzte.

Mit Hast zog ihn der Gefangene in die Zelle. In der Tasche des Bewußtlosen suchte er nach irgend einer Waffe, um sich mit derselben gewaltsam den Weg zu bahnen, wenn noch Jemand wagen sollte, ihm entgegen zu treten. Er fand ein Messer.

Hastig verließ er nun die Zelle, verschloß die Thüre hinter sich und eilte auf dem dunkeln Gange entlang. Niemand begegnete ihm. In einen zweiten engen Gang, der nach dem Hofe zu führte, bog er ein. Die Thür war nicht verschlossen.

Unbemerkt, durch die Dunkelheit beschützt, gelangte er auf den Hof, von ihm in den angrenzenden Garten und von dort in's Freie.

Er athmete freier auf, als er das letzte Hinderniß überstiegen hatte, allein seine Kräfte, die er zu sehr angestrengt hatte, waren erschöpft, kraftlos brach er zusammen. Einige Minuten blieb er regungslos liegen, dann scheuchte ihn der Gedanke der Rache wieder empor, ein anderer fand in seinem Kopfe keinen Raum.

Zwischen Gärten schlich er sich hin, jede Stelle war ihm dort bekannt. Er war auf demselben Wege so oft gegangen, wenn er sich Abends zu dem Polizeidirector begeben hatte; und zu ihm wollte er auch jetzt. Er malte sich im Geiste das bestürzte, erbleichende Gesicht des Mannes aus, wenn er plötzlich vor ihn hintrat, er sah ihn erzittern, er hörte ihn für sein Leben flehen, allein er wollte kein Mitleid empfinden, taub sein wollte er gegen alle Bitten.

Er fand die kleine Hinterthür, welche in Ploetz's Haus führte, verschlossen. Der Schlüssel dazu war ihm bei seiner Verhaftung abgenommen, allein dies Hinderniß war nur ein geringes für ihn; mit Gewalt erbrach er die Thür.

Tastend eilte er auf dem dunklen Gange weiter. Dann stand er still und horchte – es war Alles still in dem Hause, auch in Ploetz's Zimmer vernahm er nicht das geringste Geräusch. Hastig wollte er die Thüre öffnen, sie war verschlossen.

Dies hatte er nicht erwartet. Der Gesuchte war nicht zu Hause. Einige Minuten lang stand er rathlos da. Sollte er hier warten, bis er zurückkehrte? Er hätte vorher entdeckt werden können und dann wäre die Ausführung seines Entschlusses zur Unmöglichkeit geworden. Hierher konnte er ja auch während der Nacht gelangen, wenn der Gehaßte heimgekehrt war und im Schlafe lag.

Vorsichtig kehrte er auf dem Gange zurück und verließ das Haus wieder.

Wohin sollte er sich nun wenden? Seine Flucht aus dem Gefängnisse war vielleicht schon entdeckt! Er wurde vielleicht schon verfolgt! Sein ganzes Lebensglück war durch Ploetz vernichtet, denn wenn es ihm auch gelingen sollte, aus der Stadt zu entkommen, ohne alle Mittel mußte er seine Flucht antreten, und welches Geschick stand ihm bevor, wenn er verfolgt, gehetzt, mühsam von einem Orte zum anderen eilte.

Anna, welche er so leidenschaftlich liebte, war ihm für immer verloren. Aber er wollte sie noch einmal sehen – es war vielleicht das letzte Mal. Er wollte noch einmal ihr liebliches Bild sich einprägen, denn daß sie Ploetz habe wirklich verhaften lassen, mochte er nicht glauben.

Auf einsamen Wegen verließ er die Stadt und eilte dem kleinen Hause zu, in welchem er so glückliche Stunden verlebt hatte. Daß dieses Glück ihm für immer versagt war, erhöhte nur seine Erbitterung.

Schon sah er das Haus in einiger Entfernung liegen, er sah das Licht in dem kleinen Wohnzimmer durch die Fenster schimmern. Die Vorsicht gebot ihm, nicht auf dem gewöhnlichen Wege sich dem Hause zu nähern, denn wie leicht konnte ihm dort ein Bekannter begegnen.

Mit geringer Mühe übersprang er einige Zäune der Gärten, zwischen denen das Haus lag. Von der Rückseite desselben näherte er sich. Alles war still in demselben. – Ob Anna seiner wohl gedachte? Ob sie Trauer empfand über seine Verhaftung? Ob sie den Grund derselben kannte? All' diese Fragen schossen schnell hintereinander durch seinen Kopf hin.

Leise, vorsichtig bog er um die Ecke des Hauses, allein in demselben Augenblicke trat er auch erschreckt wieder zurück.

Neben der Thür des Hauses, dicht unter dem Fenster hatte er die Gestalt eines Mannes erblickt. Es war ihm nicht gelungen, dieselbe zu erkennen. Mit angehaltenem Athem, fast auf den Händen kroch er unter ein Gebüsch, von welchem aus er die Fenster beobachten konnte.

Die Gestalt des Mannes stand im Dunkel an das Fenster gelehnt und schien zu horchen. Er strengte die ganze Kraft seiner Augen an, um das Dunkel zu durchdringen – vergebens. Er konnte nur bemerken, daß sie in einen Mantel gehüllt war.

Durch das Fenster erblickte er das geliebte Mädchen sie saß am Tische und war mit einer Arbeit beschäftigt, vor ihr stand die Lampe und warf einen hellen Schein auf ihr liebes Gesicht.

Sein Herz schlug so laut, daß es ihm fast die Brust zu zersprengen drohte. Wenige Schritte nur war er von ihr entfernt und doch verhindert, zu ihr zu eilen und sich an ihre Brust zu werfen.

Immer noch stand die dunkle Gestalt neben dem Fenster. Da bog sie sich vor, um vorsichtig in das Zimmer zu blicken, der Schein des Lichtes fiel auf ihr Gesicht. Scherbach zuckte erschreckt zusammen – er glaubte das Gesicht des Polizeidirectors bemerkt zu haben.

Nein – es war nicht möglich! Er mußte sich getäuscht haben! Was hätte der Mann hier zu suchen? Und dennoch gesellte sich unwillkürlich zu seinem Hasse das Gefühl der Eifersucht. Konnte er ihm nicht Alles zutrauen? Konnte er jetzt nicht Anna ebenso sehr verfolgen, wie früher Margarethe?

Da bog sich die Gestalt zum zweiten Male vor, wieder fiel der Lichtschein auf ihr Gesicht, und Scherbach sah nun, daß er sich nicht getäuscht hatte – es war Ploetz.

Unwillkürlich, sich selbst vergessend, schrie er halb laut auf. Ploetz mußte es hören, allein was kümmerte es ihn, denn in demselben Augenblicke hatte er bereits das Messer aus der Tasche gerissen, war aufgesprungen und mit einem Satze neben dem Gehaßten.

Ploetz war einen Schritt zurückgetreten, er hatte keine Ahnung, wer ihn belauscht hatte, allein kaum hatte er die lange Gestalt des jungen Mannes erblickt, so rief er unwillkürlich: »Ha! Scherbach!«

»Ich bin es!« erwiderte dieser, fast sinnlos vor Aufregung. »Ha! Ich bin es, um Genugthuung von Ihnen zu verlangen!«

Ploetz sah seine glühenden Augen, er sah das Messer in seiner Hand blitzen, er trat noch einen Schritt zurück, griff mit der Rechten unter den Mantel, und eine Secunde später blitzte ein Schuß auf.

Scherbach taumelte zurück, allein die Kugel schien ihn nicht getroffen zu haben, denn in demselben Augenblicke raffte er sich wieder zusammen und stürzte mit der Wuth eines Wahnsinnigen auf den Verhaßten los.

