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Roman.
Es giebt Charaktere, welche die größte Anzahl der Menschen nie recht begreifen lernt, weil sie sich nie die Mühe nimmt, auf die Hauptgrundzüge derselben zurückzugehen und aus ihnen all' die anderen Folgerungen abzuleiten. Die Meisten legen auch an solche Charaktere den ganz gewöhnlichen Maßstab, den sie für den allein richtigen halten, weil er für tausend und aber tausend Menschen paßt. Was mit diesem Maßstabe sich nicht messen läßt, ist nach ihrer Ansicht zum mindesten etwas Ungehöriges, wenn nicht gar Schlechtes. Sie schütteln bedenklich den Kopf über Alles, was sich nicht in den alt hergebrachten und gewöhnlichen Gleisen bewegt, denn nur dies halten sie für das Rechte.
Deshalb leben auch die meisten außergewöhnlichen Menschen mit der großen Menge, sobald sie mit ihr in nähere Berührung kommen, fast fortwährend in Streit. Sie finden kein Verständniß und wirken daher oft abstoßend, obgleich sie vielleicht mit den friedlichsten und zuvorkommendsten Absichten erfüllt sind. Dadurch werden dann freilich die besondern Seiten ihres Charakters immer schroffer und härter ausgebildet, während die Berührung mit den Menschen die Härte derselben mehr und mehr hätte mildern sollen.
Zu einem solchen Charakter gehörte der Förster Dommer. Der Grundzug seines Wesens war ein streng ausgeprägtes Rechtsgefühl. Mit ihm verband sich eine feste Willenskraft und ein unerschrockener Sinn. Zu oft war er in seinem bewegten und wechselvollen Leben durch sein Rechtsgefühl mit den Menschen in Conflict gerathen und allmälig hatte sich neben demselben eine große Strenge und Härte ausgebildet. Er galt für hart und mitleidslos, er konnte Beides sein, und trotzdem war er gutmüthig und zuweilen sogar weich. Freilich suchte er solche Empfindungen, gleichsam als ob er sich derselben schämte, vor den Menschen so viel als möglich zu verbergen und nur Wenige kannten diese Eigenschaften an ihm.
Seine Untergebenen fürchteten ihn, allein sie alle hingen mit der größten Achtung an ihm. War er auch schonungslos streng, so war er doch zugleich auch eben so gerecht gegen sie, und nie hatte sich einer von ihnen über ein Unrecht zu beklagen, zu dem er sich durch seinen leicht erregbaren Zorn hätte hinreißen lassen.
Diejenigen, welche in befreundetem Verhältnisse zu ihm standen, liebten ihn, obschon sie über manche seiner Sonderbarkeiten und Launen, wie sie es nannten, lächelten.
Zu diesen Launen rechneten sie ein Vorurtheil des Försters gegen den Adel, das ihnen um so unerklärbarer erschien, weil er selbst adelig war. Freilich hatte er von Jugend an auf den Adel verzichtet und nie das kleine Wort »von« vor seinem Namen geschrieben oder auch nur geduldet. Er haßte den Adel, weil derselbe nicht durch persönliche Verdienste erworben wurde und gleichwohl eine Menge Vorrechte und Privilegien mit ihm verbunden waren, durch welche die Bürgerlichen beeinträchtigt wurden.
Schon oft war er mit Freunden darüber in Streit gerathen, wenn sie ihn hatten bewegen wollen, seinen Adel wieder anzunehmen und zur Geltung zu bringen. Vergebens hatten sie ihn auf die großen Vortheile aufmerksam gemacht, welche ihm daraus erwachsen könnten. Selbst seine Vorgesetzten hatten ihm angedeutet, daß er schneller eine höhere Stellung erlangen würde, wenn er seine thörichte Laune aufgeben wolle. Ohne Hehl hatte er ihnen aber geantwortet, daß er für eine Beförderung danke, die er nur einer eitlen Bezeichnung und nicht seinem Verdienste verdanke.
Das kleine Wort »von« hatte ihn auch in dem Augenblicke, wo wir ihm zum ersten Male begegnen, in heftige Aufregung gebracht. Mit hastigen Schritten und in erbitterter Stimmung ging er in seinem Zimmer auf und ab. In seiner Rechten hielt er einen Brief, zerknittert, fest zusammengefaßt.
Seine äußere Erscheinung entsprach ganz seinem Charakter. Er war eine große, kräftige Gestalt. Den Kopf trug er fest und gerade. Sein dunkles Haar war dünn, und ließ die hohe, freie Stirn noch mehr hervortreten. Ueber den Augen zogen sich ein Paar starke, buschige Brauen hin, die dem ganzen Gesichte einen festen, fast einen finstern Ausdruck gaben. Die Nase war etwas gebogen, fast die ganze untere Hälfte des Gesichts bedeckte ein voller Bart.
Wiederholt hatte er den Brief durchlesen, um durch den Inhalt desselben sich zu beruhigen, sobald sein Blick indeß auf die Aufschrift und das »von« vor seinem Namen fiel, so knitterte er ihn erbittert wieder zusammen.
Sicherlich würde er den Brief längst in das Feuer geworfen haben, wäre er nicht von einer Hand geschrieben, welche ihm die liebste auf der Erde war, und hätte er ihm nicht eine Nachricht gebracht, die ihn selbst in seinem Unmuthe mit Freude erfüllte.
Sein einziger Sohn Kurt hatte ihm geschrieben, daß er ihn an diesem Tage auf kurze Zeit, vielleicht nur auf wenige Stunden besuchen werde. Und sein Herz hing an seinem Sohne mit einer Liebe, über die er sich selbst oft Vorwürfe machte, weil er fühlte, daß sie ihn mit seinem ganzen Charakter oft in Zwiespalt brachte. Ihm gegenüber war er mehr als einmal schwach gewesen und, schon als Kurt noch ein Knabe gewesen war, hatte es ihm jedesmal Selbstüberwindung gekostet, ihm eine Bitte abzuschlagen.
An dem Jungen hatte er von dem ersten Tage seiner Geburt an mit ganzem Herzen gehangen. Auf den Armen hatte er ihn gewiegt und getragen, und dann, als er einige Jahre älter geworden war, hatte er ihn täglich mit sich in den Wald genommen und an dem fröhlichen, frisch aufwachsenden Kinde seine größte Freude gehabt. Einen tüchtigen Waidmann, einen festen und offenen Mann, wie er selbst war, aus ihm zu ziehen, war sein Wunsch gewesen. Hatte doch der Junge schon mit der Vogelflinte so gut und sicher geschossen, daß er es mit manchem Jäger hätte aufnehmen können.
Aber des Försters Herz hatte sich zu früh und zu sicher seinen Hoffnungen hingegeben. Je mehr Kurt herangewachsen war, um so stärker hatte eine Neigung zum Soldatenstande sich bei ihm geltend gemacht. Er war wiederholt in Magdeburg gewesen und die schimmernden Uniformen der Officiere hatten ihn verlockt. Dazu war es eine Zeit gewesen, wo von Frankreich herüber der Soldatenruhm lauter als je erklungen war. Ein Mann hatte sich dort durch diesen Ruhm aus der untersten Stellung eines Secondelieutenants bis zu den höchsten Würden emporgeschwungen.
Es hatte für den leicht erregbaren Sinn des herangewachsenen Knaben etwas Verführerisches und Berauschendes hierin gelegen. Seiner Phantasie, seinen Träumen von Ruhm und Auszeichnung war dadurch ein großer Spielraum gegeben und immer weiter und weiter hatten sie ihn geführt. Dazu war noch gekommen, daß der Vater seiner Mutter gleichfalls Officier gewesen war, und durch die Erzählungen von ihrem Vater hatte die Mutter vielleicht schon in das Herz des Kindes den ersten Keim zu dieser Neigung gelegt.
Vergebens hatte Dommer dem Jungen diese Ideen auszureden versucht, es indeß nicht gewagt, ihn mit Gewalt zu zwingen, dieselben aufzugeben. Lieber hatte er den Wunsch, den einzigen Sohn für den eigenen Lieblingsstand zu erziehen, in stillem, verborgenem Schmerze verzehrt.
Und konnte nicht der Junge auch als Soldat zu einem festen, offnen Charakter sich ausbilden? Dazu hatte er im Geiste die Zeiten kommen sehen, wo er gerade als Soldat dem Vaterlande die größten Dienste erweisen konnte. Nur für ein blindes Auge hatte es verborgen bleiben können, daß die Gefahr, welche Deutschland von Frankreich her drohte, immer größer und größer heranwuchs.
Er hatte endlich zu Kurt's selbst gewähltem Berufe seine Einwilligung gegeben, und selbst das hatte er nach vielen Bitten gestattet, daß derselbe den Adel wieder annahm, um schneller zu avanciren. Leider gab es in der preußischen Armee fast nur adelige Officiere, und für einen Bürgerlichen war es fast zur Unmöglichkeit geworden, nur zum Lieutenant sich emporzuschwingen.
Schnell hatte Kurt dies Ziel erreicht. Seine ganze Aeußerlichkeit war ihm dabei förderlich gewesen. Mit seinem Vater hatte er große Aehnlichkeit, nur daß bei ihm noch Alles den weichen, elastischen Stempel der Jugend trug, was bei jenem zum festen, abgeschlossenen Mannesthum sich ausgebildet hatte. Mit vollem Rechte konnte er für einen schönen Mann gelten. Seine Gestalt war hoch und schlank gewachsen, seine Stirn trat frei und offen hervor und sprach auch aus seinen Augen nicht ein so entschlossener Sinn als aus denen seines Vaters, so übte doch der dunkle, fast schwermüthige Hauch, welcher über dieselben ausgegossen schien, einen wunderbaren Reiz.
All' seine Bewegungen waren leicht und gefällig, denn von Jugend an hatte sein Vater Sorge getragen, daß sein Körper in kräftigster Weise entwickelt war.
Er hatte einen leicht auffallenden, offnen Kopf, dagegen war mit jedem Jahr mehr hervorgetreten, daß ihm jene feste und zähe Willenskraft seines Vaters mangelte. Er hatte im Gegentheil eine offenbare Neigung zur Leichtfertigkeit.
Mit Schmerz hatte der Förster dies wahrgenommen, allein die Liebe zu ihm hatte ihn zu überreden gesucht, daß dies nur der leichte Sinn und der Uebermuth der Jugend sei. War es doch zu natürlich, daß das Leben in Berlin, wo Kurt stand, der Verkehr mit den jungen Officieren, die Zuvorkommenheit, mit der er seiner ansprechenden Aeußerlichkeit wegen, fast in allen Kreisen empfangen wurde, manches Verführerische für ihn haben mußte.
Mehr als einmal hatte Dommer mit seiner Frau hierüber gesprochen, sie hatte jedesmal seine Befürchtungen und Besorgnisse zu verscheuchen gewußt. Und wenn er dann mit Kurt selbst wieder zusammengekommen, wenn dieser mit der heitersten und unbefangensten Miene vor ihn hingetreten war, dann hatte er ihm nicht zürnen können.
Seit langer Zeit war er über keinen Streich Kurt's so sehr erbittert gewesen, als über die Aufschrift dieses Briefes. Noch immer schritt er hastig im Zimmer auf und ab. Da trat seine Frau in das Zimmer.
»Kannst Du Dich noch immer über den Scherz nicht beruhigen,« sprach sie halb vorwurfsvoll. »Dommer, es ist doch wirklich kaum der Mühe werth, daß Du Dich darüber erzürnst.«
Der Förster blieb stehen. Er hob den Kopf noch mehr empor und zog die Brauen finster zusammen.
»Einen Scherz nennst Du das!« rief er. »Einen Scherz, wo der Junge nur zu sicher wußte, wie sehr er mich erbittern werde! Und seit wann treiben die Kinder mit ihren Eltern Scherz? Aber nicht ein Wort hätte ich darüber sagen wollen, wenn es nur das wäre. Der Hochmuth hat den Jungen dazu getrieben. Es ist ihm zu gering, daß sein Vater nicht mehr und nicht weniger sein will, als ein rechtschaffner Bürgerlicher. Der Adelsdünkel ist ihm in den Kopf gefahren, und er hofft vielleicht auch mich für diese Thorheit zu gewinnen, und dies soll der Anfang sein. Er sollte mich besser kennen!«
»Dommer, ich habe mich stets Deinen Wünschen und selbst Deinen Ansichten gefügt,« warf die Frau ruhig ein, »selten wohl hat eine Frau ihrem Mann weniger widersprochen – das kannst Du indeß doch nimmermehr in Abrede stellen, daß Du vom Adel abstammst und adelig bist!«
Der Förster blickte seine Frau erstaunt an. Stets hatte sie es vermieden, diesen Punkt, über den er so leicht in Aufregung gerathen konnte, ihm gegenüber zu berühren. Sollten auch in ihrem Kopfe ähnliche Gedanken wie in dem seines Sohnes erwacht sein? Sollte auch Sie Lust bekommen haben, die Adelige zu spielen? Die Ruhe ihres Auges beschwichtigte ihn. Er hielt es für unmöglich, daß sie nach so langen Jahren plötzlich einer solchen Thorheit in ihrer Brust Raum geben könnte.
»Das kann ich nicht ungeschehen machen, daß meine Vorfahren Thorheiten begingen,« erwiderte er, »aber eben so wenig kann mich irgend ein Mensch zwingen, dieselben nachzuahmen. Ich will nichts damit zu schaffen haben und ich hätte auch klüger gehandelt, wenn ich nimmer zugegeben hätte, daß Kurt die Thorheit von Neuem angefangen!«
»Es hat ihm Nutzen gebracht,« bemerkte die Försterin. »Sicherlich würde er jetzt noch nicht Officier sein!«
»Ich wünsche, er wäre es nicht,« gab Dommer zur Antwort.
Jetzt blickte die Försterin ihren Mann erstaunt an. Sie glaubte seine Worte nicht recht verstanden zu haben, denn das war ja ihr Stolz, daß Kurt in so kurzer Zeit Officier geworden war.
Der Förster bemerkte ihr Staunen.
»Sieh,« fuhr er fort, »ich habe nicht nöthig Dir zu sagen, wie unendlich lieb ich den Jungen habe, aber ich glaube, wenn er Jäger geworden, wenn er unter meinen Augen hier geblieben wäre, wir würden noch mehr Freude an ihm gehabt haben. Das Leben in Berlin hat doch einen Andern aus ihm gemacht, wie er früher war! Leugne es nicht, es steckt ein Theil Hochmuth in seinem Kopfe und ich sehe nicht ein, zu welchem Guten das führen soll!«
Die Försterin wollte etwas erwidern, in diesem Augenblicke wurde sie durch schnellen nahenden Hufschlag unterbrochen. Sie eilte an das Fenster, durch welches sie den durch den Wald führenden Weg überblicken konnte. Freudig zuckte sie zusammen.
»Da kommt er!« rief sie. Sie öffnete das Fenster, rief, sich hinausbeugend, laut und jubelnd: »Kurt! Kurt!« und stürzte dann aus dem Zimmer dem Sohne, der schon in das Hofthor eingebogen war, entgegen.
Auch der Förster war hastig an das Fenster getreten. Ein freudiger Zug flog über sein Gesicht hin, als er seinen Sohn erblickte. Schon wollte er seiner Frau nacheilen, um ihn zu empfangen, da gedachte er erst des Briefes wieder, den er noch immer in der Hand hielt und der die Ursache seiner Erbitterung war. Er blieb im Zimmer, so laut ihm das Herz auch schlug, so sollte er doch seinen Unwillen empfinden.
Auf dem Hofe hielt Kurt, von einem Diener begleitet. Wie seine große, schlanke Gestalt in der enganliegenden, kleidsamen Uniform hoch zu Pferde dasaß, sah sie noch stattlicher aus. Er hatte in der That das vollste Anrecht, für einen schönen Mann zu gelten, wenn er auch kaum die Grenze des Jünglingsalters überschritten hatte, denn er zählte erst zwanzig und einige Jahre.
Sobald er seine Mutter aus der Hausthür kommen sah, sprang er gewandt vom Pferde und eilte ihr entgegen. Mit beiden Armen umschlang er sie. Dann blickte er sich erstaunt um. Seinen Vater suchte er, denn er war gewöhnt, daß dieser ihm stets zuerst entgegeneilte.
»Habt Ihr meinen Brief nicht erhalten, Mutter?« fragte er.
»Doch – doch,« erwiderte die Försterin halbausweichend, da sie seinen suchenden Blick bemerkt hatte und nicht sogleich die erste Minute des Wiedersehens dadurch trüben wollte, daß sie ihm den Unwillen seines Vaters erzählte.
»Wo ist denn der Vater?« fragte Kurt weiter.
»In der Stube,« gab die Mutter zögernd zur Antwort.
»Hat er mich nicht kommen hören?«
»Doch – doch,« fiel die Försterin ein, ergriff die Hand ihres Sohnes und zog ihn etwas zur Seite, damit der Diener sie nicht höre. »Kurt, Kurt,« sprach sie leise und vorwurfsvoll, während zugleich ein Lächeln über ihr Gesicht hinglitt, »Du hast den Vater durch die Aufschrift des Briefes erzürnt. Du hättest es nicht thun sollen, denn Du kennst ihn ja!«
»Also er ist wirklich darüber unwillig geworden!« rief Kurt. »Es ist ja eigentlich nur ein Scherz von mir!«
»Du weißt, daß der Vater solchen Scherz nicht liebt. Er ist ernstlich böse!«
»Wirklich!« rief Kurt, während sein Lächeln zeigte, wie wenig er an den ernstlichen Unwillen seines Vaters glaubte. »Nun laß mich nur gewähren, Mutter, ich werde ihn bald wieder versöhnen. Er ist in seiner Stube?«
»Ja – ja,« erwiderte die Frau. Sie wollte noch etwas hinzufügen, allein Kurt war bereits die wenigen zum Hause hinaufführenden Stufen emporgesprungen und in das Haus geeilt.
Sie blieb wenige Augenblicke stehen und schaute ihm nach. In ihrem Herzen lachte Alles, als sie ihn so leicht und frisch dahineilen sah, und dann mochte sie auch nicht bei dem ersten Empfange mit ihrem Manne zugegen sein. Sie fürchtete, daß er Kurt mit rauhem, heftigem Worte entgegentreten werde, allein sie wußte auch, daß die Beiden sich schnell wieder versöhnen würden, denn der Alte konnte ja nicht mehr böse sein, wenn er dem Jungen in das Auge blickte. Darin war er eben so schwach – wie sie selbst.
Als Kurt in das Zimmer seines Vaters trat, sah er denselben hastig auf und ab gehen. Ohne Zögern eilte er auf ihn zu und umschloß ihn mit beiden Armen.
»Laß, laß,« rief der Förster ihn zurückdrängend. »Erst beantworte mir die Frage, wie Du zu der Aufschrift auf diesem Briefe kommst!«
Er hielt ihm den zerknitterten Brief, den er noch immer mit der Hand fest umfaßt hatte, entgegen.
»Es war Thorheit von mir, Vater,« entgegnete Kurt, »aber wahrhaftig nicht meine Absicht, Dich dadurch zu kränken. Nun sei wieder gut! Schlag ein!«
Er hielt ihm die Rechte entgegen und obschon sein Vater einen Augenblick zögerte, so schlug er dennoch ein und fügte weniger unwillig hinzu: »Du weißt, Kurt, was ich von solcher Thorheit halte. Ich will nichts davon wissen und Niemand wird hierin meine Ansichten ändern. Auch Du nicht.«
Kurt widersprach ihm nicht, und als die Försterin wenige Minuten später in das Zimmer trat, waren Vater und Sohn bereits vollständig wieder ausgesöhnt.
Nur bis zum folgenden Tage konnte Kurt in dem Vaterhause bleiben, länger währte sein Urlaub nicht. Das Armeecorps, bei dem er stand, marschirte nach Thüringen, und da es in der Nähe des ihm heimathlichen Harzes vorüberkam, so hatte er diesen kurzen Abstecher gemacht. Es ging dem Kriege entgegen, und wen triebe es nicht, die Seinen vorher noch einmal zu sehen, wenn er gefaßt darauf sein muß, bei der Heimkehr zu fehlen?
Es war in den ersten Octobertagen des Jahres 1806. Preußen hatte sich gerüstet, um dem Kaiser der Franzosen, dessen Einfluß auf Deutschland sich bereits in der unheilvollsten Weise geltend gemacht hatte und der ganz Deutschland zu vernichten drohte, entgegenzutreten. Die preußische Armee, welche sich noch in dem Kriegsruhme Friedrich's des Großen wiegte und sich für unüberwindlich hielt, weil ein großer Feldherr sie ein halbes Jahrhundert früher zu den größten Siegen geführt hatte, sollte zum ersten Male mit den Soldaten Napoleon's um den Sieg ringen, die Oesterreichs und Rußlands Heere in mehr als einer Schlacht geschlagen hatten.
Preußen stand fast allein dem mächtigen Herrscher der Franzosen gegenüber, allein es selbst trug die Schuld, denn seine frühere Unentschlossenheit, sein jahrelanges Schwanken, sein stetes ängstliches Bedachtsein auf den eigenen, preußischen Vortheil, waren wenig geeignet, ihm Vertrauen und Oesterreichs Unterstützung zu erwerben.
In unbegreiflicher Blindheit und eitler Ueberhebung glaubte es einen solchen Bundesgenossen entbehren und allein den Ruhm ernten zu können, den französischen Sieger aus den deutschen Landen zurückzudrängen.
Vor Allen war das preußische Heer voll einer solchen Siegeszuversicht, die nur aus der eigenen Ueberhebung und der Unterschätzung des Gegners entstehen konnte. Die Officiere wetzten öffentlich in Berlin ihre Säbel an den Straßensteinen vor dem Hause des französischen Gesandten und geberdeten sich, als ob sie allein im Stande wären, die ganze Macht des Feindes zu zerhauen. Sie befürchteten mehr, daß Napoleon ihnen entwischen, als daß er sie besiegen könne. Dies letztere hielten sie für unmöglich. Mit Siegesliedern rückte die Garde aus Berlin und konnte ihrem Jubel nicht genug Ausdruck geben, daß es ihr endlich vergönnt sei, den übermüthigen Herrscher der Franzosen zu züchtigen. Das ganze preußische Heer zog mit einem an Leichtsinn grenzenden Uebermuthe, mit einer Heiterkeit, als gelte es nur einer lustigen Ballnacht, dem Kriegsschauplatze entgegen, wo doch so ernste und schwere Würfel geworfen werden sollten.
Und diese leichtfertige Stimmung, die keinen Begriff von der Schwierigkeit ihrer Aufgabe hatte, war nicht blos unter den Soldaten und der großen Menge der Officiere verbreitet, bis in die Köpfe der ersten Anführer reichte sie hinauf. Der Gedanke, daß sie siegen müßten, hatte sich bei ihnen so fest gesetzt, daß sie die gewöhnlichsten Vorsichtsmaßregeln vergaßen und nicht einmal daran dachten, was sie zu thun hätten, wenn das Schlachtenloos zu ihren Ungunsten entschiede.
Von dieser Stimmung war auch Kurt erfüllt. In Berlin hatte er sie eingeathmet. Ihm war freilich weniger ein Vorwurf daraus zu machen. In seiner Brust lebte noch der übermüthige Thatendrang der Jugend, der nur von Siegen träumt und an die Schwierigkeiten, den Sieg zu erringen, zuletzt denkt. Er hatte noch nie den Ernst und die furchtbare, dämonische Macht einer Schlacht kennen gelernt.
Auch gegen seinen Vater sprach er von seinen sicheren Siegeshoffnungen. Schweigend hörte dieser ihm zu. Er hatte in einem bewegten Leben kennen gelernt, wie die sichersten Hoffnungen oft täuschen.
»Und wenn Ihr nun nicht siegt, wenn Ihr geschlagen werdet?« warf er endlich ein.
Kurt blickte ihn überrascht an. So unerwartet und unvorbereitet kam ihm diese naheliegende Frage, daß sie ihn in Verlegenheit setzte.
»Wir müssen siegen und wir werden siegen,« erwiderte er. »Ueber Russen und Oesterreicher mochte Napoleon siegen, das preußische Heer wird ihn in seine Schranken zurückweisen!«
»Niemand wünscht dies mehr wie ich,« entgegnete Dommer. »Aber schlagt einen Gegner wie Napoleon nicht zu gering an. Ich hasse ihn, aber das Glück ist auf seiner Seite!«
»Wir werden es ihm entreißen,« fiel Kurt ein. »Vielleicht lehre ich schon in kurzer Zeit als Sieger hieher zurück.«
»Mag es kommen wie es will,« fügte der Förster hinzu, »nur das eine laß mich nie von Dir hören, daß man Feigheit Dir zum Vorwurf macht. Dem Manne, und dem Soldaten vor Allen, muß die Ehre mehr gelten als das Leben. Gott möge Dich beschützen, und doch wollte ich lieber Deinen Tod beweinen, als die Nachricht hören, daß Du feige oder unehrenvoll gehandelt habest!«
»Das wirst Du nie!« rief Kurt und streckte seinem Vater die Rechte entgegen.
Dieser legte seine Hand darein, schweigend, denn schon der Gedanke, daß er den Sohn verlieren könne, wirkte erschütternd auf ihn ein, und er wandte sich ab, um seine Bewegung zu verbergen.
Noch hatte Kurt mit keinem Worte nach seiner nur um wenige Jahre jüngeren Schwester gefragt, allein seine Mutter hatte ihm mit wenigen Worten zugeflüstert, wo sie sei, und eine freudige Röthe war darauf über seine Wangen hingeglitten.
Dem Förster fiel die Abwesenheit seiner Tochter auf.
»Wo ist nur Lenore?« fragte er nach einer Pause seine Frau.
Die Försterin schwieg verlegen, als ihr Mann die Frage indeß noch einmal wiederholte, erwiderte sie: »Sie ist zu ihrer Freundin, Marie Degen, gegangen.«
»Was hat das zu bedeuten?« rief der Förster.
»Das Mädchen weiß, daß Kurt kommt, und geht doch fort.«
»Sie hat vielleicht geglaubt, daß er nicht so bald kommen werde,« fiel die Försterin ein, aber so leise und schüchtern, daß sie selbst verrieth, wie wenig sie an diesen Einwurf glaubte. Aengstlich blickte sie auf Kurt, als wollte sie ihn selbst fragen, was sie beginnen solle. Auch dieser schien etwas verlegen geworden zu sein.
»Das ist ein leerer Einwand,« fuhr Dommer fort. »Weshalb geht denn das Mädchen gerade heute fort, während sie jeden andern Tag im Jahre Zeit genug dazu hat? Nun, ich werde die Wahrheit schon erfahren, und ich will hoffen, daß sie nichts Unrechtes in sich schließt.«
Er hatte diese Worte heftig gesprochen und seine Frau sichtbar dadurch noch mehr eingeschüchtert.
Da trat Kurt schnell entschlossen vor ihn hin.
»Ich will Dir die Wahrheit sagen, Vater,« sprach er. »Lenore ist in meinem Interesse zu Marie Degen gegangen.«
Eine dunkele Röthe hatte seine Wangen überzogen und unwillkürlich wandte er das Auge ab, als sein Vater ihn erstaunt anblickte.
»Was hast Du mit Marie Degen zu schaffen?« fragte er. »Ich verstehe Dich nicht. Sprich deutlich, ich liebe es nicht zu errathen, wo ich eine offene Aufklärung fordern kann.«
»Die will ich Dir geben,« fuhr Kurt, sich zusammennehmend, fort. »Als ich das letzte Mal diesen Sommer hier war, habe ich mich mit Marie im Geheimen verlobt. Sie ist meine Braut, und um ihr mein Kommen mitzutheilen, ist Lenore zu ihr geeilt.«
Diese Mittheilung schien auf den Förster einen viel größeren Eindruck zu machen, als Kurt geahnt hatte, denn er schwieg, er preßte die Lippen zusammen und drängte mit Gewalt eine in ihm aufsteigende Heftigkeit zurück.
»Im Geheimen, sagst Du,« sprach er endlich, »und doch weiß Lenore darum. Und auch Du weißt es?« wandte er sich fragend an seine Frau.
»Kurt hat es mir vertraut, als er das letzte Mal abreiste,« gab diese zur Antwort.
»Und wer weiß noch um das Geheimniß?« fragte der Förster in strengem Tone weiter.
»Mariens Eltern,« erwiderte Kurt.
»Haha! die ganze Gegend scheint es also zu wissen, unterbrach ihn der Förster mit bitterem Lachen, »nur für Deinen Vater ist es noch ein Geheimniß, zu ihm allein hast Du kein Vertrauen gehabt.«
»Vater, das war der Grund nicht, weshalb ich es Dir so lange verschwiegen habe,« fiel Kurt ein.
Der Förster schien diesen Einwurf kaum zu hören.
»Sieh!« fuhr er fort, »als ich einst um die Hand Deiner Mutter werben wollte, hatte noch Niemand eine Ahnung von dem, was in mir vorging. Da trat ich zuerst vor meinen Vater hin und vertraute mich ihm. Es war ihm nicht recht, daß ich mein Herz so früh verschenkt hatte, allein es war einmal geschehen und er hatte nichts dagegen. Offen sagte er mir, was ich nach seiner Meinung von der Zukunft zu erwarten habe – und er hat Recht gehabt. Das scheint jetzt anders geworden zu sein, daß die Väter auf das Vertrauen ihrer Söhne das erste Anrecht haben! Erzwingen will ich es nicht!«
Er wollte das Zimmer verlassen, Kurt hielt ihn zurück. Mit beiden Händen umschlang er ihn, und so schmerzlich sein Vater auch verletzt schien, so konnte er doch seinem schmeichelnden Wesen nicht widerstehen.
»Nicht eher lasse ich Dich fort,« rief Kurt, »als bis Du mir verziehen und ausgesprochen hast, daß Du mit meiner Wahl zufrieden bist!«
»Kann ich jetzt noch etwas einwenden?« erwiderte Dommer. »Gegen Marie habe ich nichts, aber an der Beständigkeit Deines eigenen Herzens zweifle ich.«
»Ich liebe sie aufrichtig!« warf Kurt ein.
»Und Du wirst sie auch eben so treu lieben!« fügte er hinzu. »Ich halte den Mann für ehrlos, der sein einem Mädchen gegebenes Versprechen nicht hält!«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Das Geständniß seines Sohnes war ihm so unerwartet gekommen, daß er allein und in Ruhe darüber nachsinnen mußte. Er selbst hatte im Geiste für die Zukunft seines Sohnes schon Pläne und Hoffnungen gefaßt, kein Mensch hatte eine Ahnung von denselben, allein er selbst mußte sie jetzt einreißen und seine Gedanken gleichsam zwingen, einen ganz andern Lauf zu nehmen.
Kurt's Herz athmete freier auf. Eine so ruhige Aufnahme seines Geständnisses bei seinem Vater hatte er nicht erwartet. In der glücklichsten Stimmung verließ er das Haus und eilte seiner Schwester und seiner Verlobten entgegen. Seit Tagen schon hatte er jede Stunde berechnet, welche ihn dem geliebten Mädchen näher brachte und jetzt konnte er die Zeit nach Minuten zählen. Um so ungeduldiger war er indeß geworden und um so schneller eilte er auf dem durch den Wald führenden Wege weiter.
Das Gut des Amtmanns Degen war kaum eine halbe Stunde von der Försterwohnung entfernt. Ein reizender Weg, der sich in einem Thale unter mächtigen Tannenbäumen hinzog, verband beide. Unmittelbar vor dem Walde lagen die Gebäude des Gutes allein. Nur wenige kleine Gebäude, in denen Arbeiter wohnten, schlossen sich ihnen an. Das nächste Dorf lag indeß in geringer Entfernung.
Degen's Gut gehörte nicht zu jenen großen Besitzungen, die allein oft mehr Felder umfassen, als eine ganze Anzahl Dörfer ihr eigen nennen und die in früheren Zeiten eine Menge Rechte und Privilegien erhalten hatten, welche gleichsam nichts neben sich aufkommen ließen. Der Umfang seiner Ländereien war gering, allein dieselben waren fruchtbar, das Gut war schuldenfrei und Degen galt mit Recht für einen sehr wohlhabenden Mann.
Seit langen Jahren hatte er mit Dommer in den freundschaftlichsten Beziehungen gestanden, denn wenn beide Männer auch in ihrem Wesen wenig Aehnlichkeit hatten, so gab es doch Verhältnisse genug, welche sie häufig zusammenführten und einen freundschaftlichen Verkehr für Beide wünschenswerth machten.
Namentlich war Degen auf Dommer's Freundschaft gleichsam angewiesen, denn seine Ländereien erstreckten sich längs des Waldes hin und das Hochwild würde ihm jedes Jahr den größten Schaden zugefügt haben, wäre der Förster nicht fortwährend bemüht gewesen, es in dieser Gegend mit allen Kräften zurückzuhalten und Sorge zu tragen, daß es nicht allzusehr überhand nahm.
Seit Jahren hatten beide Familien in dem innigsten Verkehr gestanden und Kurt und Marie waren gleichsam mit einander aufgewachsen. Noch vor wenigen Jahren hätte es freilich Niemand geahnt, daß diese beiden Herzen einst für einander schlagen würden, denn bei den Spielen ihrer Jugend waren sie immer und immer wieder in Streit gerathen und nur mit Mühe hatte Lenore die Vermittlerin und Versöhnende gespielt.
Als Kurt das väterliche Haus verlassen hatte, um in der Stadt die Schule zu besuchen, und später in den Militärdienst eingetreten war, war Marie fast noch ein Kind gewesen, und er hatte ihr wenig Beachtung geschenkt. Um so mehr war es ihm bei seinen späteren Besuchen in dem väterlichen Hause aufgefallen, wie schnell und prächtig sie sich entwickelt hatte. Es lag in ihrer ganzen Erscheinung ein Reiz, wie ihn nur die Jugend und Seelenreinheit zu verleihen vermag. Lenore war vielleicht schöner zu nennen als sie, allein während diese durch ihr ernstes, fast strenges Wesen, in welchem das Erbtheil ihres Vaters nicht zu verkennen war, für den Anfang wenig fesselte, gewann Marie einen Jeden sogleich durch ihr unbefangenes, heiteres Wesen für sich.
Zum Mädchen herangewachsen, war sie Kurt ferner getreten, allein nun hatte er sich bemüht, sich ihr wieder zu nähern, und so hatten sich Beide in dem Sommer dieses Jahres verlobt.
Mariens Eltern wurden sogleich mit in das Geheimniß gezogen und sie hatten diese Verbindung ihrer Tochter gern gesehen. Kurt hatte in seinem Aeußern so viel Einnehmendes, daß Degen der festen Ueberzeugung lebte, es sei ihm in seiner militärischen Laufbahn noch viel Glück beschieden.
Degen war ein einfacher, lustiger Charakter. Seine Grundsätze waren durchaus rechtschaffen, allein es lag einmal nicht in ihm, daß er sich durch irgend einen Gegenstand auf längere Zeit in seiner lustigen Stimmung hätte stören lassen. Um den Frieden zu bewahren, gab er oft nach, wo er ganz entschieden im Rechte war, und litt lieber Schaden, als daß er sein Recht mit vielen Mühen aufrecht erhalten hätte.
Es war ihm unlieb gewesen, daß die Verlobung mit seiner Tochter auf Kurt's Wunsch für dessen Vater ein Geheimniß geblieben war, denn an dem Förster, dessen Charakter er in zu vielen Verhältnissen als treu und bewährt gefunden hatte, hing er mit aufrichtiger Freundschaft. Um so mehr war er erfreut, als Kurt, der Marie und Lenore auf dem Wege zum Försterhause nicht getroffen hatte und deshalb bis zu dem Gute geeilt war, ihm mittheilte, daß er seinem Vater Alles gestanden habe.
»Das ist recht!« rief er. »Und wie nahm er es auf?«
»Besser als ich glaubte,« erwiderte Kurt. »Nur war er unwillig, daß er es erst heute erfahren habe!«
»Und er hat ein Recht dazu,« fügte Degen hinzu. »Ich wollte es ihm längst gestehen, allein ich befürchtete, es würde ihn noch mehr kränken, wenn er es durch einen Zweiten erführe, denn es kam ja Dir zu, ihm Alles zu vertrauen!«
Beide Familien verbrachten den Abend dieses Tages in heiterster Weise in dem Försterhause. Nur Dommer war stiller als gewöhnlich, und wenn er auch dann und wann laut lachte, so konnte man es ihm doch ansehen, daß diese Heiterkeit bei ihm etwas Erzwungenes war.
Mehr als einmal verließ er das Zimmer und Haus und trat auf wenige Minuten hinaus in den Wald, der das Haus rings umschloß. Es trieb ihn allein zu sein. Wie ein Alp lag es auf seiner Brust, und er vermochte sich von diesem schweren, drückenden Gefühle selbst keine Rechenschaft zu geben.
Wenn er sich unbeachtet wähnte, hing sein Auge auf dem Antlitz seines Sohnes. Der war in glücklichster, heiterster Stimmung. Es schmerzte den Alten, daß er nur Augen für seine Verlobte hatte, daß er ihn ganz zu vergessen schien. Mit Gewalt suchte er diese Empfindungen, die ja nicht Neid und nicht Eifersucht waren, von sich zu bannen. Vergebens. Zu lange hatte er geglaubt, daß Kurt's Herz ihm allein gehöre, das konnte er nicht in wenigen Stunden überwinden. Zeit mußte er dazu haben, denn jeden Schmerz, der ihn betraf, verzehrte er langsam in sich selbst.
Zeitig am folgenden Morgen mußte Kurt das väterliche Haus wieder verlassen, denn am Mittage mußte er bei seinem Regimente wieder eintreffen und er hatte einen weiten Weg bis zu ihm. Schon rüstete er sich zum Abschiede, als sein Diener zu ihm eintrat und ihm meldete, daß sein Pferd. erlahmt sei. In ungeduldiger Hast hatte er es am Tage zuvor allzusehr angestrengt.
Schrecken erfaßte ihn. Er durfte sich nicht verspäten und gleichwohl sah er keine Möglichkeit, mit dem erkrankten Pferde fortzukommen. Er dachte daran, das Pferd seines Dieners zu benutzen und diesen nachkommen zu lassen. Auch diese Verantwortung mochte er nicht auf sich nehmen.
Der Förster hatte das erkrankte Pferd gleichfalls untersucht und erklärte es für eine Unmöglichkeit, dasselbe vor mehreren Tagen zu benutzen. Er stand schweigend da und sann vergebens nach einem Mittel, den Sohn aus seiner bedrängten Lage zu befreien. Plötzlich wandte er sich schnell entschlossen dem Stalle zu und führte gleich darauf sein eigenes Pferd heraus.
»Hier hast Du mein eigenes Pferd, Kurt,« sprach er. »Du wirst so leicht kein besseres finden.« Es war in der That ein herrliches Thier. Ungeduldig mit dem Hufe scharrend stand es da und doch war es sanft und gut. Den Kopf legte es über die Schulter des Försters, er klopfte es schmeichelnd am Halse, dann wandte er sich ab, denn es sollte Niemand gewahr werden, wie schwer ihm dies Opfer wurde.
Lenore stand hinter ihrem Bruder.
»Nimm es nicht an, Kurt,« flüsterte sie ihm zu. »Dies Pferd ist des Vaters größte Freude. Um keinen andern Preis würde er es hergeben, möchte derselbe auch noch so groß sein, denn er hängt an ihm.«
Kurt zögerte.
Der Förster hatte die Worte gehört. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht.
»Du mußt es nehmen,« sprach er, »denn ich sehe keine andere Möglichkeit, rechtzeitig bei Deinem Regimente wieder einzutreffen. Ich habe das Thier lieb gehabt. Ich selbst habe es aufgezogen und ich kann wohl sagen, noch ist es von keiner ehrlosen Hand berührt. Du wirst kein besseres Thier finden und mitten in der Schlacht wird es so dastehen wie jetzt, denn an das Schießen ist es gewöhnt – deshalb halte es gut – und – möge es Dich nie anders als zum Siege tragen.«
Kurt reichte seinem Vater die Hand.
Schnell wurde durch seinen Diener sein Sattel und Mantelsack aufgelegt und kaum fünf Minuten später saß er selbst darauf.
Der Förster geleitete ihn bis vom Hofe.
»Kurt, Kurt, halte Dich brav!« rief er ihm noch einmal nach, als er von seinem Diener begleitet schnell auf dem Waldwege dahinsprengte.
Regungslos blieb er stehen und blickte ihm nach, so lange, als er ihn sehen konnte, dann wandte er sich rasch zum Hause zurück. Seine Frau weinte heftig. Es war nicht der Schmerz des Abschiedes, sondern die Besorgniß wegen des Geschickes, dem ihr Sohn entgegen ging. Niemand vermochte ihr zu sagen, ob sie ihn je wiedersehen würde. Der Förster errieth den Grund ihrer Thränen.
»Sei ruhig, Marie,« tröstete er sie. »Es ist sein eigener Wille gewesen, Soldat zu werden. Wir haben darein gewilligt, nun müssen wir auch Alles ertragen, wenn er nur nie seine Ehre vergißt!«
Das Försterhaus lag etwa nur eine halbe Stunde von dem durch sein altes Kloster berühmt gewordenen Ilfeld am südlichen Abhange des Harzes entfernt. Geschäfte und gesellige Verhältnisse führten Dommer oft dorthin. Dort hatte er auch den Hauptmann Hellborn kennen gelernt, ohne mit ihm irgendwie in freundschaftlichen Verkehr getreten zu sein.
Hellborn wohnte bereits seit mehreren Jahren in Ilfeld. Er war ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, eine große hagere Gestalt, die zwar etwas verwettert und verlebt aussah, indeß trotzdem noch jünger erschien, als sie war. Er besaß in allen gesellschaftlichen Formen eine große Gewandtheit, und mußte ohne Zweifel viel erlebt haben und viel gereist sein.
Ueber seine Verhältnisse herrschte ein völliges Dunkel, und so gern er auch von früheren Erlebnissen erzählte, so wußte er dieselben doch stets so zu halten, daß er selbst möglichst dabei in den Hintergrund trat. Allen Fragen über seine Verhältnisse verstand er geschickt auszuweichen.
Er selbst behauptete früher in spanischen Diensten gestanden zu haben. Es konnte wahr sein, denn seine äußere Haltung entsprach der eines früheren Soldaten. Niemand wußte indeß, weshalb er den Militärdienst verlassen und wovon er lebte. Er war unverheirathet und lebte ziemlich einfach, indeß nicht aus Mangel an Mitteln, denn an Geld schien es ihm durchaus nicht zu fehlen.
Er war einer von jenen Männern, die es verstehen, sich fortwährend mit einem geheimnißvollen Dunkel zu umgeben. Er hatte es verstanden, sich in den gesellschaftlichen Kreisen in Ilfeld Zutritt zu verschaffen und galt für einen guten Gesellschafter. Trotzdem war fast ein Jeder mit Mißtrauen gegen ihn erfüllt, obschon Niemand ihm etwas bestimmtes Schlechtes nachsagen konnte. Er selbst schien die gegen ihn gerichtete Stimmung recht wohl zu kennen, allein sie schien ihm auch eben so gleichgiltig zu sein; wenigstens that er nichts, um ihr in irgend einer Weise entgegen zu treten.
Einige hielten ihn für einen Spion der Regierung, andere für einen geheimen Sendling Frankreichs, allein bei beiden Vermuthungen war es unbegreiflich, weshalb er dann seinen Aufenthalt in diesem kleinen, abgelegenen Orte gewählt hatte, wo sein Gesichtskreis ein äußerst beschränkter war. Er empfing freilich viele Briefe und unternahm von Zeit zu Zeit wochenlange Reisen, ohne daß irgend Jemand wußte, wohin dieselben gerichtet waren. Er selbst sprach sich nie darüber aus.
Dommer war ihm stets so viel wie möglich ausgewichen, weil das Geheimnißvolle, das in dem Wesen dieses Mannes lag, ihn abstieß und mit seinem eigenen Charakter im größten Widerspruche stand. Um so mehr mußte es ihm auffallen, als einige Tage nach Kurt's Abreise Hellborn unerwartet bei ihm in's Zimmer trat. Er war nie vorher im Försterhause gewesen.
In freundlicher, fast vertraulicher Weise kam er dem Förster entgegen und theilte ihm endlich nach einigem Zögern den Zweck seines Besuches mit. Lenore hatte er in mehreren Gesellschaften, wo er mit ihr zusammengetroffen war, kennen gelernt, und um ihre Hand hielt er bei Dommer an.
Dieser stand überrascht auf. Das hatte er am wenigsten erwartet. Er war nicht im Stande, sofort darauf zu antworten.
Der Hauptmann schien ihm seine Aufregung und sein Schweigen anders auszulegen.
»Darf ich auf Ihre Zustimmung rechnen?« fragte er.
»Auf meine Zustimmung?« wiederholte Dommer. »Und Sie glauben, daß meine Tochter, daß Lenore – – –« Er vollendete seine Worte nicht, weil der Gedanke ihm durch den Kopf schoß, daß Lenore diesem Manne ihr Herz geschenkt haben könne.
»Ihre Tochter hat von meiner Absicht noch keine Ahnung,« erwiderte Hellborn. »Ich liebe sie bereits längere Zeit, allein ich habe ihr mein Herz noch mit keinem Worte verrathen!«
»Das ist gut – sehr gut,« fiel der Förster ein.
»Ich hoffe die Liebe Ihrer Tochter zu gewinnen, wenn ich Ihrer Zustimmung erst gewiß bin,« fuhr der Hauptmann fort. »Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe offen zu Ihnen gesprochen, nun geben Sie mir auch eine offene Antwort.«
»Eine offene Antwort wollen Sie haben, Herr Hauptmann!« rief Dommer, nicht länger im Stande, seine Aufregung zu verbergen. »Sie sollen dieselbe haben, nur nennen Sie mir erst die Ansprüche, welche Sie überhaupt berechtigen können, an den Besitz meiner Tochter zu denken!«
»Meine Vermögenszustände sind geordnet,« versicherte der Hauptmann, »ich werde Ihnen beweisen, daß ich reichlich zu leben habe und im Stande bin, eine Frau und Familie anständig zu ernähren. Wenn dies Bedenken bei Ihnen hervorgerufen haben sollte, so können Sie ganz ruhig darüber sein.«
»Ich habe kein Recht, nach Ihrem Vermögen zu fragen, und frage auch nicht darnach,« rief der Förster, immer offener seinem Unwillen Lauf lassend. »Das ist Ihre Sache!«
»Dann begreife ich Sie in der That nicht, Herr Förster,« bemerkte der Hauptmann halb verlegen. »Ich weiß keinen andern Grund, der Ihr Bedenken erregen könnte!«
»Ich will Ihnen einen Grund nennen, Herr Hauptmann,« fuhr der Förster endlich los. »Wenn Jemand zu mir kommt, um bei mir um die Hand meiner Tochter anzuhalten, so muß ich ihn zuerst genau kennen, ich meine seinen Charakter. Sein Leben muß offen vor mir daliegen, und ich muß zuerst fest überzeugt sein, daß der Mann, dem ich mein Kind geben soll, auch ein rechtschaffener Mann ist. Das ist meine erste Frage, und dann kommt erst die Frage, ob er im Stande ist, eine Frau zu ernähren!«
Der Hauptmann war bei diesen Worten aufgesprungen. Seine kleinen grauen und stechenden Augen hefteten sich fest auf Dommer's Gesicht.
»Herr Förster!« rief er und seine Stimme bebte, obschon er sich bemühte, möglichst ruhig zu erscheinen. »Herr Förster, ich weiß nicht, wie ich Ihre Worte deuten soll!«
Ruhig, fest stand Dommer vor ihm.
»Habe ich noch nicht offen genug gesprochen?« erwiderte er.
»Nein, noch nicht – noch nicht ganz!« warf der Hauptmann mit gedämpfter Stimme ein.
»Nun gut, dann will ich noch offener sein,« fuhr der Förster fort. »Herr Hauptmann, ich kenne nichts von Ihrem Leben, weil Sie dasselbe wie ein Geheimniß bewahren, aber ich weiß, daß Jedermann Mißtrauen gegen Sie hegt, und ich denke, das muß doch irgend einen Grund haben, denn gegen einen rechtschaffenen Mann, der in seinem Handeln und Leben ehrlich und offen ist, der nicht nöthig hat, es zu verbergen, kann Niemand Mißtrauen haben!«
»Seien Sie ruhig!« unterbrach ihn Hellborn. Seine Stimme klang befehlend. Hoch aufgerichtet stand er da und seine Augen glühten. »Kein Wort mehr, Herr Förster,« fuhr er fort, »oder Sie werden mir für jedes Rechenschaft und Genugthuung geben!«
»Natürlich!« rief Dommer, der keine Furcht kannte und den es schon längst getrieben hatte, diesem Mann die Wahrheit zu sagen. »Ich sollte ja offen gegen Sie sein. Das scheint Ihnen nicht zu gefallen. Nun es ist ganz gut so, Sie kennen nun einmal die Meinung, die ich von Ihnen habe, und aus dieser Meinung mögen Sie sich selbst meine Antwort auf Ihre Bewerbung um die Hand meines Kindes zusammensetzen!«
»Ich werde sie mir zusammensetzen!« fiel der Hauptmann ein. »Sie werden diese Worte indeß noch bereuen! Ich werde Ihren Hochmuth beugen, Sie sollen …!« Ohne seine drohenden Worte zu vollenden, wandte er sich der Thür zu, um das Zimmer zu verlassen.
Der Förster kam dem Hauptmann, als er die Stube verlassen wollte, zuvor und vertrat ihm den Weg.
»Halt, Herr Hellborn!« rief er. »Sie drohen mir! Sprechen Sie aus, was ich soll! Haha! Ich bin ja auch offen gegen Sie gewesen!«
Die Augen der beiden Männer ruhten in einander. Der Förster blickte mit der Offenheit eines unerschrockenen Muthes, der Hauptmann mit der ganzen Gehässigkeit und Dreistigkeit, deren ein Mensch nur fähig ist.
»Gehen Sie fort!« rief er und seine gedämpfte Stimme klang unheimlich. »Fort hier – sonst werde ich mir mit Gewalt den Weg frei machen!«
Der Förster lachte laut auf, so thöricht erschien ihm diese Drohung.
»Hoho, Herr Hauptmann! Sie scheinen zu vergessen, daß dies mein Haus ist! Oder glauben Sie vielleicht, daß ich Sie fürchte? Doch gehen Sie, ich mag Ihre Drohung nicht einmal wissen, denn ich lache darüber!«
Er öffnete die Thür und ließ den Weg durch dieselbe frei.
Der Hauptmann eilte fort, wüthend, Drohungen dumpf vor sich hinmurmelnd.
Dommer kannte keine Furcht. Es war ihm sogar lieb, daß der Hauptmann ihm selbst die Gelegenheit geboten hatte, ihm seine Meinung offen und unumwunden zu sagen. Dessen Drohungen verachtete er, weil er sich keiner unrechten Handlung bewußt war.
Seine Aufregung legte sich schnell, und ruhig schritt er im Zimmer auf und ab.
Bestürzt trat seine Frau ein. Sie hatte den lauten Wortwechsel gehört und den Hauptmann in größter Aufregung fortgehen sehen.
»Was hast Du mit Hellborn vorgehabt, Dommer?« fragte sie.
»Einen kleinen Meinungsaustausch,« erwiderte der Förster herzlich lachend. »Nichts weiter.«
»Sei offen,« bat die Frau. »Ich hörte Euch laut sprechen – Ihr habt Streit mit einander gehabt!«
»Er scheint sich beleidigt gefühlt zu haben. Er kam und hielt bei mir um Lenorens Hand an; da sagte ich ihm offen, wer mein Schwiegersohn werden wolle, müsse vor Allem ein rechtschaffener, Mann sein, und für einen solchen halte ich ihn nicht!«
»Das hast Du gesagt!« fiel die Försterin bestürzt ein.
»Ja, so ungefähr, dem Sinne nach, wenn auch nicht mit denselben Worten. Es ist ja so die Wahrheit und die wünschte er zu erfahren!«
»Dommer, Dommer!« rief die Frau in ahnungsvoller Augst. »Das hättest Du nicht thun sollen! Ich fürchte den Menschen und er wird sich an Dir rächen und vor keinem Mittel zurückscheuen!«
»Das wird er nicht!« erwiderte der Förster. »Sei indeß ohne Angst. Wer kein Unrecht thut, braucht sich vor Niemand zu fürchten. Ich lache über seine Drohung!«
Der Förster dachte an diesen Vorfall mit dem Hauptmanne in der That kaum länger als diesen einen Tag. Sein ganzes Interesse war auf die Bewegungen der Heere in Thüringen gerichtet, die jeden Tag zu einer Schlacht an einander gerathen konnten. So siegesgewiß auch Kurt und das ganze preußische Heer war, so theilte er diese Sicherheit doch nicht, weil er ruhig genug war, um die Macht des Feindes nicht zu unterschätzen.
Noch hatte Napoleon sich mit dem preußischen Heere nicht gemessen und aller Berechnung nach mußte es ein verzweiflungsvoller Kampf werden, der ohne große Opfer auf beiden Seiten nicht zu entscheiden war.
Sein Verstand hatte sich auf jedes Geschick seines Sohnes gefaßt gemacht, denn derselbe war einmal Soldat und die Laufbahn eines Soldaten ist eine gefahrvolle; um so weniger erkannte sein Herz alle die Gründe und Beruhigungen des Verstandes an. Es zitterte bei den Gedanken an die Gefahren, denen Kurt entgegenging.
Er hatte ihm geschrieben und sein Brief war noch von denselben Siegeshoffnungen erfüllt, allein auch dies gab ihm wenig Beruhigung. Welchen Gefahren ging Deutschland entgegen, wenn Napoleon auch in diesem Kampfe mit Preußen siegte! Zu offen hatte der maßlose Ehrgeiz des französischen Herrschers sich bereits enthüllt, einen zu festen Fuß hatte er bereits in Deutschland gefunden, denn deutsche Fürsten hatten bereits ihre Ehre so weit vergessen, daß sie ihr eigenes Vaterland verrätherisch aufgegeben und sich zu Vasallen des fremden Herrschers erniedrigt hatten.
Dommer haßte die Franzosen. Was sollte er von einem Volke denken, das binnen wenigen Jahren den Thron seiner Könige gestürzt, seinen Herrscher unter der Guillotine hatte sterben lassen, das in der zügellosesten Weise sich der errungenen Freiheit hingegeben und nun wieder sich zu den Füßen eines Kaisers schmiegte und ihm die größten Opfer freudig brachte, nur weil er seiner Eitelkeit zu schmeicheln verstand!
Wäre er jünger gewesen, hätten ihn nicht die Pflichten gegen seine Familie zurückgehalten, so würde er selbst Soldat geworden sein, um gegen die Franzosen zu kämpfen. Das ging nicht mehr.
Langsam schwanden die Tage für ihn hin, da erhielt er am 12. October die erste Nachricht von dem Gefecht, welches am 10. October bei Saalfeld stattgefunden hatte, von dem für die Franzosen siegreichen Ausgange und von dem Tode des kriegerisch feurigen Prinzen Louis von Preußen, der in diesem Gefechte gefallen war. Noch lauteten die Nachrichten im Ganzen unbestimmt, allein die Verluste der Preußen wurden bedeutend höher angegeben, als sie wirklich waren.
Des Försters Schrecken war ein großer. Als eine üble Vorbedeutung faßte er es auf, daß das erste Gefecht zum Nachtheile der Preußen ausgefallen war. Und konnte nicht auch Kurt an dem Gefechte Theil genommen haben? Er war vielleicht verwundet oder gar getödtet!
Einen Brief hatte er von ihm erwartet; daß er keinen empfing, bestärkte ihn in seiner Befürchtung noch und machte sie für ihn fast zur Gewißheit.
Jetzt erst wurde er gewahr, wie wenig alle die Verstandesgründe, mit denen er sich beruhigt hatte, Stich hielten. Und obenein mußte er seine Besorgniß so viel als möglich verbergen, um die Angst seiner Frau nicht zu erhöhen. Es ließ ihm wenig Ruhe daheim und auch im Walde fand er sie nicht, der sonst immer auf sein aufgeregtes Gemüth mildernd gewirkt hatte. Nach näheren Nachrichten vom Kriegsschauplatze sehnte er sich, und Alles, was er erfuhr, lautete gleich unbestimmt.
Mehrere Tage trug er diese Besorgniß und die Pein der Ungewißheit still in sich. Früh am Morgen des 15. October machte er sich indeß auf nach dem nur wenige Stunden entfernten Nordhausen. Dort hoffte er Näheres über das Gefecht zu erfahren.
In dem Gasthause »zum römischen Kaiser« kehrte er dort ein. Auch hier war Alles in Aufregung über die Nachrichten von dem Gefechte bei Saalfeld. Jede Stunde hoffte man die Kunde zu erhalten, daß die Preußen diese Scharte durch eine größere Schlacht wieder ausgewetzt hätten, denn auch hier waren Alle von der Unbesiegbarkeit des preußischen Heeres überzeugt.
Ein kleiner, nur mit einem Pferde bespannter Wagen fuhr vor dem Gasthause vor und gleich darauf trat ein Mann, der in ihm gekommen war, aufgeregt in das Gastzimmer. Es war ein Kaufmann, der von der Leipziger Messe zurückkehrte. Er erzählte von einer großen Schlacht, in welcher die Preußen geschlagen seien. Das ganze preußische Heer sei gesprengt und auf der Flucht. Unterwegs habe er Alles in der größten Bestürzung getroffen. Bagage, Geschütze, Cavalerie und Infanterie – alle seien mit der größten Hast geflohen und Niemand hätte sich so viel Zeit genommen, ihm auf seine Fragen ausführlich zu antworten.
Dommer erbleichte. Er war nicht im Stande, etwas zu erwidern.
Mehrere Gäste widersprachen dem Kaufmanne, weil sie es für unmöglich hielten, daß die Preußen geschlagen werden und fliehen könnten. Sie nannten ihn einen Lügner und Verräther. Der Kaufmann blieb bei seinen Aussagen, von denen er sich mit eigenen Augen überzeugt hatte.
Immer lauter brach der Unwille gegen den Kaufmann los. Er wollte weiter fahren, man hielt ihn mit Gewalt zurück, und nur durch des Försters ruhiges und entschiedenes Dazwischentreten entging er rohen Mißhandlungen.
Einer der Gäste war sogleich fortgeeilt zum Stadtcommandanten, um Anzeige zu machen und Sorge zu tragen, daß der Kaufmann verhaftet werde. Schon kam ein Unterofficier mit mehreren Soldaten, um ihn auf Befehl des Stadtcommandanten festzunehmen. Vergebens betheuerte der Mann seine Unschuld und versicherte die Wahrheit seiner Aussagen. Niemand glaubte sie, Niemand hielt es für möglich. Er erbot sich zu jeder Genugthuung, wenn es sich herausstellen werde, daß er die Unwahrheit gesagt. Auch das half nichts, selbst nicht seine Bitte, ihm nur noch wenige Stunden die Freiheit zu schenken, denn bis dahin müsse ja bestimmte Nachricht über die Schlacht gekommen sein.
Vergebens verwandte sich der Förster für ihn, der ihn zwar nicht kannte, der indeß aus seinem ganzen Wesen nur zu deutlich ersah, daß er die Wahrheit redete.
Die Verblendung der Gäste, welche meistens aus Preußen bestanden, war so groß, daß sie taub gegen jede Vorstellung blieben. Sie wollten und konnten es nicht glauben, daß das preußische Heer so gänzlich geschlagen sei, daß es fliehen müsse. Mit Gewalt drangen sie auf die Verhaftung des Kaufmannes.
Schon hatten ihn die Soldaten in ihre Mitte genommen, um ihn aus dem Zimmer zu führen, als man einen Reiter die Straße herabsprengen hörte. Man erkannte einen Courier in ihm und riß die Fenster auf, um von ihm Näheres zu erfahren.
Er nahm sich kaum Zeit, sein Pferd für einen Augenblick anzuhalten. »Alles verloren!« rief er den Fragenden zu. »Bei Jena das ganze preußische Heer geschlagen, ein Theil vernichtet oder gefangen, der andere Theil zersprengt. Alles flieht – Jeder sucht sein Leben in Sicherheit zu bringen!«
Dann sprengte er weiter, um dem Stadtcommandanten diese officielle Nachricht zu überbringen.
Die Bestürzung war eine unbeschreibliche. Diejenigen, welche noch vor wenigen Minuten am lautesten die Tapferkeit und Unbesiegbarkeit des preußischen Heeres gepriesen hatten, eilten mit einer Hast zu ihren Wohnungen, um ihre Habe in Sicherheit zu bringen, als wenn der Feind bereits in die Stadt eingedrungen wäre. Die übermüthigsten Siegeshoffnungen waren mit einem Male in die größte Verzagtheit und Muthlosigkeit umgeschlagen.
In wenigen Minuten war das Zimmer leer.
Der Kaufmann, an dessen Verhaftung jetzt Niemand mehr dachte, beeilte sich, die Stadt so schnell als möglich zu verlassen, und auch den Förster trieb es heim.
Wie ein Traum, den er vergebens zu verscheuchen suchte, erschien ihm das Gehörte. Die Macht des preußischen Heeres geschlagen, gebrochen – auf der Flucht. Und sein Sohn von demselben Geschicke betroffen. Er zitterte bei dem Gedanken an ihn, und doch wünschte er fast, daß er mit Ehren in der Schlacht gefallen sein möge, nur damit er nicht nöthig habe, an der schmachvollen Flucht Theil zu nehmen.
Der Abend nahte bereits, als er in Ilfeld wieder ankam. Er war erschöpft von dem Wege, den er sonst zu einem Spaziergange rechnete.
Auch hier war die Nachricht von der Niederlage bei Jena schon verbreitet. Auch hier dieselbe Bestürzung und derselbe Schrecken. Auf den Straßen standen dichte Gruppen. Die Häuser waren zum Theil schon fest geschlossen, um sich gegen die Fliehenden und deren Verfolger zu sichern. Man hatte gehört, daß ein großer Theil des fliehenden Heeres sich dem Harze zugewendet habe, um zwischen dessen Bergen Schutz zu suchen.
Ein Reiter kam im gestreckten Galopp auf der Straße von Nordhausen daher gesprengt. Es war ein preußischer Officier, ein fliehender. Die Menschen hielten ihn auf, um Näheres von ihm über die Schlacht zu erfahren. Noch hatte der Förster, de Alle sich um den Officier drängten, diesen nicht gesehen.
»Es ist Alles verloren!« hörte er den Officier rufen, »das ganze Herr ist auf der Flucht. Der Feind verfolgt – Viele werden hier durchkommen – ich bin der erste von Allen – weil mein Pferd das schnellste war!«
Der Förster zuckte bei dem Klange dieser Stimme zusammen. Er drohte umzusinken. Gewaltsam raffte er sich zusammen! Es konnte nicht sein – er mußte sich täuschen.
Mit der Kraft, der Verzweiflung und Angst bahnte er sich durch die dichtgedrängte Menge einen Weg. Nur wenige Schritte war er von dem Officier noch entfernt. Er stand still – sein Auge starrte ihn an. »Kurt – Kurt!« rief er und krampfhaft umklammerte er den Arm des neben ihm stehenden Mannes, um nicht umzusinken.
Es war keine Täuschung von ihm gewesen – es war sein Sohn.
Kurt hatte den Ruf seines Vaters gehört. Er sprang vom Pferde und eilte auf ihn zu.
Ein schwacher, augenblicklicher Freudenstrahl zuckte durch das Herz des Försters, als er den Sohn gesund und unverletzt vor sich erblickte, da rief eine Stimme dicht hinter ihm: »Ha, der Tapferste aus dem ganzen preußischen Heere, denn er ist der schnellste auf der Flucht gewesen! Wo er nur sein Regiment gelassen haben mag?«
Diese Worte waren von einem lauten, höhnenden Lachen begleitet.
Der Förster raffte sich zusammen. Wie ein Blitz hatten ihn diese Worte getroffen und er kannte die Stimme, welche sie gesprochen. Dem Hauptmann stand er gegenüber. Er sah in dessen höhnendes Auge. Alle seine Muskeln zuckten krampfhaft zusammen. Schon hatte er den Arm erhoben, um sich auf ihn zu stürzen, allein kraftlos sank sein Arm wieder herab – der Hauptmann hatte ja die Wahrheit gesprochen.
»Der erste von allen Fliehenden – der Schnellste auf der Flucht«, diese Worte hallten ihm laut und betäubend im Ohre wieder. Centnerschwer lastete diese Schmach auf ihm.
Kurt erfaßte seine Hand – heftig, unwillig stieß er ihn von sich. Er mochte und konnte mit ihm nichts gemein haben. Noch einmal raffte er seine Kräfte zusammen. Es war ja dennoch möglich, daß er sich täuschte, daß Kurt weniger schuld war, als er glaubte.
Die Menge, welche ihn umgab, vergessend, trat er dicht vor seinen Sohn hin.
»Kurt,« sprach er und in dem ernsten Blicke seines Auges lag eine überwältigende Macht. »Die Wahrheit will ich wissen. Das preußische Heer ist geschlagen?«
»Ja.«
»Wo?«
»Bei Jena und bei Auerstädt,« erwiderte Kurt.
Er wagte nicht zu schweigen. Zum ersten Male nach der unglücklichen Schlacht kam er in diesem Augenblicke zum ruhigen Selbstbewußtsein. Er, wie Tausende mit ihm, waren aus ihren sicheren Siegeshoffnungen so jäh herabgestürzt, ihr Schrecken, ihre Bestürzung waren so groß, sie hatten so sehr den Kopf verloren, daß sie, aus Furcht vor dem Feinde und sich verfolgt wähnend, tagelang, ohne sich Ruhe zu gönnen, in wilder Flucht weiterstürzten, bis sie zum Theil erschöpft niedersanken und erst dann gewahr wurden, daß keine Verfolger hinter ihnen waren.
Kurt fühlte in diesem Augenblicke die ganze Schmach seines Benehmens, und die Augen auf den Boden geheftet, stand er da.
»Wo ist Dein Regiment?« fragte der Förster weiter.
Kurt zögerte mit der Antwort. Sie wurde ihm zu schwer.
»Wo ist Dein Regiment?« wiederholte er noch einmal, streng, befehlend.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte Kurt. »Alle sind auf der Flucht – in größter Verwirrung, in völliger Auflösung.«
»Du hast Deine Fahne verlassen!« rief der Förster und seine Stimme bebte.
»Ich bin von den Meinigen auf der Flucht getrennt,« gab Kurt zur Antwort. »Es ist gegen meinen Willen geschehen, kein Regiment hielt ja mehr zusammen – in wilder Flucht drängten Alle vorwärts.«
»Und Du – Du bist der erste von Allen auf der Flucht gewesen! Der Erste, während Du hättest sollen der Letzte sein!«
Kurt fühlte die ganze Schwere dieses Vorwurfs; er empfand, daß Aller Augen auf ihn gerichtet waren, der Tod wäre ihm in diesem Augenblicke lieber gewesen! Wußte er doch selbst kaum, wie es gekommen war, – der allgemeine Schrecken hatte ihn mit fortgerissen.
»Mein Pferd war das schnellste und ausdauerndste von Allen,« stammelte er verlegen, verwirrt. »Deshalb – deshalb …!«
»Das Pferd trägt die Schuld!« rief der Förster. »Folge mir!«
Er faßte das Thier, das gänzlich erschöpft, dem Zusammenbrechen nahe dastand, am Zaum und schritt hastig durch die Menge, welche ihm Platz machte. Kurt folgte ohne Weigerung.
Die Meisten kannten den strengen, heftigen Sinn des Försters. Sein Auftreten zeigte, daß er auf's äußerste erzürnt war. In mehr als einer Brust griff die Befürchtung um sich, daß er sich durch seinen heftigen Sinn zu einer Gewaltthat möchte hinreißen lassen.
Ein Bekannter trat zu ihm, legte die Hand auf seinen Arm und sprach: »Förster, begehen Sie keine Uebereilung!«
Der Angeredete stand still. Er schien das ihm so bekannte Gesicht kaum zu erkennen.
»Haha!« rief er mit wildem Lachen. »Glauben Sie, daß ich auch fliehen werde! Seien Sie ohne Sorge! Solche Eile hat es nicht, denn die Franzosen sind ja noch nicht hier. Ich will nur das arme Thier hier zur Ruhe bringen, sehen Sie, es kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Es ist ja das schnellste und ausdauerndste von allen gewesen! Solch ein Pferd hat nicht ein Jeder auf der Flucht! Die armen Soldaten, welche kein Pferd haben und zu Fuß laufen müssen, wann die wohl ankommen mögen!«
Scharf und bitter klang der Spott aus diesen Worten hervor. Dann schritt er weiter dem nahen Walde zu nach seiner Wohnung.
Schweigend folgte ihm Kurt. Im Walde unter den hohen Bäumen war der Abend bereits völlig hereingebrochen. Tiefe Stille herrschte ringsum. Nur den müden, stolpernden Schritt des Pferdes vernahm man und das schwere tiefe Athmen des Försters.
Eine unnennbare Angst preßte Kurt's Brust zusammen. Nie zuvor hatte er seinen Vater in solcher Aufregung gesehen. Die Schmach seiner Flucht drückte ihn nieder. Er war schuldig, aber vielleicht nicht so sehr als sein Vater es glaubte. Der hatte ja keine Ahnung von der Bestürzung und Verwirrung, von welcher Alle erfaßt waren. Unwillkürlich ward der Einzelne dadurch mit hingerissen. Er trat an ihn heran.
»Vater,« sprach er und seine Stimme zitterte, »ich habe gefehlt, aber Du beurtheilst mich zu hart!«
Der Förster schien ihn nicht zu hören, denn schweigend schritt er weiter.
»Vater,« wiederholte Kurt noch einmal, »sei nicht zu streng gegen mich!«
Der Förster antwortete nicht. Nicht einen Blick warf er auf den, der seine größte Lebensfreude, sein Stolz gewesen war. Verzweiflung würde ihn erfaßt haben, hätte er ihn als todt beweinen müssen, und doch wäre es vielleicht besser gewesen, noch leichter zu tragen, als diese Last der Schmach.
Sie langten im Försterhause an. Hierher war, noch keine Kunde von dem Unglücke, das die preußische Armee betroffen hatte, gedrungen.
Die Försterin und Lenore saßen im Wohnzimmer. Mit lautem Freudenruf sprangen sie auf, als sie Kurt erblickten. Sie eilten ihm entgegen, um ihn in ihre Arme zu schließen. Erschreckt blieben sie stehen, als er ihnen in keiner Weise entgegenkam, sondern beschämt die Augen auf die Erde heftete.
Erst jetzt bemerkte die Försterin den finstern Blick ihres Mannes, die Blässe, welche sein Gesicht bedeckte.
»Dommer, was ist geschehen?« rief sie bestürzt. »Was ist vorgefallen?«
»Frag' ihn selbst darum,« erwiderte der Förster, auf Kurt zeigend.
»Kurt, Kurt!« rief die Mutter mit wachsender Angst, »was hast Du begonnen?«
Er schwieg. Der Mutter hätte er sich ganz und offen mittheilen können, wie Alles ihm selbst nicht klar bewußt gekommen war, und sie würde ihn nicht falschverstanden, sie würde ihm verziehen haben. Die Gegenwart seines Vaters, dessen Blick er auf sich ruhen fühlte, hinderte ihn, ein Wort hervorzubringen.
»Kurt,« fuhr sie fort, indem sie seine Hand erfaßte und ihn fragend anblickte, »sprich, was ist geschehen? Um Gottes willen – quäle mich nicht länger!«
»Wir sind geschlagen!« erwiderte er kaum hörbar. Mehr vermochte er nicht hervorzubringen.
Eine schwere Last schien von der Brust der geängstigten Frau genommen zu sein.
»Geschlagen!« fiel der Förster ein. »Und weiter nichts! Oh, auch der Tapferste kann besiegt werden! Aber geschlagen sein und fliehen, kopflos, immer weiter und weiter, als ob jeder Baum zum Feinde würde, die Seinen im Stich und ihrem eigenen Schicksale überlassen, der erste von allen Flüchtigen zu sein – der erste – das kann nur ein Feigling!«
Kurt zuckte zusammen. Er richtete seine Gestalt, die halb gebrochen dagestanden, empor und blickte unwillig zu seinem Vater auf. Zu schwer wurde ihm der Vorwurf. Er traf auf ein Auge, das fest auf ihn gerichtet war und in dem er kein Mitleid las. Von keinem andern Menschen auf der Welt würde er dies Wort ertragen haben, denn von Feigheit wußte er sich frei. Aber er schwieg. Seine zusammengepreßten Lippen verriethen, wie schwer ihm das Schweigen wurde.
Weder die Försterin noch Lenore wagten ein Wort zu sprechen oder für Kurt einzulegen. Der Förster zögerte noch einen Augenblick, gleichsam als erwarte er, daß sein Sohn ihn der Unwahrheit zeihen sollte, dann trat er an die Wand und nahm seine Büchse herab. Mit ihr verließ er das Zimmer.
Er hatte das Pferd auf dem Hofe gelassen und mit herabhängendem Kopfe stand es da. Er trat zu ihm und fuhr ihm schmeichelnd mit der Hand über den Hals. Das Thier erkannte seinen alten Herrn und neues Leben schien es zu erfüllen. Es bog den Kopf nach ihm zur Seite.
Der Förster wandte sich ab. Die Anhänglichkeit des Thieres hätte ihn weich stimmen können, und er wollte sich durch nichts von dem einmal gefaßten Entschlusse abbringen lassen. Mit zitternder Hand nahm er ihm den Sattel und Mantelsack seines Sohnes ab.
Lenore trat in diesem Augenblick aus dem Hause und zu ihm. Sie schien sein Vorhaben errathen zu haben.
»Was willst Du beginnen, Vater?« fragte b ängstlich.
»Geh' in's Haus, Lenore,« erwiderte er.
»Nein,« rief sie. »Du willst das Pferd erschießen! Vater, Vater!«
»Ich will es thun,« gab er zur Antwort. »Es soll nie einen Flüchtigen wieder tragen, und ich ich mag es nicht wieder besteigen!«
»Laß das Thier leben,« bat sie.
»Es muß sterben,« erwiderte er ernst. »Geh in's Haus – geh' hinein!«
Langsam führte er das Thier vom Hofe.
Lenore wagte nicht mehr zu bitten. Der Ernst ihres Vaters hatte etwas Unheimliches, das sie früher nie bemerkt hatte.
Sie trat in's Zimmer zurück. Ihre Mutter saß neben dem Bruder und suchte ihn zu beruhigen und durch ihre Worte die Strenge des Vaters zu mildern. Ihr Herz empfand ja ganz anders als das ihres Mannes. Wohl begriff sie, daß er sich durch den Schrecken zu weit hatte hinreißen lassen, allein ihre Liebe vermochte sie deshalb nicht von ihm abzuwenden, und für sie war der Fehler dadurch ausgeglichen, daß sie ihn gesund neben sich sitzen sah. Wohl waren seine Wangen blaß und seine Kraft schien bis auf's äußerste erschöpft zu sein, allein dies war nur die Folge des anhaltenden Rittes, denn nicht einen Augenblick hatte er sich an diesem Tage Ruhe gegönnt.
Nur wenige Worte erwiderte Kurt auf ihre drängenden Fragen und Bitten.
Da fiel draußen im Walde, in geringer Entfernung vom Hause, ein Schuß.
Die Försterin sprang entsetzt empor. Ihr Mann hatte mit der Büchse das Haus verlassen – sie hatte seine Aufregung bemerkt – sie mußte sich am Stuhl halten, um nicht umzusinken.
»Kinder – um Gottes willen – der Vater!« rief sie.
Auch, Kurt war aufgesprungen.
»Er hat das Pferd erschossen!« sprach Lenore.
Die Försterin vermochte sich von ihrem Schrecken nicht sofort zu erholen. Erschöpft sank sie auf den Stuhl nieder.
Kurt bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Er kannte den Beweggrund seines Vaters, der ihn zu dieser That getrieben. Weil er das Pferd für entehrt hielt, deshalb hatte er es getödtet. So schlimm dachte er über ihn. Er hätte forteilen und das Vaterhaus für immer verlassen mögen. Seine Matter und Schwester hielten ihn zurück. Ihnen durfte er diesen Schmerz nicht bereiten.
Der Förster trat wieder in das Zimmer. Er schien noch blässer als vorher zu sein. Die Büchse hing er an der Wand wieder auf und schritt im Zimmer auf und ab. Keinen Blick warf er auf den Sohn. Endlich blieb er vor ihm stehen.
»Was willst Du nun beginnen?« fragte er.
»Ich werde nach Magdeburg eilen – dort sollen wir uns wieder sammeln,« erwiderte Kurt.
»Gut,« fuhr sein Vater fort. »Dein Pferd ist wieder hergestellt. Morgen kannst Du fortreisen. Diese Nacht kannst Du hier bleiben, Du hast nicht zu befürchten, daß der Feind sogleich hierher kommen wird!«
Kurt sprang auf. Es war zu viel für ihn er konnte es nicht mehr ertragen. Jedes Wort seines Vaters hatte ihn bis jetzt noch wie ein schwerer Schlag getroffen.
»Nein, sogleich werde ich fortreiten!« rief er, außer Stande, sich länger zu beherrschen. »Nicht weil ich Furcht habe, sondern weil ich bereits genug über meine That gehört habe. Mehr kann und will ich nicht ertragen.«
Er wandte sich der Thür zu.
Seine Mutter hielt ihn zurück.
»Kurt, Kurt!« rief sie. »Du darfst nicht fort – heute nicht – Du mußt Dich erholen!«
»Laß mich, Mutter,« bat er, sie sanft zurückdrängend – »es ist besser für uns Alle!«
Mit beiden Händen umklammerte ihn die Frau und hielt ihn fest. Vergebens beschwor sie ihn zu bleiben, er bestand auf seinem Entschlusse.