Ploetz suchte ihm auszuweichen – vergebens. Mit überlegener Kraft erfaßte ihn der Rasende, warf ihn zu Boden, stürzte sich auf ihn und stieß ihm wiederholt das Messer in die Brust.

Der Hülferuf des Polizeidirectors war nur ein gebrochener, im nächsten Augenblicke rang er bereits mit dem Tode.

Erschreckt, bestürzt kamen Anna und ihre Mutter aus dem Hause geeilt, andere Menschen stürzten, durch den Schuß und den Hülferuf aufmerksam gemacht, herbei; ehe Scherbach noch den Sterbenden losgelassen hatte, war er bereits von Menschen umringt.

Anna wurde fast bewußtlos in das Haus zurückgetragen, als sie Scherbach erkannt hatte. Mit Entsetzen erfüllte Alle die schreckliche That, obwohl in mehr als einer Brust der Gedanke auftauchte, daß der Ermordete jetzt endlich den Lohn empfangen, den er längst verdient habe.

Scherbach machte keinen Versuch zu entfliehen, ohne Widerstand ließ er sich von den herbeigeeilten Männern festnehmen. Er war auffallend ruhig.

»Ich habe ihn erstochen und ich wollte ihn erstechen,« sprach er.

Die Kugel, welche Ploetz auf ihn geschossen, hatte seine Wange gestreift, das Blut rann daran nieder, er schien dies nicht einmal zu bemerken.

Seine Flucht aus dem Gefängnisse war bereits entdeckt, da der Wärter, den er niedergeschlagen hatte, nur kurze Zeit besinnungslos gewesen war. In der Stadt hatte man ihn nicht lange gesucht, da man mit Recht vermuthete, er werde, ehe er fliehe, noch einmal seine Braut aufsuchen. Einige Polizeidiener kamen deshalb, um ihn zu suchen. Sie hatten noch keine Ahnung von dem Tode ihres Chefs.

Scherbach wurde von ihnen in das Zimmer gebracht, in welchem er so manche glückliche Stunde verlebt hatte, damit der Richter, der sofort von der entsetzlichen That in Kenntniß gesetzt und herbeigerufen ward, an Ort und Stelle ein Verhör mit ihm anstellen könne.

Schweigend, regungslos saß Scherbach da. Er schien nicht die geringste Reue über seine That zu empfinden, ja auf seinem Gesichte war sogar ein Zug der Befriedigung nicht zu verkennen. Nur zuweilen richtete er das Auge auf die Thür, als hoffe er, daß Anna durch dieselbe eintreten werde, allein sowohl sie wie ihre Mutter blieben aus dem Zimmer fern.

Mit Scheu betrachteten ihn die Menschen, welche sich trotz des Widerstandes der beiden Polizeidiener gewaltsam in das Zimmer drängten.

Scherbach blickte kaum auf. Was kümmerten ihn die Menschen! Wenn er den Blick über sie hinschweifen ließ, so war es in ruhiger, gleichgiltiger Weise. Er war genug mit sich selbst beschäftigt, denn mit dem Leben mußte er ja nothwendig abschließen. Er hatte auch keine Lust mehr zu leben, da Anna's Hand ihm für immer verloren war. Hätte sie ihn geliebt, so würde sie jetzt zum Wenigsten einmal zu ihm getreten sein. Ein trauernder Zug glitt über sein Gesicht hin.

Der Untersuchungsrichter, der Gerichtsarzt und ein Actuar erschienen, um die Einzelheiten der blutigen That an Ort und Stelle aufzunehmen.

Der Leichnam des Polizeidirectors lag noch an derselben Stelle, an der er von Scherbach niedergeworfen und erstochen war. Niemand hatte ihn angerührt – Mancher mochte auch im Tode mit dem Manne noch nichts zu schaffen haben.

Die nähere Untersuchung des Todten wurde nun durch den Gerichtsarzt vorgenommen. Ploetz hielt noch das kleine Taschenpistol, welches er auf Scherbach gefeuert hatte, krampfhaft fest in der Hand. Er war nie ohne Waffe ausgegangen, weil er wußte, wie viele Feinde er hatte. Er war als ein tüchtiger Schütze mit dem Pistol bekannt und pflegte sich selbst zu rühmen, daß er fast noch nie das Ziel verfehlt habe und daß er auf zwanzig Schritte einen Thaler treffe. Seine Geschicklichkeit hatte ihn dieses Mal doch im Stiche gelassen.

Von den Stichen, welche ihm Scherbach versetzt, waren zwei in das Herz gedrungen, sie waren kräftig und tief.

»Der Tod muß augenblicklich erfolgt sein,« sprach der Arzt zu dem Richter, der beobachtend dicht neben ihm stand. »Schon einer der Stiche würde ausgereicht haben, ihn zu tödten.« Der Richter schwieg. Es machte einen tiefen, erschütternden Eindruck auf ihn, daß der Mann, der im Leben so wenig Mitleid geübt hatte, der dies Gefühl nie gekannt zu haben schien, der so Manchen in's Unglück gestürzt, der stets so kühn und sicher aufgetreten war, als reiche keine Menschenmacht an ihn heran, nun da lag, todt und kalt, ermordet durch eine Hand, der er eine solche That vielleicht am Wenigsten zugetraut hatte.

Das Messer, mit welchem die blutige That ausgeführt war, lag noch neben dem Todten. Der Richter nahm es zu sich, doch nicht ohne ein Gefühl des Entsetzens.

Die vorläufige Untersuchung des Todten war rasch beendet. Der Actuar hatte, die wenigen Punkte, welche der Gerichtsarzt ihm angegeben, aufgezeichnet. Es bedurfte kaum einer weiteren Untersuchung, da der Mörder unmittelbar bei der That entdeckt worden und kaum versuchen konnte, dieselbe zu leugnen.

Während eine Bahre herbeigeschafft wurde, um den Todten zur Stadt zu tragen, ließ der Richter alle unnöthigen Personen aus dem Zimmer entfernen, um zum Verhöre Scherbach's zu schreiten. Er kannte denselben, ohne eine Ahnung davon zu haben, in welcher Beziehung er zu Ploetz gestanden hatte. Er wußte deshalb über das Motiv, das ihn geleitet hatte, noch nicht das Geringste.

Als Scherbach den Richter, von dem Actuar begleitet, in das Zimmer treten sah, blickte er ruhig auf. Wohl flog eine leichte Röthe über sein Gesicht hin, verschwand aber eben so schnell wieder, als sie gekommen war. Kein Zug der Reue über seine That prägte sich in seinen Mienen aus, es leuchtete aus denselben fast eine stille Genugthuung hervor.

Der Richter trat an ihn heran.

»Sie haben den Polizeidirector erstochen?« fragte er.

»Ja,« gab Scherbach ruhig, ohne auszuweichen, zur Antwort.

»Sie haben ihn hier überfallen und ihm einen Stich mit dem Messer versetzt, ehe er von seiner Waffe Gebrauch machte und den Schuß auf Sie abfeuerte?«

Scherbach schüttelte ablehnend mit dem Kopfe.

»Er hat auf mich geschossen, ehe ich ihn berührt habe,« sprach er. »Es war jedoch meine Absicht ihn zu tödten – ich würde ihn erstochen haben, auch wenn er nicht auf mich geschossen hätte.«

Den Richter schien dies unumwundene Geständniß in Erstaunen zu setzen. Auf seine Frage erzählte Scherbach ihm den ganzen Hergang ruhig, ganz so wie er gewesen war.

»Und was hat Sie zu dieser That bewogen?«

Der Gefragte schwieg, wieder bedeckte eine flüchtige Röthe seine Wangen. Er schien noch mit sich zu kämpfen, ob er Alles gestehen sollte, denn er mußte damit zugleich seine eigenen Vergehen bekennen. Weshalb sollte er indeß schweigen! Es wäre Thorheit gewesen, der Hoffnung noch Gehör zu geben.