»Dommer,« wandte sie sich in der Aufregung der Angst an ihren Mann. »Nimm Dein Wort zurück und sage ihm, daß er bleiben möge!«
»Ich habe ihm keine Vorschriften mehr zu machen,« erwiderte der Förster, »und nehme auch nichts zurück!«
Kurt drängte die Mutter zurück und stürzte aus dem Zimmer. Die Mutter und Schwester folgten ihm.
Taub gegen ihre Bitten, zog er sein Pferd aus dem Stalle und legte den Sattel auf. Noch einmal umklammerte ihn seine Mutter und bat ihn zu bleiben.
»Mutter,« sprach er bewegt. »Bitte mich nicht. Der Vater ist zu hart – bis zum Aeußersten habe ich mit mir gekämpft und mich beherrscht – laß mich fort – ich darf nicht bleiben!«
»So reite zu Maria und bleibe bei ihr bis morgen,« bat Lenore.
Er schüttelte mit dem Kopfe.
»Nein – nein – grüße sie!« rief er.
Stürmisch preßte er Mutter und Schwester noch einmal an's Herz, schwang sich dann auf's Pferd und sprengte fort.
Der Abend war dunkel, der Weg im Walde kaum zu erkennen. Allein er kannte ihn, mit verbundenen Augen würde er ihn gefunden haben, denn hier war ja der Spielplatz seiner Kindheit, und kein Baum, kein Stein war ihm fremd.
Und wenn er gestürzt wäre, wenn er sein Leben eingebüßt hätte, ihm wäre es gleichgiltig gewesen, so sehr war es ihm in dieser Stunde zur Last. Laut aufschreien hätte er mögen vor Schmerz, daß er so aus dem Vaterhause hatte scheiden müssen, und ein Bangen erfaßte ihn, daß vielleicht lange – lange Zeit entschwinden werde, ehe er diese Gegend wieder betrete – vielleicht nie wieder. –
Mit vielleicht noch schwererem Herzen schritt während dessen der Förster in dem Zimmer auf und ab. Er konnte nicht anders handeln, weil die Ehre des Mannes ihm am höchsten galt, und seine Ehre hatte sein Sohn vergessen. Er mußte streng gegen ihn sein, und dennoch schlich sich der Wunsch in sein Herz, daß Kurt nicht fortreiten, daß er die Nacht hier bleiben, daß er wieder zu ihm treten und ihm die Hand entgegenstrecken möge – er blieb ja doch immer sein Sohn.
Dieser Wunsch wuchs zur Hoffnung heran, er stand still, um zu lauschen, ob er nicht komme, als er ihn aber gleich darauf vom Hofe sprengen hörte, warf er sich auf einen Stuhl, denn auch er fühlte seine Kräfte schwinden. Es war eine Scheidewand zwischen ihm und seinem Sohne aufgerichtet, und wer konnte wissen, wie hoch dieselbe heranwuchs, vielleicht war sie nie ganz wieder zu vernichten!
Laut weinend traten seine Frau und Lenore wieder in das Zimmer. Die erstere machte ihm Vorwürfe über seine Härte.
»Laß mich allein,« bat er. Seine Stimme klang weicher als vorher.
Stunden lang schritt er noch im Zimmer umher, als er wieder allein war. So erschöpft er auch war, so fand er doch keine Ruhe. Unwillkürlich folgten seine Gedanken dem, der allein durch die Berge hinritt gen Magdeburg. –
Früh am andern Morgen, nach einer schlaflos durchwachten Nacht, verließ der Förster sein Haus, ohne seine Frau und Tochter vorher gesprochen zu haben. Zu dem von Ilfeld durch den Harz führenden Weg eilte er, um sich aus dem Zustande der fliehenden Soldaten zu überzeugen, ob die Bestürzung eine so allgemeine und große sei, wie Kurt ihm angegeben hatte. Noch ein anderer Gedanke trieb ihn dorthin.
Fast unmittelbar hinter Ilfeld wurden die über den Harz führenden Wege, welche noch keine Aehnlichkeit mit den jetzigen dort durchführenden bequemen Straßen hatten, so schwer zu passiren, sie waren an vielen Stellen von hohen, unerklimmbaren Felsenmassen so eng eingeschlossen, daß wenige Hundert Mann ausreichten, um mit Erfolg einer großen Heeresmacht hier Widerstand zu leisten.
Dommer lebte der festen Ueberzeugung, daß die Fliehenden sich in diesen Engpässen festsetzen würden, um dem verfolgenden Feind entgegen zu treten und für die Ihrigen Zeit zu gewinnen, sich wieder zu sammeln. Seine Unterstützung wollte er anbieten, denn in dieser Gegend war kaum ein zweiter Mensch zu finden, der jeden Weg so genau kannte wie er.
In all' seinen Erwartungen und Hoffnungen wurde er getäuscht. Schon während der Nacht waren zahlreiche Züge fliehender preußischer Cavalerie durchgekommen. Bauern mit Fackeln und Laternen hatten ihnen den Weg zeigen und vorausleuchten müssen, und sie hatten sich nicht einmal so viel Zeit genommen, um für sich und ihre erschöpften Thiere etwas Nahrung zu verlangen.
Erst am Morgen kam die erste flüchtige Infanterie mit Cavalerie gemischt. Keine Spur von Ordnung und Zusammenhalten war mehr zu bemerken. Gingen zehn Soldaten zusammen, so waren sie zum wenigsten von fünf verschiedenen Regimentern.
Manche von den fliehenden Soldaten waren lustig und spotteten in ausgelassenster Weise über das Unglück, welches sie betroffen hatte. Die meisten waren schwer niedergedrückt, vom Hunger und Laufen bis zum Umsinken erschöpft. Mit dumpfer Abgestumpftheit, den starren Blick theilnahmlos auf den Weg geheftet, schwankten sie stolpernd weiter. Sie hatten nicht einmal mehr den Muth, in den Dörfern, durch welche sie kamen, um etwas Nahrung zu bitten.
Am schmachvollsten war die Flucht der Officiere. Fast alle Infanterieofficiere hatten sich beritten zu machen gewußt und waren die ersten unter den Fliehenden. In feigster Weise hatten sie ihre Regimenter verlassen, mit Hast sprengten sie an der Infanterie vorbei, und wenn sie von ihren Soldaten erkannt und angerufen wurden, verdoppelten sie ihre Eile, ohne nur einen Blick auf die Rufenden zu werfen. Eine grenzenlose Furcht hatte sie erfaßt, und sie waren nur von dem einen Gedanken erfüllt, ihr kostbares Leben in Sicherheit zu bringen.
Die Feigheit und unsinnige Flucht der Officiere wirkte auf die Soldaten zurück. Sie sahen sich von denselben in feigster Weise verlassen und gaben daher Alles verloren. Es war kaum je zuvor der Rest eines Heeres in so schmachvoller Weise geflohen. Die meisten Soldaten verkauften ihre Waffen, und ein Gewehr oder Cavaleriesäbel war für zwei bis vier Groschen zu haben, ein Pferd für zwei bis drei Thaler.
Oft, wenn sich zufällig die Nachricht verbreitete, der Feind komme, so setzte sich der ganze Zug der Fliehenden in Galopp, wobei sie Waffen und Bagage von sich warfen. Viele Cavaleristen sprangen von ihren ermüdeten Pferden, ließen dieselben laufen, wohin sie wollten, und setzten zu Fuß ihre Flucht fort. Das währte so lange, bis nach einiger Zeit einige der letzten so viel Muth fanden, sich umzusehen, und gewahr wurden, daß kein Feind zu sehen war. Erst zwei Tage später kamen die ersten verfolgenden Franzosen in diese Gegend. Einen solchen schmachvollen Zustand des flüchtigen preußischen Heeres hatte Dommer für unmöglich gehalten. Vergebens hatte er sich an mehrere hochgestellte Officiere gewandt und ihnen vorgestellt, wie leicht sie zwischen den Bergen sich sammeln und dem nachfolgenden Feinde Widerstand entgegensetzen könnten – er hatte bei keinem einzigen Gehör gefunden. Schon das Wort Widerstand und Feind trieb sie zur schnelleren Flucht an.
Jetzt erst erkannte er, daß er seinen Sohn zu streng beurtheilt, daß er ihm Unrecht gethan hatte. Dieser Gedanke drückte ihn schwer nieder. Dazu kam die Besorgniß um sein Vaterland. Erst von den Flüchtigen hatte er Näheres über die doppelte Niederlage der Preußen bei Jena und Auerstädt erfahren. Die Kraft des preußischen Heeres war gebrochen, seine moralische Macht vernichtet. Kaum noch einen schwachen Widerstand konnte es dem vordringenden Sieger entgegensetzen.
Die Franzosen selbst erschienen erst am Sonnabend in Ilfeld, und um was die flüchtigen Preußen nicht einmal zu bitten gewagt hatten, nahmen sie mit Gewalt. Viele Einwohner flohen mit den Ihrigen und einem Theil ihrer Habe in den nahen Wald. Die Franzosen quartierten sich in den Häusern ein, benutzten die unteren Zimmer als Pferdeställe und sahen Alles als ihr Eigenthum an. Sie behandelten die Einwohner mit der ganzen Rohheit übermüthiger Sieger.
Sie hatten das ganze preußische Heer in muthlosester Weise fliehen sehen, ein einziger Chasseur hatte oft fünfzig flüchtige Preußen ohne Gegenwehr zu Gefangenen gemacht. Dennoch zögerten sie, von Ilfeld aus den Preußen zwischen die Berge zu folgen, weil sie dort Widerstand fürchteten. Sogleich hinter Ilfeld, auf dem Wege nach Hasselfelde, auf dem die Preußen nach Magdeburg zu geflohen waren, begann ein Defilé, das mit hundert Mann gegen Tausende vertheidigt werden konnte. Oft kaum zehn Schritt breit, war es zu beiden Seiten von unersteiglichen, mit dichter Waldung bedeckten Bergen und Felsen eingefaßt. Der schmale Weg führte oft über Abgründe, welche nur durch darüber gelegte Balken und Bretter verbunden waren, allein die Fliehenden hatten sich nicht einmal die Mühe genommen, diese leicht zerstörbaren Uebergänge zu vernichten, um den Verfolgern den Weg abzuschneiden.
Dazu kam noch, daß der Weg von Ilfeld nach Hasselfelde so schwer zu finden war, daß selbst die Postillone sich öfter auf ihm verirrten und im Ganzen nur wenige mit der Gegend vertraute Männer ihn sicher kannten.
Jede durchziehende Abtheilung der verfolgenden Franzosen nahm sich deshalb einen Führer mit. Die Meisten wurden mit Gewalt zu diesem Dienste gezwungen und mußten die Franzosen oft Tage lang begleiten, während sie obendrein noch in der rohesten Weise gemißhandelt wurden.
Auffallender Weise war der Hauptmann mit den Franzosen sogleich in den vertrautesten Verkehr getreten, und der Verdacht, daß er schon früher ein französischer Spion gewesen sei, fand dadurch neue Bestätigung. Seine Wohnung wurde von den Franzosen verschont, er zechte mit den Officieren und verrieth ihnen auch die meisten Männer, welche als Führer zu benutzen waren.
Ohne Furcht vor dem Feinde war Dommer am Sonnabend Nachmittag nach Ilfeld gegangen. Er hatte die fliehenden Preußen gesehen und wollte nun auch die Franzosen beobachten, gleichsam um aus ihrem Auftreten und Benehmen das Geschick Deutschlands errathen zu können.
Eine neue Abtheilung Chasseurs war in Ilfeld angekommen und wollte nach kurzer Rast noch an diesem Tage, obschon der Abend bereits nahete, wieder aufbrechen zur Verfolgung. Vergebens verlangten sie nach einem Führer. Fast alle Männer des kleinen Ortes, welche sich nicht in den Wald geflüchtet hatten, waren bereits zu diesem Dienste verwendet.
Der Förster wollte sich entfernen, weil er befürchtete, daß auch an ihn eine solche Aufforderung gestellt werden könne, da bemerkte er den Hauptmann in der Mitte der Franzosen. Auch jener mußte ihn erblickt haben, denn er sah, wie er hastig mit einigen französischen Officieren sprach und mit der Hand auf ihn deutete.
Gleich darauf sprengten zwei Chasseurs an ihn heran und befahlen ihm, ihnen den Weg nach Hasselfelde zu zeigen. Er erbleichte. Schneller als er geahnt hatte, war seine Befürchtung eingetroffen.
In der peinlichsten Lage war er, denn er konnte nicht in Abrede stellen, daß ihm der Weg genau bekannt war, und eben so wenig mochte er ihrem Befehle nachkommen.
»Macht Euch fertig!« rief der eine der Chasseurs. »Denn wir werden sogleich aufbrechen!«
Der Förster weigerte sich unerschrocken. Er war fest entschlossen, es bis zum Aeußersten kommen zu lassen.
Lachend nahmen die Chasseurs des Försters Weigerung auf und theilten sie mehreren ihrer Kameraden, welche dazu kamen, mit. Auch diese lachten. So thöricht erschien ihnen die Weigerung eines Mannes, den sie vollständig in ihrer Gewalt hatten.
»Und weshalb wollt Ihr uns den Weg nicht zeigen?« wandte sich ein Officier fragend an ihn.
Der Förster antwortete nicht. Als die Frage indeß drohend noch einmal wiederholt wurde, erwiderte er fest, daß er nie dem Feinde feines Vaterlandes dienen werde.
Ein Säbelhieb, den er über den Kopf erhielt, war die Antwort. Er schwankte, allein gewaltsam raffte er sich zusammen und griff nach der Büchse, welche er um die Schulter hängen hatte. Mit seinem Leben sollte der Franzose den Schlag bezahlen.
Ehe er indeß die Büchse noch gespannt hatte, war er bereits von mehreren Armen zu Boden geworfen. Die Büchse und der Hirschfänger wurden ihm entrissen. Mit der Kraft der Verzweiflung rang er mit seinen Gegnern, bis er der Uebermacht erliegen mußte. Das Leben hatte keinen Werth mehr für ihn.
Die Arme wurden ihm gebunden, dann mißhandelte man ihn auf das roheste. Kein Laut kam über seine Lippen, die er fest zusammengepreßt hatte. Seine starke Gestalt zitterte. Der Säbelhieb, den er über den Kopf erhalten hatte, war durch seine Mütze geschwächt, trotzdem rann ihm das Blut langsam am Halse nieder. Sein Auge blickte finster und unbeugsam. Er erwartete den Tod und wollte dem Feinde zeigen, daß er ohne ein Zucken des Augenlides sterben könne.
Nur für einen Augenblick verlor er die Selbstbeherrschung, als er den Blick zur Seite warf und in das spöttisch lächelnde Gesicht des Hauptmanns blickte. Gewaltsam riß er an der Fessel, welche seine Arme gebunden hielt. Sie war zu stark. Er empfand die Schmerzen des Hiebes und der Mißhandlung kaum – dieser Blick des Hauptmanns war ihm unerträglich.
Die Chasseurs dachten nicht daran, ihm das Leben zu nehmen, sondern bestanden darauf, daß er ihnen den Weg nach Hasselfelde zeigen sollte.
Wieder flüsterte Hellborn mit den Officieren.
Der Förster verstand seine Worte nicht, allein er errieth sie, als einer der Officiere rief: »O, es giebt noch Mittel, den Trotzkopf zu beugen. Diese Kugel schieße ich ihm durch den Kopf, sobald er uns nur einen Schritt breit vom rechten Wege abführt!«
Er trat dicht an ihn heran und hielt ihm ein gespanntes Pistol entgegen.
Ohne Zucken blickte der Förster in den Lauf. Ohne Widerstreben duldete er, daß er an den Steigbügel eines Pferdes gebunden wurde, um ihm jeden Fluchtversuch abzuschneiden, und erwiderte nicht ein Wort, als einer der Officiere ihm noch einmal drohte, ihn bei dem geringsten Versuche, zu fliehen oder sie auf einen falschen Weg zu leiten, niederzuschießen.
Er schien sich in sein Geschick ergeben zu haben.
Selbst als der Hauptmann zu ihm trat und mit höhnenden Worten ihn bedauerte, daß er selbst durch seine Weigerung sich in eine so unangenehme Lage gebracht habe, blieb er ruhig, so wild es auch in ihm stürmte. Der Zug setzte sich in Bewegung.
An dem Pferde des ersten Chasseurs schritt der Förster. Eine Laterne war ihm umgehängt, um für die Nacht zu dienen, denn sie wollten die Nacht durchmarschiren. Von Hellborn hatten sie erfahren, daß sie einen Widerstand der Preußen nicht zu befürchten hätten.
Mit Mühe hielt der Förster, dessen Kräfte erschöpft waren, neben dem Pferde Schritt. Mit Gewalt nahm er sich indeß zusammen, um keine Schwäche zu zeigen. Er hörte, wie die Franzosen über die Feigheit des preußischen Heeres scherzten und offen ihr Erstaunen aussprachen, daß sie in diesen Schluchten keinen Widerstand fanden. Er schwieg. Ein finsterer Plan beschäftigte ihn und wuchs zum festen Entschlusse heran, obschon er noch keine Möglichkeit der Ausführung sah. Auf einen falschen Weg wollte er die Feinde führen, wo möglich in's Verderben. Wohl mußte er sich selbst gestehen, daß er den Verfolgten kaum einen Nutzen dadurch bringen würde, aber sein eigener Haß, das Verlangen, sich an denen zu rächen, die ihn mißhandelt hatten, trieb ihn dazu. Er war darauf vorbereitet, die Ausführung seines Planes mit dem Leben zu bezahlen.
Wohl dachte er an die Seinen, und ein schmerzliches Gefühl erfüllte ihn. Es wog in diesem Augenblicke geringer, als sein Verlangen nach Rache.
Dunkler und dunkler war es in dem Walde geworden. Die Laterne, welche er trug, war angezündet; ihr Schein zeigte nur den ihm zunächst Folgenden den Weg, die übrigen mußten sich auf den Instinct ihrer Pferde verlassen.
Er selbst bedurfte des Lichtes nicht. Ihm war jeder Weg bekannt und sein Auge auch an die Dunkelheit gewöhnt.
Wilder und beschwerlicher wurde der Weg. Schon waren sie über mehrere Abgründe, über welche nur lockere Holzbrücken führten, mit Lebensgefahr geritten. Der Förster wurde williger, machte sie auf die gefährlichsten Stellen aufmerksam und stand mehrere Male still, um den Folgenden zu leuchten. Seine Absicht gelang. Die Chasseurs glaubten, daß er endlich sich in das Unvermeidliche gefügt habe, und behandelten ihn milder, obschon sie die Fesseln seiner Arme nicht lösten. Er mochte sie auch nicht darum bitten, um kein Mißtrauen zu erregen.
Endlich gelangten sie an eine Theilung des Weges. Schon längst hatte er diese Stelle in Gedanken bestimmt, um den rechten Weg zu verlassen. Sein Herz schlug schneller. Er wußte, daß es ihm das Leben kosten werde, wenn sein Vorhaben entdeckt wurde. Freilich kannte den rechten Weg keiner von Allen und das Mißtrauen gegen seine Führung war zum Theil bereits geschwunden.
Ohne daß einem einzigen von Allen die Abbiegung von dem rechten Wege aufgefallen wäre, folgten sie ihm. Freilich lief der Nebenweg anfangs ziemlich bequem und erst nach einiger Zeit wuchsen die Schwierigkeiten. Er wurde enger und enger, so daß nur zwei neben einander reiten konnten.
Die Franzosen schimpften über den schlechten Weg, aber auch jetzt noch wußte er jeden Verdacht von ihnen fern zu halten und machte sie an mehreren gefährlichen Stellen vorher aufmerksam.
Immer noch war der Ort zur Ausführung seines Planes nicht gekommen. Aber er kannte die Entfernung genau und setzte sich mehr und mehr dazu in Bereitschaft. Eine Stelle hatte er dazu bestimmt, wo ein hölzerner Steg über einen tiefen Abgrund führte. Wohl war derselbe breit genug, um über ihn reiten und fahren zu können, allein seit Jahren war er bereits nicht mehr benutzt, weil er zu unsicher war. Das Gebälk war vermodert, und nur selten wagte sich noch ein Jäger oder Holzhauer darüber. Hier wollte er zu fliehen versuchen, und gelang ihm dies nicht, so war er entschlossen, einige der Feinde mit sich in sicheres Verderben zu stürzen. Er wußte zu genau, daß der Steg keinen Reiter mehr trug.
Näher und näher kam er dieser Stelle. Sein Herz schlug hörbar laut. Die Aufregung scheuchte jede Abspannung und Schwäche von ihm. Der Augenblick, der über sein Leben entscheiden mußte, war nahe.
Unbemerkt versuchte er sich von der Fessel, welche seine Arme hielt, zu befreien. Alle Kraft wandte er an, und er fühlte zuletzt, wie sie lockerer und lockerer wurde. Ganz durfte er sie noch nicht lösen.
Schon sah er bei dem Scheine des Lichtes den Steg. Unwillkürlich ging er etwas hastiger. Der Chasseur, an dessen Steigbügel er gebunden war, bemerkte es nicht. Noch wenige Schritte, und er befand sich unmittelbar vor dem Stege.
Seine letzte Kraft – die Kraft der Verzweiflung – wandte er an, sich von der Fessel zu befreien. Es gelang ihm, sein rechter Arm wurde frei. In demselben Augenblicke erfaßte er die Laterne, die an seinem Halse hing, riß sie herab und schleuderte sie dem Chasseur an seiner Seite in's Gesicht. Klirrend zerbrach sie. Die durch das Unerwartete und die plötzlich eintretende Dunkelheit hervorgerufene Verwirrung mußte er benutzen.
Ein Wuthschrei wurde zugleich von vielen Kehlen ausgerufen. Noch einmal nahm er seine Kräfte zusammen, zerriß den Strick, mit dem er an das Pferd gebunden war, und mit wenigen Sprüngen war er über die halbverfaulte Brücke.
Er fühlte sie unter sich schwanken. Mehrere Schüsse wurden ihm nachgesandt. Da vernahm er ein lautes Krachen und dazwischen hindurch ertönte ein gellender Aufschrei. Die Stille des Schreckens herrschte einige Augenblicke, dann hörte er das Anschlagen der zerbrochenen Balken an den vorspringenden Felsen und gleich darauf von tief unten herauf einen dumpfen, schweren Fall.
Unwillkürlich zuckte er zusammen. Er wußte, was geschehen war. Zwei der Chasseurs hatten ihm nachsprengen wollen, und der Steg war unter ihnen zusammengebrochen.
Auf dem jenseitigen Ufer des Abgrundes entstand ein lauter, wilder Lärm. Verwünschungen wurden ihm nachgerufen, dann hörte er laut die Namen der Hinabgestürzten von ihren Kameraden rufen – unten in dem Abgrunde blieb Alles still, kein Laut tönte herauf. Er kannte die Tiefe und wußte nur zu sicher, wie rettungslos die Hinabgefallenen verloren waren.
Er selbst war jetzt in Sicherheit. Von den Feinden vermochte ihm Niemand zu folgen. Selbst ihre Kugeln konnten ihn nicht mehr treffen, da er durch einen Felsen geschützt war. Ein heftiges Zittern überfiel ihn. Jetzt, wo er Alles glücklich überstanden hatte, trat ihm die Größe der Gefahr, in der er sich befunden, erst deutlich vor die Seele. Mehr und mehr fühlte er seine Kräfte schwinden, welche die Aufregung bis dahin zusammen gehalten hatte.
Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, die Wunde an seinem Kopfe brannte, die Stirn glühte. Schon fühlte er das Wundfieber sich einstellen. Auf einen Stein hatte er sich niedergelassen, um auszuruhen, aufgeregt sprang er wieder auf. Wenn die Kräfte ihn verließen, wenn er niedersank, hier war er auch verloren. Wochen konnten vergehen, ehe der Fuß eines Menschen hierherkam. Und dann dachte er an die Seinen, an die Angst, welche sie seinetwegen ausstanden, an die Gefahr, wenn die irregeleiteten Franzosen nach Ilfeld zurückkehrten und dort erfuhren, wer ihre Kameraden in das Verderben gestürzt. Nur zu sicher konnte er annehmen, daß sie, wenn sie ihn nicht fanden, an den Seinen ihre Rache ausüben würden. Das durfte nicht sein. Er mußte sie retten und schützen.
Die Angst verlieh ihm neue Kräfte und trieb ihn fort. Stunden weit war er von seiner Wohnung entfernt – er dachte nicht an die Entfernung. So lange mußte sein Körper noch aushalten, dann mochte er zusammenbrechen. Wenn er zum wenigsten nur einen häufiger betretenen Pfad erreichte, wo er hoffen durfte, von Menschen aufgefunden zu werden.
Dies gelang ihm, nun waren indeß seine Kräfte auch erschöpft. Eine gegen die kalte Nachtluft geschützte Stelle wollte er sich aussuchen, da sank er bewußtlos nieder.
Der Morgen war längst hereingebrochen. Es war einer jener ruhigen, stillen Herbstmorgen, in denen die erste Vorbereitung der Natur für den Winter nicht zu verkennen ist. Die Nacht war kühl gewesen. Der Nebel, welcher sich gegen Morgen eingestellt hatte, ward von der höher und höher steigenden Sonne von den Bergen und Hochebenen in die bewaldeten Thäler zurückgedrängt und auch hier schwand er mehr und mehr. In wundervoller Reinheit wölbte sich der Himmel über der Erde und die Luft war durchsichtig klar. Man muß solche Morgen selbst auf dem Harze verlebt haben, um ihre ganze Schönheit begreifen zu können.
Die fernen Berggipfel scheinen näher gerückt zu sein, weil das Auge sie deutlicher sieht, und die Spuren des Herbstes, welcher in der Ebene, auf den Feldern und Wiesen eine gewisse Eintönigkeit hervorgerufen hat, sind hier noch weniger zu bemerken, denn die Nadelhölzer stehen in unwandelbarer Frische da, das Moos an den Felsen ist noch in vollem Grün und die Herbstblumen blühen hier noch.
Gleichgiltig gegen die Naturschönheiten ringsum schritt ein Mann durch den Tannenforst dahin. Er war in einen Mantel gehüllt und hatte den Hut tief auf die Stirn herabgezogen. Es war eine große, lange Gestalt. Das Auge meist starr auf den Weg geheftet, ließ er es nur dann und wann über die Gegend hinschweifen, aber nicht um es an deren Schönheit zu erfreuen, sondern um zu beobachten.
Was kümmerten ihn die Felsen, die dichter und höher an der einen Seite des Weges sich aufthürmten, er verwünschte sie nur, weil durch sie die fortwährenden Krümmungen des steil aufführenden Weges hervorgerufen wurden.
Rastlos schritt er weiter. Plötzlich blieb er überrascht stehen. Sein Blick war zur Seite gewendet. Dort lag dicht am Felsen scheinbar todt ein Mann. Das Gesicht desselben war mit Blut bedeckt, der Kopf ohne Bedeckung – es war Dommer. Regungslos lag er da.
Ueber das Gesicht des kaum zwei Schritte von ihm entfernt stehenden Mannes glitt ein höhnendes Lächeln. Er kannte den Daliegenden. Ob er todt war! Kein Lebenszeichen war an ihm zu bemerken.
Hastig trat er an den Bewußtlosen heran. Er beugte sich über ihn und lauschte vergebens, ob er keinen Athemzug höre. Mit der Hand fuhr er über die Stirn des Försters. Die war kalt, allein dies konnte auch die Folge der kalten Nachtluft sein. Die matt herabhängende Hand des Daliegenden erfaßte er, um nach dem Pulse zu fühlen – da regte sich der Förster.
Er schlug die Augen auf, und erschreckt, starr blickten sie in das höhnend verzerrte Gesicht des Hauptmanns.
Fest ruhten die Augen der beiden Männer in einander. Zum ersten Male aus seiner Bewußtlosigkeit erwachend, wußte Dommer nicht, ob er nur ein Traumbild seiner aufgeregten Phantasie erblickte. Allmälig – langsam tauchte die Erinnerung an die Vorgänge der vergangenen Nacht in ihm auf. Er wollte sich emporrichten, da griff der Hauptmann rasch mit der Rechten unter seinen Mantel, um einen Gegenstand hervorzuziehen. Sein Auge glühte unheimlich – in diesem Augenblicke wurde ein Geräusch in der Nähe hörbar. Erschreckt blickte der Hauptmann sich um, dann richtete er sich hastig mit einem halb unterdrückten Fluche auf und sprang fort, zwischen den Felsen verschwindend.
Dies Alles war in wenigen Minuten geschehen. Immer noch schien der Förster zu glauben, daß er nur geträumt habe, und er schloß die Augen, um dies schreckliche Bild, um das höhnende Gesicht des Hauptmanns nicht mehr zu erblicken. Da hörte er dicht neben sich laut seinen Namen rufen. Er blickte wieder auf und sein Jäger stand dicht neben ihm.
»Allmächtiger Gott, Herr Förster, was ist geschehen?« rief derselbe bestürzt.
Dommer richtete sich langsam und mühsam etwas empor und sein Auge fuhr suchend umher.
»Hast Du den Hauptmann gesehen?« fragte er. »Er war hier, er beugte sich über mich.«
»Ja – er stand neben Ihnen, als ich um den Felsen bog,« erwiderte der Jäger. »Er floh, als er mich erblickte – was ist mit Ihnen geschehen?«
Der Verwundete hörte diese Frage nicht.
»Er ist geflohen, sagst Du?« fuhr er fort.
»Dort hinter die Felsen ist er gesprungen? Sieh nach – ob er nicht mehr dort ist, ob er nicht zurückkommt – nur jetzt nicht!«
»Er ist fort,« versicherte der Jäger. »Ich habe ihn den Berg hinaufeilen sehen. Was haben Sie mit ihm gehabt? – Er hat Sie verwundet?«
»Nein – nein,« entgegnete Dommer. »Er nicht – es ist nichts – nichts! Woher kommst Du?«
»Von Haus,« gab der Jäger zur Antwort. »Ihre Frau ängstigte sich, weil Sie während der Nacht nicht heimgekehrt waren – sie schickte mich fort, um Sie zu suchen. Nur ein glücklicher Zufall hat mich hierher geführt …«
»Und sind die Franzosen in meinem Hause gewesen?« unterbrach ihn der Förster. »Diese Nacht – heute Morgen – –?«
»Nein,« entgegnete der Jäger, der diese Frage nicht begriff. »Niemand ist dort gewesen.«
»Aber sie werden kommen,« fuhr Dommer aufgeregt fort. »Sie werden Rache nehmen! Ich muß sie schützen – führe mich heim – unterstütze mich – der Blutverlust – ich – ich – –!«
Er versuchte während dieser Worte aufzustehen, sank indeß erschöpft zurück.
Besorgt kniete der Jäger neben dem Verwundeten nieder. Die Hitze, welche die Stirn desselben wieder röthete, verrieth ihm die Gefährlichkeit der Wunde. Zu einer nahen Quelle eilte er, tauchte sein Schnupftuch hinein und legte es dem Förster auf die Wunde und die Stirn. Einige Tropfen Branntwein aus seiner Flasche flößte er ihm dann ein.
Es schien ihm wohl zu thun.
»Bring' mich nach Haus,« sprach er mit matter Stimme. »Es wird jetzt gehen – ich fühle mich kräftiger.«
Auf's Neue versuchte er sich empor zu richten, sank indeß, trotz der Unterstützung des Jägers, wieder zurück.
Rathlos stand dieser neben ihm. Er vermochte den Verwundeten nicht fortzuschaffen, und auch allein konnte er ihn nicht lassen, um Hilfe herbeizuholen.
Die Brust des Försters holte schwer Athem. Die Angst um die Seinen und das Gefühl seiner Ohnmacht quälte ihn. Vergebens suchte er die brennenden Schmerzen seines Kopfes zu überwinden und seine Kräfte gewaltsam zusammenzuraffen.
»Hole Hilfe!« sprach er halb flüsternd. »Eile – ich muß nach Haus – meine Frau – Lenore – –«
Er war selbst zu schwach, seine Worte zu vollenden.
Zögernd stand der Jäger da. Er wagte nicht, ihn zu verlassen. Da kamen zwei Holzhauer auf dem Wege daher. Eilig winkte er sie herbei. Sie kannten den Förster und waren um so schneller zur Hilfe bereit.
Aus mehreren jungen Tannenstämmen fertigten sie schnell eine Bahre. Des Försters Ungeduld trieb sie zur Eile. Mit Tannenreisern wurde die Bahre bedeckt und dann der Verwundete auf sie gelegt.
Es war ein hartes, qualvolles Lager. Jeder Schritt seiner Träger erschütterte schmerzvoll seinen Kopf, allein kein Laut kam über seine Lippen, die er fest zusammengepreßt hielt.
Erst als sie sich dem Försterhause näherten, bat er den neben ihm gehenden Jäger, voraus zu eilen, um seine Frau und Tochter vorzubereiten.
Lenore kam ihm schon im Walde entgegengestürzt und beugte sich laut schluchzend über ihn. Er erfaßte ihre Hand und hielt sie fest. Auf ihre Fragen antwortete er nur mit mattem Kopfschütteln. Noch erschreckter empfing ihn seine Frau.
Ohne Zögern wurde er in ein Bett geschafft und sofort ein Bote zum Arzte geschickt. Das Wundfieber trat mit erneuter Heftigkeit auf, und noch hatte er zu den Seinigen kein Wort zu sprechen vermocht, als er schon wieder in bewußtlosem Zustande da lag.
Erst durch den Arzt erfuhren sie, daß er von den Franzosen verwundet worden war, weil er sich geweigert hatte, sie nach Hasselfelde zu führen, und daß er dennoch mit Gewalt zu diesem Dienste gezwungen worden sei. Noch blieb es ihnen ein Räthsel, wie es ihm gelungen war, so schnell sich von dem Feinde loszumachen, denn die von ihm irre geleiteten Chasseurs waren nicht nach Ilfeld zurückgekehrt, sondern hatten einen Holzhauer im Walde aufgegriffen und denselben gezwungen, ihnen den Weg nach Hasselfelde zu zeigen.
Das Geschick Preußens vollendete sich mit reißender Schnelligkeit. Einmal herabgestürzt von der Höhe, auf die es der Uebermuth des Adels und des Heeres gestellt hatte, machte es auch nicht einmal mehr einen Versuch, sich aufzuraffen und dem Sturze Einhalt zu thun. Preußens Heer war bei Jena und Auerstädt geschlagen, seine Macht hatte einen schweren Stoß erhalten, war indeß durchaus noch nicht gebrochen. Allein sein Muth, seine moralische Kraft waren vernichtet. Wie die Officiere und höchsten Kreise sich vor der Schlacht für unüberwindlich gehalten und die Macht des Feindes zu gering geachtet hatten, so verzweifelten sie jetzt an ihrer eigenen Kraft.
Nicht darin liegt die Schmach für einen Staat, daß er durch einen mächtigeren Feind überwunden wird, sondern darin, daß er sich für verloren giebt, ohne alle Kräfte zur Gegenwehr zusammengerafft zu haben.
Auch Blücher, der sich mit seiner Heeresabtheilung muthig bis Lübeck durchgeschlagen hatte, mußte dort der Uebermacht unterliegen und sich ergeben, allein er that es nur nach der tapfersten Gegenwehr und gleichsam wie ein trotziger, grollender Löwe, denn als er bei Rattau die Waffen strecken mußte, schrieb er unter den Vertrag: »Ich capitulire, weil ich kein Brod und keine Munition habe.« Nur die Commandanten dreier preußischen Festungen, die von Graudenz, Pillau und Cosel, handelten in demselben Geiste, alle übrigen Festungen ergaben sich in der schmachvollsten Weise.
Erfurt übergab eine Besatzung von 14,000 Mann an wenige Tausend Franzosen, in Hameln steckte der Commandant Schöler an der Spitze von 10,000 Mann, durch die Wälle der starken Festung geborgen, bei dem Nahen von 6000 Feinden die weiße Fahne auf, Magdeburg wurde von Kleist trotz der 23,000 Mann Besatzung, deren Muth noch nicht gebrochen war, und trotz der 800 Geschütze, mit denen die Wälle bewaffnet waren, an ein französisches Corps von 7000 Mann mit zwei Haubitzen verrätherisch übergeben, in Stettin wagte der Commandant von Romberg an der Spitze von 5000 Mann sich nicht einmal gegen 800 anrückende Husaren zu vertheidigen, sondern öffnete ihnen ohne Kampf die Thore, und in Küstrin ritt der feige Oberst von Ingersleben, trotz der 2700 Mann Besatzung und der 90 Geschütze auf den Wällen, einer sich nähernden französischen Infanterie-Division entgegen und übergab die Festung, mußte indeß erst von Küstrin, das durch die Oder und Moräste ringsum doppelt geschützt war, Kähne kommen lassen, weil die Franzosen nicht anders in die Stadt gelangen konnten, um von ihr Besitz zu nehmen.
Doch wir sind in unserer Erzählung vorausgeeilt. Wir müssen zurückkehren bis zu den nächsten Tagen nach der verhängnißvollen Schlacht.
In der düstersten, verzweiflungsvollsten Stimmung war Kurt über den Harz nach Magdeburg geeilt. Die harten Worte seines Vaters klangen ihm immer und immer wieder im Ohre nach. Mochte ihn derselbe auch zu hart beurtheilt haben, so fühlte er doch selbst, daß er einen Theil seiner Ehre preisgegeben hatte; er wollte denselben wieder erringen, und mußte es selbst mit dem Opfer seines Lebens geschehen.
Es mußte sich ihm ja bald eine Gelegenheit dazu bieten, denn, hatte er auch das preußische Heer in größter Verwirrung und gänzlicher Auflösung auf der Flucht gesehen, so war er doch fest überzeugt, daß sich dasselbe wieder sammeln und die empfangene Scharte wieder auswetzen werde. Auch er hatte sich durch den augenblicklichen Schrecken mit hinreißen lassen, allein derselbe war längst von ihm gewichen und mit dem Muthe der Verzweiflung wollte er das Verlorene wieder erringen. So, glaubte er, müßten Alle denken und fühlen.
Ungehindert langte er in Magdeburg an. Er war nicht der Erste, der die traurige Botschaft dorthin brachte. Vor ihm waren schon eine große Anzahl Officiere und Cavalerie eingetroffen und von Stunde zu Stunde mehrte sich die Zahl der Flüchtlinge, welche alle diesem Sammlungsorte zueilten.
Hinter den Mauern dieser Festung fanden sie Schutz und Zeit, sich von den Beschwerden der schnellen Flucht zu erholen, um dann um so entschlossener dem Feinde entgegen zu treten. Die Mauern und Wälle Magdeburgs waren fest und in dem besten Zustande. Von 800 schweren Geschützen wurden sie vertheidigt, die Magazine waren gefüllt und für eine ausreichende Besatzung war Proviant und Munition für ein volles Jahr vorhanden, Keine Festung im ganzen Staate war so trefflich geeignet, dem Feinde einen hartnäckigen Widerstand entgegen zu setzen, und wie Kurt glaubten Tausende mit ihm an die Uneinnehmbarkeit dieser Festung.
Immer mehr und mehr füllte sich die Stadt mit den Trümmern des geschlagenen Heeres. Ohne Ordnung kamen die meisten der Flüchtigen an und in der Stadt herrschte die größte Unordnung. Bunt, wirr strömte Alles durcheinander. Wohl war der König am 17. October selbst in Magdeburg eingetroffen und hatte seinen Generälen aufgetragen, die versprengten Truppen zu sammeln und zu organisiren, allein er selbst hatte die Stadt bereits am folgenden Tage wieder verlassen und von den Generälen schien keiner seines Wortes eingedenk zu sein.
Die Stadt war überfüllt. Ueber Hunderttausend Mann, mit Einschluß des Trains, waren in ihr zusammengeströmt. Es fehlte an jeder Oberleitung. Die einzelnen Regimenter waren zum Theil ganz aufgelöst, die Soldaten von ihren Officieren getrennt, jeder darauf angewiesen, für sich selbst Sorge zu tragen. Die Disciplin hatte gänzlich aufgehört.
Tausende blieben ohne Quartier. Sie waren auf den Straßen und freien Plätzen gelagert und Wachtfeuer loderten überall empor. Die breitesten Straßen waren mit Gepäck- und anderen Wagen dicht verfahren und das Geschütz steckte zum Theil mitten in einer chaotischen, wilden Unordnung.
Die Kriegskasse war zum größten Theile glücklich nach Magdeburg gerettet, allein hier war die allgemeine Verwirrung so groß, daß sie nicht einmal bewacht wurde und daß sie geplündert werden konnte. Die Johannis-, Katharinen-, Petri- und Jacobinerkirche wurden zu Pferdeställen benutzt, eben so manche zu ebener Erde gelegene Wohnzimmer; trotzdem mußten viele Pferde wie die Soldaten im Freien zubringen. Die Magazine waren mit Proviant gefüllt, dennoch blieben viele Soldaten ohne Nahrungsmittel oder mußten sich dieselben mit und ohne Gewalt zu verschaffen suchen, weil in der Vertheilung des Proviants eine eben so große Unordnung herrschte.
Kurt, der früh genug in Magdeburg angekommen war, hatte in dem Hause eines Bürgers ein gutes Quartier gefunden. Die Hoffnungen, welche in seinem Herzen wieder herangewachsen waren, schwanden, als er die mit jeder Stunde wachsende Unordnung kennen lernte. Er hatte es für unmöglich gehalten, daß ein Heer in wenigen. Tagen so sehr jede Disciplin verlernen und vergessen konnte. Freilich kümmerte sich von den höheren Officieren, von den Anführern Niemand um die Soldaten. Jene hatten noch immer vollständig den Kopf verloren, während diese erbittert waren über ihr Geschick, das nur durch die Schuld ihrer Führer über sie gekommen war.
Fürst Hohenlohe versuchte endlich in die wilde chaotische Menge etwas Ordnung zu bringen. Was er zu sammeln vermochte, führte er am 21. October, anstatt die Festung zu vertheidigen, aus der Stadt über die Elbe, um sich nach kurzer Zeit mit über 10,000 Mann ohne Schwertstreich dem Feinde zu ergeben.
Kurt war in Magdeburg zurückgeblieben. Hier mußte es am ersten zum Kampfe kommen, und ihn verlangte danach. Schon am 20. October hatten sich die Franzosen der Stadt genähert und am linken Elbufer ihre Vorposten aufgestellt. War auch Hohenlohe mit dem größten Theile des Heeres abgezogen, so befanden sich dennoch über 23,000 Mann in der Stadt, hinreichend, um die ausgedehnten Festungswerke vollständig zu besetzen. Freilich bestanden die Zurückgebliebenen aus einem bunten Gemisch der verschiedensten Regimenter und Waffengattungen, allein jetzt wäre es ein Leichtes gewesen, die Ordnung zurückzurufen und dem Feinde den hartnäckigsten Widerstand entgegen zu setzen. Leider lag der Oberbefehl in den Händen von Männern, die weder Herz noch Kopf besaßen.
Der Gouverneur, Graf von Kleist, war ein Mann von siebzig Jahren, schwankend, ohne Muth und Einsicht, nur auf seine eigenen Interessen bedacht und nur zum Gamaschendienst im Frieden brauchbar. Ihm zur Seite standen der General Graf von Wartensleben, der Commandant der Festung Du Trossel, der General von Ingersleben, von Renouard, von Schack, von Tcheppe und Andere, die sämmtlich bei den Truppen wenig Vertrauen genossen.
Mit 7000 Mann war Ney herangerückt und lagerte sich vor der Festung, während er sein Hauptquartier in dem drei Stunden entfernten Schönebeck aufschlug. Jetzt endlich dachten die in Magdeburg sich befindenden Generäle daran, Ordnung in ihre Truppen zu bringen. Die Soldaten selbst verlangten dies und drängten sie dazu. Die ganze Besatzung wurde in vier Brigaden unter den Generälen von Alvensleben, von Schack, von Tcheppe und von Renouard getheilt und jeder dieser Brigaden wurde ein besonderer Alarmplatz zugewiesen.
Unter den Soldaten war der beste Wille vorhanden. Kurt hatte alle seine Kräfte aufgeboten, um das Vertrauen in sie zurückzurufen. Magdeburg konnte einem dreimal stärkeren Heere trotzen und hatte von den 7000 Mann, welche Ney herangeführt hatte, nicht das Geringste zu befürchten, besaß derselbe doch nur 2 Haubitzen, und den Belagerten war die Schwäche des Feindes nicht verborgen geblieben. Verspätete Flüchtlinge, welche sich bei dem Feinde vorüber geschlichen hatten und in der Stadt anlangten, brachten sichere Nachrichten darüber.
Kurt vergaß zum Theil die Sorgen, welche ihn bis dahin so schwer gedrückt hatten. Nicht eher wollte er den Seinen schreiben, als bis er ihnen einen Sieg oder eine tapfere That melden konnte.
Wenige Tage nach Hohenlohe's Fortzug schritt er in der Stadt den breiten Weg hinab. Die Straße war belebt. Officiere und Soldaten der verschiedensten Truppengattungen erfüllten sie, und auch die Bürger hatten wieder Muth und Zutrauen gefaßt, nachdem sie die Ordnung einigermaßen hergestellt sahen. Die Läden waren geöffnet, ungehindert konnte ein jeder von ihnen auf der Straße verkehren.
Ein dichter Menschenknäuel in der Nähe des Sudenburger Thores erregte Kurt's Aufmerksamkeit.
Er drängte sich hinzu und erfuhr bald den Grund des Gedränges. Ney, der durch die schnell auf einander folgenden Siege und durch die schmachvolle Flucht der Preußen übermüthig gemacht war, hatte trotz seiner geringen Macht, die kaum ausreichte, die Besatzung zur Wachsamkeit zu mahnen, einen Parlamentär, den Capitän Regnard, in die Stadt gesandt, um dieselbe zur Uebergabe aufzufordern.
Mit verbundenen Augen, von mehreren Officieren und einer Wache geleitet, wurde der Parlamentär zum Gouvernementsgebäude geführt. Eine große Anzahl Menschen gingen mit. Viele lachten und spotteten über die Frechheit des Feindes, die Stadt zur Uebergabe auffordern zu lassen, da er keine Macht besaß, sie zu erobern. Diejenigen, welche die Verzagtheit und Muthlosigkeit des Gouverneurs kannten, waren nicht ohne Besorgniß. War nicht auch Erfurt von seinem Commandanten ohne Kampf übergeben worden!
In der Mitte seines Stabes, vor den Generälen und dem Commandanten empfing Kleist den Parlamentär.
Draußen harrten Soldaten und Bürger in buntem Gemisch, in steigender Ungeduld. Keinem von ihnen war der Zutritt in das Gebäude gestattet. Ueber das Geschick von Tausenden wurde drinnen berathen, beschlossen, und noch hatte Niemand eine Ahnung von dem Ausgange.
Auch Kurt war mit hierher geeilt, weniger aus Neugierde. Er war über die Antwort des Gouverneurs nicht in Zweifel. Die Uebergabe der Festung wäre ja der feigste Verrath gewesen.
Der Parlamentär wurde wieder mit verbundenen Augen aus dem Gebäude geleitet und durch die Stadt geführt.
Was war beschlossen?
Da erklärte einer der Generäle, der Gouverneur habe dem französischen Capitän erklärt, daß er die Stadt nicht eher übergeben werde, als bis ihm das Schnupftuch in der Tasche brenne.
Lauter Jubel folgte diesen Worten. Die entschiedene Antwort des Gouverneurs begeisterte Soldaten wie Bürger. Selbst die Zaghaftesten unter ihnen wurden mit neuem Muth erfüllt. Die Soldaten durchzogen jubelnd und singend die Stadt und verlangten mit Ungestüm einen Ausfall, gegen den Feind geführt zu werden. Den Tag von Jena und Auerstädt wollten sie den Franzosen heimzahlen.
Ohne allen Zweifel würde Ney's geringes Corps vernichtet oder gefangen genommen worden sein, wenn ein entschlossener General diese begeisterte Stimmung der Soldaten benutzt hätte.
Große Haufen Soldaten zogen vor das Gouvernementsgebäude. Der Eingang wurde ihnen nicht gestattet. Stürmisch riefen sie des Gouverneurs Namen und verlangten gegen den Feind geführt zu werden. Der Graf von Kleist zeigte sich nicht. Ein General trat aus dem Gebäude und ermahnte die Soldaten zur Ruhe.
»Wir verlangen einen Ausfall!« rief einer der Kühnsten aus der Mitte der Soldaten. »Der Feind ist nur schwach und wir fürchten ihn nicht! Wir wollen nicht wieder einen solchen Tag wie bei Jena erleben!«
Der General wandte sich an die in das Gewehr getretene Wache und befahl ihr, den Kühnen zu verhaften. Die Wache versuchte es, wurde indeß von dem Haufen mit Gewalt zurückgedrängt. Die Disciplin war in bedenklicher Weise gelockert.
Der General war in das Gebäude zurückgetreten. Eine Zeit lang lärmte der Haufen noch fort, dann zog er sich langsam zurück, um in anderer Weise seiner Erbitterung Luft zu machen.
Auch hiervon war Kurt Zeuge gewesen. Er begriff in der That die Generäle nicht, weshalb sie dem Verlangen der Soldaten nicht nachgaben. Der Erfolg hätte nicht zweifelhaft sein können. Auf der einen Seite die kühne, entschlossene Antwort des Gouverneurs und daneben eine solche Verzagtheit.
Unmuthig, aufgeregt, in Zweifel mit seinen eigenen Hoffnungen, schritt er durch die Stadt. Der Abend brach langsam herein. Er trat in eine am Altmarkt gelegene Weinstube, weil er wußte, daß er dort Bekannte traf. Mehr und mehr nahm der Wein die beunruhigenden Gedanken von ihm. Stunden verflossen und er wurde es kaum gewahr. Der Raum war mit Officieren erfüllt. Die Antwort des Gouverneurs an den Parlamentär bildete immer und immer wieder den Gegenstand des Gesprächs.
Hinter einem Pfeiler halb verborgen saß Kurt. Da trat ein Mann in das Zimmer, dessen Anblick ihn unwillkürlich zusammenzucken ließ. Es war der Hauptmann Hellborn. Er glaubte Anfangs zu irren. Noch vor wenigen Tagen hatte er diesen Mann in Ilfeld gesehen. Was konnte ihn hierher getrieben haben? Er dachte an die spöttischen Worte des Hauptmanns, welche seinen Vater so heftig erbittert hatten.
Hellborn ließ sein Auge flüchtig durch das Zimmer gleiten, als er in dasselbe eintrat. Er bemerkte Kurt nicht. Neben einigen Officieren ließ er sich an einem Tische nieder. Sein ganzes Wesen fiel Kurt auf, sein scharf beobachtender Blick, die Aufmerksamkeit, mit der er auf jedes Wort lauschte. Er mischte sich in das Gespräch ein und verstand es, auf geschickte Weise die Officiere auszuforschen, indem er scheinbar das größte Interesse an ihren Angelegenheiten nahm.
Kurt kannte ihn von früher und wußte, in welchem Verdachte er in seiner Heimath stand. Es wurde ihm fast zur Gewißheit, daß ihn nur unredliche, verrätherische Absichten hierher geführt hatten.
Mehr als einmal wollte er aufspringen, vor ihn hin treten und Rechenschaft über sein Vorhaben von ihm verlangen. Nur der Mangel eines Beweises und festen Anhaltepunktes hielt ihn zurück.
Da wurde er von dem Hauptmann bemerkt. Er sah, wie er die Augen starr auf ihn heftete und wie seine Wangen erbleichten. Ihn schien er am wenigsten erwartet zu haben. Mit Gewalt sah er ihn seine Verlegenheit bekämpfen und nach Fassung ringen. Dann sprang er auf und trat schnell zu ihm.
»Sie hier, Herr von Dommer!« rief er, scheinbar mit der freudigsten Ueberraschung. »Davon hatte ich keine Ahnung! Ich glaubte, Sie würden bei Ihrem Vater zurückgeblieben sein!«
»Sie scheinen zu vergessen, daß nicht dort mein Regiment steht!« erwiderte Kurt kurz und kalt.
»Ganz recht,« fuhr der Hauptmann in der zuvorkommendsten Weise fort »Es freut mich in der That, daß ich in Ihnen einen Bekannten hier treffe. Wider meinen Willen bin ich hier in der Festung mit eingeschlossen!«
»Wider Ihren Willen, Herr Hauptmann?« wiederholte Kurt fragend und jedes Wort scharf betonend.
»Natürlich,« entgegnete Hellborn, seine Unbefangenheit bewahrend. »Wenn ich dem Feinde nicht in die Hände fallen wollte, blieb mir nichts weiter übrig, als mich hieher zu flüchten. Nun, es lebt sich hier ganz gut und wir haben nichts zu befürchten, denn die Festung ist stark!«
»Gewiß ist sie stark,« versicherte Kurt. »Und ich wüßte nur ein Mittel, wodurch sie genommen werden könnte.«
»Welches meinen Sie, Herr von Dommer?« fragte Hellborn.
»Durch Verrath, Herr Hauptmann!« gab Kurt zur Antwort und betonte diese Worte wieder scharf.
Er sah das Auge des Hauptmanns zucken, aber nur einen einzigen Augenblick lang.
»Wer sollte den Verräther spielen?« warf er dann ein. »Und wie sollte ein Verrath möglich sein! Ich begreife es in der That nicht!«
»Wirklich nicht?« entgegnete Kurt. »Nun, Herr Hauptmann, der Verräther möge sich in Acht nehmen!«
»Herr von Dommer!« rief Hellborn. »Ich verstehe Sie nicht! Sie scheinen mich beleidigen zu wollen.«
»Beleidigen,« wiederholte Kurt lachend. »Ist die Wahrheit so beleidigend! Sie erinnern mich indeß daran, daß ich noch Genugthuung für eine Beleidigung von Ihnen zu fordern habe.«
»Ich habe Sie nie beleidigt,« begann wieder der Hauptmann. Aus der Hast seiner Worte ging deutlich hervor, wie viel ihm daran lag, ein ernstliches Zusammentreffen mit Kurt zu vermeiden.
»Und wie soll ich Ihre Worte in Ilfeld deuten am Tage nach der Schlacht?« fragte Kurt leiser.
»Scherz – Herr von Dommer! Es war ein Scherz von mir! Ich will Ihnen sogar zugestehen, daß es ein unpassender Scherz war.«
»So werden Sie mir für den unpassenden Scherz Genugthuung geben!« rief Kurt mit gedämpfter Stimme.
»Treiben Sie die Sache nicht zum Aeußersten!« entgegnete Hellborn.
»Sie sind ein Feigling, wenn Sie mir Genugthuung verweigern!« rief Kurt laut.
Mehrere der in der Nähe sitzenden Officiere wurden aufmerksam.
»Das werden Sie bereuen!« knirschte Hellborn in erbittertster Aufregung.
»Vorläufig werte ich Sie zur Genugthuung zwingen!« gab Kurt zur Antwort.
»Ich werde sie Ihnen geben!« erwiderte Hellborn und bezeichnete ihm seine Wohnung.
Auch Kurt bezeichnete ihm sein Quartier.
Der Hauptmann wandte sich ab. Kurt verließ das Haus.
Er haßte diesen Menschen, und es war ihm leichter um's Herz, nun er Genugthuung von ihm verlangt hatte. Es war ihm nicht entgangen, wie ungern derselbe darauf eingegangen war. Der Gedanke tauchte in ihm auf, daß er ihn getäuscht und ihm eine fremde Wohnung genannt haben könne. Er wußte selbst nicht, wie dieser Verdacht ihm kam, allein er vermochte ihn nicht von sich zu weisen.
Es war bereits spät am Abend. Jedenfalls konnte der Hauptmann nicht lange mehr bleiben, und er beschloß, ihn zu erwarten und ihm unbemerkt zu folgen, um sich zu überzeugen, ob er durch ihn getäuscht sei.
Ungefähr eine halbe Stunde lang wartete er, hinter dem Vorsprunge eines Hauses versteckt, vergebens. Da trat Hellborn aus dem Hause, blickte vorsichtig spähend umher und schlug schnell den Weg nach der entgegengesetzten Richtung ein. Kurt folgte ihm. Die Nacht war hell genug, um die lange Gestalt des Hauptmanns im Auge zu behalten, ohne daß er sich ihr allzusehr näherte.
Hellborn eilte auf das Gouvernementsgebäude zu. Ehe er eintrat, spähte er rings umher, dann zeigte er der Wache ein Papier und trat, ohne daß er gehindert wurde, in das Haus.
Kurt bemerkte es mit Erstaunen. Was hatte er in diesem Gebäude und zu dieser ungewöhnlichen Zeit zu schaffen? Die Zweifel an der Redlichkeit dieses Mannes wurden lauter und lauter. Weshalb hatte er sich prüfend umgeschaut, ehe er das Gebäude betrat!
In der Wohnung des Gouverneurs waren noch mehrere Fenster erhellt. Kurt trat dem Gebäude gegenüber und einige Male glaubte er, die lange Gestalt des Hauptmanns in den erhellten Zimmern zu sehen, er konnte sich indeß auch geirrt haben.
Mit Ungeduld wartete er auf Hellborn's Zurückkunft, aber Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich und er kam nicht. Die Wache wurde abgelöst, Kurt hörte mehrmals die Stundenschläge der Thurmuhr – Hellborn kam nicht. Die Nacht war kalt. Er schritt schnell auf und ab, um sich zu erwärmen, ohne seinen Blick von der Thür des Gouvernementsgebäudes abzuwenden. Er wollte durchaus warten, bis der Hauptmann zurückkehrte. Als aber die Wache zum zweiten Male abgelöst wurde und er immer noch vergebens wartete, verlor er die Geduld. Durchkältet, wie er war, eilte er seinem entfernt gelegenen Quartier zu.
Ein befreundeter Kamerad, der bis zu der Zeit in einer Weinstube gesessen hatte, begegnete ihm und machte ihm den Vorschlag, mit in dessen nahe gelegenes Quartier zu kommen und die wenigen Stunden der Nacht bei ihm zuzubringen.
Kurt that es. Von dem langen Warten, dem Auf- und Abgehen ermüdet, sehnte er sich nach Ruhe, und trotz seiner inneren Aufregung fand er sie bald.
Als er am Morgen in sein Quartier zurückkehrte, empfing ihn sein Wirth mit Bestürzung. Er erzählte ihm, daß er gegen Morgen aus dem Bett gepocht worden sei. Als er das Haus geöffnet habe, sei ein Officier mit mehreren Soldaten eingetreten.
Sie hatten Kurt gesucht und einen Befehl des Gouverneurs zu seiner Verhaftung vorgewiesen. Auf die Angabe seines Wirthes, daß er noch nicht heimgekehrt sei, hatten sie das ganze Haus durchsucht. Es schien ihnen, wie der Wirth versicherte, viel an Kurt's Verhaftung gelegen zu haben.
Kurt war sich keines Vergehens bewußt und dennoch erfüllte ihn diese Mittheilung mit Bestürzung. Konnte dies Alles nicht das Werk des Hauptmanns sein, der seine Entdeckung durch ihn befürchtete und derselben dadurch zuvorzukommen suchte, daß er ihn unschädlich machte? Was hatte er in dem Gouvernementsgebäude zu schaffen gehabt, wenn er nicht mit dem Gouverneur in Verbindung stand?
Er wußte in diesem Augenblicke nicht, was er thun sollte. Sein Blut stürmte aufgeregt. Sollte er wirklich auf Befehl des Gouverneurs verhaftet werden, so konnte er diesem Geschicke nicht entgehen, denn es war ihm unmöglich, die Festung zu verlassen, um zu fliehen. Und wenn er floh, wurde er dann nicht als Deserteur angesehen und bot er nicht dadurch dem Hauptmann vielleicht noch ein willkommeneres Mittel, ihn zu verderben?
Noch einmal fragte er den Wirth nach allen näheren Umständen. Derselbe kannte weder den Officier, noch einen der Soldaten.
Kurt's Entschluß stand fest. Es fehlte ihm nicht an persönlichem Muth. In entschlossener Weise wollte er dem ihm drohenden Geschicke entgegengehen. Zum Gouverneur selbst wollte er eilen, um aus seinem Munde die Veranlassung zu seiner Verhaftung zu erfahren, um ihn zu warnen vor dem Hauptmann.
Ehe er indeß diesen Entschluß ausführte, eilte er zu der Wohnung, welche ihm Hellborn als die seinige bezeichnet hatte. Der Hauptmann war feige, vielleicht war es nur eine Intrigue desselben, um der zu gebenden Genugthuung aus dem Wege zu gehen.
Er fand das bezeichnete Haus, allein Hellborn wohnte nicht darin und hatte auch nie darin gewohnt. Niemand kannte ihn. Er war von ihm getäuscht. Die heftigste Erbitterung erfaßte ihn. Er konnte darüber nicht im Zweifel sein, daß er in dem Hauptmann einen unversöhnlichen Feind besaß, den er um so mehr zu fürchten hatte, weil derselbe vor keinem Mittel zurückscheute, weil er nicht das geringste Ehrgefühl bei ihm voraussetzen durfte.
Auch jetzt wurde er in seinem Entschlusse, zum Gouverneur zu gehen, nicht wankend. Ohne Zögern eilte er zu dem Gouvernementsgebäude. Die Vermittelung des wachthabenden Officiers nahm er in Anspruch, um vorgelassen zu werden. Eine Sache von größter Wichtigkeit mußte er vorschützen, ehe ihm dies gelang.
Mit allen Kräften wollte er sich Ruhe erzwingen, als er in dem Gebäude die Treppenstufen hinaufeilte, dennoch schlug sein Herz schnell, aufgeregt. Er mußte einige Augenblicke an der Thür des Vorzimmers stehen bleiben, um sein Blut etwas ruhiger fließen zu lassen und sich Fassung zu erzwingen. Die Unbestimmtheit seines Geschickes regte ihn auf. Er konnte nicht voraussehen, was die nächste Stunde ihm brachte. Vielleicht verließ er das Haus nicht wieder, oder doch nur als Gefangener.
Er mußte sich zusammennehmen, denn zurück wollte er nicht wieder eilen.
In dem Vorzimmer traf er noch mehrere Officiere. Er kannte sie nicht, allein ihre Gegenwart trug dazu bei, ihn zu zerstreuen. Und er fand Zeit, seine ganze Ruhe wieder zu gewinnen, denn lange mußte er warten, ehe er vorgelassen wurde.
Endlich wurde er in das Zimmer des Gouverneurs gerufen. Derselbe war nicht allein. Mehrere hohe Officiere befanden sich bei ihm.
Es entging ihm der scharfe, spähende Blick nicht, welchen der Gouverneur auf ihn warf, als er eintrat.
»Was wünschen Sie?« fragte der Graf von Kleist ruhig, ohne das Geringste von dem, was in ihm vorging, in den Zügen seines Gesichts zu verrathen.
Ein eigenthümliches Gefühl erfaßte Kurt, als er vor der greisen Gestalt des Mannes dastand. Er hielt es für unmöglich, daß die greisen Haare desselben mit einer unrechten Handlung etwas gemein haben konnten. Hatte er wirklich den Befehl zu seiner Verhaftung gegeben, so mußte er getäuscht oder falsch berichtet sein. Dieser Gedanke gab ihm seine volle Ruhe und Unbefangenheit zurück.
Er erzählte, daß er auf Befehl des Gouverneurs während der Nacht habe verhaftet werden sollen, ohne daß er sich des geringsten Vergehens bewußt sei. Nur durch seine Abwesenheit sei er der Verhaftung entgangen.
Er hielt den Blick auf das Gesicht des Grafen geheftet, um die Antwort im Voraus von dessen Lippen zu lesen. Nicht ein Zug auf dem Gesicht desselben veränderte sich. Er glaubte ein flüchtiges Zucken seines Auges zu bemerken, allein er konnte nichts daraus errathen, weil er den Gouverneur zum ersten Male in dieser Nähe sah.
Der Graf schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.
»Wie heißen Sie?« fragte er.
Kurt nannte seinen Namen.
»Und wie heißt Ihr Hauptmann und Oberst?« forschte er weiter.
Auch die Namen derselben nannte Kurt.
»Ich weiß von der ganzen Sache nichts,« fuhr der Gouverneur fort. »Es muß ein Irrthum vorliegen – ich habe keinen Verhaftsbefehl erlassen. Haben Sie denselben gelesen?«
»Nein,« erwiderte Kurt.
»Und kennen Sie auch den Officier nicht, der den Verhaftsbefehl gehabt hat?«
»Auch ihn nicht,« gab Kurt zur Antwort.
»Es ist mir unbegreiflich,« wandte sich der Graf von Kleist an die anwesenden höheren Officiere. »Es scheint mir fast, als ob ein Kamerad des Lieutenants sich einen Scherz gemacht habe.«
»Das wäre eine unerhörte Dreistigkeit, Ihren Namen zu mißbrauchen, Herr Gouverneur,« fiel einer der Officiere ein. »Es ist kaum denkbar!«
Ueber das Gesicht des Grafen glitt ein Lächeln. Er war nicht im Stande, seine Verlegenheit zu verbergen.
»Der Ausführer des Scherzes wird nicht erwartet haben, daß derselbe zu meinen Ohren gelangen werde,« gab er zur Antwort.
»Es ist kein Scherz gewesen,« bemerkte Kurt. »Das würde meinem Wirthe nicht entgangen sein. Dessen ganzes Haus ist durchsucht und die Durchsuchenden haben ihren lauten Unwillen nicht zurückgehalten, als sie mich nicht gefunden haben.«
Ein strenger, fast drohender Blick des Gouverneurs traf ihn. Die übrigen Officiere konnten denselben nicht bemerken, weil der Graf ihnen den Rücken zukehrte.
»Es ist gut. Ich werde die Sache untersuchen lassen,« erwiderte er kurz. »Sie können gehen!«
Dieser eine Blick hatte Kurt deutlich verrathen, daß der Gouverneur um die Sache wußte, es indeß nicht bekannt werden lassen wollte. Er hörte dessen Befehl, sich zu entfernen. Dennoch zögerte er und bat noch um kurzes Gehör für eine wichtige Angelegenheit.
»Was haben Sie noch?« fragte der Graf kurz, ziemlich barsch.
Kurt ließ sich durch den Ton seiner Stimme nicht zurückschrecken. Ohne Bangen erzählte er, wie die Anwesenheit des Hauptmann Hellborn in der Stadt ihm aufgefallen sei, noch mehr dessen Besuch im Gouvernementsgebäude am Abend zuvor, zu so später Stunde. Er sprach die Befürchtung aus, daß derselbe ein im französischen Solde stehender Spion sei.
Der Blick des Gouverneurs hatte sich noch mehr verfinstert.
»Ich kenne keinen Hauptmann Hellborn,« entgegnete er. »Und ich bin überzeugt, daß Ihre Angabe, derselbe sei gestern Abend in dies Haus gekommen, auf Ihrer lebhaften Einbildungskraft beruhen wird. Ich werde bei dem Officier, der die Wache gehabt hat, nachfragen lassen, wer das Haus betreten hat. Uebrigens, Herr Lieutenant,« fügte er nicht ohne bittern Spott hinzu, »wird es besser sein, wenn Sie sich weniger um französische Spione und mehr um Ihren Dienst kümmern!«
Er gab ihm mit der Hand ein Zeichen, sich zu entfernen, und wandte sich ab. Das Blut war bei diesen Worten in Kurt's Wangen gestiegen. Er war fest überzeugt, daß der Gouverneur den Hauptmann kannte, und dennoch durfte er kein Wort mehr sagen. Schweigend entfernte er sich.
Hastig sprang er die Treppenstufen hinab, weil er die Befürchtung nicht zu unterdrücken vermochte, daß er zurückgehalten, daß er verhaftet werden könnte, und sein Herz schlug erst wieder freier und leichter, als er das Gebäude verlassen hatte.
Unmöglich konnte er sich die Gefahr verhehlen, der er ausgesetzt war. Der Blick des Gouverneurs hatte ihm Alles verrathen. Schutzlos stand er der Macht dieses Mannes gegenüber, dennoch war er fest entschlossen, ihm jeden in seiner Gewalt stehenden Widerstand entgegen zu setzen. Es galt sein Leben. Nicht eine öffentliche Verhaftung und Stellung vor das Kriegsgericht hatte er zu fürchten, weil er sich keiner Schuld bewußt war. Was gegen ihn geschehen konnte, mußte im Geheimen geschehen, ohne das geringste Aufsehen zu erregen und hiergegen wollte er sich schützen.
Er traf einen ihm eng befreundeten Hauptmann von Haug von einem andern Regimente, und ihm theilte er vertrauensvoll Alles, auch seine Befürchtung über das Vorhaben des Gouverneurs mit.
Haug schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe.
»Ich glaube selbst, daß nur ein Scherz vorliegt,« erwiderte er, »und daß Deine eigene Phantasie Dir einen üblen Streich gespielt hat. Jedenfalls sprich gegen Niemand weiter darüber und enthalte Dich jeder Aeußerung über den Gouverneur.«
»Ich täusche mich nicht!« versicherte Kurt. »Ich werde Waffen neben mein Bett legen und mein Leben theuer verkaufen.«
»Begeh' keine Thorheit,« mahnte Haug. »Ich habe heute Abend die Wache im Sudenburger Thor. Komm dort hin, wir wollen uns zusammen die Nacht vertreiben, und daß Dich dort Niemand verhaftet, dafür werde ich Sorge tragen.«
Sie trennten sich.
Kurt bemühte sich vergebens, seine Befürchtungen zu verscheuchen. Um sich zu zerstreuen, suchte er mehrere Freunde auf, um mit ihnen den Tag hinzubringen, da er vom Dienste nicht in Anspruch genommen wurde.
Unbemerkt eilte er am Abend in das Wachlocal an dem bezeichneten Thore. Der Freund empfing ihn mit Lachen.
»Es ist gut, daß Du kommst,« rief er, »aber gestehe, Dommer, Dich hat die Furcht hergetrieben. Du bildest Dir wahrhaftig ein, man werde Dich während der Nacht ganz im Stillen festnehmen und in irgend eine Casematte der Festung stecken oder Dir gar an's Leben gehen.«
»Und wenn ich das wirklich befürchtete!« entgegnete Kurt.
»Dann bist Du ein Thor,« fiel Haug lachend ein. »Ich glaube Dir, daß der Hauptmann, den Du kennst, hier in der Stadt ist, allein wenn er wirklich ein französischer Spion wäre, würde er auch bei Anderen bereits Verdacht erregt haben, und am wenigsten würde der Gouverneur, wenn er ihm bekannt wäre, dies in Abrede gestellt haben. Er hätte es Dir nur danken können, wenn Du ihn vor einem Spion gewarnt hättest!«
»Und wenn nun auch der Gouverneur Verrath im Sinne hat?« wollte Kurt einwerfen, allein er verschwieg diese Worte und erwiderte nur: »Ich täusche mich über den Hauptmann nicht!«
»Jedenfalls hast Du Dich geirrt, als Du glaubtest, ihn in das Gouvernementsgebäude eintreten zu sehen. Freund, im Dunkeln sieht ein Mann aus wie ein anderer.«
Kurt schüttelte mit dem Kopfe.
»Ich habe mich nicht getäuscht,« versicherte er noch einmal.
»Die Zeit wird lehren, wer Recht hat,« bemerkte Haug.
Um die Nacht so angenehm als möglich zu vertreiben, hatte Haug für Wein Sorge getragen, und je mehr Kurt nach der mannichfachen Aufregung dieses Tages demselben zusprach, um so mehr vergaß er seine Befürchtungen.
Unbemerkt schwanden ihm die Stunden dahin. Mitternacht war bereits vorüber. Kurt dachte nicht daran, zu schlafen, weil auch sein Freund sich der Ruhe nicht hingeben durfte. Plaudernd saßen sie neben einander.
Plötzlich rief der wachstehende Soldat den Hauptmann heraus. Haug verließ das Zimmer.
Wenige Minuten später kehrte er zurück.
»Wie hieß der Hauptmann, von dem Du mir heute erzähltest – den Du für einen Spion hältst?« fragte er hastig und mit gedämpfter Stimme.
»Was hast Du?« warf Kurt ein, dem die Aufregung des Freundes nicht entging.
»Wie heißt er?« wiederholte dieser.
»Hellborn,« gab Kurt zur Antwort. »Allein ich begreife nicht …«
»Es ist eine große, hagere Figur?« fragte Haug weiter.
»Ja.«
»Mit kleinen, stechenden Augen?«
»Auch das! Wie kommst Du auf ihn?«
»Und der Gouverneur hat Dir gesagt, daß er ihn nicht kenne?«
»Das waren seine Worte,« erwiderte Kurt, den die hastigen Fragen des Freundes immer mehr in Erstaunen setzten.
»Er steht draußen,« sprach Haug. »Er will die Stadt verlassen und hat eine vom Gouverneur ausgestellte und mit dem Gouvernementssiegel versehene Ordre, ihn durch das Thor passiren zu lassen!«
Kurt war bei diesen Worten aufgesprungen, er wollte das Zimmer verlassen. Haug hielt ihn zurück.
»Bleib'! Er darf Dich nicht sehen – Du bringst Dich vielleicht in Gefahr!«
»Laß – laß!« rief Kurt, jeden Gedanken an Gefahr vergessend. »Ich muß ihn sehen. In's Gesicht will ich ihm sagen, daß er ein Spion, ein Feigling, ein Lügner ist, denn er hat mir eine Wohnung angegeben, nur, um meiner Forderung auszuweichen!«
Haug vermochte ihn nicht zurückzuhalten. Hastig stürzte er hinaus und stand im nächsten Augenblicke Hellborn gegenüber.
Dieser schreckte zusammen, als er seinen Gegner so unerwartet vor sich stehen sah. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.
»Ha, Sie sind es!« rief Kurt. »Sie sind vielleicht gekommen, um mir Genugthuung zu geben, nachdem Sie mich in feigster Weise über Ihre Wohnung belogen haben!«
Hellborn versuchte sich zu fassen.
»Lassen Sie das Thor öffnen,« wandte er sich an Haug.
»Nimmermehr!« rief Kurt. »Er ist ein Spion – ein elender Feigling!«
Hellborn zitterte vor Aufregung und Wuth.
»Lassen Sie mir das Thor öffnen!« rief er befehlend. »Die Ordre des Gouverneurs lautet, mich ohne Verzug passiren zu lassen!«
Haug zögerte noch immer.
»Hier gerathen Sie ja dem Feinde in die Hände,« warf Kurt spottend ein, »und nur die Furcht vor den Franzosen hat Sie hierher getrieben!«
»Sie werden die Verantwortung tragen, wenn Sie, dem Befehle des Gouverneurs nicht sofort nachkommen!« wandte sich Hellborn noch einmal an Haug.
Dieser war im Begriff, das Thor öffnen zu lassen.
»Thu' es nicht!« rief Kurt. »Er ist ein Spion – er verräth uns!«
»Ich muß dem Befehle nachkommen,« erwiderte Haug.
»So verhafte ihn, ich werde beweisen, daß er ein Spion ist!« forderte Kurt den Freund auf.
Dieser schien ihm folgen zu wollen.
Ein spöttisches Lächeln glitt über Hellborn's Gesicht.
»Versuchen Sie es,« entgegnete er. Dann zeigte er Haug eine zweite Ordre des Gouverneurs, auf welcher er als Botschafter des Gouverneurs an den feindlichen General bezeichnet war.
»Versuchen Sie es,« fügte er noch einmal hinzu, als Haug auch diese Schrift gelesen hatte.
Dieser ließ das Thor öffnen.
Kurt vermochte seine heftigste Erbitterung nicht zurückzuhalten.
»Ich werde Sie dennoch als Spion – als feigen, elenden Verräther brandmarken!« rief Kurt.
Hellborn wandte sich hastig dem geöffneten Thore zu. Bei diesen Worten blieb er noch einmal stehen, dicht vor Kurt. Aus seinen Augen schossen Blitze, ein glühender Haß.
»Wir werden uns wieder sprechen!« sprach er mit vor Wuth und Aufregung gedämpfter Stimme, »und dann sollen Sie jedes Wort, jeden Laut bitter büßen! Haha, ich werde Ihnen Genugthuung geben!«
Hastig schritt er durch das Thor und eilte über die herabgelassene Zugbrücke.
»Einen Feigling werde ich nie fürchten!« rief Kurt ihm nach.
Er hatte diese Worte vielleicht kaum noch gehört.
Die Brücke wurde wieder aufgezogen, das Thor geschlossen und Haug empfing die Schlüssel wieder.
Schweigend trat er an Kurt's Seite in das Zimmer zurück.
»Ich glaube, Du hast doch Recht gehabt!« sprach er, vor ihm stehen bleibend. »Der Gouverneur kennt ihn und auch ich bin jetzt überzeugt, daß er ein Verräther ist!«
»Und dennoch hast Du ihm das Thor geöffnet!« rief Kurt unwillig.
»Ich mußte dem directen Befehle des Gouverneurs gehorchen!« erwiderte Haug. »Ich würde mich in die größte Gefahr gebracht haben, wenn ich ihm nicht nachgekommen wäre.«
»Kann er die Ordre nicht gefälscht, nachgemacht haben?« rief Kurt, dem dieser Gedanke plötzlich kam.
Haug schüttelte mit dem Kopfe. »Ich dachte auch daran und habe sie auch genau untersucht, auch das Siegel. Sie war echt, der Gouverneur selbst hat sie geschrieben – ich kenne seine Hand.«
»So übt auch er Verrath!« warf Kurt ein.
»Still – still!« unterbrach ihn der Freund. »Du bist verloren, wenn Jemand solch ein Wort hört! Ich glaubte Dir heute nicht, ich mochte Dir nicht Recht geben – aber auch ich setze auf den Muth des Gouverneurs kein Vertrauen. Er ist zu alt – nur auf sich selbst ist er bedacht! Doch still darüber!«
Die Stunde schlug, in der die Wache abgelöst werden mußte, und Haug verließ das Zimmer.