Noch einmal wiederholte der Untersuchungsrichter seine Frage.

Scherbach richtete sich empor, er holte noch einmal tief Athem, um sich Kraft zu verschaffen.

»Ich will Alles gestehen, wie es gekommen ist,« sprach er, »ohne Umschweif, ohne mich selbst zu schonen. Ich brauche die Wahrheit nicht zu verschweigen, denn mein Leben ist doch ein verlorenes. – Ich liebte das Mädchen, welches in diesem Hause wohnt, Anna Krüger, mit ganzer Leidenschaftlichkeit, mit einer Gluth, welche mir keine Ruhe ließ – ich glaubte, ohne sie nicht leben zu können. Ich hatte ihr meine Hand angetragen, meine Liebe gestanden, allein sie zögerte, dieselbe anzunehmen. Ich war der festen Ueberzeugung, daß sie nur deshalb zögerte, weil ich ihr nur wenig bieten konnte, weil meine eigene Zukunft eine unsichere war; ich verdiente wohl so viel, um eine Frau ernähren zu können, allein ich konnte mir selbst nicht verhehlen, daß die Art und Weise, wie ich dies verdiente, mir wenig Sicherheit bot. Ich spielte den Winkeladvocaten und ich wußte, daß dies verboten war und ich jeden Tag Gefahr lief, deshalb bestraft zu werden. All' mein Streben war deshalb darauf gerichtet, mir eine gesicherte Stellung zu erringen. Ich hoffte dies auf ehrlichem Wege zu erreichen, allein meine Bemühungen scheiterten, ich besaß wenig Freunde und noch weniger Gönner, weil ich nie im Stande gewesen war, zu schmeicheln und mich zu bücken. Je erfolgloser meine Schritte blieben, um so fester setzte sich der Entschluß in mir, trotzdem mein Ziel zu erreichen, denn ich befand mich in einer fast verzweifelten Stimmung. Da faßte ich den Gedanken, den Polizeidirector von dem gegen ihn gerichteten Aufstande in Kenntniß zu setzen. Ich hatte mich überzeugt, daß er noch nichts davon wußte, ich war in den ganzen Plan eingeweiht, weil man mir nicht mißtraute. Mein Gefühl sträubte sich zwar Anfangs dagegen, den Verräther zu spielen, Männer in das Verderben zu stürzen, die mir zum Theil befreundet waren, allein der Gedanke, daß ich durch des Polizeidirectors weitreichenden Einfluß eine Stelle erhalten werde, daß er mir diesen Dienst reich belohnen müsse, behielt die Oberhand. An demselben Abende, an welchem der Aufstand losbrechen sollte, setzte ich ihn von dem gegen ihn gerichteten Vorhaben in Kenntniß, und er gewann noch Zeit genug, Gegenvorkehrungen zu treffen. Ich verrieth ihm auch den Sturm, der noch in derselben Nacht auf das Gefängniß stattfand, und in beiden Fällen hatte er es mir zu verdanken, daß der Aufstand unterdrückt wurde. Er schien dankbar sein zu wollen und versprach mir eine gute Stelle in einer anderen Stadt. Ich drang in ihn, mir dieselbe bald zu verschaffen, allein er wollte mich noch nicht fortlassen, er bedurfte meiner Dienste noch – ich hatte mich ja selbst in seine Hand begeben, ich war verloren, wenn es bekannt wurde, daß ich der Verräther gewesen war, und er drohte mir, es bekannt zu machen, wenn ich ihm nicht unbedingt folge und gehorche. Er sah mich nur als ein willenloses Werkzeug an, das er ganz nach Belieben gebrauchen könne. Ich mußte ihm gehorchen, allein ich that es mit Widerwillen; von Tag zu Tag stieg mein Haß gegen den Mann, der zum Danke für die ihm geleisteten Dienste mich in immer größere Abhängigkeit von ihm brachte. Auf seinen Befehl und mit seinem Gelde mußte ich den Literaten Knebel bestechen, daß er den Aufstand in auswärtigen Blättern ganz anders und viel größer darstellte, als er wirklich gewesen war, auf seinen Befehl mußte ich als Zeuge gegen Schenk und Kallow beschwören, daß sie den Aufstand mit vorbereitet und an demselben Theil genommen hätten. Ich weigerte mich, dies zu thun, ich sträubte mich, den Meineid zu leisten, er drohte mir – er zwang mich dazu.«

»Sie widerrufen Ihre damals gemachte Aussage?« unterbrach ihn der Untersuchungsrichter, »Sie beschuldigen sich selbst des Meineids?«

»Ich widerrufe Alles, was ich gegen Schenk und Kallow ausgesagt habe,« fuhr Scherbach, der durch die Erzählung immer mehr in Aufregung gerieth, fort. »Es war Alles die Unwahrheit, der Polizeidirector hat mir die Aussage in den Mund gelegt, er hat sie mir vorgeschrieben, weil er beide Männer haßte, er hat mich zu dem Meineide verleitet, ja mich dazu gezwungen, weil er mich zu verderben drohte, wenn ich ihm nicht gehorche. Er versprach mich zu beschützen, wenn mein Meineid je entdeckt werden sollte. – Ha! ich wußte wohl, daß er es nicht thun werde, allein ich war ganz in seine Hand gegeben, er besaß die Macht, mich zu vernichten. Ich kannte ihn bereits hinreichend, allein ich war ohnmächtig gegen ihn. Er ist nur deshalb gegen Heinrich Bremer so hart und mitleidslos gewesen, weil er dessen Schwester mit Liebesanträgen verfolgte und von Bremer aus dem Hause geworfen war; er wandte Alles auf, um auch Stahl in seine Gewalt zu bekommen, weil dieser mit Bremer's Schwester verlobt war. Durch Briefe, die er sich von der Post zu verschaffen wußte und die er heimlich öffnete, wußte er, daß Stahl sich noch in der Stadt versteckt hielt, ich sollte behülflich sein, den Aufenthalt desselben zu entdecken. In diesem Hause, bei der Mutter meiner Braut hatte er eine Zufluchtsstätte gefunden – ich wußte nichts davon. Der Polizeidirector erfuhr es fast gleichzeitig mit mir, als Stahl bereits entflohen war, er war wüthend, überhäufte mich mit Vorwürfen, und als ich nun endlich seinem Drucke und Einflusse mich entziehen wollte, ließ er mich verhaften und mit Gewalt in das Gefängniß schleppen. Von dem Augenblicke an habe ich nur den einzigen Gedanken gehabt, mich an ihm zu rächen. Ja, ich suchte nur deshalb die Freiheit zu erreichen und aus dem Gefängnisse zu entfliehen, um ihn zu tödten, um ihm den Lohn zu geben für all' die Schändlichkeiten, welche er seit Jahren hier in der Stadt verübt hat, – und ich habe meine Absicht erreicht!«

Erschöpft sank er zusammen.

Das offene Geständniß hatte auf den Richter und die wenigen Anwesenden einen erschütternden Eindruck ausgeübt. Derselbe sprach sich deutlich dadurch aus, daß keiner von ihnen ein Wort erwiderte. Sie Alle hatten Ploetz gekannt und gewußt, daß er Vieles gethan, was sich nicht rechtfertigen ließ, für so schlecht hatten sie ihn indeß nicht gehalten. Unwillkürlich drängte sich ein Gefühl des Mitleids mit dem jungen Manne, dessen Hand Ploetz erstochen hatte, in ihre Brust. Sie begriffen, wie der Entschluß der entsetzlichen That in ihm gereift war. Ploetz war durch die Hand Desjenigen gefallen, dessen er sich zur Ausübung seiner eigenen Thaten zum Theil bedient hatte, es erschien die That Scherbach's unwillkürlich als ein Akt der Nemesis, welche ihn endlich erreicht hatte.

Der Untersuchungsrichter faßte sich zuerst und gab dem anwesenden Polizeidiener die Weisung, dem fast ohnmächtigen Scherbach beizuspringen und ihm die Schläfe mit Wasser zu waschen. Er hatte noch einige Fragen an ihn zu richten und wollte die augenblickliche Stimmung desselben benutzen, um die ganze Wahrheit zu erfahren.

Langsam kam Scherbach wieder zu sich. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, allein er raffte gewaltsam seine Kräfte zusammen.

»Sind Sie noch im Stande, mir einige Fragen zu beantworten?« sprach der Richter mit ruhiger, fast milder Stimme.

Scherbach nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Sie haben erwähnt, daß der Polizeidirector deshalb ein falsches Zeugniß von Ihnen gegen Schenk und Kallow verlangt habe, weil er Beide gehaßt habe. Wissen Sie, wodurch dieser Haß entstanden war?«

»Nein. Ich weiß nur, daß er Schenk's Frau, ehe sie sich verheirathete, den Hof gemacht hat. Ob sein Haß noch einen anderen Grund gehabt hat, ist mir unbekannt. Er vergaß und verzieh aber nie, wenn er von Jemand beleidigt war.«

»Derjenige, gegen welchen Sie alle diese Beschuldigungen vorgebracht haben, ist todt, er kann sich nicht verantworten. Sie haben selbst gestanden, daß Sie ihn haßten – haben Sie sich durch Ihren Haß nicht verleiten lassen, mehr auszusagen, als die Wahrheit ist?«

»Ich habe die volle Wahrheit gesagt,« erwiderte Scherbach. »Ich würde sonst meine eigenen Vergehen verschwiegen haben.«

»Es scheint keine Reue über Ihre That in Ihnen aufzusteigen,« bemerkte der Richter.

»Doch, ich bereue, daß ich je zum Verräther geworden bin und mich von dem Polizeidirector als Werkzeug habe gebrauchen lassen, allein ich bereue nicht, ihn getödtet zu haben. Ich würde ihn zum zweiten Male erstechen, wenn er jetzt vor mich hinträte!«

»Macht Ihnen Ihr Gewissen keinen Vorwurf, weil Sie einen Mord begangen haben?«

»Nein,« gab Scherbach ruhig zur Antwort. »Ich bin sogar der Ueberzeugung, daß ich der ganzen Stadt einen Dienst damit erwiesen habe.«

»Sie kannten aber die Strafe, welche einen Mörder trifft!«

»Ich kannte sie.«

»Und die Besorgniß für Ihr eigenes Leben hat Sie von der That nicht zurückgehalten?«

»Nein. Das Gefühl der unbefriedigten Rache war mir hundertmal peinlicher, als der Gedanke, man eigenes Leben einzubüßen – es hatte ohnehin keinen Werth mehr für mich.«

Der Richter hatte keine Frage mehr an ihn zu richten.

Er gab dem Polizeidiener die Weisung, Scherbach zur Stadt zurückzuführen. In den Zügen des Unglücklichen ging bei diesen Worten nicht die geringste Veränderung vor.

Noch einmal ließ der Richter einen Blick des Mitleids über ihn hingleiten, dann wandte er sich der Thüre zu.

»Herr Richter,« sprach Scherbach. »Noch eine Bitte habe ich.«

»Sprechen Sie.«

»Ich möchte noch einmal das Mädchen, welches ich so sehr geliebt habe – meine Verlobte, sehen.«

Der Richter mochte ihm diese Bitte nicht versagen. Er bat den Actuar, das Mädchen von dem Gewünschten in Kenntniß zu setzen und sie herbeizurufen. Dieser verließ das Zimmer.

Mit starr auf die Thür gerichteten Augen saß Scherbach da. Was in seinem Innern vorging, war leicht zu errathen. Anna war für ihn verloren, er wollte zum wenigsten ihr liebliches Bild noch einmal sehen, um die Erinnerung daran frisch mit sich zu nehmen.

Nach wenigen Minuten kehrte der Actuar zurück und flüsterte dem Richter einige Worte zu.

Scherbach's Blicke ruhten fragend auf seinen Lippen.

»Ich wollte Ihren Wunsch erfüllen,« sprach der Richter, »Ihre Verlobte weigert sich indeß zu kommen, weil sie jetzt nicht im Stande sei, Sie zu sehen.«

Der Unglückliche erwiderte kein Wort, allein auf seinem Gesichte prägte sich eine tiefe Trauer aus. Er hatte so wenig von ihr verlangt, sie brauchte ja nur vor ihn hinzutreten und ihm die Hand zu reichen, er würde die Hand schweigend geküßt haben und ruhiger der Zukunft entgegen gegangen sein. Freilich sie liebte ihn nicht, sie hatte ihn nie geliebt.

Ohne Widerstand zu leisten, ließ er sich die Hände fesseln. Die Polizeidiener hätten dies nicht nöthig gehabt, denn er würde ohnehin keinen Versuch gemacht haben, zu entfliehen. Schwer schied er aus dem Zimmer. Er wußte, daß er es nie wieder betreten werde, und noch war die Hoffnung nicht ganz aus ihm gewichen, daß Anna noch im letzten Augenblicke in das Zimmer stürzen werde, um von ihm Abschied zu nehmen.

Sie kam nicht.

Als er durch den kleinen Garten vor dem Hause geführt wurde, wandte er den Blick noch einmal zurück. Er sah eben an dem Fenster eine Frauengestalt stehen – und erkannte Anna. Er blieb stehen. Unwillkürlich wollte er die Hände nach ihr ausstrecken – sie waren gefesselt. Alle Kräfte zusammennehmend schritt er rasch zu.

Auf dem nächsten Wege zur Stadt und zum Gefängnisse wurde er geführt. Die Polizeibeamten ließen ihn vor sich hergehen, an Flucht konnte er ja nicht denken, da seine Hände gefesselt und seine Kräfte obenein fast gänzlich erschöpft waren.

So langten sie auf der Brücke vor dem Stadtthore an. Das Wasser rauschte laut unter derselben hin, weil es kurze Strecke zuvor durch ein Wehr einen verstärkten Fall erhielt. Dicht an dem Eisengeländer führte der Weg durch. Arglos ließen die Polizeibeamten ihren Gefangenen auch jetzt noch allein gehen. Da beugte er sich plötzlich tief hinüber und ehe die ihm Folgenden hinzuspringen und ihn erfassen konnten, hatte er sich bereits hinab gestürzt in den Fluß. Unten brauste das Wasser auf, dann floß es wieder wie vorher.

Unwillkürlich stießen Alle, welche es sahen, einen Schrei des Entsetzens aus.

Die Dunkelheit des Abends verhinderte von der ziemlich hohen Brücke aus den Unglücklichen zu sehen; ohne Verzug eilten mehrere hinab an das Ufer, Laternen und Fackeln wurden herbeigeschafft, allein vergebens war alles Forschen, das Wasser mußte ihn bereits fortgetragen haben.

An Rettung war nicht zu denken, wenn ihn nicht das Wasser selbst an's Ufer trug. Auch dies war nicht zu erwarten, da der Strom an dieser Stelle tief war und schnell floß. Man gab trotzdem das Nachforschen nicht auf, um zum wenigsten den Leichnam des Unglücklichen aufzufinden.

Und man fand ihn nach einigen Stunden. In einer Entfernung von mehreren hundert Schritten hatte das Wasser ihn an das Ufer gespült. Dort lag er starr, todt.


X.

Die Vorgänge dieses Abends beschäftigten am folgenden Tage die ganze Stadt. Es gab in ihr kaum einen einzigen Menschen, der mit dem Polizeidirector Mitleid gefühlt hätte. Wer es nicht offen aussprach, dem drängte sich doch unwillkürlich der Gedanke auf, daß ihn endlich die verdiente Strafe erreicht habe. Selbst Scherbach fand mehr Mitleid. Wenn er durch seinen Verrath auch Manchen in's Unglück gestürzt, so hatte er dies zum Theil dadurch wieder gesühnt, daß er die Stadt von dem Manne befreit, den Alle haßten, dessen Tyrannei Jahrelang schwer auf ihr gelastet hatte.