Bis zum Morgen sprachen die beiden Freunde, als er zurückgekehrt war, über den Vorfall und tauschten gegenseitig ihre Befürchtungen aus. Auf Haug's Rath beschloß Kurt, gegen Jedermann zu schweigen, um des Gouverneurs Zorn, den er ohnehin schon erregt hatte, nicht noch mehr auf sich herabzurufen. Nützen konnte er ja doch durch die Mittheilung desselben nicht, weil er nicht einen einzigen vollständigen und überführenden Beweis für seinen Verdacht hatte. Für seine eigene Sicherheit mußte er doppelt besorgt sein.
Kurt's Befürchtungen wurden zwar in einer Weise nicht erfüllt, denn kein zweiter Versuch zu seiner Verhaftung wurde gemacht. Um so mehr wurde für ihn zur Gewißheit, daß er sich über die Absichten des Gouverneurs nicht geirrt habe. Nur wer Verrath im Sinne hatte, konnte so wie der Graf von Kleist handeln. Die schönsten Gärten rings um die Stadt, auch der zu Kloster Bergen, viele Land- und Gartenhäuser wurden vom Feinde in dem Bereiche der Festungskanonen zerstört, die Windmühlen verbrannt, und der Gouverneur ließ Alles ruhig geschehen. Nicht ein einziger Schuß durfte auf den Feind abgefeuert werden, und doch wäre es ein Leichtes gewesen, den Feind durch die Festungsgeschütze an dem Allen zu hindern.
Den Soldaten und Bürgern war Kleist's Benehmen unbegreiflich; der Uebermuth der Feinde wuchs dadurch nur. Ihre Schützen schlichen sich so nahe an die Stadt heran, daß sie die Posten von den Wällen und die Artilleristen neben den Kanonen wegschossen, und mit keinem Schusse durfte ihnen erwidert werden.
Namentlich benutzten die französischen Schützen eine alleinstehende Scheuer, um hinter derselben hervor die Posten in der Nähe des Sudenburger Thores zu erschießen. Einem Unterofficier der Artillerie wurde das Treiben zu arg. Er richtete sein geladenes Geschütz auf jene Scheuer, und als die feindlichen Schützen wieder hinter derselben hervorkamen, feuerte er ab und war so glücklich, mehrere Feinde zu tödten. Er wurde auf Befehl des Gouverneurs sofort verhaftet.
Immer deutlicher traten die Anzeichen hervor, daß der Graf von Kleist Verrath der Festung im Sinne hatte, so wenig die Meisten auch an ein solches Bubenstück denken mochten.
Die Verzagtheit des Gouverneurs steckte auch Andere an. Die Magdeburger Kriegs- und Domänenkammer schickte drei ihrer Räthe zu Ney in Schönebeck, um ihn zur Milde zu bewegen. Mit Mühe hielt der französische Befehlshaber das Lachen zurück. Er konnte sich am wenigsten verhehlen, wie wenig er mit seinen 7000 Mann und 2 Haubitzen gegen die Festung auszurichten im Stande war. Er wäre verloren gewesen, hätten die Belagerten einen entschlossenen Ausfall gemacht. Sich zum Ernste zwingend, drohte er, er werde, ein zweiter Tilly, die Stadt mit Sturm einnehmen und das Gradirwerk zu Salza zerstören, wenn Magdeburg sich nicht ergebe. Und die Räthe ließen sich einschüchtern und die Kammer in Magdeburg zahlte 33,000 Thaler an Ney, damit dieser beruhigt werde und seine Drohung nicht ausführe.
Immer größer wurde der Uebermuth der Belagerer. Am Abend des 1. November brannten sie die beiden Elbdörfer Krakau und Prester nieder. Immer mehr stieg aber auch in der Stadt bei den Bürgern und Soldaten der Unwille über den Gouverneur, der sich, vor seiner eigenen Besatzung sich fürchtend, fast nie sehen ließ.
Die Truppen in der Stadt waren geordnet, die Disciplin zurückgerufen und die dienstthuende Garnison auf eine Höhe von 16,000 Mann gebracht.
Gegen Kleist's Willen blieb jede Nacht ein Drittel der Garnison angekleidet und gerüstet in seinen Quartieren, um bei einem etwaigen verrätherischen Ueberfall sofort zur Hand zu sein. Mit Freuden unterzogen sich die Soldaten dieser Beschwerde, und so ungern der Gouverneur es auch sah, so wagte er es dennoch nicht zu hindern. Die Bürger wählten eine Deputation und sandten sie zum Gouverneur, um ihn zu entschiedenem und kräftigem Handeln aufzufordern. Sie hatten allein bei einer ernsthaften Belagerung der Stadt zu fürchten, waren indeß zu jedem Opfer bereit. Der Graf von Kleist antwortete unbestimmt, ausweichend. Er war bereit mit Ney über den Verrath der Stadt in Unterhandlung getreten und wagte nicht, dieselbe abzubrechen.
Während die Bürger und Soldaten noch auf die Ermannung des Gouverneurs hofften, wußte Napoleon, der am 24. October in Berlin eingezogen war, durch eine Estafette Ney's benachrichtigt, bereits, daß Magdeburg in wenigen Tagen durch Verrath übergeben werde.
Um den Schein eines Verrathes zu vermeiden, sandte Ney nach getroffener Verabredung einen zweiten Parlamentär, um die Stadt zur Uebergabe aufzufordern, und auch diesmal wies der Graf von Kleist in der Mitte seines Stabes und seiner Generäle diese Forderung zurück.
Kurt, der über die Unthätigkeit, zu der die Besatzung verurtheilt war, mit jedem Tage erbitterter geworden war, ließ sich hierdurch nicht täuschen. Weshalb that der Gouverneur nichts, wenn er es ehrlich meinte? Gegen mehrere Kameraden sprach er dies aus, ohne bei ihnen Glauben zu finden.
Auch jetzt sollte seine Ansicht bald Bestätigung finden. Noch an demselben Tage, an welchem des Parlamentärs Forderung zum zweiten Male zurückgewiesen worden war, suchte der Feind von der Neustadt her sich der Stadt zu nähern. Die Neustadt war von dem Major Hollwede mit einem Bataillon des Regiments, welches des Gouverneurs Namen trug, besetzt. Hollwede setzte dem Feinde einen energischen Widerstand entgegen und vertrieb ihn, da er sich in einem großen Cichoriengebäude festgesetzt hatte, mit großer Tapferkeit aus demselben.
Die ganze Stadt war in größter Aufregung. Von Stunde zu Stunde erwartete man, daß dem tapfern Major Unterstützung zugesandt werde, allein derselbe erhielt, obschon er bedeutende Vortheile errungen hatte, den Befehl, sich zurückzuziehen.
Die Erbitterung, welche hierdurch unter den Soldaten entstand, war nur mit Mühe von Thätlichkeiten zurückzuhalten.
Wieder kamen am 6. November zwei französische Parlamentäre in die Festung, mit denen Kleist unterhandelte. Die Unterhandlungen wurden geheim gehalten, trotzdem verbreitete sich am 7. November allgemein das Gerücht, daß der Gouverneur die Stadt übergeben wolle. Jetzt brach der Unwille der Soldaten offen hervor. Sie sammelten sich auf den Straßen und zogen mit lauten Drohungen und stürmend vor das Gouvernementsgebäude. Mit Gewalt wollten sie den Grafen von Kleist zwingen, die Festung zu halten und jede Unterhandlung mit dem Feinde abzubrechen.
Der Gouverneur schien dies vorausgesehen zu haben. Die Wachen vor dem Gebäude waren bedeutend verstärkt und hinderten mit Gewalt das Eindringen. Eine immer drohendere Haltung nahm der Aufstand an. Vergebens suchten einige der Generäle die Soldaten zu beruhigen. Die meisten Officiere theilten. ganz die Stimmung der Soldaten. Jetzt wäre noch Alles zu retten gewesen, hätte nur einer der höheren Officiere den Muth gehabt, sich an die Spitze der aufgeregten Soldaten zu stellen. Es wagte es keiner von ihnen.
Der Graf von Kleist hatte sich in der verzweiflungsvollsten und ängstlichsten Stimmung in ein Zimmer des Gouvernementsgebäudes eingeschlossen. Noch war sein Verrath nicht vollständig vollbracht, denn die Verhandlungen mit Ney waren noch nicht zum völligen Abschluß gekommen – für kurze Zeit wurde er schwankend. Er kannte die Stärke der Festung und wußte, daß er sich auf die Besatzung verlassen konnte, allein ihm bangte vor den Gefahren einer ernstlichen Belagerung. Sein eigenes Leben war dadurch bedroht. Und was hatte er dann zu erwarten, wenn er mit allen Kräften Widerstand leistete und die Festung dennoch endlich fiel! Der ganze Unwille des Feindes mußte sich auf ihn richten. Einer sichern Gefangenschaft ging er entgegen.
Dagegen wog er den Gewinn, den ihm die Uebergabe der Festung brachte. Der französische Kaiser war bereits in Berlin und mächtig genug, ihm einen sichern Schutz zu gewähren. Ney hatte ihm die glänzendsten Versprechungen gemacht, der Schimmer des Goldes blendete ihn, der Klang desselben tönte ihm im Ohre wieder. Die Versuchung war für ihn eine zu große.
Die Stimme seiner Ehre schwieg. Das Alter hatte ihn selbstsüchtig gemacht. Er dachte nicht an das zürnende Urtheil der Geschichte. Nur die Aufregung der Soldaten machte ihm Besorgniß, freilich wußte er, daß die meisten Generäle seinen Absichten geneigt waren.
Der Abend brach herein. Mit Ungeduld hatte er ihn erwartet. Die Aufregung der Gemüther unter den Soldaten hatte etwas nachgelassen, noch glaubte er während der Nacht die Ruhe aufrecht erhalten zu können, und ehe die zweite Nacht sich auf die Erde senkte, mußte das Werk des Verraths bereits vollendet sein.
Er ließ sich die Schlüssel zu sämmtlichen Thoren und Ausgängen bringen. Die Soldaten konnten ja ohne ihn den Entschluß eines Ausfalls fassen und zur Ausführung bringen, wenn die Thorschlüssel in ihren Händen waren. Dem mußte er zuvorkommen. Das Gouvernementsgebäude und die Thore wurden mit Truppen besetzt, auf deren Führer er sich verlassen konnte.
Und als die Nacht völlig hereingebrochen war, sandte er einen geheimen Boten an Ney, der sein Hauptquartier in das nahe Buckau verlegt hatte, um ihn von der in der Stadt herrschenden Stimmung zu unterrichten und auffordern zu lassen, die Verhandlung über die Uebergabe der Stadt und Festung möglichst schnell zum Abschluß zu bringen.
Am folgenden Morgen ließ er durch mehrere seiner Vertrauten in der Stadt das Gerücht verbreiten, daß er die Festung zu halten entschlossen sei, nur um die Soldaten noch den einen Tag hinzuhalten. Und Tausende waren schwach genug, diesem Gerüchte Glauben zu schenken.
Während dessen kam der französische Capitän Regnard in die Stadt und las in dem Gouvernementsgebäude dem Gouverneur und den zum Kriegsrath versammelten Generälen die aufgesetzten Capitulationsbedingungen vor.
Nicht eine einzige Stimme erhob sich. Die Bedingungen wurden im Auftrage Sr. Excellenz des Generals der Infanterie von Kleist, Ritter des königlich preußischen schwarzen und rothen Adlerordens und des kaiserlich russischen Alexander-Newskyordens, Militär-Gouverneur der Stadt und Festung Magdeburg, von dem Generalmajor von Renouard, dem Oberst und Festungscommandanten Du Trossel und dem Hauptmann Le Blanc unterzeichnet.
Eine Schmach für die deutsche Geschichte war hiermit vollendet.
Noch hatten die Verräther indeß ihrer Schande die Krone nicht aufgesetzt. Nachdem die Bedingungen unterzeichnet und noch einige nähere Punkte verabredet waren, führte der Graf von Kleist die Anwesenden zu Tische. Die Gläser klangen, der Champagner schäumte, heiteres Lachen tönte an der Tafel.
Keinem schlug das Gewissen, daß sie über zwanzig Tausend meist tapfere Soldaten ohne Schwertstreich dem Feinde als Gefangene, übergeben wollten. Was hatten sie zu befürchten – französisches Gold wog den Verlust der Ehre auf. Und im Stillen wurden alle Maßregeln getroffen, um einen Aufstand der Soldaten zu verhüten. Sämmtliche Wachen wurden mit Truppen, auf welche man sich verlassen zu können glaubte, verstärkt, und sollte dennoch die Aufregung bis zum Aufstand sich steigern, so war mit dem französischen Befehlshaber bereits die Verabredung getroffen, daß er dann in die Stadt eindringen solle.
Noch am Abend dieses selben Tages erfuhren die Soldaten den schmachvollen Verrath. Ihre Erbitterung kannte keine Grenzen mehr. Zu den Waffen griffen sie und eilten auf die Straßen, um sich mit Gewalt dem schändlichen Werke entgegenzusetzen und die Freiheit zu erringen.
Am meisten von Allen war vielleicht Kurt erschüttert, obschon er es hatte kommen sehen, wie es nun wirklich geschehen war. Er kannte die Bedingungen, daß die Soldaten als Gefangene fortgeführt, die Officiere auf ihr Ehrenwort, nicht gegen Frankreich zu dienen, entlassen werden sollten. Das zürnende Bild seines Vaters stand vor ihm. Selbst im Geiste konnte er dessen Blick nicht ertragen.
Er wollte dies Ehrenwort nicht geben und eben so wenig französischer Gefangener werden, Jetzt war vielleicht der Augenblick gekommen, durch eine entschlossene That den Flecken, den auch er auf seine Ehre gebracht hatte, wieder abzuwaschen.
Auf den Straßen und freien Plätzen stürmten auf und nieder dichte Soldatenmassen. Sie drohten laut, den feigen Gouverneur und die Generäle niederzuschießen und die Stadt in Brand zu stecken, um sie dem Feinde nicht zu übergeben.
Zu dem Gouvernementsgebäude stürmten sie, vernichten wollten sie dasselbe, denn in ihm war ja der schändliche Verrath beschlossen. Allein Geschütze waren vor demselben aufgefahren, Artilleristen mit brennenden Lunten standen daneben, die Wachen standen im Gewehr, und es bedurfte nur eines einzigen Commandos, um die Heranstürmenden mit Kartätschen und Kugeln zu empfangen. Der Graf von Kleist hatte sich vorgesehen.
Die Soldaten wagten sich nicht heran. Ihre ungeordneten Massen hätten nichts auszurichten, vermocht, und es fehlte ihnen an Führern.
Da stürzte sich Kurt unter sie, um sich an ihre Spitze zu stellen und mit Gewalt die Freiheit zu erringen. Er konnte nicht mehr einbüßen als sein Leben, und das zu opfern war er entschlossen.
»Soldaten!« rief er, den gezogenen Säbel in der Rechten haltend. »Soldaten, ein schändlicher feiger Verrath ist an uns verübt. Die Festung soll dem Feinde ohne Schwertstreich übergeben, Ihr sollt als Gefangene nach Frankreich geführt; werden! Noch nie hat ein Soldat seine Ehre so sehr mit Füßen getreten, als der, der diesen Verrath geübt hat. Wir wollen ihn nicht zwingen, denselben zurückzunehmen und die Stadt zu vertheidigen, wer einmal Verrath geübt hat, wird es auch zum zweiten Male thun! Wir wollen die Festung vertheidigen. Achthundert Geschütze stehen auf den Wällen dieser Festung, über zwanzig Tausend tapfere Soldaten umfassen ihre Mauern – der Gouverneur und die wenigen Generäle haben nicht die Macht, Euch zu übergeben, wenn Ihr es nicht wollt. Nicht an sie denkt jetzt, denn sie sind machtlos ohne Euch – auf die Wälle laßt uns eilen – ich will Euch führen, und wenn an jedem Geschütze ein Tapferer mit brennender Lunte steht, dann sind wir die Befehlshaber dieser Festung! Wer noch Ehre besitzt, der folge mir. Fort zu den Geschützen!«
Mit lautem Hurrah wurden seine Worte begrüßt. Seine Wangen waren von dem Feuer der Begeisterung erglüht, seine schlanke, große Gestalt hatte sich noch mehr gehoben, wie ein Heldenjüngling stand er da.
»Wir folgen ihm! Er soll unser Führer sein!« riefen Hunderte, Tausende zu gleicher Zeit und umringten ihn.
Kurt bahnte sich einen Weg zwischen ihnen hindurch.
»So folgt mir!« rief er noch einmal und stürmte mit gezogenem Degen voran.
Mit wildem Geschrei folgten ihm die Soldaten in wirrem Hauben, ohne Ordnung. ohne Gewehre. Kurt konnte sich ja nicht Zeit nehmen, sie zu ordnen, Alles kam auf die nächste Stunde an.
So stürmte er die Straße hinab. An dem Ende derselben trat ihm eine starke Patrouille entgegen. Ein höherer Officier führte sie in eigener Person. Er forderte die Soldaten zur Ruhe und Kurt auf, ihm seinen Degen zu übergeben.
So nahe war die erste Entscheidung schon gerückt. Hier galt es den ganzen Muth zu zeigen.
»Soldaten!« rief Kurt den ihm Folgenden zu. »Vergeßt Eure Ehre nicht – folgt mir! Eure Kameraden werden nicht auf Euch schießen! Nur Muth!«
Er wollte neben dem Officier der Patrouille vorbeieilen.
»Halt!« rief dieser ihm noch einmal zu. »Halt! Oder ich lasse Feuer geben!«
»Kameraden, fürchtet Euch nicht!« ermunterte Kurt die Seinen, ohne still zu stehen.
Fast in demselben Augenblicke traf ihn ein Säbelhieb des Officiers über den rechten Arm. Kraftlos sank derselbe herab, der Degen entfiel ihm.
»Verrath! Verrath!« schrieen die ihm folgenden Soldaten und Hunderte von Säbeln blitzten in der Luft.
Schon war Kurt von der Patrouille erfaßt, da an stürmten die Soldaten herbei und rissen ihn gewaltsam wieder los. Zu einem blutigen Streite würde es gekommen sein, wäre nicht in demselben Augenblicke aus einer Nebengasse eine zweite Patrouille herangekommen. Die Soldaten begriffen ihre gefährliche Lage zwischen zwei Feuern und zogen sich zurück, zufrieden, ihren Führer wieder befreit zu haben.
Der Haufen, der Kurt soeben mit lautester Begeisterung gefolgt war, zerstreute sich mehr und mehr.
Kurt empfand den Schmerz und Blutverlust der Wunde kaum, tiefer schnitt es ihm in's Herz, daß sein Plan mißlungen war, daß er die Soldaten nicht zum festen, geordneten Zusammenwirken zu bringen vermochte. Noch gab er indeß nicht jede Hoffnung auf.
Da trat ihm sein Freund, der Hauptmann von Haug entgegen. Er schien von dem Vorgefallenen bereits in Kenntniß gesetzt zu sein.
»Dommer,« rief er, ihn zur Seite ziehend, »suche Dich zu retten, zu fliehen! Man sucht Dich – Du sollst verhaftet werden – auf Befehl des Gouverneurs!«
»Der ist ein feiger Verräther!« unterbrach ihn Kurt.
»Still – still!« mahnte ihn Haug – »wir sind schändlich verrathen, ich weiß es, und wir sind verloren, weil jeder Gehorsam unter den Unsrigen aufgehört hat. Suche Dich zu retten!«
»Nein,« rief Kurt, »noch gebe ich nicht Alles verloren – an meinem Leben ist nichts gelegen, wenn es mir gelingt, diese Schmach abzuwenden!«
»Auch ich würde mein Leben für den Preis hingeben,« warf Haug ein. »Es ist aber zu spät – es ist nicht mehr möglich. Die Wälle sind bereits besetzt, die Geschütze gewendet – auf uns sind sie gerichtet, um uns zusammenzuschießen, wenn wir es wagen sollten, uns mit Gewalt dem Verrathe zu widersetzen. Glaubst Du, daß man sich nicht vorgesehen hat?«
Einen gewaltigen Eindruck machten diese Worte auf Kurt. Darauf war er nicht vorbereitet. Eine solche Schändlichkeit ging über seine schlimmsten Befürchtungen hinaus. Das lähmte seine Kraft und seine Hoffnungen. Fast willenlos ließ er sich von dem Freunde in ein nahegelegenes Haus ziehen.
»Du würdest Dich nur nutzlos opfern,« flüsterte dieser ihm zu. »Denke an die Deinigen und suche Dich zu retten. Hier wirst Du so leicht nicht gefunden werden!«
Haug führte ihn eine Treppe empor, sprach dort mit einem ihnen entgegenkommenden Manne wenige Worte, worauf dieser bereitwillig ein Zimmer öffnete und sie eintreten ließ.
Durch den Blutverlust, vielleicht mehr noch durch die heftige Aufregung war Kurt gänzlich erschöpft. Er wollte es zu verbergen suchen, einige Minuten lang kämpfte er mit diesem wachsenden Zustande der Schwäche, dann sank er bewußtlos auf einen Stuhl nieder.
Der Lärm auf den Straßen währte fort, noch immer zogen die Soldaten in bald größeren, bald kleineren Haufen umher, zum Theil halb berauscht.
Einzelne Patrouillen schritten durch die Stadt hin, schweigend, mit festem Tritt. Sie wurden wohl hier und dort von den Soldaten verlacht, erwiderten indeß kein Wort darauf. Ihre Führer hatten vom Gouverneur den strengsten Befehl erhalten, nur im äußersten Nothfall einzuschreiten und Alles zu vermeiden, was die Aufregung der Soldaten noch erhöhen könnte. Man fürchtete sie immer noch, obschon die Wälle und die Thore sämmtlich doppelt und dreifach besetzt waren.
Mochten die Soldaten lärmend und schimpfend die Stadt durchziehen, mochten sie Schenkläden erbrechen und sich berauschen, mochten sie selbst jede Gewaltthat gegen die Bürger begehen, darum kümmerte sich der Graf von Kleist nicht, es war ihm sogar lieb, weil er durch solche Excesse den Unwillen der Soldaten von sich ableitete. Nur dies zu erreichen war seine Absicht.
Er selbst saß auf seinem Zimmer und ließ sich von Zeit zu Zeit durch seinen Adjutanten über die Lage in der Stadt Bericht erstatten. Es war schon spät in der Nacht, trotzdem dachte er an keinen Schlaf. Dies war die letzte Nacht, in der er zu fürchten hatte, um so wachsamer mußte er sein.
Sein Adjutant hatte ihn soeben verlassen. Der Bericht desselben schien ihn einigermaßen beruhigt zu haben, denn während er bis dahin fast fortwährend aufgeregt im Zimmer auf und ab geschritten war, warf er sich jetzt in einen Sessel, um dem erschöpften Körper einige Ruhe zu gönnen. Er versank in jenen Zustand des Halbschlummers, in wachem der Geist nur noch halb in der Wirklichkeit haften bleibt und die Sinne mehr und mehr ihre Thätigkeit aufgeben. Eine Zeit lang saß er so regungslos da, ohne zu bemerken, daß ein Mann in das Zimmer trat und auf ihn zuschritt. Erst als er unmittelbar vor ihm stand, fuhr er erschreckt empor und strich mit der Hand über die Stirn, um sich zu überzeugen, daß es kein Traumbild war.
Der Eingetretene war der Hauptmann Hellborn.
»Excellenz, ich würde Sie nicht gestört haben, wenn ich gewußt hätte, daß Sie ruhen wollten,« sprach er. »Ihr Adjutant sagte mir, Sie seien wach.«
»Ich habe auch nicht geschlafen«, erwiderte der Gouverneur unwillig, denn die wenigen Augenblicke Ruhe hatten ihm zu wohl gethan, als daß ihn die Störung nicht hätte unangenehm berühren sollen. »Ich habe nicht geschlafen,« wiederholte er noch einmal. »Es ist spät – ich wollte etwas ruhen – –!«
»Ich bedaure aufrichtig – –« warf Hellborn ein, allein der Gouverneur unterbrach ihn mit der Frage:
»Was führt Sie her? Ist etwas vorgefallen in der Stadt – sind die Soldaten – –?« Er beendete seine Frage nicht.
Ueber des Hauptmanns Gesicht glitt ein Lächeln.
»Von den Soldaten ist nichts mehr zu befürchten – sie haben keinen Führer,« erwiderte er. »Sie machen ihrem Unwillen durch Trinken und Schimpfen Luft – beides wird Ihnen nicht gefährlich werden.«
»Nun?« unterbrach ihn der Graf von Kleist ungeduldig.
»Ich habe trotz aller Nachforschung den Lieutenant Dommer nicht auffinden können,« versetzte Hellborn.
»Er ist verwundet,« warf der Gouverneur ein.
»Ja – er hatte sich an die Spitze der Soldaten gestellt, um die Wälle zu besetzen, die Geschütze in seine Hände zu bringen und sie gegen Sie zu richten, Excellenz.«
Der Graf von Kleist lächelte.
»Ich weiß es,« erwiderte er. »Es wird ihm nicht mehr gelingen.«
»Trotzdem müssen wir ihn verhaften,« warf Hellborn ein.
»Er kann uns nicht mehr schaden, zumal er verwundet ist,« entgegnete der Gouverneur.
Der Hauptmann schien diese Ansicht nicht zu theilen.
»Wir müssen ihn in unsere Gewalt bekommen!« rief er aufgeregt. »Dieser Mensch wird Alles gegen uns aufbieten!«
»Sie hassen ihn?« warf der Gouverneur ein.
»Ja, ich hasse ihn,« fuhr Hellborn mit derselben Aufregung fort. »Er ist mein persönlicher Feind, er weiß, daß ich hier in der Stadt gewesen bin, daß ich die Verhandlungen mit Ney eingeleitet habe – er darf und soll das nicht verbreiten!«
»Sie stehen unter französischem Schutze und haben nicht nöthig, ihn zu fürchten!«
»Ich fürchte ihn nicht,« entgegnete Hellborn, »ich will ihn vernichten. – Excellenz, ich habe in Ihrem Interesse gehandelt, ich selbst trage ja den geringsten Lohn davon, dies geringe Opfer werden Sie mir nicht abschlagen!«
»Was soll ich beginnen?« fragte der Gouverneur. »Auf Ihren Wunsch habe ich einen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt – mehr kann ich nicht thun – ich kann ihn unmöglich selbst aufsuchen!«
Der Hauptmann preßte die Lippen auf einander. Die Worte des Gouverneurs klangen kalt, abweisend. Er wußte, daß derselbe an Kurt's Verhaftung jetzt kein Interesse mehr hatte, weil er ihn nicht fürchtete, allein er war nicht gesonnen, seinen Haß so leicht aufzugeben oder zum Schweigen zu bringen. Vielleicht bot sich ihm nie wieder eine solche Gelegenheit, ihn zu vernichten, dar.
»Excellenz,« fuhr er fort, indem er seine aufgeregte Stimmung möglichst zu beherrschen suchte. »Excellenz, es ist unmöglich, daß der Lieutenant die Stadt verlassen haben kann. Er ist noch in ihr, er hat irgendwo eine Zufluchtsstätte gefunden, in irgend einem Hause, bei irgend einem Bürger, erlassen Sie den Befehl, daß er ausgeliefert werde, und ich bin überzeugt, daß es geschehen wird.«
»Nein,« erwiderte der Graf von Kleist kurz. »Ich habe nichts gegen seine Verhaftung, Sie mögen Ihren Haß an ihm stillen, allein ich beharre dabei, daß seine Verhaftung ohne Aufsehen zu erregen, geschieht. Ich will die Gemüther nicht noch mehr aufreizen. Mögen Sie die Polizei zu Hilfe nehmen, um Ihren Wunsch zu erreichen – ich kann und werde nichts mehr thun.«
»Die Polizei hat ihn bereits vergebens gesucht,« entgegnete Hellborn. »Nicht einmal seine Spur hat sie entdeckt!«
»Nun, so kann ich Ihnen auch nicht helfen!« warf der Gouverneur ein.
Hellborn entfernte sich. Er wußte, daß von dem eigensinnigen Greise nichts weiter zu erlangen war. Um so fester war er entschlossen, Alles aufzubieten, um durch eigene Thätigkeit Kurt in seine Gewalt zu bekommen. Rächen wollte er die Beleidigungen und den Schimpf, welchen er ihm angethan hatte. Er dachte nicht an Schlaf. Was kümmerte ihn eine durchwachte Nacht! Und während dieser Nacht dachte ja überhaupt Niemand an Schlaf, denn noch immer durchzogen die Soldaten lärmend die Straßen und die Bürger waren von doppelter Befürchtung erfüllt – –
In einem kleinen Zimmer eines Hinterhauses lag Kurt. Sein Arm war verbunden. Ermüdet war er, nachdem er zur Besinnung zurückgekehrt, in Schlaf gesunken. Er wußte selbst nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er neu gekräftigt erwachte.
An seinem Lager saß derselbe Mann, der ihm beim Eintritte in dieses Haus entgegengekommen war.
Noch kannte er den Namen desselben nicht, allein von Haug wußte er, daß er ihm vollkommen trauen könne. Wie es in der Stadt stand, wußte er nicht, denn nur selten drang ein Laut von dem Lärm auf der Straße hierher. Eben war er im Begriff, an seinen Pfleger eine Frage deshalb zu richten, als Haug in das Zimmer trat. Er richtete sich im Bett empor.
»Danke Gott,« rief Haug ihm zu, nachdem er das Zimmer vorsichtig wieder geschlossen hatte, »daß Du hier eine Zuflucht gefunden hast. Noch immer wirst Du gesucht – es scheint dem Gouverneur viel daran gelegen zu sein, Dich in seine Hände zu bekommen. Und derselbe Mann, der vor wenigen Tagen die Stadt verließ, Hellborn, ist mir heute Abend begegnet.«
»Du irrst,« fiel Kurt ein. »Er sollte es wagen, hierher zu kommen?«
»Ich irre nicht,« erwiderte Haug. »In meinen Mantel gehüllt, schritt ich über die Straße. Er ging vor mir her und sogleich fiel mir seine lange Gestalt mit dem eigenthümlichen Gange auf. Der Schein eines Lichts fiel auf sein Gesicht – ich erkannte ihn deutlich, ohne daß er mich bemerkte.«
»Wo ist er?« unterbrach ihn Kurt aufgeregt.
»Nicht ungestraft soll der feige Verräther die Stadt wieder verlassen!«
»Still – still,« entgegnete Haug lächelnd. »Er scheint Dich nicht zu fürchten, aber um so mehr Ursache hast Du, Dich vor ihm in Acht zu nehmen – er sucht Dich!«
Kurt vermochte seine Aufregung nicht zu verbergen.
»Er erkannte mich nicht,« fuhr Haug fort. »Mit zwei Männern – es waren Polizeibeamte ging er vor mir her. Er war in tiefem Gespräche mit ihnen und dies Gespräch betraf Dich, denn mehrere Male hörte ich Deinen Namen nennen. Unbemerkt folgte ich ihnen, da vernahm ich so viel, daß er bereits die ganze Stadt nach Dir durchforscht hat. Um ihre Aufmerksamkeit nicht zu erregen, konnte ich ihnen nicht weiter folgen. Der Mensch hat Böses gegen Dich im Sinne.«
»Er haßt mich wie ich auch ihn hasse,« erwiderte Kurt. »Könnte ich nur hinaus, ich würde ihn aufsuchen und mit dem Degen in der Hand ihm entgegentreten.«
»Dann ist es gut, daß Dich Dein Zustand hindert, eine solche Thorheit zu begehen,« fiel Haug ein. »Glaubst Du denn, der Mensch wird sich für einen solchen Fall, den er erwarten kann, nicht hinreichend vorgesehen haben? Er würde sich gar nicht in die Stadt gewagt haben, wenn er für seine Sicherheit besorgt sein müßte. Muth scheint nicht sein Hauptcharakter zu sein!«
»Er ist ein Feigling,« unterbrach ihn Kurt, »sonst würde er mir Genugthuung gegeben haben. Ich bin doppelt verloren, wenn er mich hier findet.«
»Hier bist Du sicher,« entgegnete Haug.
»Ja,« fügte der Mann, der ihn so bereitwillig aufgenommen hatte, hinzu. »So lange Sie in meinem Hause sind, haben Sie nichts zu befürchten. Hier werden Sie am wenigsten gesucht. Mein eigener Bruder ist Polizeibeamter, er wohnt mit in diesem Hause und er kann die Franzosen nicht mehr leiden wie ich selbst, er haßt sie und wird Alles, was in seinen Kräften steht, thun, Sie zu verbergen und späterhin sicher aus der Stadt zu bringen. Er ist seit heute Mittag nicht nach Haus gekommen, sonst würde ich ihn bereits von Allem unterrichtet haben.«
Wenige Augenblicke später wurde der Schritt eines Mannes auf der Treppe vernehmbar.
»Das kann mein Bruder sein,« sprach Kurt's Pfleger und eilte zum Zimmer hinaus.
Kurt schien nichts weniger als beruhigt.
»Du kannst diesem Manne vertrauen,« sprach Haug, die Unruhe seines Freundes bemerkend, »er ist nur ein armer Teufel, ein Schneider, allein ich kenne ihn seit Jahren und weiß, wie zuverlässig er ist.«
»Und wie heißt er?« warf Kurt ein.
»Karsten,« entgegnete Haug.
Der Genannte kehrte in diesem Augenblicke in das Zimmer zurück.
»Dies ist mein Bruder,« sprach er, auf einen Mann zeigend, der ihm folgte.
Dieser trat an das Lager Kurt's, der aufgerichtet im Bett mit starren, Augen ihn anblickte
»Es ist gut, daß ich Sie hier finde,« sprach er. »Mein Bruder hat mir Alles mitgetheilt. Sie haben seit mehreren Stunden die ganze Polizei in Bewegung erhalten. Man sucht Sie überall. Der Fremde hat Dem, der Sie auffindet, einen guten Lohn versprochen.«
»Hellborn,« fiel Kurt ein.
»Ja, so heißt er,« gab der Polizeibeamte zur Antwort. »Sie kennen ihn, das dachte ich mir wohl. Er gab vor, im Auftrage des Gouverneurs zu handeln, der allerdings den Haftbefehl erlassen hat, allein ihm selbst schien am meisten daran zu liegen, daß Sie verhaftet würden.«
»Er ist ein Spion, ein Verräther,« rief Kurt, »und er weiß, daß ich ihn kenne!«
»Um so lieber ist es mir, daß er Sie nicht gefunden hat,« bemerkte der Beamte. »Hier können Sie ruhig bleiben. Ich darf meiner Stellung wegen freilich nichts von Ihnen wissen, allein ich werde die Polizei auf eine ganz falsche Fährte leiten, und wenn Sie hergestellt sind, bringe ich Sie sicher aus der Stadt. Nur Geduld müssen Sie haben – in den nächsten Tagen wird es nicht gehen.«
Das Benehmen, die Ruhe und der offene Blick dieses Mannes flößte Kurt Vertrauen ein. Der konnte nicht zum Verräther werden. Der Gedanke freilich, daß er vielleicht längere Zeit wie ein Gefangener hier bleiben müsse, berührte ihn unangenehm.
»Ich beneide Dich,« sprach Haug. »Wir Officiere werden bei der Capitulation auf unser Ehrenwort hin, in diesem Kriege nicht gegen Frankreich zu dienen, entlassen. Du hast nicht nöthig, dies Ehrenwort zu geben, und kannst wieder gegen Frankreich kämpfen.«
»Man wird mich vielleicht als Deserteur ansehen,« warf Kurt ein. »Glaubst Du, man würde es nicht bemerken, wenn ich beim nächsten Appell nicht da bin?«
Haug schüttelte verneinend mit dem Kopfe.
»Beim nächsten Appell,« wiederholte er. »Derselbe wird stattfinden, wenn wir ausrücken, um die Waffen abzugeben. Dann wird es vielleicht nicht so ruhig hergehen, daß die Abwesenheit eines Einzelnen bemerkt oder großes Gewicht auf sie gelegt wird. Und diese Verrätherei kann ja nicht ungestraft bleiben; der König muß den Gouverneur und die Generäle zur Rechenschaft ziehen – thut er es nicht, so vernichtet er selbst jeden Begriff von Ehre und Treue.«
Er ging fort, um Kurt der Ruhe zu überlassen, welche er nothwendig bedurfte.
Unter lautem Lärmen und Toben der Soldaten war die Nacht verflossen. Größere Gewaltschritte hatten nicht stattgefunden, weil keiner den Muth hatte, sich an die Spitze der Soldaten zu stellen.
Kaum war der Morgen hereingebrochen, so wurden sämmtlichen Soldaten die scharfen Patronen abgenommen und fast wehrlos standen sie nun da. Am Nachmittag des folgenden Tages besetzte eine Compagnie französischer Grenadiere das Ulrichsthor und die Außenwerke desselben. Die Aufregung unter den Soldaten, welche sich anfangs so ungestüm und stürmisch gezeigt hatten, war gewichen, sie hatte einem dumpfen, finstern Unwillen Platz gemacht. Sie kannten das Geschick, welches sie erwartete, und sahen ihm wie Menschen entgegen, denen nicht die kleinste Hoffnung mehr geblieben ist.
Gegen 10 Uhr am 11. November rief lauter Trommelwirbel die ganze Besatzung auf den Alarmplätzen zusammen. Kurt hörte auf seinem Lager das Zeichen, er kannte die Bedeutung desselben und schmerzhaft zuckte sein Herz zusammen.
Die ganze Besatzung stand marschfertig da, die Soldaten schweigend, durch ihre Blicke den inneren Groll verrathend. Die höheren Officiere sprengten an den Fronten herab, als sollte es zur Parade oder in die Schlacht gehen. Sie musterten die verrathenen Truppen.
Gegen elf Uhr rückten die einzelnen Regimenter mit Trommelschlag und klingendem Spiel vor das Ulrichsthor auf das Glacis. Wollte man durch den Trommelwirbel die leise hervorgestoßenen Flüche der Einzelnen unhörbar machen, sollte die Musik in den Herzen der Soldaten die trübe, erbitterte Stimmung verscheuchen? Viele von ihnen weinten vor Wuth und Scham und zertrümmerten Fenster und Laternen auf dem Wege durch die Stadt. Die Officiere ließen es geschehen. Wozu den armen Leuten diese letzte Erleichterung ihrer erbitterten Stimmung untersagen?
Auf dem Glacis hielt der Gouverneur Graf von Kleist, der Verräther der Festung, zu Pferde zwischen dem Marschall Ney und dem General Vandamme. Seine Stirn war dreist genug, sich noch einmal den Soldaten zu zeigen, die er zur Gefangenschaft verkauft hatte.
Die Regimenter defilirten vor den Generälen und einigen aufgestellten französischen Bataillonen vorüber und mußten dann das Gewehr strecken. Mancher laute, wilde Fluch ertönte, mancher Soldat zerbrach das Gewehr, um es dem Feinde nicht unversehrt in die Hände gerathen zu lassen. Zur Vertheidigung des Vaterlandes war es ihm gegeben, und hier – – hier – –!
Kalt, herzlos, ehrlos blickte der Graf von Kleist auf dies traurige Schauspiel herab. Es war sein Werk.