In den Wirthshäusern wagte man wieder, sich frei auszusprechen und mehr als je fühlte man das Bedürfniß dazu, denn Nachricht auf Nachricht kam an diesem Tage, daß die freiheitliche Bewegung in mehreren Städten neue Siege errungen, daß ihr Hauch immer weiter über das Land hindrang. Man benutzte den Augenblick, wo die Polizei ihres Hauptes beraubt war, wo sie selbst ängstlich und rathlos dastand.

Die Zeitungen, welche von auswärts frohe Botschaft brachten, wurden in den Wirthshäusern laut vorgelesen. Placate und Aufrufe, welche auf geheimem Wege in die Stadt gesandt waren, klebten mit einem Male an den Ecken der Straßen. Niemand ging mehr scheu daran vorüber, Gruppen bildeten sich vor denselben, die sie lasen und laut besprachen, und die Polizei wagte nicht mehr, dieselben zu entfernen.

Wer die Stadt an diesem Tage betreten hätte, würde sie kaum wieder erkannt haben. Sie glich einem Teiche, dessen Wasser langsam gestiegen ist. Keine Bewegung desselben ist sichtbar, in ruhigem, blanken Spiegel breitet sich die Fläche desselben aus, allein plötzlich weicht der Damm, der die Wassermenge bis dahin eingeengt hält, an einer Stelle, und wild brausen und drängen die Fluthen sich nun hindurch. Der ganze Teich scheint in Aufruhr gerathen zu sein, selbst an dem entgegengesetzten Ufer schlagen die Wogen unruhig und schäumend an.

Der rücksichtslose und strenge Geist des Polizeidirectors hatte bis dahin Alles im Zaume gehalten, die andern Behörden der Stadt besaßen nicht dieselbe Energie, sie würde jetzt vielleicht auch zu spät gewesen sein und die unruhige Stimmung der ganzen Bevölkerung noch gesteigert haben. Die Nachrichten, welche von außen kamen, lauteten für die Behörden andererseits wenig ermuthigend. Hatte doch selbst in der Residenz das Volk gesiegt.

Trotzdem blieb es an diesem Tage und selbst am Abende noch ruhig in der Stadt, zum wenigsten ließ das Volk trotz seiner Aufregung sich zu keiner Gewaltthat hinreißen; vielleicht nur deshalb nicht, weil es von keiner Seite Widerstand befürchtete. Durch den Tod des Polizeidirectors schien ihm für den Augenblick Genüge geschehen zu sein. Die ganze Demonstration dieses Tages beschränkte sich darauf, daß Hunderte das Grab Heinrich Bremer's besuchten und mit Kränzen schmückten.

Vielleicht wäre auch der folgende Tag ruhig hingegangen und die aufgeregten Wogen hätten sich von selbst verlaufen und beruhigt, hätte die Behörde nicht eine Thorheit begangen. An diesem Tage fand das Begräbniß des Polizeidirectors statt. So wenig beliebt derselbe auch gewesen war, so glaubte man es seiner Stellung doch schuldig zu sein, sein Begräbniß mit einigem Pomp in's Werk zu setzen, man verkannte auch vielleicht die Stimmung des Volkes. War auf Betheiligung der Bürger bei dem Begräbnisse in keiner Weise zu rechnen, so gab es genug Beamte der Verwaltung, welche der an sie ergehenden Weisung nothwendig folgen mußten.

Die ziemlich umfangreichen Vorkehrungen, welche zu dem Begräbnisse getroffen waren, blieben kein Geheimniß und diese riefen eine bedenkliche Aufregung hervor. Schon Stundenlang vorher waren die Straßen und Wirthshäuser ungemein belebt – in jenen Tagen feierten ja Tausende – und schon dies hätte als Warnung dienen können, jetzt war es freilich zu spät. Würde man die Vorkehrungen abbestellt haben, so hätte man dadurch die Besorgniß allzudeutlich an den Tag gelegt.

Als die für die Beerdigung bestimmte Zeit nahte, füllte sich die Straße, in welcher des Polizeidirectors Wohnung sich befand, mit Tausenden von Menschen. Es schienen ruhige Zuschauer zu sein, wie sie ein solches Ereigniß stets heranlockt.

Ohne Störung ließ man sämmtliche Vorkehrungen beenden. Die Polizeibeamten, welche die Weisung erhalten hatten, dem Leichenzuge sich anzuschließen, blickten nicht ohne Besorgniß auf die stets wachsende Menge, sie konnten indeß nichts weiter thun, als daß sie Alles vermieden, was irgend ein Aergerniß hätte hervorrufen können.

Der Leichenwagen fuhr vor dem Hause vor, in welchem sich Diejenigen, welche den Todten zum Kirchhofe geleiten wollten oder mußten, bereits versammelt hatten. Das Volk machte ihm willig Platz. Ohne Störung ließ es den Sarg aus dem Hause tragen und auf den Wagen niedersetzen. Zwar wurden hier und dort einige spöttische Bemerkungen laut, doch verhallten sie und fanden scheinbar nur sehr wenig Beifall.

Der Zug der Geleitenden stellte sich hinter dem Sarge in Ordnung, auch ihm machte das Volk bereitwillig Platz, Alles schien in größter Ruhe zu verlaufen, und schon schwand bei Manchem die Besorgniß, die sich ihm aufgedrängt hatte, und die Ueberzeugung fand Raum, daß doch nur die Neugierde die Tausende herbeigelockt habe.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Unmittelbar hinter dem Sarge folgten alle Die, welche dem Todten im Dienste am Nächsten gestanden hatten, die Beamten der Polizei. Es hatte bei dieser Ordnung noch die besondere Rücksicht obgewaltet, daß die Polizeibeamten unmittelbar zur Hand seien, wenn auf den Todtenwagen und den Sarg von Seiten des Volkes irgend eine Insulte begangen werden sollte.

Um zum Friedhofe zu gelangen, mußte der Leichenzug in die nächste Straße einbiegen. Bei dieser Biegung drängte sich plötzlich ein Volkshaufen zwischen den Leichenwagen und Die, welche ihm folgten. Diese hielten das Anfangs für einen Zufall und suchten die Ordnung wieder herzustellen, allein schon im nächsten Augenblicke wurden sie gewahr, daß diese Störung eine beabsichtigte war.

Die Polizeibeamten, welche das Volk aufforderten, die Straße zu räumen, erhielten die offene Antwort, der Polizeidirector solle ebenso still und ohne Geleit begraben werden wie Scherbach, welcher am Morgen dieses Tages begraben ward. Dieser sei nicht werth gewesen, daß ein Mensch ihm das Geleite gebe, der Polizeidirector habe dies noch viel weniger verdient.

Den Leichenwagen, welcher bei der entstandenen Stockung stille gehalten hatte, zwang man, weiter zu fahren.

Die Polizeibeamten suchten sich mit Gewalt durch das Volk, welches sich zwischen sie gedrängt hatte, den Durchgang zu bahnen, einige ließen sich sogar hinreißen, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen, allein dies war gleichsam nur für Tausende das Signal. In demselben Augenblicke wurden die Beamten von allen Seiten umringt. Die sich zur Wehre setzten, wurden niedergeworfen und zum Theil arg gemißhandelt, den Uebrigen wurden die Waffen entrissen.

In wenigen Minuten waren Alle, welche dem Todten gefolgt waren, zur Seite gedrängt und geflohen. Der Aufstand war gleichsam mit einem einzigen Schlage in der ganzen Stadt losgebrochen.

An Widerstand war jetzt kaum von irgend einer Seite noch zu denken. Die Polizei schien mit einem Male aus der Stadt fast verschwunden zu sein. Die Mehrzahl des Volkes wälzte sich dem Gefängnißgebäude zu, um dasselbe zu stürmen und die Gefangenen zu befreien.

Die geringe Militärwache und einige der Gefängnißwärter begingen die Thorheit, die Thüren des Gebäudes zu verschließen und Widerstand zu versuchen. Sie hatten vielleicht keine Ahnung, daß das Militär nicht eingeschritten war und rechneten auf Hülfe von ihm.

Als die Thür des Gefängnisses mit Gewalt gesprengt werden sollte, fielen aus den Fenstern des Gebäudes einige Schüsse, wodurch mehrere Menschen verletzt wurden, und nun brach der Ingrimm des Volkes, welcher sich bis dahin sehr gemäßigt hatte, offen hervor.

Ein Aufschrei der Entrüstung und Wuth von Tausenden folgte unmittelbar den Schüssen. Niemand wußte, wer dadurch verwundet war, Niemand kümmerte sich darum. Die Gefahr mißachtend, stürmten Alle auf das Gefängnißgebäude ein und in wenigen Minuten waren die Thore desselben erbrochen, mit Aexten zertrümmert, und das erbitterte Volk stürzte in die inneren Räume desselben ein, um alle Die, welche geschossen hatten, zu strafen. Einige von diesen waren bereits durch eine Hinterthür entflohen, Diejenigen, denen dies nicht gelungen war, wurden umringt, niedergeworfen und von fünfzig Händen zugleich ermordet, ohne daß späterhin Jemand genau wußte, wer ihnen das Leben genommen hatte.

Die Thüren sämmtlicher Zellen wurden geöffnet, die Gefangenen befreit und im Jubel durch die Stadt geführt und zu den Ihrigen geleitet.

Das Volk hatte in das Haus des Polizeidirectors dringen wollen, um dasselbe zu vernichten, um gleichsam jedes Andenken an ihn zu zerstören, allein rechtzeitig hatten einige Bürger sich vor demselben aufgestellt und hielten die Andringenden durch vernünftige Vorstellungen zurück. Und die einfachen Worte, daß das Haus und die Sachen des Todten an den Thaten desselben unschuldig seien, genügten, selbst die Erbittertsten zurückzuhalten.

Es hatte eben in jenen Tagen selbst den Geringsten, selbst Diejenigen, welche solche Gelegenheit ausbeuten, um ihrer Zerstörungslust und ihren unredlichen Absichten Genüge zu thun, der Hauch der wahren Freiheit erfaßt, und selbst die Verworfensten trugen Bedenken, dieselbe zu entweihen. Es sind selbst bei Krönungsfeierlichkeiten zehnmal mehr Vergehen gegen das Eigenthum vorgekommen, als in jenen Tagen, wo es so leicht war, sich durch die Sachen Anderer zu bereichern.

Den Wagen, welcher die Leiche des Polizeidirectors trug, hatte das Volk ungefährdet weiter fahren lassen, als derselbe aber an dem Friedhofe anlangte, war das Thor verschlossen. Lange Zeit verging, ehe dasselbe endlich geöffnet wurde. Der Sarg wurde auf den Friedhof getragen zu der Stelle, wo er in die Erde niedergesenkt werden sollte, allein kein Todtengräber ließ sich sehen, selbst sie hatten es verschmäht, dem verhaßten Manne den letzten Dienst zu erweisen.

Hastig wurde der Sarg von einigen Männern, welche den Wagen begleiteten, in die Erde hinabgelassen, hastig wurden einige Schaufeln Erde auf ihn hinabgeworfen, so daß er kaum bedeckt war – so verließ man das Grab. Und so blieb es Tage lang, bis andere Rücksichten den Todtengräber endlich nöthigten, dasselbe zuzuwerfen und den Grabhügel über ihm aufzurichten.

Der Abend dieses Tages war der lustigste, der seit langen, langen Jahren in der Stadt erlebt worden war. Eine neue Zeit war herangebrochen, und sie wurde durch die Verbrüderung aller Derjenigen gefeiert, die als Menschen eng verbunden sind und durch die Verhältnisse, durch Amt und Stellung, durch Reichthum und Armuth so unendlich weit von einander getrennt waren!


XI.

Die Bürger selbst traten am folgenden Morgen zusammen, um für die Ruhe und Ordnung in der Stadt Sorge zu tragen, da die Polizei ja verschwunden zu sein schien. Nur an einem Punkte schien dies aber nothwendig zu sein, nämlich bei dem Hause des Polizeidirectors, denn überall herrschte sonst Ruhe.

Die Erbitterung gegen den Polizeidirector war durch seinen Tod wohl gemildert, allein keineswegs aufgehoben. Es waren einige neue Thatsachen aus seinem Leben und seiner Handlungsweise bekannt geworden, welche auf's Neue die Gemüther erregt hatten. Da ihn Niemand mehr zu fürchten brauchte, erzählte Jeder von ihm, was er wußte. Sein ganzer unsittlicher Lebenswandel, seine maßlose Härte und Tyrannei erschienen erst jetzt im rechten Lichte.

Er hatte nie eine Beleidigung verziehen und vergessen, und seine Stellung und Macht nur allzusehr zur persönlichen Rache benutzt. Scherbach war nicht der einzige gewesen, den er zu einem Meineide verleitet hatte, um durch dessen Aussage sich an einem Dritten zu rächen. Er hatte sehr luxuriös und verschwenderisch gelebt und gleichwohl sich Vermögen gesammelt und bei dem ersten Ausbrechen der Unruhen eine nicht unbeträchtliche Summe nach der Residenz in Sicherheit gebracht. Auch dies Geld war von ihm in unredlicher Weise erworben. Mehr als eine Sache, die sein und des Gerichtes Einschreiten nöthig gemacht hätte, war durch ihn mit allen Kräften unterdrückt worden, weil die Bedrohten ihn durch Geld für sich gewonnen hatten.

Durch Einschüchterungen hatte er mehr als ein armes Mädchen, mit dem er durch seine Stellung in Berührung kam, bethört, und die Furcht vor ihm hatte den Mund der Unglücklichen geschlossen. Jetzt brauchten sie nicht mehr zu schweigen. All' diese Thatsachen hatten die Erbitterung gegen ihn auf's Neue heftig emporlodern lassen. Viele aus den unteren Schichten des Volkes sammelten sich vor seinem Hause, um dasselbe nachträglich zu demoliren, nur die Besonnenheit und Ruhe der Bürger hielt sie zurück.

Mochte auch die Menge singend und lustig durch die Straßen ziehen, mochten die freiesten Reden gehalten werden und die so lange zurückgehaltenen Gedanken sich offen Bahn brechen, die Ruhe wurde nirgends gestört.

Die Behörde der Stadt fügte sich in das Unvermeidliche und vermied in kluger Weise Alles, was neue Aufregung hätte herbeiführen können. –

 

Es war wenige Tage später. Anna befand sich allein in dem kleinen Zimmer, das sie mit ihrer Mutter bewohnte. Die Abendsonne leuchtete durch die Fenster und warf einen rosigen Hauch auf die Wangen des jungen Mädchens, dennoch konnte sie die Blässe derselben nicht verbergen. Wie viel hatte sie in der letzten Zeit zu leiden gehabt, welche mächtigen Eindrücke empfunden! Sie hatte Scherbach nicht geliebt, dennoch war dessen That und Geschick nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie zitterte bei dem Gedanken, wie nahe sie daran gewesen war, für immer die Seinige zu werden. Die Arbeit ruhte in ihrem Schooße, während sie diesen Gedanken nachhing.

Da trat Ender in das Zimmer.

Sie hatte ihn nicht früher bemerkt, bis er dicht vor ihr stand; eine flüchtige Röthe glitt über ihre Wangen hin.