Aufmarschirt standen die Soldaten und Unterofficiere. Noch einmal riefen ihre Officiere sie zur »Achtung!«
»Rechts um kehrt!« wurde commandirt. Die Soldaten führten das Commando aus und wurden nach Frankreich transportirt.
Die Officiere durften ihre Degen behalten und wurden auf ihr Ehrenwort, nicht gegen Frankreich in diesem Kriege wieder dienen zu wollen, entlassen. Noch an demselben Tage mußten sie die Stadt verlassen.
Das schmachvolle Spiel war beendet.
Erst jetzt rückte Ney mit seiner geringen Macht in die Stadt, um die Festungswerke zu besichtigen. Er war erstaunt, sie sämmtlich in dem besten Zustande zu finden.
In der Domdechanei am Neuen Markte nahm er Quartier und sein erstes Werk war, der unglücklichen, verrathenen Stadt unter Androhung der Plünderung 150,000 Thaler abzupressen. Vandamme raubte auf eigene Hand, plünderte die Kaufmannsläden und nahm die besten Pferde für sich.
Am folgenden Tage erließ Napoleon in Berlin den stolzen, triumphirenden Tagesbefehl, daß einem französischen Corps von 7000 Mann mit zwei Haubitzen gegenüber 20 Generäle, 800 Officiere, 20,000 Mann Infanterie, 400 Mann Cavallerie und 2000 Mann Artillerie in Magdeburg die Waffen streckten, und daß den Siegern 54 Fahnen, 8 Standarten, 800 Stück Kanonen, ein Train Pontons, eine Million Pfund Schießpulver und sehr beträchtliche Magazine in die Hände fielen.
Dieser Tagesbefehl enthielt die Wahrheit. Eine größere Schmach war seit langen Jahren nicht auf den deutschen Namen gehäuft worden, und dennoch gab es Tausende, die darüber gleichgiltig lächelten.
Kurt's Wunde hatte sich in den wenigen Tagen auffallend schnell gebessert, so daß er schon jetzt im Stande gewesen sein würde, die Stadt zu verlassen, hätten ihn nicht andere Gründe mehr als zuvor gezwungen, seinen Zufluchtsort nicht zu verlassen.
Durch den Bruder seines Pflegers war er in Kenntniß gesetzt, daß Hellborn noch immer in der Stadt weilte und Alles aufbot, seinen Aufenthaltsort zu entdecken. Die Polizei mußte Tag und Nacht Nachforschungen nach ihm anstellen und fortwährend hielt sich an jedem Thore ein Polizeibeamter auf, um ihn zu verhaften, wenn er unter irgend einer Verkleidung versuchen sollte, die Stadt zu verlassen.
Hellborn schien es mit Bestimmtheit zu wissen, daß er sich noch in der Stadt befand.
Kurt ertrug diese Gefangenschaft nur mit Unwillen. Der Gedanke, ringsum von Franzosen umgeben zu sein, erfüllte ihn mit Unruhe. Er wußte nur zu sicher, daß er rettungslos verloren war, wenn er durch Hellborn entdeckt wurde. Der Haß dieses Mannes würde vor keiner Gewaltthat zurückgeschreckt sein.
Dennoch mußte er sich noch Tage lang gedulden, und wie er aus den ängstlichen Mienen seines Pflegers zu errathen glaubte, hatte sich die Gefahr für ihn noch gesteigert. Da kam eines Abends spät der Bruder desselben und trat zu ihm in's Zimmer. Seine Unruhe vermochte er nicht zu verbergen.
»Sie müssen fort,« sprach er. »Hellborn scheint Ihnen auf der Spur zu sein; aus einer Aeußerung, die er heute gethan hat, schien es mir hervorzugehen. Es ist mir unbegreiflich, wie es ihm gelungen ist, da ich die Polizei auf eine ganz andere Spur geleitet habe. Ich glaube mich nicht zu irren. Und sollte ich mich irren, – nun, es ist immer besser für Sie, wenn Sie aus den Mauern dieser Stadt sind.«
»Mich verlangt danach,« warf Kurt ein – »aber wie soll ich entkommen?«
»Ich habe das Aeußerste gewagt und es wird gelingen, wenn Sie ganz ruhig und unbefangen sind.«
»Ich werde es sein,« bemerkte Kurt.
»Einem mir bekannten Manne habe ich mich anvertraut, einem Weinhändler. Ich wußte, daß er die Franzosen haßt, wie Sie und wie auch ich. Er ist, bereit, Ihnen zu helfen. Morgen früh verläßt er zu Wagen die Stadt, seine Papiere sind ihm heute ausgestellt und in Ordnung. Er ist hier auch bekannt genug. Sie sollen die Rolle des Knechtes, der ihn fährt, übernehmen, und ich denke, es wird Alles gut gehen. Morgen früh ganz zeitig passirt er das Sudenburger Thor – ich habe dort gerade die Polizeiwache, und wenn Sie sich nicht selbst verrathen,« fügte er lächelnd hinzu – »nun so werde ich Sie nicht erkennen.«
Erfreut sprang Kurt auf. Der Gedanke, nun endlich diese Gefangenschaft zu verlassen, erfüllte ihn mit frischem Muthe. Er fürchtete die Gefahr nicht, wenn er ihr nur offen in's Auge sehen konnte.
»Ich will Alles thun, was Sie verlangen,« rief er, »und wenn ich nur mit einem Auge zucke, dann sollen Sie mich selbst verhaften.«
»Noch heute Abend müssen Sie in das Haus des Weinhändlers,« fuhr der Polizeibeamte fort. »Bis Halberstadt können Sie mit ihm fahren – dann werden Sie schon Gelegenheit finden, sicher weiter zu kommen – und auf dem Harze sind Sie ja bekannt. Meinen Bruder habe ich bereits von Allem in Kenntniß gesetzt, er wird sogleich mit dem Zeuge, dessen Sie bedürfen, kommen.«
»Ich werde nie vergessen, was Sie für mich gethan!« rief Kurt bewegt, die Hand des Mannes erfassend.
»Seien Sie nur ruhig,« unterbrach ihn der Beamte lächelnd. »Es kann Niemand wissen, in welche Lage ich selbst noch kommen kann – Sie können vielleicht noch Alles an mir wieder quitt machen. Noch Eins will ich Ihnen aber an's Herz legen. Wenn Sie vielleicht trotz aller Vorsicht dennoch erkannt und verhaftet werden sollten – dann verrathen Sie meinen Bruder und – auch mich nicht!«
»Und wenn ich zehnmal mein Leben dadurch erkaufen kann, so werde ich es nicht thun!« rief Kurt. »Hier meine Hand darauf!«
Er streckte dem Manne die Rechte entgegen. Dieser wies sie zurück.
»Nein,« erwiderte er, »Sie sollen mir die Hand darauf nicht geben, ich glaube Ihnen auch ohne dies – ein Verräther steckt nicht in Ihnen. Nun kommen Sie,« fuhr er fort. »So darf ich Sie nicht gehen lassen. Auf den ersten Blick würde ein Jeder den früheren Officier in Ihnen erkennen – ein richtiger Knecht und Fuhrmann sieht anders aus. Hier setzen Sie sich.«
Kurt that, was er verlangte.
»Ich verstehe noch etwas von den Sachen,« fuhr der Polizeibeamte fort, indem er mehrere Gegenstände, die dazu dienen sollten, Kurt unkenntlich zu machen, aus der Tasche nahm. »In meiner Jugend sollte ich einmal Haarschneider werden, und ich habe die Sache auch einige Jahre lang getrieben, habe frisirt und Locken gebrannt, gepudert und geschminkt. Da bekam ich das Ding aber satt. Ich weiß nicht, ob die Unlust mehr in mir lag, oder nur durch meinen Meister in mir hervorgerufen wurde – kurz ich lief ihm davon. Ich bin seitdem Verschiedenes in meinem Leben gewesen, bis ich endlich Polizeibeamter wurde, um mit der Polizei Frieden zu bekommen. Soviel ist indeß von meiner aufgegebenen Haarkunst noch in mir stecken geblieben, um im Nothfall ein gut gepflegtes Haar in Unordnung bringen und aus einem Officier einen guten Fuhrmann machen zu können.«
Er besaß noch viele Fertigkeit, namentlich im Schminken, denn als er fertig war und Kurt vor einen Spiegel führte, mußte dieser über sein Aussehen laut auflachen, so ernst ihm auch seine ganze Lage erschien.
»Kennen Sie sich wieder?« fragte er lächelnd.
»Nein,« rief Kurt. »Niemand wird mich jetzt mehr erkennen! Unbesorgt würde ich jetzt an meinem erbittertsten Feinde, an Hellborn vorübergehen.«
Seine Maske wurde eine noch täuschendere, als kurz darauf sein Pfleger mit der Kleidung eines gewöhnlichen Arbeiters erschien und er dieselbe angelegt hatte.
Der Polizeibeamte drängte zum Fortgeben.
Nicht ohne Bewegung schied Kurt von dem Manne, der selbst in einer bedrückten Lage ihn so uneigennützig gepflegt hatte. Und er besaß nichts, womit er ihn hätte belohnen können. Das wenige Geld, welches er noch hatte, mußte er behalten, um sich nicht selbst den Weg zum Weiterkommen abzuschneiden. Der Schneider wies auch Alles zurück.
Noch eine Weisung gab ihm der Polizeibeamte, ehe sie das Haus verließen.
»Der Weinhändler wohnt am Breitenwege,« sprach er. »Wir dürfen nicht zusammen gehen; Sie folgen mir in einer Entfernung von einigen Schritten. Bleibe ich stehen, so gehen Sie ruhig an mir vorbei und treten in die zweite Hausthür ein – aber ganz unbefangen – ich werde nachkommen. Jetzt folgen Sie mir!«
Kurt schritt in der angegebenen Weise hinter ihm her. Das Bewußtsein seiner Unkenntlichkeit gab ihm Sicherheit.
Schon hatten sie den Breitenweg erreicht und mußten bald am Ziele sein, als er unwillkürlich eine Secunde lang still stand. Einen Mann sah er sich entgegenkommen, der das Herz ihm schneller schlagen machte – es war Hellborn. Er vergaß in diesem Augenblicke seine Verkleidung, der Gedanke schoß in ihm auf, dem verhaßten Manne, dem Verräther entgegenzutreten – zur rechten Zeit kam er zur Besinnung. Er trug ja nicht einmal Waffen bei sich und war ihm gegenüber schutzlos. Alle Fassung zusammenraffend, schritt er scheinbar ruhig weiter.
Der Hauptmann ging dicht neben ihm vorbei, seine kleinen funkelnden Augen waren auf ihn gerichtet, ihre Arme berührten sich – er hatte ihn nicht erkannt.
Wenige Schritte später stand Kurt's Führer still. Er ging an ihm vorbei und trat in die bezeichnete Thür ein. Auf der unerleuchteten Hausflur wartete er. Nach kurzer Zeit folgte ihm der Polizeibeamte und zog ihn schweigend über die Hausflur auf einen engen Hof. Hier erst schien er sich völlig sicher zu fühlten.
»Sie haben die beste Probe bestanden,« sprach er. »Ich will gestehen, daß mir das Herz pochte, als ich ihn kommen sah und Ihnen doch kein Zeichen geben durfte. Ich hörte Sie still stehen ich glaubte schon Alles verloren, denn dicht an Ihnen vorbei mußte ja der Mensch gehen. Wenn nur der leiseste Verdacht – die geringste Ahnung in ihm aufstieg – so konnte Sie Niemand mehr retten. Gottlob – er hat Sie nicht erkannt nun sind Sie sicher! – Ich hatte nicht darauf gerechnet, ihm zu begegnen – der Mensch treibt sich Tag und Nacht auf den Straßen umher – sicherlich in der Hoffnung, Sie zu finden.«
Selbst den Hausgenossen des Weinhändlers wurde Kurt als neuer Knecht angekündigt, um sie in Unwissenheit und im Falle des Entdecktwerdens auch straffrei zu halten.
Zeitig ging es am andern Morgen fort. Zum Glück war Kurt mit Pferden vertraut und im Fahren nicht ungeübt. In nachlässiger Stellung, vornüber gebeugt, saß er auf dem Wagen. Er wußte, daß seine Freiheit und sein Leben von seiner Besonnenheit abhingen. Nicht durch einen Blick durfte er sich verrathen.
In schnellem Trabe fuhr er zum Thore. Auf der Straße waren nur wenige Menschen zu bemerken. Die Zeit der Arbeit war noch nicht da. Am Thore hielt er still und blieb ruhig sitzen. Der wachthabende Officier untersuchte den Paß des Weinhändlers, der Polizeibeamte wurde aus der Wachtstube herbeigerufen, um auch den Wagen zu durchforschen – es war Alles in Ordnung, und wenige Minuten später fuhr Kurt unter dem Thore durch, über die Zugbrücke und durch die Außenwerke der Festung.
Fest hielt er die Zügel und Peitsche in der Hand. Noch waren die Pferde in ruhigem Gange. Sein Herz schlug aufgeregt, nicht durch das Zucken einer Miene verrieth er, was in ihm vorging.
Als er endlich die letzten Außenwerke der Festung hinter sich hatte, als die Gegend ringsum frei war, da athmete sein Herz leicht auf. Zu schnellem Trabe trieb er die Pferde jetzt an. Seine Flucht konnte ja entdeckt sein, schon waren die Verfolger vielleicht hinter ihm – nur die größte Eile konnte ihn retten.
Er mußte selbst über diese Bilder seiner Phantasie lächeln, und dennoch erhielt er die Pferde im schnellsten Laufe, bis sein Retter ihn mahnte, die Kräfte der Thiere nicht unnütz aufzureiben.
Es war ein klarer, kalter Wintertag. Der Frost hatte die Wege geebnet und festgemacht. In der Ebene lag noch kein Schnee. Kurt empfand die Kälte nicht. Laut auf hätte er in dem Gefühle seiner Freiheit jauchzen mögen. Zu dumpf und schwer hatten die Erlebnisse der letzten Wochen auf ihm gelegen. Wie viel hatte er in ihnen erlebt, und dennoch durfte er mit seinem Geschicke nicht grollen. Noch besser war er daran als seine Kameraden, er hatte sich nicht mit seinem Ehrenworte verpflichtet, nicht gegen Frankreich zu kämpfen. Ungehindert durfte er auf's Neue seinen Arm gegen dasselbe erheben.
Sein nächstes Ziel war freilich seine Heimath.
Und näher und näher kam er den heimathlichen Bergen. Schon erblickte er in der Ferne ihre schneebedeckten Wipfel. Und dreister, ruhiger konnte er jetzt vor seinen Vater hintreten. Er hatte Alles gethan, was in seinen Kräften stand – der Letzte war er gewesen, der sich aus der übergebenen Stadt entfernt hatte.
Ungefährdet erreichte er am andern Tage Halberstadt. Vor ihm lagen die Berge des Harzes, mit denen er von Jugend auf vertraut war, und der letzte Rest der Besorgniß schwand aus seiner Brust.
Vom innigsten Danke bewegt trennte er sich von seinem Erretter. Eine kleine Geldsumme und eine Pistole wollte ihm derselbe aufnöthigen. Er lehnte es ab.
»Nehmen Sie nur,« drängte der Weinhändler ihn. »Sie wissen noch nicht, ob Sie nicht Beides nöthig haben werden, ehe Sie in Sicherheit sind. Das ganze Land ist ja voll Franzosen. Wollen Sie es nicht als Geschenk von mir annehmen, gut, so können Sie es mir späterhin wiedergeben, später, wenn Sie wieder ohne Furcht nach Magdeburg kommen können, wenn die Franzosen zurückgeworfen sind über den Rhein, und die Zeit werden wir Beide erleben, denn so kann es nimmer bleiben, so sehr jetzt auch die besten Männer den Kopf verloren haben!«
Kurt nahm es.
»Ich hoffe es Ihnen selbst bald wieder zu bringen,« erwiderte er. »Unglück und Verrath sind auf unserer Seite gewesen – es muß anders werden!«
Er hatte keine Ahnung, daß Jahre darüber hingehen würden, daß die Zeit der größten Schmach und Leiden für Deutschland erst kommen sollte.
Mit leichten Herzen eilte er seiner Heimath zu. Er sehnte sich darnach. Seit Wochen hatte er von den Seinen, von seiner Braut keine Nachricht.
Die Hauptstraße vermied er so viel als möglich. Ihm waren ja fast alle Pfade zwischen den Bergen bekannt. Ohne alle Papiere, mußte er es vermeiden, irgend wo Verdacht zu erregen oder mit der Polizei in Berührung zu kommen. Sein Vater besaß ja viele Freunde auf dem Harze, namentlich unter den Förstern, bei ihnen konnte er des Nachts sichere Zuflucht finden, ohne daß er nöthig hatte, in irgend einem Wirthshause einzukehren.
Und sogleich für die erste Nacht fand er in dem Hause eines Försters, den er selbst von früher her kannte, willkommene Aufnahme. Hier erhielt er die erste Nachricht von der Verwundung seines Vaters, und daß derselbe noch immer krank darnieder lag.
Die Besorgniß um seinen Vater trieb Kurt früh am andern Morgen weiter. Den nächsten Weg in seine Heimath wollte er einschlagen. Vergebens ermahnte ihn der Förster, es nicht zu thun, weil die Hauptstraße für ihn nicht mehr sicher war. Selbst in den Harz waren schon die geheimen Agenten der französischen Polizei eingedrungen.
Kurt fürchtete sie nicht. Das Gefühl, wieder auf heimischem Boden, in bekannter Gegend zu sein, erfüllte ihn mit Muth. Jede Bitterkeit, welche die Strenge seines Vaters in ihm zurückgelassen hatte, war bei der Nachricht von seiner Verwundung ans ihm geschwunden.
Und wenn er wirklich erkannt wurde, sein starker Arm war bereits wieder kräftig genug, um sich zu vertheidigen, und er war fest entschlossen, seine Freiheit nur zugleich mit seinem Leben zu verlieren. Wohl stieg der Gedanke an Hellborn in ihm auf. Konnte dessen Macht und Verfolgung nicht auch bis hierher reichen? Er selbst hielt diesen Gedanken für Thorheit, weil Hellborn ihm noch in Magdeburg nachforschte.
Noch immer war Kurt in seiner Verkleidung, nur die Maske fehlte ihm, welche ihm der Polizeibeamte in Magdeburg durch seine Schminken so trefflich zu geben verstanden hatte. Er dachte hieran kaum. Unter seinem Rocke trug er ein Pistol, welches ihn im Nothfall schützte.
Auf dem nächsten Wege nach Hasselfelde eilte er weiter. Die Straße war wenig belebt. Zum Theil verschneit, war sie für Fuhrwerk nur schwer zu passiren. Inmitten der Berge und Wälder fühlte er sich wieder wohl. Die reine klare Luft wirkte erfrischend und stärkend auf ihn ein. Lange Zeit schritt er allein. Er wurde nur von zwei Männern eingeholt, welche einfache Arbeiter zu sein schienen. Er hatte keine Lust mit ihnen zu gehen, allein sie knüpften ein Gespräch mit ihm an und setzten es in ruhigster Weise fort. Wohl hörte er an ihrer Sprache, daß sie nicht vom Harze waren, der scharfe forschende Blick des Einen von ihnen fiel ihm auf, allein sie selbst verscheuchten seine Besorgniß bald, indem sie ihm offen mittheilten, daß sie ihn anfangs für einen verkleideten Agenten der französischen Polizei gehalten hätten.
»Wir sind nur einfache Arbeiter,« sprach der Eine von ihnen, »und auch unsere Papiere sind in Ordnung, dennoch weicht man den Leuten gern aus, die einem schaden können, überall streichen jetzt geheime Agenten umher, und es ist ein Leid, daß man selbst hier nicht mehr ganz sicher vor ihnen ist; hat man auch nichts Unrechtes gethan, so können sie doch einem Jeden Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Wie es mir denn erst vor Kurzem ergangen ist,« erzählte der Andere. »Vor wenigen Tagen kam ich die Straße herauf und ging gen Halberstadt. Ein Fuhrmann mit einem kleinen Wagen und nur einem Pferde davor holte mich ein. Er sah, daß ich ermüdet war, und lud mich ein, neben ihm auf dem Wagen Platz zu nehmen. Ich that es gern und ohne irgend einen Argwohn. Der Mann erschien mir ganz einfach und unschuldig. Und dennoch war er ein Agent der französischen Polizei. Ich merkte es erst, als es zu spät war. Er suchte mich auszuforschen, und als er nicht erfuhr, was er wissen wollte, erklärte er mich für seinen Gefangenen. All' mein Protestiren und Bitten war vergebens. Er brachte mich nach Blankenburg, und dort wurden meine Papiere untersucht. Sie waren freilich in Ordnung, dennoch wurde ich einen ganzen Tag dort aufgehalten und hatte die Angst und den Schrecken obenein.«
Seine Erzählung klang natürlich und wahr. Dennoch fiel es Kurt auf, daß die beiden Männer die Unterhaltung mit ihm angeknüpft hatten. Sie würden es nicht gethan haben, wenn sie ihn für einen Agenten der Polizei gehalten hätten. Er sagte ihnen dies.
Der ältere der beiden Männer lächelte verstohlen.
»Wir wollten wissen, wie wir daran wären,« erwiderte er. »Daß Sie nicht ein gewöhnlicher Arbeiter waren, wie Sie es nach Ihrer Kleidung zu sein scheinen, sahen wir sofort. Auch Unsereiner gewöhnt sich in solchen Zeiten, wie sie jetzt sind, einen scharfen Blick an. Die eigene Sicherheit erfordert es. Ihre Hände, Herr,« fuhr er lächelnd fort, »haben noch wenig grobe Arbeit in Ihrem Leben gethan, das sieht man ihnen an, und das verräth auch Ihr Gesicht, daß Sie einem andern Stande angehören, als Ihr Rock zeigt.«
»Ich bin ein Handwerker,« erwiderte Kurt, aber nicht ohne Verlegenheit, weil er so leicht erkannt war.
Sein Begleiter schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich glaube es nicht,« entgegnete er. »Vor uns, Herr, können Sie sich geben wie Sie sind; wir sind keine Verräther. Ich bin in dieser Zeit mehreren Herren wie Sie in einem ähnlichen Rocke begegnet. Es waren preußische Officiere, welche den Franzosen nicht in die Hände fallen wollten, und was in meiner Macht stand, habe ich gethan, ihnen weiter zu helfen.«
Wider seinen Willen war Kurt das Blut in die Wangen gestiegen, so leicht war er verrathen, selbst vor den einfachen Männern.
Dennoch widerstritt er dem Glauben des Mannes.
»Ihr irrt,« sprach er. »Muß jeder Handwerker etwa grobe Hände haben wie ein Schmied oder ein Zimmermann?«
»Nun Herr,« fiel der Mann ein, »ich will nicht, in Ihr Geheimniß dringen. Ein Jeder muß wissen wie viel er sagen und wem er trauen darf. Ich will Ihnen glauben, wenn es Sie beruhigt, sollten Sie indeß, so lange wir bei Ihnen sind, mit einem Agenten der Polizei zusammen kommen, so rechnen Sie auf uns. Ich kann die falschen Menschen nicht leiden und Gott mag geben, daß die Zeit bald kommt, wo sie das Land wieder verlassen müssen.«
Mehr und mehr gewann die einfache und schlichte Art und Weise der Männer Kurt's Vertrauen. Er gab sich ihnen aber dennoch nicht zu erkennen, nicht weil er ihnen mißtraute, sondern weil er befürchtete, sie könnten ihn durch ein unüberlegtes Wort verrathen.
Schnell schwand ihm die Zeit in ihrer Gesellschaft hin und sie dienten ihm sogar zur Beruhigung. Offen erzählten ihm Beide, daß sie früher durch Schmuggeln sich ihr Brod erworben – die Zeit sei nun freilich für sie vorbei. Arglos ließen sie ihn einen Blick in ihr Leben thun. Auch er gab auf mehrere ihrer Fragen unbefangene Antwort, namentlich über das Ziel seiner Reise.
Der Abend war hereingebrochen. Kurt, der mit der Straße vertraut war, wollte, von der Sehnsucht nach den Seinigen getrieben, weiter eilen, vielleicht die ganze Nacht durch, wenn seine Kräfte es gestatteten, dennoch ließ er sich durch seine Begleiter überreden, die Nacht mit ihnen in reinem einsam am Wege gelegenen Wirthshause zuzubringen, um mit ihnen früh am andern Morgen wieder aufzubrechen.
Kurt bereute es nicht, als er in dem warmen Zimmer des Wirthshauses saß und nach dem Marsche dieses Tages die Ermüdung sich schnell bei ihm einstellte. Außer ihnen war Niemand in dem Gastzimmer und der Wirth machte den günstigsten Eindruck auf ihn. Er gehörte zu jenen einfachen, derben Charakteren, wie er so viele aus seiner Heimath kannte.
Seine Begleiter unterhielten ihn auch hier in geselligster Weise, bis er sich nach Ruhe sehnte.
»Haben Sie keine Waffen bei sich?« fragte ihn einer seiner Begleiter flüsternd. »Ich halte dies freilich für ein sicheres Haus und den Wirth für einen ehrlichen Mann – Vorsicht ist indeß immer gut!«
Schon wollte Kurt ihm das Pistol, welches er unter seinem Rocke trug, zeigen, er unterließ es indeß, um in ihren Augen nicht als ängstlich zu erscheinen.
»Hier schlafe ich ohne Besorgniß,« erwiderte er, und wirklich verließ er ohne jede Besorgniß das Zimmer, stieg die Treppe hinan und begab sich in die Kammer, welche der Wirth für ihn hergerichtet hatte.
In der nächsten Nacht schlief er hoffentlich in dem väterlichen Hause. Seine Gedanken eilten dorthin voraus und er empfand schon das beruhigende Gefühl der Versöhnung mit seinem Vater. So schlief er ein.
Stunden waren verflossen, es war spät in der Nacht, als er durch ein leises Pochen an der Thür seines Zimmers erweckt wurde. Er fuhr im Bett empor – hatte er vielleicht nur geträumt?
Das Pochen wurde wiederholt.
»Wer ist dort?« rief er und griff nach dem Pistol, welches er neben dem Bett an der Wand aufgehängt hatte.
»Machen Sie auf!« tönte eine gedämpfte Stimme von außen.
Er sprang aus dem Bette und schritt mit dem Pistol bewaffnet zur Thür.
»Wer ist dort?« fragte er noch einmal.
»Machen Sie auf. – ich bin der Wirth,« wurde von draußen geantwortet.
Er erkannte die Stimme des Wirthes, dennoch zögerte er, dem Verlangen desselben nachzukommen. Konnte ihn nicht das ehrliche Gesicht desselben getäuscht haben, konnte er nicht dennoch Verrath gegen ihn im Sinne führen?
Da dachte er an seine beiden Begleiter. Sie schliefen ja mit ihm unter einem Dache und auf ihre Hilfe glaubte er rechnen zu dürfen.
In der Rechten das Pistol, schob er mit der Linken langsam den Riegel zurück, mit dem er die Thür geschlossen hatte.
Der Wirth trat hastig mit einer kleinen Blendlaterne ein.
»Still – still!« rief er ihm flüsternd zu, indem er die Thür vorsichtig und schnell wieder hinter sich verschloß.
»Was habt Ihr?« fragte Kurt erstaunt. Der Wirth war ohne irgend eine Waffe und er sah, daß seine Befürchtung vor diesem Manne unbegründet war.
Er zog Kurt von der Thür zurück.
»Sie sind in Gefahr,« sprach er mit gedämpfter Stimme. »Ihr Name ist Dommer?«
Erschreckt trat Kurt einen Schritt zurück
»Wer sagt Euch das?« rief er.
»Antworten Sie!« drängte der Wirth. »Mich brauchen Sie nicht zu fürchten. Sie sind der Sohn des Försters Dommer?«
»Ja,« erwiderte Kurt, da er sich einmal erkannt sah, entschlossen, und faßte das Pistol fester.
»Ich kenne Ihren Vater,« fuhr der Wirth fort. »Danken Sie Gott, daß ich Sie zeitig genug warnen kann.«
Kurt begriff ihn noch immer nicht.
»Ich verstehe Euch nicht,« warf er ein.
»Kennen Sie die beiden Männer, mit denen Sie hierher kamen?« fragte der Wirth.
»Nein.«
»Und Sie ahnen auch nicht, wer sie sind?«
»Es sind Arbeiter – ich habe sie nicht zu fürchten. Sie selbst scheuen sich, mit der französischen Polizei in Berührung zu kommen.«
Ein Lächeln flog über das Gesicht des Wirthes hin.
»Sie haben Sie sicher gemacht,« fuhr er fort. »Ein paar schlaue Burschen! Unsereiner kommt im Jahre mit vielen Menschen zusammen. Ein Blick fiel mir bei ihnen auf, den sie einander zuwarfen, als Sie das Zimmer verließen. Das war kein ehrlicher Blick und doch hatte ich gesehen, wie freundlich sie mit Ihnen thaten. In Zeiten wie die jetzigen, Herr, muß man auf seiner Hut sein. Sie suchten mich, als Sie sich zur Ruhe begeben hatten, auszuforschen, wer Sie seien. Nun, ich habe in meinem Leben schweigen gelernt und ohne dies kannte ich Sie ja nicht. Als ich ihnen ein Zimmer für die Nacht anweisen wollte, bestanden sie darauf im Gastzimmer zu bleiben. Ich ließ sie gewähren, war indeß wachsam, denn ich wußte ja nicht, was sie im Schilde führten. Es streift jetzt viel Gesindel umher. Es führt von dem Gastzimmer ein Wandschrank in eine Kammer nebenan und wenn man dort das Ohr an die Wand legt, kann man jedes Wort, das im Zimmer gesprochen wird, verstehen. Dies that ich, als ich ihnen gute Nacht gesagt hatte. Ich ging die Treppe hinauf, schlich mich aber sogleich wieder hinab in die Kammer. Sie hatten keine Ahnung davon und saßen dicht neben dem Ofen, in dessen Nähe der Wandschrank ist. Sie sprachen nur leise mit einander, dennoch konnte ich fast jedes ihrer Worte verstehen. Ich glaubte anfangs nur, sie hätten es auf Diebstahl abgesehen, da hörte ich den Namen Dommer nennen, und weil ich Ihren Vater kenne, wurde ich doppelt aufmerksam.«
»Sie nannten meinen Namen,« unterbrach ihn Kurt. »Es ist nicht möglich, sie können ihn nicht wissen!«
»Sie nannten ihn,« versicherte der Wirth. »Aus ihren Reden ging hervor, daß sie ihrer Sache noch nicht gewiß waren, allein Sie selbst, Herr, scheinen ihnen das Ziel Ihrer Reise mitgetheilt zu haben.«
»Das habe ich gethan,« erwiderte Kurt.
»Daraus schlossen sie es, denn sie suchen Sie.«
»Mich?« rief Kurt erstaunt, der die Wahrheit noch immer nicht ahnte. »Was haben diese Männer mit mir zu schaffen? Wer sind sie?«
»Ahnen Sie das noch nicht?« warf der Wirth ein. »Zwei Agenten der geheimen französischen Polizei.«
»Unmöglich!« rief Kurt.
Das Blut war aus seinen Wangen gewichen. Er schämte sich, daß er sich von diesen Männern so arg hatte täuschen lassen.
»Es ist so, wie ich gesagt habe,« versicherte der Wirth. »Hören Sie mich weiter an. Seien Sie nur ruhig. Noch sind Sie nicht in ihrer Gewalt. Erst morgen früh wollen sie Sie verhaften, dann erwarten sie Verstärkung – sie nannten den Namen eines Mannes, Hellborn – –! «
»Hellborn!« fiel Kurt ihn unterbrechend ein.
»Sie kennen ihn?«
»Ja – ja!« rief Kurt. »Er ist ein französischer Spion, ein Verräther – mein größter Feind!«
»Still – still!« mahnte ihn der Wirth. »Sprechen Sie leise, die dort unten dürfen nichts ahnen, sonst ist Alles verloren und auch mir ergeht; es schlimm.«
Kurt versuchte vergebens seine Aufregung zu bekämpfen.
»Ich kenne ihn nicht,« fuhr der Wirth fort. »Nur aus den Worten der Männer habe ich vernommen, daß von ihm Alles ausgeht, daß ihm viel daran gelegen ist, Sie in seine Gewalt zu bekommen!«
»Ich weiß es,« unterbrach ihn Kurt, »aber so lange ich einen Arm zu rühren vermag, soll ihm dies nicht gelingen.«
»Sie kommen mit Gewalt nicht durch,« bemerkte der Wirth. »Die dort unten scheinen jetzt zu schlafen, zum wenigsten sind sie ganz still geworden. Sie müssen diese Zeit benutzen, um zu fliehen.«
Kurt war bereit dazu.
»Nur vorsichtig,« ermahnte ihn der Wirth. »Auf, dem gewöhnlichen Wege dürfen Sie das Haus nicht verlassen. Darum scheinen Beide unten geblieben zu sein, um die Hausflur zu überwachen. Dies Fenster ist nicht so hoch. Mit einem dreisten Sprunge kommen Sie unten ungefährdet an. Sie sind jung und können es wagen.«
»Ich werde es thun!« rief Kurt und schickte sich zur Flucht an.
»Uebereilen Sie nichts,« warf der Wirth ein. »Lassen Sie mich erst auf meine Kammer zurückgekehrt sein. Dann frisch gewagt. Sie sehen, dort ist der Wald nahe, aber suchen Sie so bald als möglich die Landstraße wieder zu erreichen, denn in dem Schnee können sie zu leicht Ihre Spur verfolgen.«
Kurt reichte dem Wirthe die Hand.
»Wodurch kann ich Euch lohnen?« fragte er bewegt.
»Sprechen Sie nicht davon,« fiel der Wirth ein. »Es ist Pflicht eines jeden rechtschaffenen Mannes, dem andern beizustehen, zumal gegen solch Gesindel. Grüßen Sie Ihren Vater – den kenne ich schon seit Jahren!«
Er verließ das Zimmer.
Eine Zeit lang wartete Kurt. Sein Herz schlug unruhig. Ohne den scharfen Blick dieses Mannes wäre er verloren gewesen und so ruhig hatte er sich niedergelegt. Noch immer hielt er, Alles für einen Traum, wenn er an das offene Wesen seiner Begleiter dachte.
Leise öffnete er das Fenster und horchte. Unten war Alles still. Der Schnee leuchtete so hell, daß er auch in ziemlicher Entfernung jeden Gegenstand zu erkennen vermochte.
Noch einmal untersuchte er sein Pistol. Es war in Ordnung. Dann stieg er in das Fenster. Die Tiefe war unbedeutend, da das Haus mit der Rückwand an einem Hügel lehnte. Ohne Zagen sprang er hinab.
Er fiel vornüber bei dem Sprunge. Schnell wollte er sich emporrichten, da sprang ein Mann hinter dem Hause hervor und erfaßte ihn, ehe er sich völlig aufgerichtet hatte.
»Haha! Der Vogel wäre uns beinahe entflogen!« rief eine Stimme.
Kurt erkannte in ihr den einen seiner Begleiter.
Gewaltsam suchte er sich loszureißen, allein die Hand, welche ihn erfaßt hatte, hielt ihn mit eiserner Kraft fest. Da riß er das Pistol unter dem Rocke hervor. Mit der Angst der Verzweiflung versetzte er dem Manne einen Schlag in's Gesicht. Mit gedämpftem Aufschrei sah er ihn zurücktaumeln, seine Hand löste sich – er war frei und wie ein gehetztes Wild stürzte er fort, in den nahen Wald, immer weiter und weiter.
In dem Wirthshause ging es wild her. Der andere der beiden Agenten war auf den Schrei seines Gefährten herbeigeeilt – und hatte ihn bewußtlos an der Erde gefunden. Den Flüchtigen sah er im Walde verschwinden. Es wäre Thorheit gewesen, ihm nachzueilen. Der Wirth wurde wachgerufen, der Verwundete in's Haus getragen. Noch immer war er ohne Bewußtsein.
Der Schlag hatte ihn schwer getroffen. Das rechte Auge war aus seiner Höhle gequollen, das Gesicht mit Blut überströmt. Wilde Flüche stieß der Andere bei dem Anblick seines Gefährten aus. Dem Geflohenen schwur er den Tod. Nur durch seine Ruhe gelang es dem Wirthe, ihn über seine Mitwissenschaft zu täuschen.
Früh am Morgen kamen zwei andere Männer. Sie unternahmen, nachdem sie von dem Vorgefallenen unterrichtet waren, sofort, den Geflohenen zu verfolgen – es war zu spät. Kurt hatte bereits einen großen Vorsprung voraus, und die genaue Bekanntschaft mit der Gegend ringsum kam ihm ohne dies zu statten.
Der Förster Dommer lag noch immer krank darnieder. Mehr noch als die Wunde hatte ihn die heftige Gemüthserregung mitgenommen. Noch mit keinem Worte hatte er zu seiner Frau oder zu Lenore über die Ereignisse jener Nacht gesprochen, wo er mit Gewalt von den Franzosen gezwungen ward, ihnen den Weg zu zeigen. Durch Bekannte aus Ilfeld hatten sie erfahren, auf welche Weise er verwundet, daß er gefesselt von den Franzosen fortgeführt worden war. Selbst über seine kühne Befreiung waren einige dunkle Worte zu ihnen gekommen. Sie hatten nicht mit ihm darüber zu sprechen gewagt.
Zu dieser finstern Erinnerung gesellte sich für den Kranken der Schmerz über seinen Sohn, an dem sein Herz noch ebenso fest hing, dann das Geschick des Vaterlandes. Die verrätherische Uebergabe der verschiedenen Festungen hatte man ihm nicht verheimlichen können. Auch hierüber sprach er sich nicht aus. Den ganzen Schmerz verzehrte er langsam in sich. Nur aus seinen Träumen errieth seine geängstigte Frau, die keine Stunde von seinem Bette wich, wie viel sein Geist sich mit den Ereignissen beschäftigte, wie tief ihn das Verhältniß zu Kurt kränkte.
Nur einmal hatte er gefragt, ob Kurt noch nicht geschrieben habe. Sie hatte es verneint.
»Auch an Marie nicht?« hatte er weiter gefragt.
Doch auch die Braut hatte keine Zeile von ihm erhalten und seine Frau theilte ihm dies mit.
Daß sie die Wahrheit gesprochen, hatte er in ihren Augen gelesen, wo die Sorge um den Sohn schon manche Thräne hervorgerufen, hatte.
Es war spät Abends. An dem Bette Dommer's saßen seine Frau und Lenore. Ihre bleichen Wangen verriethen, wie viel Angst sie des Kranken wegen schon erduldet hatten. Schweigend lag Dommer da. Die Sorge der Seinigen bekümmerte ihn und doch konnte er sie nicht mildern. Jahre lang hatte ungestörter Friede in diesem Hause geweilt – er schien gewichen zu sein – keine heitre Stimme wurde in ihm mehr laut. Der gleichförmige, langsame Pendelschlag der Schwarzwälder Uhr klang in der Stille ringsum fast unheimlich. Durch nichts wurde er unterbrochen.