Ruhig streckte er ihr die Hand zum Gruße entgegen.

Auch seine Wangen waren blaß, die Tage, welche er im Gefängnisse zugebracht hatte, waren an ihm nicht spurlos vorübergegangen.

»Du bist allein, Anna?« fragte er.

»Ja! Meine Mutter ist zur Stadt gegangen,« erwiderte sie.

Er schritt langsam im Zimmer auf und ab, um eine innere Unruhe zu verbergen. Das Verhältniß, in welchem Anna zu Scherbach gestanden hatte, war zwischen ihnen noch mit keinem Worte zur Sprache gekommen, er wollte darüber sprechen, er hatte sich vorher in Gedanken Alles zurecht gelegt, in diesem Augenblicke fand er kaum den Muth dazu.

Es war ein eigenthümliches Verhältniß, in dem er zu Anna stand. Als Kind hatte er sie auf seinen Knien geschaukelt, dann hatte er ihr jahrelang Unterricht ertheilt und nach dem Tode ihres Vaters hatte er sich gleichsam als ihren Vater betrachtet und sie geschützt und behütet.

Lange Zeit war sie ihm immer noch als Kind erschienen, dann mit einem Male hatte sein Auge wahrgenommen, daß sie kein Kind mehr war. Sein Herz hatte ihm dies gesagt. Ihm anfangs selbst nicht bewußt, war in seiner Brust eine innige Liebe zu dem Mädchen entstanden, die er lange Zeit nur für Zuneigung gehalten hatte. Erst als sie mit Scherbach sich verlobt hatte, war er sich klar bewußt geworden, daß er sie tief und innig liebte.

Mit keinem Worte, mit keinem Blicke hatte er ihr dies verrathen. Er würde diese Liebe vielleicht auch für immer verborgen gehalten haben, hätte er nicht während seiner Haft Zeit gehabt, immer und immer an sie zu denken. Und ihr frisches, liebliches Bild hatte ihn kaum einen Augenblick lang verlassen. Dort erst war er sich vollständig klar geworden, daß es ohne den Besitz des Mädchens kein Glück für ihn gebe, und doch schien ihm dies Glück für immer verloren zu sein.

Da hatte er bei seiner Befreiung aus dem Gefängnisse Scherbach's That und Ende erfahren und unwillkürlich hatte seine Brust erleichtert aufgeathmet. Anna war wieder frei, das Band, welches sie an den Unwürdigen geknüpft hatte, war zerrissen.

Endlich blieb er vor ihr stehen und sein dunkles, großes Auge ruhte auf ihrem lieblichen Gesichte.

»Anna,« sprach er und seine Stimme bebte leise, »hast Du Scherbach geliebt?«

»Nein,« erwiderte sie kaum hörbar, als ob sie ein Bekenntniß abzulegen habe, dessen sie sich schämen müsse.

»Und dennoch hast Du Dich mit ihm verlobt!« fuhr Ender fort, und aus seinen Worten klang es wie eine Freude und ein Vorwurf zugleich. »Hast Du denn Dein Herz nicht gefragt? Hast Du nicht bedacht, daß eine Ehe ohne Liebe selten eine glückliche wird?«

Anna wagte nicht aufzublicken.

»Ich gab den Wünschen und Bitten meiner Mutter nach,« gab sie zur Antwort. »Sie erblickte eine Beruhigung darin, mich versorgt zu sehen, der Gedanke, daß der Tod sie mir entreißen könne, und ich dann allein und verlassen dastehen werde, peinigte sie.«

»Ich weiß, daß Deine Mutter diesen thörichten Gedanken hegte, allein, Anna, hast auch Du daran geglaubt? Hast auch Du die Ueberzeugung gehabt, daß Du dann allein dastehen werdest, daß Niemand sich Deiner annehmen, für Dich sorgen werde?«

Anna schwieg.

»Ist nie der Gedanke in Dir aufgestiegen, daß ich Dich nimmer verlassen würde? Kind, Kind, Du kennst mich seit langen Jahren und scheinst mir dennoch nicht zu vertrauen!«

»Doch, ich vertraue Ihnen!« entgegnete Anna, zu ihm aufblickend – »Ihnen mehr, als irgend einem andern Menschen!«

»Mir mehr, als einem andern!« rief Ender, der seine erzwungene Ruhe immer mehr verlor. »Mir mehr!?« fuhr er fort, indem er des Mädchens Hand erfaßte. »Anna, Du kannst es auch, ich werde Dich nie verlassen, denn Du hast in meinem Herzen eine feste und treue Stelle gefunden.«

Er fühlte des Mädchens Hand in der seinigen zittern, sie wagte indeß nicht, ihm dieselbe zu entziehen.

»Anna,« fuhr er erregt fort, »wenn ich nun vor Dich hinträte, wenn ich Dich fragte, ob Du Dich entschließen könntest, Dein Leben mit dem meinigen zu verbinden, Würdest Du den Muth haben, Dein Glück und Geschick mir getrost anzuvertrauen? Würde Dir Dein Herz zurathen? Es ist nicht viel, was ich Dir bieten könnte, denn die Stellung eines Lehrers ist eine mühevolle und wenig lohnende, allein Alles, was ich hätte, würde Dir gehören und die Aufgabe meines ganzen Lebens würde sein, jede trübe Stunde Dir fern zu halten!«

Er hatte diese Worte in der höchsten Erregung gesprochen; sein Auge ruhte fragend auf ihrem Gesichte.

Sie antwortete nicht, allein ihr Busen hob und senkte sich schnell; er hätte das heftige Pochen ihres Herzens hören können, wenn er ruhiger gewesen wäre, er hätte aus dem Erröthen ihrer Wangen, aus dem Erzittern ihrer ganzen Gestalt, sehen können, welche Antwort ihr Herz ihm zurief, und daß nur ihre Lippen sich weigerten, die Worte auszusprechen.

»Anna, hast Du keine Antwort auf meine Frage?« fuhr er fort. »Du hast vielleicht nicht den Muth, mir zu sagen, daß Du mir nicht vertrauen kannst, sage Alles, was Dein Herz Dir zuruft, nur sei wahr und offen!«

Einige Secunden lang schwieg sie noch, dann sprang sie heftig auf und warf sich leidenschaftlich an seine Brust.

»Ich kenne ja kein Herz, dem ich mehr und freudiger vertraue, als dem Ihrigen!« rief sie.

Aufjauchzend umschlang er sie mit beiden Armen und preßte sie fest an seine Brust.

»Anna, Du mein, mein!« rief er und schien das Glück kaum fassen zu können.

»O Gott! wie glücklich hast Du mich gemacht!« fuhr er fort. »Sieh Mädchen, als ich hierher kam, war mein Herz schwer und traurig. Ich fühlte, daß ich ohne Dich nicht leben könne, und doch zweifelte ich, Dich je mein zu nennen. Ich war entschlossen, Dir mein Herz zu öffnen und meine Liebe zu gestehen, aber als ich von Deiner Bekanntschaft mit Scherbach hörte, hatte ich mich schon mit dem schrecklichen Gedanken vertraut gemacht, daß Du meine Liebe zurück weisen würdest. Allein auch dann würde ich Dich nie verlassen haben, sondern Dir stets ein getreuer Beschützer geblieben sein!

Anna lächelte ihm unter Thränen entgegen.

»Und Du hast nicht längst gewußt, daß mein Herz Dir gehört, daß ich Dich liebe!« bemerkte sie.

»Ich hielt Deine Freundlichkeit nur für eine Folge der Dankbarkeit,« sprach Ender, »ich hielt es für unmöglich, daß ich je so glücklich werden könne. Sieh Anna,« fuhr er fort, indem er ihre Hände erfaßte, und ihr in die feuchten Augen sah, »wenn ich in diesem Augenblicke zurückschaue, so weiß ich, daß ich Dich schon geliebt habe, als ich Dich auf meinen Knieen schaukelte und als ich Dich dann unterrichtete. Du warst es, die mich später stets hierher gezogen hat. Weil Du damals noch ein Kind warst, wagte ich nicht, dies Gefühl der Liebe mir zu gestehen, ich habe es zurückgebannt bis zu dieser Stunde, wo Du alt genug bist, um Dein Herz frei entscheiden zu lassen. – Wohl bin ich eine Reihe Jahre älter als Du, allein mein Herz schlägt noch frisch. Du bist seine erste Liebe gewesen und wirst auch seine einzige bleiben. Unsere Herzen kennen sich und sie werden sich jeder Zeit verstehen in Liebe und Frieden! – Nur ein Zweifel drängt sich mir noch auf – wird auch Deine Mutter mit Deiner Wahl zufrieden sein?«

»Sie wird glücklich darüber sein!« entgegnete Anna.

In diesem Augenblicke wurde die Thür hastig aufgerissen, und Stahl stürmte herein. Er war zu aufgeregt, um die Röthe und das Glück auf Ender's und Anna's Gesichtern zu bemerken.

»Stahl! Stahl!« Mit diesen Worten eilten Anna und Ender ihm entgegen.

»Ja, hier bin ich!« rief der Eingetretene, beiden die Hände entgegenstreckend. »Ich habe kaum die Nachricht empfangen, daß auch hier der Tag der Freiheit endlich gekommen ist, da habe ich keine Minute mehr gezögert. Sofort bin ich hierher geeilt, nicht einen Augenblick habe ich mir Ruhe gegönnt – was macht Margarethe?«

»Sie ist besorgt um Sie gewesen, weil sie seit langer Zeit keine Nachricht von Ihnen erhalten hat,« entgegnete Anna.

»Ich durfte ihr ja nicht mehr schreiben, seitdem ich erfahren hatte, daß Ploetz die Briefe öffnen ließ. Und es ist Alles wahr? Der Tyrann ist todt, die Gefangenen sind befreit, auch ich darf mich wieder ohne Besorgniß hierher wagen?«

»Mit Jubel wird man Sie empfangen, Niemand wird wagen, Ihnen entgegenzutreten!« gab Ender zur Antwort. »Alle, welche Ploetz hatte verhaften lassen, sind in Freiheit gesetzt, mit dem Tode des Polizeidirectors sind all' die Fesseln gesprengt, welche uns und die ganze Stadt darnieder hielten.«

»Gott segne Scherbach, der dem Menschen endlich den verdienten Lohn gegeben hat. Doch nun werde ich zu Margarethe eilen!«

Er wollte sich der Thür zuwenden – Ender hielt ihn zurück.

»Einen Augenblick warten Sie noch,« sprach er. »Das Unglück hat uns näher geführt, das Glück soll uns nicht trennen. Margarethe wird glücklich sein, wenn sie Sie wieder umarmen kann, nehmen Sie ihr noch eine Nachricht mit, welche die Freude des Wiedersehens ihr noch erhöhen wird. Sagen Sie ihr, Sie hätten hier zwei glückliche Menschen getroffen, zwei Menschen, deren Herzen sich gefunden und die entschlossen seien, in Treue und Liebe vereint durch das Leben zu gehen!«

Ueberrascht blickte Stahl den Freund an. Erst jetzt errieth er aus dessen und Anna's glücklich blickenden Augen, was geschehen war.

Freudig reichte er beiden die Hände.

»Ein schöneres Willkommen konntet Ihr mir nicht zurufen!« rief er, dann eilte er fort zu der Geliebten. – –

 

Noch derselbe Abend vereinte in dem kleinen Zimmer fünf glückliche Menschen.

Ender, Anna, ihre Mutter und Stahl gaben sich ungetrübt dem Glücke hin, nur Margarethe schien noch nicht an die Dauer desselben glauben zu können. Sie hatte in der letzten Zeit zu Vieles und zu Schmerzliches erlebt, als daß nicht bange Zweifel sich in die Freude des Wiedersehens hätten drängen sollen.

Fest hielt sie Stahl's Rechte in beiden Händen, als befürchte sie, er könne ihr wieder entrissen werden, er müsse wieder fliehen und sie werde wieder den bangen Sorgen um ihn, die ihr Tag und Nacht die Ruhe geraubt hatten, preisgegeben.

Es wird dem Herzen, das soviel ertragen hat, schwer, an die Beständigkeit des Glückes zu glauben! – – –


Unsere Erzählung ist eigentlich zu Ende. Die meisten Leser wünschen indeß bei Menschen, die sie lieb gewonnen haben, auch noch einen Blick auf deren ferneres Leben und ihre Geschicke zu werfen.

Wer das Jahr 1848 durchlebt hat, weiß, wie schön der Sommer desselben war, wie freudig die Herzen des Volkes schlugen, wie hoch die Hoffnungen desselben geschwellt waren. Mitten in diesem glücklichen Freiheitsrausche, an einem Tage wurden Margarethe und Stahl, Anna und Ender für immer, verbunden.

Ender hatte seine Stellung als Lehrer behalten, Stahl ein Geschäft in der Stadt begründet, dem er durch seinen Fleiß und seine Thatkraft bald einen sicheren Boden und Aufschwung verschaffte. Margarethe's Mutter starb während der Zeit, allein da der Tod für die kranke und müde Frau in Wahrheit eine Wohlthat war, so konnte selbst er das Glück, das ihre Tochter an Stahl's Seite gefunden hatte, wenig trüben.

Von ganz anderer Seite sollten den jungen Paaren Gefahren und trübe Stunden kommen, und ihnen noch manche Entbehrungen und Prüfungen bereiten.

Die Tage der Freiheit waren für Deutschland kurz, sie schienen von Anfang an gezählt zu sein. Kaum hatte die Reaction nur wieder einigen Boden gewonnen, so erhob sie auch kühn wieder das Haupt. Sie hatte nichts gelernt, aber auch nichts vergessen und unversöhnlich suchte sie alle Diejenigen zur Bestrafung heranzuziehen, die der Freiheit das Wort geredet hatten.

Wir wollen über diesen dunkeln Punkt in der deutschen Geschichte hinweggehen. Frühzeitig genug sahen Stahl sowohl wie Ender diese düsteren Wolken heraufziehen, sie wußten, was sie zu erwarten hatten, und um ihr Glück zu retten, verließen sie noch zeitig genug Deutschland, um in Amerika ein neues Leben und einen neuen Herd sich zu begründen.

Manche Irrfahrt, manche Prüfung haben sie dort bestanden, bis sie endlich in einen ruhigen und geborgenen Lebenshafen eingelaufen sind.

Wenn sie jetzt, nach zwanzig Jahren, diese Zeilen lesen, wird ihnen vielleicht Manches wie ein Traum erscheinen, aber nicht ohne Genugthuung werden sie selbst an die schweren und trüben Stunden zurückdenken. Eine Heimath haben sie verloren, eine andere Heimath haben sie wieder gefunden, und wenn irgend Jemand berechtigt ist, auszurufen: ubi bene, ibi patria! so sind sie es.

Stahl ist jetzt dort Besitzer einer großartigen und blühenden Fabrik, die er durch unermüdlichen Fleiß begründet und zu ihrer jetzigen Größe gebracht hat. Ender ist bei ihm, er gilt zwar nur für seinen Geschäftsführer, allein in Wirklichkeit ist er sein Compagnon, denn er nimmt Theil an all' seinen Freuden und Leiden. Beide Familien leben in einem Hause und betrachten sich nur als eine einzige, weil die gegenseitige Liebe sie unzertrennlich fest zusammen gekettet hat. –

Und das Andenken und das Grab des Polizeidirectors Ploetz? – Versunken und vergessen! –

* * *


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