Endlich richtete sich der Kranke etwas im Bett empor. Eine Zeit lang ruhte sein Auge schweigend auf dem Antlitz seiner Frau.
»Habt Ihr noch nichts von Kurt gehört?« fragte er endlich.
»Nichts,« erwiderte die Frau, mit Mühe ihre Thränen zurückhaltend, welche die Sorge um den Genannten hervordrängen wollte.
»Und auch Degens wissen nichts?« fragte er weiter. »Er hat ihnen nicht geschrieben?«
»Dommer, würde er nicht an seine Eltern zuerst geschrieben haben?« erwiderte die Frau und aus ihrer Stimme klang ein leiser Vorwurf.
Derselbe entging dem Kranken nicht. Er mußte sich gestehen, daß Kurt stets mit der innigsten Liebe an ihnen gehangen hatte, allein konnte das nicht anders geworden sein, seit – seit jenem Tage, wo er ohne Abschied fortgeritten war! Weshalb hatte er ihnen nicht eine einzige Zeile geschickt?
»Er ist von hier nach Magdeburg geeilt,« fuhr Dommer nach einiger Zeit fort. »Wenn er dort geblieben ist – nun dann ist ja auch er durch die Uebergabe der Festung frei geworden, denn die Officiere sind ja auf ihr Ehrenwort, nicht gegen Frankreich zu dienen, entlassen. Weshalb kommt er dann nicht?«
»Er fürchtet in das elterliche Haus zurückzukehren, wo ihm …!« Die Frau vollendete ihre Worte nicht.
»Sprich es aus, was Du sagen willst,« rief Dommer nicht ohne Aufregung.
Die Försterin schwieg.
»Wo ihm Unrecht geschehen ist, wolltest Du hinzufügen,« fuhr ihr Mann fort. »Ich bin strenge mit ihm gewesen, weil er es verdient hatte. Ist er auch ohne Abschied von mir geschieden, so weiß er doch, daß ich ihn nicht verstoßen würde, wenn er käme!«
»Du hast sein Ehrgefühl zu tief gekränkt,« warf die Frau ein.
»Weil er es vergessen hatte. Und wenn ich wirklich zu streng mit ihm gewesen wäre – es kommt dem Sohne nicht zu, die Worte seines Vaters zu richten – er weiß, wie fest mein Herz an ihm gehangen.«
»Ich fürchte, er wird den Franzosen in die Hände gerathen sein! Er ist vielleicht schon als Gefangener fortgeführt!« rief die Frau in Thränen ausbrechend.
Dem Kranken hatte diese Befürchtung schon mehr als eine unruhige Stunde bereitet. Er hatte sie seiner Frau verborgen.
»Weißt Du etwas darüber?« fragte er und seine Stimme klang weich.
»Ich weiß nichts, aber er würde uns nicht ohne jene Nachricht gelassen haben, wenn ihm nicht irgend etwas zugestoßen wäre!«
»Du wirst Dich irren. Mach' Dir nicht vor der Zeit Sorgen,« suchte sie Dommer zu beruhigen. »Und wäre es so – Gefangenschaft ist nicht das Schlimmste, was einem Soldaten begegnen kann, wenn er sonst seiner Ehre nichts vergiebt!«
Er wurde durch das Anschlagen der Hunde unterbrochen. Feste Schritte wurden gleich darauf auf dem Hofe vernehmbar. Lenore eilte hinaus und kehrte wenige Minuten später mit dem Amtmann Degen in das Zimmer zurück.
Das Gesicht des Amtmanns glänzte freudig.
»Förster,« rief er, »ich bringe gute Nachricht!«
»Von Kurt?« unterbrach ihn Dommer hastig fragend.
»Von ihm,« bestätigte Degen.
»Er hat geschrieben?« fragten der Förster und seine Frau zu gleicher Zeit.
»Er ist selbst gekommen.«
»Zu Ihnen – nicht zuerst in sein Vaterhaus?« rief der Kranke und über sein freudiges Gesicht zog ein trüber Schatten.
»Nur ruhig, Förster,« erwiderte der Amtmann lächelnd. »Nur nicht sogleich wieder eine Wetterwolke auf der Stirn. Sind Sie hitzig! Erst hören Sie mich an.«
Er erzählte ihm nun, daß Kurt gegen Abend gänzlich erschöpft bei ihm angekommen sei und theilte ihm Kurt's ganze Erlebnisse in Magdeburg und auf seiner Reise mit.
Das Gesicht des Försters hatte sich mehr und mehr wieder aufgeklärt.
»Und weshalb ist er nicht hierher gekommen?« fragte er ungeduldig.
»Förster, denken Sie nach!« rief der Amtmann. »Mußte er nicht erwarten, hier jede Stunde von seinen Verfolgern überfallen zu werden. Sie wußten, daß er hierher reiste! Und dann noch Eins,« fügte er zögernd hinzu – »er wußte ja auch nicht, wie Sie ihn empfangen würden.«
Dommer antwortete auf diese Worte, die einen Vorwurf für ihn enthielten, nicht.
»In Magdeburg hat er die Soldaten anführen wollen, um sich der schändlichen Uebergabe der Festung zu widersetzen, sagen Sie?« fragte er.
»Das hat er gethan und ist dabei verwundet worden,« bestätigte Degen.
»Und er – er hat sich nicht mit seinem Ehrenworte verpflichtet, nicht gegen die Franzosen zu kämpfen?« fragte er weiter.
»Auch das nicht,« erwiderte der Amtmann.
»Dann soll er herkommen, zu mir!« rief der Förster. »Er selbst soll mir das Alles erzählen aus seinem Munde will ich es hören!«
»Er würde noch diese Nacht kommen, denn sein Herz trieb ihn gewaltig her,« sprach Degen. »Ich darf es nicht zugeben – er ist bis zum Tode erschöpft und bedarf der Ruhe. Nur auf großen Umwegen, durch die wildeste Gegend ist er hierher gelangt.«
»Nun dann morgen,« fiel Dommer ein.
»Am Tage darf er es nicht wagen.«
»So komme ich zu Ihnen,« rief der Förster, seine Krankheit ganz vergessend. Er fühlte ja in diesem Augenblicke weder Schmerzen noch Schwäche!
Der Amtmann lächelte über seine Ungeduld.
»Wenn Alles hier ruhig bleibt, werde ich ihn morgen Abend spät hierher bringen,« erwiderte er. »Bis dahin müssen Sie sich gedulden. Sie können sich ja auf Ihren Jäger verlassen. Lassen Sie ihn den Morgen umherspähen, ob Alles sicher ist – wir müssen vorsichtig sein. Hellborn wird Alles aufbieten, ihn in seine Gewalt zu bekommen!«
Ein leiser Fluch stahl sich bei Nennung dieses Namens über die Lippen des Kranken. Mit diesem Manne hatte er auch noch eine Rechnung abzuschließen.
Der Amtmann kehrte zu seinem Gute zurück.
So spät es auch geworden war, so begleitete ihn doch Lenore, um den Bruder wiederzusehen.
Kurt war am andern Tage in glücklichster Stimmung und sah dem Scheiden des Tages eben so ungeduldig entgegen als daheim sein Vater. Ausgesöhnt mit ihm, an der Seite seiner Verlobten und Schwester, vergaß er alle die Beschwerden, welche er durchgemacht hatte. So wenig er sich auch die Gefahr verhehlte, der er selbst auf dem Gute Degen's ausgesetzt war, so sah er ihr doch mit frischem, festem Muthe entgegen.
Ruhig schwand der Tag dahin. Lenore war zum Försterhause zurückgekehrt und sandte gegen Abend die Nachricht, daß nirgends ein verdächtiges Zeichen zu bemerken sei. Dennoch überwand Kurt auf Degen's Zureden seine Ungeduld bis spät am Abend. Da brach er endlich, von dem Amtmann begleitet, auf zu dem väterlichen Hause. Sein Herz schlug aufgeregt schnell. Von der Schwester wußte er, wie viel sein Vater erduldet hatte, und ihn wiederzusehen sehnte er sich am meisten.
Es war ein unfreundlicher, stürmischer Abend geworden. In dünnen, harten Krystallen fiel der Schnee nieder und der Wind trieb ihn auf den freien Stellen gleich Staubwolken vor sich her. Der Wald gewährte freilich einigen Schutz.
Kurt bemerkte die Ungunst des Wetters kaum. Nur mit Mühe vermochte sein Begleiter ihm zu folgen, so hastig eilte er weiter. In wenigen Minuten mußte er das Försterhaus erreicht haben, da hörten sie hastige Schritte sich entgegen kommen.
Unwillkürlich ergriff Kurt das Pistol, mit dem er sich bewaffnet hatte, und trat zur Seite hinter einen Felsen.
Der sich dem Amtmann Degen und Kurt Nahende war der Jäger des Försters Dommer.
Der Amtmann erkannte ihn sofort und trat ihm entgegen.
»Wohin wollen Sie?« rief er ihm zu.
»Zu Ihnen,« antwortete der Jäger hastig. »Ich wollte Ihnen Nachricht bringen – das Försterhaus ist umstellt – mit Gensd'armen – es wird durchsucht!«
»Jetzt – jetzt?« warf Degen erschreckt ein.
»In diesem Augenblicke. Ich kam soeben aus dem Walde heim. Ich sah zwei Gensd'armen vor dem Försterhause, daneben einen Mann, dicht in einen Mantel gehüllt – es war der Hauptmann Hellborn –!«
»Hellborn!« rief Kurt. Der Haß gegen diesen Menschen hatte sich in ihm nie so stark als in diesem Augenblicke geregt. Fand er nirgends Ruhe vor ihm! »Er soll es büßen!« fuhr er fort und wollte in der ersten Aufregung auf das Försterhaus zueilen.
Der Amtmann hielt ihn zurück.
»Seien Sie nicht thöricht! Sie wären verloren! – Wissen die Gensd'armen, daß Sie hierher geeilt sind?« fügte er sich an den Jäger wendend hinzu.
»Unmöglich – denn sie haben mich nicht gesehen. Um nicht von ihnen zurückgehalten zu werden, eilte ich sofort hierher. Wäre ich fünf Minuten später gekommen, so wären Sie ihnen gerade in die Arme geeilt! – fliehen Sie,« wandte er sich an Kurt. »Auf Sie allein scheint es abgesehen zu sein!«
»Ich weiß es,« erwiderte Kurt mit heftiger Erbitterung. »Ich werde indeß nicht eher fliehen, als bis dieser Hellborn seinen Lohn empfangen hat!«
»Kommen Sie – kommen Sie!« rief der Amtmann, Kurt's Arm erfassend und ihn fast gewaltsam mit sich fortziehend.
Sie eilten zu Degen's Gute zurück. Der Jäger ging mit ihnen, um sie im Nothfall unterstützen zu können.
Sie traten aus dem Walde. In geringer Entfernung lag das Gut vor ihnen.
»Was ist das?« rief Degen plötzlich, indem er still stand. Er deutete mit der Hand auf sein Haus.
Vor kaum einer Stunde hatte er es mit Kurt in größter Ruhe und Einsamkeit zurückgelassen, nur seine Frau und Tochter waren zu Haus, und jetzt sah er fast alle Fenster des oberen Stockwerks erhellt und Lichter sich in demselben unruhig hin und her bewegen.
»Kurt, was ist das! Was geht dort vor!« wiederholte er, da er es sich nicht zu erklären vermochte.
»Sollte nicht auch bei Ihnen durch Gensd'armen nachgeforscht werden,« warf der Jäger ein.
»Unmöglich!« rief Degen.
»Weshalb nicht,« entgegnete Kurt mit dem bittern Spott der höchsten Aufregung. »Hellborn weiß ja, daß ich mit Ihrer Tochter verlobt bin! Haha, er hat ganz recht vermuthet, daß ich bei Ihnen sein würde, wenn ich nicht bei meinem Vater wäre! Um indeß sicher zu gehen, läßt er in beiden Häusern zu gleicher Zeit nachforschen!«
Diese Vermuthung gewann nur zu viel Wahrscheinlichkeit.
»Nun, ich werde mich selbst davon überzeugen!« rief der Amtmann.
»Lassen Sie mich dies thun,« warf der Jäger ein. »Bleiben Sie hier, in kurzer Zeit werde ich zurück sein. Sollte mir dies nicht möglich sein und Gefahr für Sie nahen, so werde ich Ihnen mit einem Schusse ein Zeichen geben.«
Er wollte schon forteilen.
Der Amtmann hielt ihn noch zurück.
»Seien Sie vorsichtig,« ermahnte er ihn. »Gehen Sie nicht über den Hof, sondern durch den Garten. Dorthin können Sie unbemerkt gelangen und Alles beobachten.«
Der Jäger versprach es und eilte fort.
»Dieser Hellborn setzt Alles daran, mich zu vernichten!« sprach Kurt. »Wie er nur erfahren haben mag, daß ich Magdeburg verlassen habe! Nun, einmal werde ich hoffentlich noch allein mit ihm zusammentreffen! Dann werde ich nicht Genugthuung von ihm verlangen, sondern ihn als Verräther behandeln!«
Fortwährend sahen sie auf dem Gute Lichter durch alle Zimmer sich bewegen. Selbst vom Hausboden drangen einige Lichtstrahlen zu ihnen.
Degen vermochte seine Befürchtung nicht zu verbergen, daß die Gensd'armen gegen seine Frau und Tochter sich roh benehmen könnten. Sie standen für den Augenblick ja schutzlos da.
Kurt suchte ihn zu beruhigen, so wenig er selbst auch ruhig war. Er wußte ja, wie roh und gewaltthätig die Franzosen im Lande auftraten, am schlimmsten die Polizei, welche sich stets für ihre Bemühungen schadlos zu halten wußte.
Der Jäger kehrte zurück.
»Fliehen Sie – fliehen Sie!« rief er athemlos Kurt zu. »Das ganze Gut ist umstellt! Es gelang mir, durch den Garten mich nahe heran zuschleichen. Sie hatten das Haus bereits durchsucht.«
»Und meine Frau und meine Tochter?« warf Degen besorgt ein.
»Ich sah sie durch das Fenster im Zimmer. Es war unmöglich, mich ihnen unbemerkt zu nähern und sie zu sprechen.«
»Ich fliehe nicht!« rief Kurt. »So nahe dem Vaterhause, soll ich wieder fort, ohne meine Eltern gesehen zu haben!«
»Sie müssen fliehen!« drängte der Jäger in ihn. »Hinter einem Holzhaufen, nahe dem Hause hatte ich mich versteckt. – Ich hörte die Gensd'armen unwillig fluchen, als sie aus dem Hause kamen und Sie nicht gefunden hatten. Sie wissen, daß Sie hier sind. Die ganze Gegend wollen sie durchforschen. Fliehen Sie – es ist die höchste Zeit. Ich wäre früher hierher zurückgekommen, allein ich konnte mich nicht eher unbemerkt entfernen.«
Schweigend stand Kurt da.
»Sie müssen fliehen,« drängte auch Degen in ihn. »Wenn die Polizei einmal weiß, daß Sie hier sind, so kann sie jede Stunde zurückkehren!«
»Ich will meinen Vater erst sprechen,« entgegnete Kurt. »Dann – dann will ich auf's Neue fliehen!«
Degen suchte ihm dies auszureden, und es gelang ihm.
»Wohin soll ich fliehen! rief Kurt. »Wo bin ich sicher vor der Polizei!«
»Fliehen Sie zu dem Förster Brandes bei Treseburg,« entgegnete Degen. »Er ist ein Freund Ihres Vaters und bei ihm wird Sie Niemand finden. Dorthin in das wilde Thal der Bode dringt keiner von Ihren Verfolgern. Schon morgen können Sie Treseburg erreichen!«
»Ich begleite Sie!« erbot sich der Jäger.
Kurt lehnte dies ab.
»Eilen Sie zu meinen Eltern,« bat er. »Sie werden meinetwegen in Besorgniß sein. Sagen Sie ihnen, wohin ich mich gewandt habe. Sobald es geht, werde ich zurückkehren.«
Noch eine kurze Strecke begleitete ihn Degen. Dann sehnte er sich nach den Seinigen zurück. Bewegt nahmen Beide von einander Abschied. Wußte doch keiner von ihnen, wie lange die Trennung dauern würde und welche Geschicke in der unruhigen Zeit schon der nächste Tag für sie bringen könnte.
Allein wanderte Kurt hinaus in die Nacht, mühsam zwischen Felsen einem verschneieten Pfade folgend. Selbst von seiner Braut hatte er ohne Abschied scheiden müssen. Bitterer Groll erfüllte ihn.
Auch er hing jetzt nur dem einen Gedanken nach, wie er sich an dem Manne, der dies Geschick über ihn gebracht, rächen könne. – –
Während der Jäger fortgeeilt war, um Kurt von der Gefahr, die ihm im väterlichen Hause bedrohte, zu benachrichtigen, waren die Bewohner des Försterhauses in der größten Aufregung.
Die Gensd'armen hatten das Haus gleichsam überfallen und verfuhren in ihm in der brutalsten Weise. Außer Stande, ihnen in irgend einer Weise entgegenzutreten, bat der Förster seine Frau, ihnen bereitwillig jedes Zimmer zu öffnen. Mit Mühe suchte er seine Aufregung zu bekämpfen. Jeden Augenblick konnte Kurt ankommen. Er hatte keine Ahnung davon, daß der Jäger zu dessen Warnung fortgeeilt war.
In namenloser Angst saß Leonore an dem Lager ihres Vaters. Der Schrecken hatte auf ihren sonst so festen und ruhigen Charakter gleichsam betäubend eingewirkt. Vergebens suchte ihr Vater sie zu beruhigen. Die lauten Stimmen und Tritte der Männer über ihnen im Hause, wo sie keinen Winkel undurchsucht ließen, machten sie stets auf's Neue wieder erzittern.
»Sei ruhig, Kind,« sprach der Kranke zu ihr. »Sieh, es ist ein Glück, daß Kurt nicht früher gekommen ist. Wir erwarteten ihn mit Ungeduld, wir waren unwillig, weil er so lange zögerte nun ist es zu seinem und zu unserem Glücke gewesen.«
Lenore vermochte kaum zu antworten.
»Ich fürchte mich vor diesen Männern,« erwiderte sie. »In ihren Blicken lag so viel Hohn und Kälte.«
»Natürlich,« warf der Kranke, sich zu einem Lächeln zwingend, ein. »Wer sich zu einem solchen Handwerk hergiebt, kann kein Herz mehr haben. Sein Geschäft erfordert ja, Andere, und nicht immer die Schuldigsten, in's Unglück zu stürzen. Sie werden unwillig sein, vielleicht schimpfen, weil sie ihre Absicht nicht erreichen, allein sie werden um so eher wieder fortgehen, und dann kann ich sogleich einen Boten an Kurt schicken, um ihn benachrichtigen zu lassen – er darf heute nicht mehr kommen.«
»Und wenn sie ihn nun auch bei Degens aufsuchen!« warf Lenore ein.
Auch in dem Förster war diese Befürchtung bereits aufgetaucht. Er durfte sie nicht laut werden lassen, um das Mädchen nicht noch mehr zu ängstigen.
»Woher sollten sie wissen, daß er dort ist,« erwiderte er. »Und wenn sie wüßten – der Bote wird eher nach dem Gute kommen als sie, und Kurt noch Zeit genug gewinnen, zu fliehen, oder zum wenigsten auf seiner Hut zu sein.«
Die Gensd'armen kamen die Treppe herab und traten in das Zimmer.
Aufgerichtet im Bette, mit der größten Ruhe erwartete sie der Kranke. Er hatte ihnen ja sogleich gesagt, daß Kurt nicht im Hause sei.
»Ihr habt Euren Sohn dennoch versteckt,« herrschte ihn einer der Gensd'armen an. »Wir wissen, daß er hier ist!«
»Er ist nicht hier,« erwiderte Dommer ruhig.
»Ha! Und er ist auch nicht hier gewesen?« forschte der Gensd'arm weiter.
»Nein,« gab der Kranke mit derselben Ruhe und Bestimmtheit zur Antwort.
»Ihr lügt! Wir wissen es genau!« rief der Gensd'arm, dicht an das Bett herantretend. »Noch giebt es indeß ein Mittel, Euch die Wahrheit abzunöthigen!«
Die Stirn des Kranken zog sich zusammen. Sein Auge leuchtete, fest, unerschrocken blickte er den Mann an.
»Ich habe die Wahrheit gesprochen,« entgegnete er. »Mein Sohn ist nicht hier gewesen!«
»Wo ist er?« fuhr der Gensd'arm befehlend fort.
Der Förster zögerte mit der Antwort. Es durchzuckte ihn, daß er Kurt nur durch eine Unwahrheit retten konnte. Sein ganzes Leben hindurch war die Wahrheit für ihn die erste Regel gewesen.
»Ich weiß es nicht,« gab er zur Antwort. »Und wenn ich es wüßte – meinen Sohn würde ich nimmermehr verrathen!«
»Ha! Ihr würdet es nicht? Ihr wagt zu trotzen? Mir?« rief der Gensd'arm. »Mir wagt Ihr zu trotzen?«
Er erhob den Arm über den Kranken.
Zitternd hatte Lenore daneben gestanden. Sie sah die Bewegung des rohen Menschen und ehe noch sein Arm niederfiel, warf sie sich mit lautem Aufschrei zwischen ihn und ihren Vater.
»Zurück mit der Dirne!« rief der Gensd'arm, dadurch noch mehr gereizt.
»Ich werde meinen Vater schützen!« rief Lenore entschlossen.
Der rohe Mensch lachte auf.
»Haha! Ich werde Dich Vögelchen in das Zuchthaus oder in ein anderes Haus bringen. Dorthin gehörst Du! Sei nur nicht spröde!«
Er schlang den Arm um Lenorens Taille.
»Vater – Vater!« schrie das geängstigte Mädchen.
»Laßt mein Kind los – berührt es nicht!« rief Dommer, sich hoch emporrichtend.
Der Gensd'arm lachte und suchte das sich sträubende Mädchen noch näher an sich zu ziehen.
»Laßt mein Kind los,« rief der Förster noch einmal, und als der Mensch auch jetzt nicht hörte, nahm er die schwachen Kräfte zusammen und stieß ihn heftig zurück.
Wüthend ließ der Gensd'arm das Mädchen fahren und stürzte sich auf den wehrlosen Kranken.
In rohester Weise mißhandelte er ihn. Lenore ihre herbeistürzende Mutter warfen sich über den Kranken, um ihn zu schützen und die Schläge des Unmenschen aufzufangen – auch sie wurden von ihm gemißhandelt.
Kein Arm war zu ihrer Hilfe da.
Laut schimpfend und fluchend verließ der Gensd'arm endlich das Haus.
Einem Todten gleich lag der Förster da. Schwer röchelnd holte seine Brust Athem. Sein ganzer Körper zitterte.
Da erscholl auf dem Hofe ein lautes, höhnendes Gelächter. Der Kranke schlug die Augen auf, er versuchte sich emporzurichten, mit der Hand zeigte er auf das Fenster. Das Lachen war in sein Ohr gedrungen – war es eine Täuschung – er kannte dieses Lachen – es war Hellborn's Stimme! Sollte er – er! Sein Blick wurde starrer und starrer, die Brust rang nach Athem! Sollte der Mensch – er vermochte die Aufregung nicht zu bewältigen – bewußtlos sank er auf das Lager zurück.
Eine traurige Nacht brach an.
Ihre eigene Mißhandlung fast vergessend, die Schmerzen derselben überwindend, saßen die Försterin und Lenore an dem Bette des Kranken. Er war zur Besinnung zurückgekehrt, sein Zustand ängstigte sie mehr denn je. Noch kein Wort war über seine Lippen gekommen. Der Jäger hatte die Nachricht gebracht, daß Kurt gerettet und geflohen sei, sie hatten es ihm leise mitgetheilt, ohne daß er das geringste Zeichen der Freude oder Theilnahme geäußert hatte.
Starr war sein Auge auf die Decke des Bettes gerichtet. Keine Ruhe kam über seinen erschöpften Körper. Wild jagten die Gedanken durch seinen Kopf hin. Das Bild eines Mannes erblickte er, von dem alle diese Leiden und die Schmach, die ihn betroffen hatte, ausgegangen waren. Immer und immer wieder hallte ihm das höhnende Lachen in die Ohren. Es war Hellborn's Stimme gewesen! Die Rache dieses Menschen kannte keine Grenzen, er war ihr hilflos preisgegeben, und doch reuete es ihn auch nicht einen Augenblick, daß er sein Kind, Lenore, ihm nicht geopfert hatte. Einmal mußte ja doch auch für ihn die Stunde der Vergeltung kommen, und schon jetzt klammerte er sich im Geiste an diese Stunde an, schon jetzt hoffte er auf sie, und diese Hoffnung war es, welche den schwachen Lebensfunken in ihm noch aufrecht erhielt. –
Traurige Zeiten brachen für Deutschland herein.
Dem Beispiele Magdeburgs folgten die meisten preußischen Festungen, und Preußens Macht, welche noch vor wenigen Monaten scheinbar unerschütterlich dagestanden, war vernichtet.
Fast die größere Hälfte Deutschlands war in der Macht des französischen Herrschers. Die Staaten des Rheinbundes waren zu französischen Vasallenstaaten herabgesunken. Napoleon's Wille war Befehl für sie, seinen ehrgeizigen Plänen mußten sie dienen. Die unglückselige Uneinigkeit der deutschen Fürsten wurde, wie schon öfter, zum Fluche für das deutsche Volk, denn das Volk hatte vor Allem zu dulden, auf ihm lagen die ganzen Lasten, der ganze Druck, welchen der übermüthige Sieger auf die bezwungenen Länder ausübte.
Schon am 10. November 1806 war Bisson im Namen seines Kaisers als französischer Gouverneur an die Spitze der hannoverschen, braunschweigischen und hildesheimischen Länder gestellt worden und hatte in ihnen eine vollständige französische Regierung errichtet. Immer deutlicher trat hervor, wie Napoleon Alles aufbot, in Deutschland festen Fuß zu fassen. Er sah die eroberten Länder als sein Eigenthum an und es war Niemand, der ihm entgegentreten konnte.
Wohl hoffte das ganze Volk auf einen baldigen Umschwung dieser traurigen, drückenden Verhältnisse, allein Napoleon's Glück war immer noch im Steigen begriffen. Die unglückliche Schlacht bei Friedland brachte Preußens Geschick zum Abschluß, und in dem Frieden von Tilsit am 9. Juli mußte Preußens König die größere Hälfte seines Landes dem übermüthigen Sieger abtreten.
Jetzt sank auch die lange aufrecht erhaltene Hoffnung des deutschen Volkes.
Napoleon vereinte die Länder Hannover, Braunschweig, Hessen, Hildesheim, die Altmark, Halberstadt, Hohenstein, Magdeburg, Mansfeld, Quedlinburg, Mühlhausen u. s. w., einen Flächenraum von 688 Quadratmeilen mit fast 2 Millionen Einwohnern, zu einem neuen Königreiche Westfalen, und gab dasselbe seinem jüngeren Bruder Hieronymus.
Die ganzen Zustände in diesen Ländern wurden nach französischen Gesetzen gestaltet. Je unwilliger das Volk dies neue Joch ertrug, um so schwerer wurde der Druck.
Gensd'armen und geheime Polizeiagenten durchströmten das ganze Land, drangen selbst in die Familien, bestachen mit demselben Golde, welches das Voll durch zahllose Steuern und Abgaben aufgebracht hatte, wo sie keinen Zutritt fanden, und scheuten vor keiner Gewaltthat zurück, wenn ihre List und Bestechung nicht ausreichte.
Es waren heillose Zustände.
Anfangs wirkten sie niederschlagend und entmuthigend auf das Volk, bald riefen sie eine dumpfe, finstere Gährung hervor, welche nur durch die Furcht noch niedergehalten wurde. In Cassel füllten sich die Gefängnisse. Ein einziges unvorsichtiges Wort konnte dorthin führen. Niemand war selbst in seinem Eigenthum mehr sicher. Ueberall schien die Polizei ihre Ohren zu haben. Sie denuncirte selbst Unschuldige, nur um den Lohn dafür zu bekommen und sich bei den Vorgesetzten beliebt zu machen, und wer einmal verhaftet war, konnte lange Zeit im Gefängnisse schmachten, ehe er nur verhört wurde, und auch dann unterlag seine Unschuld oft gegen bestochene, falsche Zeugen.
Die schlechtesten Subjecte drängten sich zum Dienste der Polizei. Sie hatte die Macht in den Händen, und bei ihr war viel zu verdienen.
Das Land seufzte schwer unter diesen fluchwürdigen Zuständen. Bitterster Ingrimm erfüllte die Brust der meisten Männer, aber ohnmächtig standen sie da, ihre Hände waren gebunden, ihre Schritte bewacht, ihre Worte belauscht.
Trotz dieser Zustände, welche den stärksten Charakter niederzubeugen und zu entkräften im Stande waren, hatte der Förster sich langsam erholt. Der hereinbrechende Frühling und Sommer kräftigten ihn immer mehr. Anfangs konnte er nur langsam am Stocke und, durch Lenore oder seine Frau unterstützt, an sonnigen Tagen in dem kleinen Garten neben dem Hause auf und ab gehen, aber die Kraft wuchs und als der Herbst nahte, war er so weit wieder gekräftigt, daß er mit der Büchse über der Schulter zum ersten Male wieder seit fast einem Jahre in den Wald gehen konnte.
Das eine Jahr hatte indeß so tiefe Furchen auf seine Stirn und Wangen gegraben, hatte sein Haar so sehr gebleicht, daß er kaum wieder zu erkennen war. Sein Wesen war noch verschlossener und strenger geworden, wie früher, nur gegen Lenore und seine Frau war er milder. Er hatte gesehen, wie viel sie mit ihm und durch ihn litten, und mochte ihren Kummer nicht noch erhöhen.
Ihn beschäftigte fortwährend der Gedanke an Hellborn, an die Rechnung, welche er mit ihm abzuschließen habe.
Der Hauptmann schien seit jenem Abend, wo Dommer sein höhnendes Lachen vernommen hatte, verschwunden zu sein, zum wenigsten hatte ihn Niemand in der Gegend wieder gesehen. Nur seine Thätigkeit, seinen Haß empfand der Förster noch lange Zeit, denn mehr als einmal noch wurde sein ganzes Haus nach Kurt durchsucht, selbst seine Papiere. Es konnte ja ein Brief darunter sein, welcher Kurt's Aufenthaltsort verrieth. Es ward nie etwas bei ihm gefunden.
Kurt befand sich noch immer in dem Hause des Försters Brandes, und je sicherer er sich dort fühlte, um so weniger dachte er daran, dasselbe zu verlassen. Wohin hätte er sich auch wenden, wovon leben sollen!
Noch hatte Kurt seine Eltern nicht wieder gesehen, weil er noch nicht gewagt hatte, zu ihnen zu eilen, selbst geschrieben hatte er ihnen nicht einmal, weil er wußte, daß das Briefgeheimniß nicht mehr heilig gehalten wurde. Mehrere Male hatte sein Vater indeß einen vertrauten Boten an ihn gesandt.
Kurt fühlte sich in dem Hause des Försters wohl. Er trug die grüne Kleidung eines Jägers und begleitete den Förster öfter in den Wald und auf die Jagd. In den einsamen, schauerlichen und fast unwegsamen Thälern der Bode hatte er keinen Verrath zu fürchten. Und die Jagd gewann er immer mehr und mehr lieb. Das schönste Hochwild gab es hier in Menge und in den Schluchten hauste das Schwarzwild. Das war eine Jagd nach Kurt's Sinn, aufregend, weil sie mit Gefahr verknüpft war.
Schon längst hatte sein Vater ihm versprochen, ihn zu besuchen, und mit Sehnsucht sah er ihm entgegen. War er doch längst mit ihm ausgesöhnt. Aber von Tage zu Tage hatte er den Besuch hinausgeschoben, weil er sich noch nicht kräftig genug zu dem beschwerlichen Marsche fühlte, denn die unwegsamsten Pfade mußte er wählen, um den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht zu verrathen.
Endlich erhielt Kurt die bestimmte Nachricht, daß er am folgenden Tage kommen werde. Sein Herz schlug unruhig, ungeduldig. Er ging seinem Vater am folgenden Tage entgegen, und jetzt, wo er in kurzer Zeit vor ihm stehen sollte, jetzt drängte sich die ganze Vergangenheit wieder in sein Gedächtnis. Wider seinen Willen tönte ihm jedes harte, strenge Wort, welches sein Vater ihm nach der unglücklichen Schlacht und Flucht gesagt, im Ohre. Vor seinem Geiste stand nur das finstere, erzürnte Bild seines Vaters, wie er es zum letzten Male gesehen hatte.
Er war ja mit ihm wieder ausgesöhnt, allein je mehr er jene Erinnerungen mit Gewalt von sich scheuchen wollte, um so klarer und bestimmter traten sie vor ihn hin. Ein Zwiespalt und Ringen in ihm selbst entstand.
Da sah er seinen Vater im Walde langsam daherkommen. Er erkannte ihn kaum. Diese weißen Haare, diese tiefen Furchen in dem sonst so kräftigen Gesichte. War es sein Vater? Zweifelnd und überrascht stand er einen Augenblick still.
Da tönte ihm eine bekannte Stimme entgegen: »Kurt, Junge, Junge!«
Er sah den Alten schneller gehen und er selbst flog dem Alten entgegen und Vater und Sohn lagen sich in den Armen.
Fest und lange hielten sie sich umschlungen. Kein Wort kam über ihre Lippen.
Endlich ließ der Förster die Arme, welche den Sohn umschlungen hielten, los und nun standen sie beide einander gegenüber. Immer noch schweigend.
Jeder hatte an dem Andern eine Schuld zu sühnen, denn in diesem Augenblicke fühlte Dommer mehr als je zuvor, daß er zu streng gewesen war.
Unwillkürlich heftete Kurt die Augen auf die Erde.
Ihm war es in diesem Augenblicke, als säße er wie an dem Tage nach der unglücklichen Schlacht zu Pferde und triebe das Thier immer heftiger und heftiger zur Flucht an. Er schämte sich dieser Flucht, er wollte still halten, zurückwenden und sich dem Feinde entgegenwerfen – ein Dämon trieb ihn vorwärts.
Dommer schien zu errathen, was in ihm vorging
»Junge, blick auf!« rief er ihm zu, ihm die Rechte entgegenstreckend. »Das Vergangene ist vorbei – vergessen. Wir haben Beide gefehlt. Auch ich. Aber ich begriff damals noch nicht, wie es möglich sei, daß man fliehen könne. Deshalb meine Strenge – erst später – –!«
Kurt ließ ihn seine Worte nicht vollenden. Zum ersten Male in seinem Leben vernahm er ein solches Selbstbekenntniß von seinem Vater, und auf's Neue schloß er ihn in die Arme.
Der Alte drückte ihn fest an sich.
»Es soll Alles vergessen sein,« wiederholte er. »Die Zeiten haben ja auch Vieles geändert und wir haben uns seit so langer Zeit nicht gesehen.«
Offen blickte ihm Kurt jetzt in das Auge. Wie alt war sein Vater geworden! Wie viel Kummer und innerer Schmerz sprachen aus den eingefallen Wangen, aus den greisen Haaren.
Dommer bemerkte, was in seinem Sohne vorging. Wie ein wehmüthiges Lächeln flog es über sein Gesicht hin.
»Ja, ja, das Jahr hat mich hart mitgenommen,« sprach er. »Ich habe oft geglaubt, daß ich es nicht überwinden würde. Nun ist auch das vorbei – doch jetzt komm – komm – Brandes wird uns erwarten.«
Hand in Hand gingen Vater und Sohn zu dem nahen Försterhause. Von der Mutter, der Schwester und der Braut erzählte der Alte und Kurt mußte ihm über sein Leben in Magdeburg berichten. Zu lange hatte er sich darnach gesehnt, dies Alles aus seinem eigenen Munde zu hören.
Wohl nie ist das Verhältniß zwischen zwei Menschen inniger, als nach einer aufrichtigen Versöhnung, bei dem der eine wie der andere vergeben hat. Beide haben dann gleichsam die stille Uebereinkunft getroffen, die wunde Stelle mit keinem Worte zu berühren, sie zwingen sich zu vergessen und sind glücklich in dem Glauben, vergessen zu haben, was doch noch frisch und klar in ihrer Erinnerung lebt.
So lebten jetzt auch Dommer und Kurt zusammen. Der Alte war sogleich mit dem Entschlusse gekommen, einige Tage in dem Hause des Freundes, der seinen Sohn so liebevoll aufgenommen, und den er selbst seit langer Zeit nicht gesehen hatte, zuzubringen.
Dies gab dem Zusammensein schon eine gewisse Ruhe und entfernte jedes beengende Gefühl, welches jedes Mal eintritt, wenn die Zeit des Zusammenseins nur eine kurze und gemessene ist und man sich viel mitzutheilen hat. Man kann sich in kurzer Zeit wohl viel erzählen, aber nicht gegenseitig die Gedanken austauschen.
Es war für Dommer ein freudiges Gefühl, als er von seinem Freunde erfuhr, daß Kurt sich zum tüchtigen Waidmanne herangebildet habe. Er selbst war ja von Jugend auf mit Leib und Seele Jäger gewesen, und ihm selbst kaum bewußt, stieg der Wunsch in ihm auf, daß die Verhältnisse dazu beitragen möchten, Kurt von dem Soldatenstande loszureißen und zum Jäger umzugestalten.
Bereitwillig nahm er deshalb die Einladung seines Freundes am andern Morgen an, ihn mit Kurt in den Wald zu einem Pürschgange zu begleiten.
»Ich will Dir zeigen, daß mein Wildstand ein vortrefflicher ist,« sprach er. »Wir brauchen nicht weit zu gehen, um einen Kessel mit Schwarzwild vor uns zu haben, da soll Kurt zeigen, daß er schießen kann. Er hat ein ruhiges Auge und kennt keine Furcht. Ich habe schon mehr als einmal Lust gehabt, es ihm beizubringen, das Schwarzwild mit dem Speere abzufangen, wie es in unserer Jugendzeit noch üblich war. Es hat mir immer besser gefallen, als die Kugel, und ist auch sicherer, wenn man nur eine feste Hand und ein sicheres Auge hat.«
»Und fest steht!« fiel Dommer lachend ein. »Laß Kurt von dem Versuche, Brandes. Ich gebe Dir Recht, es ist die sicherste Jagd für einen festen und erfahrenen Jäger, er ist indeß mit den Thieren noch nicht vertraut genug. Man braucht nicht furchtsam zu sein, und es zittert doch die Hand und das Auge zuckt, wenn man einen Eber auf sich zukommen sieht, und dann ist es ein zu gefährliches Spiel. Wer die Thiere jahrelang kennt, ist ruhiger.«
Jeder von ihnen eine gute Büchse, über der Schulter und einen starken Hirschfänger an der Seite, brachen sie auf.
Eine Zeit lang schritten sie an dem felsigen Ufer der wilden Bode dahin. Sie schäumte über Felsen und mächtige Felsblöcke. Steil erhoben sich die Berge zu beiden Seiten, dichter Wald bedeckte sie. Da gab es Stellen, welche noch nie der Fuß eines Menschen betreten hatte, an welche selbst der verwegenste Holzfäller sich nicht gewagt haben würde.
Die Gegend machte einen wild schauerlichen Eindruck. Der Mensch erschien sich mitten zwischen diesen Zeugen einer gewaltigen Naturkraft so gering und ohnmächtig. An diesen gewaltigen, steil aufsteigenden Granitfelsen, welche aus einer einzigen, ungeheuren Masse zu bestehen schienen, würde die Kraft des Menschen gescheitert sein, und doch hatten die Fluthen der wilden Bode sie an manchen Stellen tief ausgewaschen. Freilich mochte sie Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende dazu bedurft haben.
Den Lauf der Bode verlassend bogen sie endlich in einen tiefen, felsigen Thaleinschnitt ein. Auch hier stand gleichsam noch Urwald, denn die Holzfäller suchten sich andere Gegenden zu ihrer Arbeit aus, wo das gefällte Holz leichter fortzuschaffen war.
Dennoch führte in der engen und trotz des hellen Morgens durch den dichten Wald in Dämmerlicht gehaltenen Thalsohle ein glatt getretener Pfad hin. Es würde einem Unkundigen aufgefallen sein, in dieser wilden Gegend einen so glatt getretenen Pfad zu finden – die Jäger wußten, daß er vom Wilde selbst herrührte.
»Laßt mich vorangehen,« sprach Brandes, als sie in das Thal einbogen. »Ich kenne hier jede Fährte und werde Euch hoffentlich bald zum Schusse kommen lassen können.«
Eine Strecke gingen sie schweigend hinter einander.
Tiefe Stille herrschte ringsum. Nicht einmal der Ruf eines Vogels war hier zu vernehmen.
Das Thal erweiterte sich allmälig ein wenig.
»Hier stellt Euch an,« sprach Brandes endlich, indem er still stand und Beiden eine gute Stelle anwies. »Ich werde Euch Schwarzwild zutreiben. Kaum zweihundert Schritte von hier entfernt ist ein Lager desselben. Habt nur kurze Zeit Geduld, weil ich einen kleinen Umweg machen muß. Ihr habt hier einen sichern Schuß, denn die Thiere werden hier langsam auf dem Wege herankommen. Schießt nicht zu früh,« fügte er noch für Kurt hinzu.
Mit Gewandtheit kletterte er an dem steilen Felsen empor, um dem Schwarzwilde den Wind abzugewinnen und es zu umgehen, nur so war es ihm möglich, dasselbe Dommer und Kurt zuzutreiben.
Diese, standen kaum zehn Schritte von einander entfernt. Dommer hatte die erste Stellung, er hatte dieselbe mit Absicht gewählt, weil er fürchtete, Kurt werde zu unruhig schießen, und außerdem war er an dieser Stelle völlig bloß gestellt, während Kurt hinter einem mächtigen, schützenden Felsblocke stand.
Sie hatten nur wenige Worte gewechselt, der Jagdeifer hatte sie Beide erfaßt. In Schußweite ungefähr machte das Thal eine Biegung und gestattete deshalb nicht, weiter zu sehen.
Noch hatten sie keine zehn Minuten gewartet, als Dommer ein dumpfes Grunzen vernahm. Er gab Kurt mit der Hand ein Zeichen, still zu sein und die Büchse zum Anschlage bereit zu haben.
Das durch Brandes aufgestörte Schwarzwild nahte sich unruhig, zögernd. Gegen den Wind laufend, konnte ihm die Nähe eines Feindes nicht entgehen.
Ein mächtiger Keiler bog um die Waldecke. Unwillkürlich pochte selbst das alte erfahrene Jägerherz Dommer's vor Freude. Er hatte die Büchse im Anschlage.
Schon war das Thier in Schußweite. Noch zögerte er und ließ es näher herankommen. Den Feind sehend nahte sich der Keiler schneller, nicht furchtlos, sondern selbst zum Angriff gerüstet.
Jetzt blitzte des Försters Büchse auf.
Das Thier stand, es schien zu wanken. Unfehlbar hatte es die Kugel getroffen, aber nicht tödtlich.
Alle seine Kräfte schien es zusammen zu raffen und stürzte auf den Förster los.
Das war nur das Werk eines Augenblicks.
Kurt sah Alles. Er schoß – seine Hand zitterte – die Besorgniß um seinen Vater – er fehlte.
Dommer sah das Thier auf sich stürzen. Flucht wäre Thorheit gewesen. Besonnen zog er den Hirschfänger und erwartete den Eber. Sein Stoß war ein unsicherer. Das wüthende Thier warf ihn über den Haufen – sein Leben war in höchster Gefahr – fast verloren.
Unwillkürlich rang sich ein gedämpfter Schrei aus Kurt's Brust. Er warf die Büchse hin – riß den Hirschfänger los und mit der Hast der Verzweiflung stürzte er seinem Vater zu Hilfe auf das schäumende, gereizte Thier los.
Mit blutunterlaufenen Augen wandte sich der Keiler gegen den neuen Feind – es war nicht Muth, nicht Besonnenheit, nur mit dem festen Entschlusse, das Leben seines Vaters zu retten, stürzte sich Kurt ihm entgegen – und sein Stoß gelang – bis an das Heft bohrte er den Hirschfänger dem Thiere in den Rachen.
Aber auch er wurde niedergeworfen. Als er hastig wieder aufsprang – hier galt es ja auch sein eigenes Leben, sah er das mächtige Thier neben sich mit dem Tode ringend in wilden Zuckungen sich wälzen.
Er schrie laut auf vor Freude, als er das Thier bezwungen und seinen Vater sich erheben sah.
Dieser hatte Alles gesehen – vor Zittern vermochte er sich kaum zu erheben, die Angst um den Sohn hatte ihm die Kraft geraubt.
Kurt sprang zu ihm und wollte ihm emporhelfen. Der Alte umschlang ihn mit beiden Armen.
»Kurt, Kurt!« rief er. »Dich hat Gott gerettet!«
Dem sonst so strengen, unerschütterlichen Manne rannen die Thränen über die Wangen.
»Ich sah Deine Gefahr,« erwiderte Kurt, der das Geschehene selbst kaum begriff.
»Und für mich wolltest Du Dein Leben opfern,« rief der Alte, nicht im Stande, die immer gewaltiger hervordringenden Thränen zurückzuhalten. Und er schämte sich ihrer nicht, es waren Thränen der Freude und er mußte der furchtbar geängstigten Brust Luft schaffen, wenn sie nicht erdrückt werden sollte.
Brandes kam in größter Hast herbei. Er hatte die beiden Schüsse und Kurt's Aufschrei gehört, die Ahnung eines Unglücks hatte ihn erfaßt. Er sah das mächtige Thier todt daliegen, sah Dommer's Thränen und Kurt's Erregung und ahnte das Geschehene. Mit wenigen Worten wurde er darüber aufgeklärt.
»Schlag ein, Kurt!« rief er, die Rechte ihm entgegenstreckend. »Schlag' ein – das war ein Stück, welches ich Dir nicht nachmachen möchte – freue Dich, daß es gelungen ist. Du mußt Jäger werden – haha! Du beschämst uns Alte!«
Dommer gewann mehr Fassung und Ruhe. Ein Lächeln des Glückes über die überwundene Gefahr glitt über sein Gesicht hin.
»Kurt, Junge, Du bist zu tollkühn gewesen!« rief er. »Es war ja Wahnsinn, Dich dem Thiere entgegen zu stürzen.«
»Sollte ich Dich in Gefahr lassen!« warf Kurt ein.
Der Förster erfaßte seine Hand und drückte sie.
»Das werde ich Dir nie vergessen,« erwiderte er bewegt. Mehr vermochte er nicht hervorzubringen.
Der Schrecken und die Aufregung lösten sich mehr und mehr in Freude über das glückliche Gelingen der tollkühnen That auf. Kurt gab sich derselben mit ganzem Herzen hin.
Das erlegte Wild wurde untersucht und seine Größe bewundert. Es war ein mächtiges Thier.
»Schießt mir wahrhaftig der Dommer mit seinem Jungen meinen besten Keiler weg!« rief Brandes scherzend und lachend. »Ich habe diesem Thiere lange vergeblich nachgestellt. Ich hatte es mir selbst vorbehalten, denn auf dem ganzen Harze giebt es, glaube ich, kein zweites solches Thier.«
»Nun er hätte sein Leben fast blutig bezahlt!« warf Kurt ein.
»Das sieht ihm ähnlich!« erwiderte Brandes, dem Thiere den Hirschfänger aus dem Rachen ziehend.
»Hier, Kurt,« fügte er hinzu, ihm die dampfende, roth gefärbte Waffe überreichend. »Hier, laß die Klinge so wie sie ist. Wisch' das Blut nicht ab – sie soll Dir gehören, und magst Du Dich stets daran erinnern, daß Du mit diesem Blute das Leben Deines Vaters gerettet hast!«
Brandes und Kurt ließen ihrer Freude in heiterster Weise freien Lauf. Donner war still. Die Aufregung wirkte nach. Mit ungeduldiger Hast trieb er zur Heimkehr. Für sich hatte er in seinem ganzen Leben keine Furcht gekannt, um so besorgter war er um Kurt. Es war ihm, als ob jeden Augenblick eine Gefahr für diesen erstehen könnte. Er vermochte das Bild, wie Kurt sich dem wilden Thiere entgegengestürzt hatte, nicht zu vergessen. Jetzt hatte er sich mit eigenen Augen überzeugt, daß es ihm nicht an persönlichem Muth fehlte.
Am dritten Tage entschloß sich Dommer zur Heimkehr. Vergebens bat ihn Kurt, noch einen Tag zu bleiben.
»Deine Mutter und Schwester erwarten mich,« erwiderte er. Er selbst wäre ja nur zu gern geblieben. »Ich mag sie in diesen unruhigen und unsicheren Zeiten nicht zu lange allein lassen.«
»Nun, Hellborn scheint ja verschwunden zu sein,« warf Kurt ein.
»Er kann jeden Tag zurückkehren.«
»Und dennoch wirst Du noch einen Tag hier bleiben, Dommer!« rief Brandes.
»Es geht nicht,« entgegnete der Alte.
»Es geht. Hör' mich an, Dommer. Absichtlich habe ich es Dir bis zu diesem Augenblick verschwiegen. Schon seit einiger Zeit ist ein Unternehmen im Werke, das auf den Umsturz der jetzigen Verhältnisse, auf die Vertreibung der Franzosen hinarbeitet.«
»Es ist zu früh noch!« rief Dommer, der diese Worte mit dem größten Erstaunen vernommen hatte.
»Hör' mich an,« entgegnete Brandes ruhig. »Du weißt, wie es in den Gemüthern gährt, wie Tausende, wenn es einmal zum Ausgang kommt, ihr Leben wagen werden, nur um diesem schmachvollen Drucke ein Ende zu machen. Du hast Recht – es ist zum offnen Aufstande noch zu früh, aber nicht, um sich langsam vorzubereiten. In Berlin, in Magdeburg, Hannover, Braunschweig und Cassel soll Aehnliches im Werke sein. Es wird natürlich Alles im Geheimen betrieben. Auch hier auf dem Harze wollen wir nicht zurückbleiben. Eine Anzahl Männer, meist Förster wie wir, oder Bergbeamte, sind schon mehrere Male im Geheimen zusammengekommen zur Berathung. Auch ich gehöre dazu. In Berlin hat sich für diese Sache ein geheimes Comité gebildet, ein Agent desselben reist im Lande umher, um überall zu wirken, überall ganz im Geheimen Vereine zu bilden, die dasselbe Ziel im Auge haben und alle zu gleicher Zeit sich erheben, wenn der rechte Tag gekommen ist, wenn von Berlin aus das Zeichen gegeben wird.«
»Und ich habe noch nichts davon gehört!« rief Dommer, der diese Mittheilung sogleich mit ganzer Seele erfaßt hatte.
»Bis jetzt sind nur Männer aus hiesiger Gegend eingeweiht,« fuhr Brandes fort. »Jeder von uns hat geschworen, das tiefste Schweigen zu bewahren und nur solche Männer einzuweihen und als Mitglieder des Bundes einzuführen, für deren Treue er mit seinem Leben einsteht! Dich und Kurt will ich heute Abend als neue Mitglieder einführen.«
»Heute Abend,« fiel Dommer ein, indem er Brandes die Rechte entgegenstreckte zum Danke für sein Vertrauen.
»Heute Abend findet wieder eine Zusammenkunft des Bundes statt. Erst heute Morgen habe ich die Nachricht und Aufforderung, zu kommen, erhalten. Der Agent des Berliner Comités ist hier – er bringt vielleicht Neues.«
»Und wo – wo findet die Zusammenkunft statt?« fiel Dommer ungeduldig ein.
»In dem Hause des Försters Bauer,« entgegnete Brandes. »Es liegt ganz allein im Walde – es giebt keinen besseren Ort für solch eine Zusammenkunft, freilich haben wir heute Abend einen tüchtigen Marsch dorthin.«
»Und wenn es zehn Stunden weit ist, ich gehe mit!« fiel Dommer ein. »Schon lange ist mir ein solches Unternehmen durch den Kopf gegangen, ich kannte nur die rechten Männer dazu noch nicht. Wie heißt der Agent des Berliner Comités?«
»Hirsch,« erwiderte Brandes. »Nun, wirst Du nun noch einen Tag bleiben?« fügte er lächelnd hinzu.
»Ich bleibe,« rief Dommer begeistert. »Ueber den ganzen Harz muß dieser Bund ausgebreitet werden, jeder Mann, der eine Büchse zu führen versteht und zuverlässig ist, muß darin eingeweiht werden. Dann werden wir Tausende stark werden, und ich denke, ein besseres Scharfschützencorps wird es auf der ganzen Erde nicht geben!«
»Das ist allerdings unser Plan,« antwortete Brandes, »wir müssen indeß mit größter Vorsicht weiter gehen. Die westfälische Polizei hat ihre Ohren überall. Wir Alle würden verloren sein, wenn wir nur durch ein einziges unvorsichtiges Wort verrathen würden.«
Für die Ungeduld Dommer's schwand der Tag zu langsam dahin. Erst als der Abend nahte, brachen die drei Männer, jeder mit einer Büchse und einem Hirschfänger bewaffnet, auf nach dem Versammlungsorte. – –
Rings von dichtem Walde umgeben lag die Wohnung des Försters Bauer. An der einen Seite lehnte das Haus an einem steil aufsteigenden Felsen. Außer einem Stallgebäude, welches sich an das Haus schloß, war in dem Umkreise einer Stunde kein Haus zu finden.
Nur ein einziger Weg führte zu dieser Försterwohnung, die gleichsam von aller Welt vergessen wie eine Einsiedelei in dem Walde lag. Und in der That, es gab auf dem ganzen Harze wohl keine zweite so einsam gelegene Wohnung.
Zu ihr verirrte sich nie ein Fremder, weil sie weit ab von der Landstraße lag, und den Weg zu ihr kannten fast nur des Försters Freunde und die Holzfäller, welche mit dem Förster in geschäftlichem Verkehr standen.
Für den Fremden, den Bewohner einer Stadt würde diese Einsamkeit mitten in dem dichten mächtigen Walde etwas Schauerliches gehabt haben, für den Förster selbst schien sie die gemüthlichste zu sein, welche er kannte.
Wohl mußte er jedes Mal stundenweit gehen, wenn er einen Freund besuchen wollte, allein nach allen Richtungen hin, schritt er in seinem ausgedehnten Reviere und ein solcher Weg war ihm nicht mehr als ein Spaziergang.
In dem Zimmer seines Hauses saß Bauer mit mehreren Männern, es waren, wie ihre Kleidung verrieth, zum Theil Förster wie er selbst, kräftige wettergebräunte Gestalten.
Die Männer waren in lebhaftem Gespräche, es betraf die Noth der Zeit und den Zweck, der sie hier zusammengeführt hatte.
»Unsere Freunde bleiben heute lange aus,« sprach endlich einer der Männer. »Die Zeit ist bereits vorgerückt.«
»Vergeßt nicht, daß sie zum Theil einen weiten Weg haben,« fiel Bauer ein, »und es ist einmal ausgemacht, daß Jeder erst beim Dunkelwerden sich hierher wenden soll. Ich begreife indeß nicht, weshalb Hirsch noch nicht kommt, er wollte früher eintreffen,« fügte er hinzu.
»Wenn er nur kommt,« warf ein mittelgroßer, Ziemlich beleibter Mann, der Besitzer einer Wirthschaft, ein.
»Weshalb sollte er nicht kommen?« fragte Bauer erstaunt.
Der Wirth wiegte statt der Antwort den Kopf langsam, zweifelnd.
»Was habt Ihr gegen ihn? Was wißt Ihr? Sprecht!« fuhr Bauer fort.
Wieder zuckte der Wirth mit den Achseln.
»Das ist es – ich weiß nichts,« entgegnete er. »Aber, was ich habe, will ich Euch offen sagen, denn wir kennen einander schon länger. Dieser Hirsch hat etwas in seinem Wesen, was mir nicht gefällt.«
»Darauf kommt nichts an, ob er Euch gefällt,« rief Bauer. »Haha! Wenn ich ein Mädchen wäre, möchte ich ihn auch nicht zum Manne haben, denn die Schönheit drückt ihn nicht. Er ist eifrig in unserem Unternehmen – das ist die Hauptsache.«
»Nein, die Hauptsache ist, daß er auch ehrlich ist!« warf der Wirth ein.
»Was habt Ihr denn gegen ihn? Sprecht!« rief der Förster ungeduldig.
»Ich habe nichts,« entgegnete der Wirth. »Ich denke nur so: ein ehrlicher Mensch unter ehrlichen Menschen kann einem Jeden offen in's Auge sehen, und das kann dieser Hirsch nicht. Sein Auge blinzelt, wenn man ihn scharf ansieht. Laßt uns auf unserer Hut sein – ich sage Euch, er ist ein schlauer Gesell!«
»Natürlich!« lachte Bauer. »Einen einfältigen Menschen würde das Comité in Berlins nicht zu seinem Agenten gewählt haben. Ich denke, wer wie er der Polizei überall aus dem Wege gehen oder eine Nase drehen muß, darf nicht auf den Kopf gefallen sein. Es ist kein leichtes Geschäft. Ihr seht aber zu viel, weil Ihr Euch einmal in den Kopf gesetzt habt, etwas sehen zu wollen.«
»Wenn ich mich irre, werde ich selbst mich am meisten darüber freuen,« warf der Wirth ein. »Doch eine Frage noch – habt Ihr nicht irgend eine Wache ausgestellt? Der Teufel könnte sein Spiel haben und uns hier überfallen, während wir uns ganz sicher wähnen!«
Wieder lachte der Förster laut auf.
»Seid ohne Sorge – ich habe drei gute Wächter – meine Hunde. Wenn die Jemand unangemeldet sich nahen lassen, sollt Ihr mich mein Leben lang zum Narren halten!«
In diesem Augenblicke schlug unmittelbar unter dem Fenster ein Jagdhund einige Male laut an.
»Da hört Ihr es,« fuhr der Förster fort.
»Diana meldet die sich Nahenden an. Sie kommen soeben über den Bachsteg und werden in drei Minuten hier sein. Das weiß ich so genau, als ob ich sie sähe – meine Diana lügt nicht, und wenn Ihr mir und ihr nicht glaubt, so fragt die Kameraden, wo sie gewesen seien, als der Hund angeschlagen habe.«
Wirklich wurden in einigen Minuten Schritte vor dem Hause vernehmbar und der Förster eilte hinaus.
Gleich darauf trat er mit mehreren Männern in das Zimmer zurück.
»Guten Abend, meine Herren,« rief einer der Eintretenden – es war Hirsch – nachdem er einen schnellen, flüchtigen Blick durch das Zimmer geworfen hatte. »Guten Abend – entschuldigen Sie, daß ich nicht früher gekommen bin. Aber Unsereiner muß doppelt vorsichtig sein, damit die verdammte Polizei Einem nicht auf den Nacken kommt!«
Noch einmal ließ er das Auge durch das Zimmer gleiten, reichte mehreren der Anwesenden die Hand, schüttelte die ihrige und ließ sich dann nieder.
»Wir sind noch nicht vollzählig,« sprach er.
»Der Förster Brandes fehlt noch, der wird indeß auf jeden Fall kommen,« entgegnete Bauer. »Nun, wie sieht es aus, Herr Hirsch?« fügte er fragend hinzu. »Sie kommen mehr im Lande umher, als Unsereiner.«
Der Agent zuckte mit den Achseln.
»Die Leute klagen, wohin man kommt, mehr als je,« entgegnete er. »Der Druck wird von Tage zu Tage unerträglicher – das ist aber gut – das ist nach meinem Sinne.«
»Nach Ihrem Sinne?« wiederholte Bauer erstaunt.
Der Agent lächelte verschmitzt.
»Gewiß – ganz nach meinem Sinne. Haha! Herr Förster, verstehen Sie mich nicht falsch. Sehen Sie, ich denke so, je mehr der Druck zunimmt, um so mehr steigt die Erbitterung, und um so früher wird die allgemeine Gährung losbrechen. Ja, es wird früher geschehen, als wir vielleicht ahnen, deshalb müssen wir auf unserer Hut sein – Vorbereitungen treffen und uns vollständig einigen.«
»An uns soll es nicht fehlen,« warf der Wirth ein, der ihn fortwährend scharf im Auge behielt. »Wir allein können indeß nichts ausrichten.«
»Sie haben ganz Recht,« bemerkte Hirsch. »Meine Herren, Sie haben auch eine andere Aufgabe, wenn die Gährung losbricht, Sie sollen sich an die Spitze derselben stellen, Das beste Heer ist nichts ohne Führer, und auch der entschlossenste Aufstand von Tausenden würde scheitern, wenn er keine Leiter und Führer hat. – dazu sind Sie bestimmt und Sie sind die Männer dazu. Ich komme jetzt von Berlin, das geheime Comité ist auf das höchste erfreut über die Schilderung, welche ich ihm von Ihrer Entschiedenheit und Treue gemacht habe. Die besten Grüße habe ich Ihnen von dem Comité zu überbringen, und noch mehr.«
Er zog aus seinem Rockkragen ein kleinzusammengefaltetes Papier.
»Hier, meine Herren,« fuhr er fort. »Wir sind zwar Alle über das, was wir wollen, einig, dennoch hat das Comité den Zweck unseres Bundes, die Vernichtung der Fremdherrschaft, die Abschüttelung des französischen Joches, die Vertreibung der Franzosen aus Deutschland, mit kurzen Worten zusammengefaßt. Ich werde es Ihnen vorlesen.«
Mit lauter Stimme las er es vor.
»Sind Sie damit einverstanden?« fügte er fragend hinzu.
»Gewiß! – Vollkommen!« erwiderten mehrere Stimmen zu gleicher Zeit.
»Sie sehen,« fuhr Hirsch fort, »daß das Comité dies Schreiben unterzeichnet hat und es wünscht, daß auch Sie es mit Ihrem Namen unterzeichnen.«
»Wozu?« warf der Wirth ein. »Ich sehe keinen Nutzen davon ein.«
»Und es hat dennoch einen Nutzen,« erwiderte der Agent lächelnd. »Das Comité wünscht die Namen der Bundesmitglieder kennen zu lernen und zugleich in der Namensunterschrift eine Bürgschaft zu haben, daß kein Mitglied zurücktritt, wenn die rechte Stunde naht. Hier lege ich Ihnen das Schreiben zum Unterzeichnen vor.«
Er legte es auf den Tisch.
»Ich werde es unterzeichnen,« rief Bauer.
»Halt!« rief der Wirth, indem er seine Hand auf das Schreiben legte. »Halt! Auch jetzt sehe ich den Nutzen noch nicht ein. Nennen Sie dem Comité unsere Namen, dann kennt es dieselben. Wen sein Herz nicht treibt, der Sache treu zu bleiben, der wird sich auch durch seine Unterschrift nicht halten lassen. Ich halte es aber für gefährlich, in Zeiten wie die jetzigen das Leben Aller von einem solchen Schreiben abhängig zu machen. Fällt es in die Hände der Polizei – so sind wir Alle verloren.«
Der Agent warf ihm einen flüchtigen, stechenden Blick zu. Dann zuckte wieder ein halb spöttisches Lächeln um seinen Mund.
»Sie sind ängstlich,« warf er ein.
»Nur vorsichtig,« entgegnete der Wirth.
»Er hat Recht!« rief einer der Anwesenden. »Wir wären verloren, wenn dies Schreiben der Polizei in die Hände fiele!«
»Nun, das wird Niemand bestreiten,« fuhr der Agent fort. »Ich habe indeß schon gefährlichere Papiere in meinem Leben mitten durch die Polizei gebracht. Es ist indeß noch ein anderer Zweck mit der Unterschrift verbunden. Kennen Sie den Förster Dommer?«
»Gewiß,« fielen Mehrere ein, »Ich habe viel Gutes von ihm gehört – er soll ein tüchtiger, fester und zuverlässiger Mann sein.«
»Ich stehe mit meinem Leben für ihn ein,« rief Bauer.
»Auch ich – auch ich,« fügten Mehrere hinzu.
»Sehen Sie, meine Herren,« fuhr Hirsch fort. »Es können an den Versammlungen unseres Bundes nicht Alle Theil nehmen – es würde Aufsehen erregen, wenn zu viel Männer hier oder an einem andern Orte zusammenkämen – das geht nicht. Aber das können Sie vermitteln, daß zuverlässige Männer, z. B. Dommer, dies Schreiben unterzeichnen, und damit gehören auch sie unserem Bunde an. Will einer von Ihnen es übernehmen, Dommer zum Unterzeichnen zu bewegen?«
»Ich werde es thun – sogleich morgen,« fiel Bauer ein.
»Gut – gut,« sprach der Agent. »Ich habe nicht nöthig, Ihnen Vorsicht zu empfehlen. Sie werden wissen, wem Sie vertrauen dürfen. Hat Dommer nicht auch einen Sohn? Ich habe, glaube ich, davon gehört – er soll Officier sein – vielleicht –«
»Er ist Officier gewesen,« fiel Bauer ein.
»Wie meinen Sie das?« fragte Hirsch.
»Er hat fliehen müssen – die Polizei ist ihm auf der Fährte,« gab Bauer zur Antwort.
»Schade, schade,« sprach der Agent. »Zuverlässige Männer, die Soldaten gewesen sind, können uns sehr viel nützen.«
»Nun,« rief Bauer, »er ist noch zu erreichen – auch ihn will ich unterzeichnen lassen. – Haha! Die Polizei sucht ihn seit Monaten, und er fühlt sich in Brandes Hause ganz sicher.«
Das Auge des Agenten zuckte freudig auf, aber nur eine halbe Secunde lang.
Auch dies war dem Wirthe nicht entgangen, der ihn fortwährend beobachtete.
Des Försters Hund schlug in diesem Augenblicke wieder an.
»Jetzt kommt Brandes,« sprach Bauer und erhob sich, um ihm entgegen zu gehen. Er verließ das Zimmer. Tritte von mehreren Männern wurden vor dem Hause vernehmbar.
»Das ist nicht Brandes allein,« rief der Wirth mit gedämpfter Stimme.
Wieder schien es ihm, als ob der Agent zusammenzucke – er konnte sich auch geirrt haben. Aber sein Auge war unruhig auf die Thür gerichtet.
»Wer kann mit ihm kommen?« fragte der Agent.
Bauer trat in diesem Augenblicke, von Brandes, Dommer und Kurt begleitet, wieder ein. »Hier bringe ich Dommer selbst und auch seinen Sohn!« rief er. »Dommer, wir haben soeben von Euch gesprochen – soeben, das nenne ich ein glückliches Zutreffen!«
Unbefangen trat Dommer in das Zimmer. Sein Auge glitt ruhig über die Anwesenden – er kannte sie ja fast Alle.
»Guten Abend, Freunde,« sprach er.
Da blieb sein Blick auf Hirsch haften. Er stutzte. Erschreckt trat er einen Schritt zurück, aber sogleich faßte er sich wieder und sprang vor.
»Ha! Sie hier?« rief er. »Ein Verräther in Eurer Mitte?«
Hirsch sprang empor, ein Pistol riß er unter dem Rocke hervor – er zielte auf den Förster ein teuflisches Lächeln glitt über sein Gesicht – ein Schuß hallte im Zimmer wider und erfüllte es mit Rauch.
Die Männer sprangen erschreckt empor. Wildes Rufen durch einander. Noch ahnte fast Niemand den Zusammenhang.
Der Schuß hatte sein Ziel verfehlt, in die Decke des Zimmers war die Kugel eingeschlagen. In demselben Augenblicke, wo Hirsch das Pistol abgeschossen, hatte ihn ein Schlag des Wirthes unter den Arm getroffen.
Mit beiden Armen hielt der Wirth den Agenten, den er keine Secunde aus den Augen verloren hatte, umschlossen, fest, eisern fest, so daß derselbe trotz allen Sträubens sich nicht zu befreien vermochte.
Auch Dommer hatte seine Büchse an die Backe gerissen – zur rechten Zeit war ihm Bauer noch in die Arme gefallen.
»Laßt mich! laßt mich!« rief Dommer, indem er auf den Agenten einzudringen versuchte. »Mit meinen Händen will ich den Verräther erwürgen! Ihr seht mich erschreckt an – er ist ein Verräther – es ist Hellborn!«
»Hellborn!« riefen Mehrere zu gleicher Zeit erschreckt. Sie kannten den Mann und seine Verrätherei dem Namen nach.
»Er ist es!« rief Kurt, der sich herangedrängt hatte.
Trotz der eisernen Umklammerung des Wirthes war es dem Agenten – es war Hellborn – gelungen, den rechten Arm zu befreien. Einen Dolch riß er hervor; ehe er indeß den unglücklichen Stoß, den er im Sinne hatte, führen konnte, traf ihn ein schwerer Schlag Dommer's auf den Arm, so daß der Dolch seiner Hand entsank.
»Sacht – sacht!« rief Dommer, indem auch dessen feste Hand ihn erfaßte. »Dein Arm soll Niemand mehr gefährlich werden! Zum letzten Male hast Du heute Verrath im Sinne gehabt!«
Trotz des Sträubens wurden dem Verräther die Hände auf den Rücken gebunden und der Wirth hielt ihn fest niedergedrückt auf den Stuhl.
»Ich habe mich doch nicht getäuscht,« sprach er. »Ich hatte Verdacht gegen den Burschen!«
Die Aufregung und der Schrecken unter den Anwesenden legten sich ein wenig.
Hellborn war bleich. Er zitterte heftig. Sein Auge blickte mit glühendem Hasse auf Dommer, auf Kurt – auf alle Anwesenden. Er rang nach Fassung.
»Ich bin kein Verräther!« rief er. »Krümmt mir nur ein Haar, und Ihr Alle sollt es mit dem Leben büßen!«
»Haha!« lachte Dommer. »Heute wird der Mund eines Verräthers für immer zum Schweigen gebracht!«
»Ihr wollt mich tödten!« rief der Gefesselte entsetzt.
»Natürlich!« entgegnete Dommer. »Ich werde Abrechnung halten.«
»Halt!« rief Bauer, der einen solchen Verrath noch immer nicht zu fassen vermochte. »Ist er wirklich ein Verräther? Er soll sich rechtfertigen!«
»Ich bin kein Verräther – Dommer haßt mich!« rief Hellborn bebend.
»Untersucht ihn!« rief Kurt.
Sofort wurde er von mehreren kräftigen Armen erfaßt und seiner Kleidung entledigt. Stück für Stück wurde auf das genaueste untersucht. Die Angst des Gefesselten wuchs zusehends. Man fand indeß nichts, was seinen Verrath auch in diesem Falle erwiesen hätte. Endlich entdeckte der Wirth in dem doppelten Schafte seines Stiefels mehrere Papiere.
Es war ein Schein, der ihn als Mitglied der geheimen westfälischen Polizei beglaubigte, dann ein Schreiben an die Polizeibehörde in Cassel, welches die Namen der anwesenden Männer enthielt und deren Namensunterschriften verhieß.
Die losbrechende Entrüstung Aller kannte keine Grenzen mehr. Sofort drangen Mehrere auf ihn ein, um ihn zu tödten – der Wirth hielt sie zurück.
»Halt!« rief er. »Wir wollen ihn nicht morden. Sterben soll er, aber er soll sich erst zu rechtfertigen versuchen – dann wollen wir ihn erst verurtheilen.«
Dieser Vorschlag fand Gehör.
»Rechtfertigt Euch,« rief Bauer dem Gefesselten zu.
Dieser vermochte vor Zittern kaum ein Wort hervorzubringen.
Er leugnete Alles. Das Schreiben wollte er gefunden haben – er betheuerte seine Ehrlichkeit, versprach Zeugen für dieselbe zu bringen, wenn man ihn freilasse, widersprach sich indessen in seiner Angst fast bei jedem Worte.
Als er sah, daß auch nicht eins seiner Worte Glauben fand, rief er, so laut er konnte, um Hilfe. Der neben ihm stehende Wirth hielt ihm den Mund zu und band ihm dann ein Tuch so fest um denselben, daß man von seinem Schreien nur noch einen dumpfen Ton vernahm.
Durch seinen Brief an die Polizei in Cassel war es außer allen Zweifel gestellt, daß er die Männer zum Aufruhr hatte bewegen wollen, nur um sie anzuzeigen und den Lohn dafür zu empfangen. Vielleicht hatte sein Haß gegen Dommer, den er zugleich mit zu vernichten hoffte, ihn mit dazu bewogen.
Kurt erzählte seinen Verrath in Magdeburg, und Dommer theilte mit, welches Unheil er über ihn in verrätherischer Weise gebracht hatte.
»Er soll sterben als Verräther,« schloß er. »Sterben durch uns, die er in's Unglück gestürzt hätte, wenn ihm sein teuflischer Plan gelungen wäre.«
»Er soll sterben,« wiederholten Alle.
Keiner vermochte ihn in Schutz zu nehmen, keiner zweifelte an seiner Schuld.
Die Männer waren ernst. Der Schrecken und die Aufregung waren gewichen. Es handelte sich um ein Menschenleben, über welches sie als Richter dasaßen.
»Er muß sterben,« wiederholte Bauer noch einmal. »Der Tod ist für ihn nur der verdiente Lohn – wer will ihm den Tod geben?«
Alle schwiegen. Dommer kämpfte mit sich. Er haßte den Menschen – er drängte seinen Haß und sein Rachegefühl zurück.
»So laßt das Loos entscheiden!« warf der Wirth ein.
Alle waren damit einverstanden.
Er selbst machte die Loose – Stückchen Papier, die er zusammenrollte und in seine Mütze warf.
»Auf einem Papier steht ein Kreuz – wer es zieht – der erschießt ihn,« sprach er.
Schweigend griffen Alle in die Mütze.
Kurt hatte das Stück mit dem Kreuze erfaßt. Die Farbe wich von seinen Wangen.
»Ihr habt das meiste Anrecht darauf,« sprach der Wirth.
Kurt antwortete nicht.
Er hatte so oft gewünscht, diesem Menschen zu begegnen, um ihn durch seine Hand sterben zu lassen – jetzt, da sein Wunsch in Erfüllung gehen sollte, erfüllte es ihn mit Zagen.
Dem Verurtheilten standen die Schweißperlen der Angst auf der Stirn. Seine Augen traten aus dem Kopfe hervor und blickten starr, gläsern.
Er gab ein Zeichen, daß man ihn noch einmal anhören möge.
Mehrere waren dagegen.
»Nein,« rief der Wirth. »Wir sind hier als die Richter über sein Leben aufgetreten, und wollen gerecht sein. Seine Schuld ist erwiesen, dennoch wollen wir ihn noch einmal hören.«
Er löste ihm das Tuch von seinem Munde.
Mit stotternder Stimme, mit klappernden Zähnen flehte der Verräther, ihm das Leben zu schenken. Er versprach das Land für immer zu verlassen, versprach jedem Reichthümer, die er besitze, – flehte, man möge ihn gefangen halten, im tiefsten Keller – nur nicht tödten.
Der Gedanke an den Tod erfüllte ihn mit entsetzlicher Angst.
Sein Anblick war erbarmungswürdig.
Als er aber auf keinem Gesichte Mitleid erblickte, da rief er wieder mit entsetzlicher Verzweiflung um Hilfe.
Auf's Neue wurde ihm der Mund verbunden.
»Wir wollen es kurz machen,« sprach Brandes.
»Kommt – draußen im Walde – Kurt, halte Dich bereit!«
Der Verurtheilte suchte sich vergebens zu sträuben. Mehrere kräftige Hände trugen ihn aus dem Hause – er vermochte nicht zu gehen.
Kein Wort war noch über Kurt's Lippen gekommen. Die Büchse hielt er in der Hand – die Hand zitterte. Fast schwankend folgte er den Uebrigen.
Stille herrschte ringsum im Walde. Der Schnee erhellte den Boden und ließ in ziemlicher Entfernung jeden Gegenstand erkennen.
Keiner von den Männern sprach ein Wort.
Der Verurtheilte erschien schon fast todt.
An einem Baume wurde er niedergesetzt und mit seinem eigenen Tuche daran festgebunden.
»Macht es kurz,« sprach der Wirth zu Kurt.
Dieser trat vor, fast willenlos. Die Büchse hielt er in der Hand. Nur ungefähr zehn Schritte stand er von dem Verurtheilten entfernt. Es war hell genug, um seine Brust nicht zu verfehlen, aber Kurt glaubte seine hervorgetretenen, starr auf ihn gerichteten Augen zu sehen. Er fühlte, wie er zitterte.
Gewaltsam raffte er die Kräfte zusammen die Büchse legte er an – die Hand zitterte.
Sein Vater stand neben ihm.
Schweigend nahm er ihm die Büchse aus der Hand.
»Gieb – gieb her – ich will's thun,« sprach er. »Kommt es heraus – so kann ich eher sterben, denn ich habe mein Leben doch bald vollendet!«
Kurt wollte Einspruch thun. Aber schon hatte Dommer die Büchse erhoben – ein Schuß blitzte auf und hallte lang und dumpf zwischen den Felsen wieder. Der Verräther zuckte empor – ließ aber gleich darauf den Kopf auf die Brust sinken – die Kugel hatte sein Herz nicht verfehlt.
Unwillkürlich athmete mehr als eine Brust tief auf, als die That geschehen war.
Fest trat Dommer zurück. An einem nahestehenden Baume zerschlug er die Büchse.
»Es soll nie wieder ein ehrlicher Schuß daraus gethan werden,« fügte er hinzu.
Noch sprachen die Männer leise, als ob der Todte unter dem Baume ihre Worte hören könnte.
Bauer hatte Hacke und Spaten mitgenommen.
Dicht neben dem Todten wurde eine Grube gemacht, der Todte hineingelegt und Erde auf ihn geworfen.
»Er hat seinen Lohn dahin für seinen Verrath, nun möge Gott ihm gnädig sein,« sprach der Wirth.
Seine Worte erklangen in der Stille ringsum wie ein Gebet.
»So möge jeder Verräther enden!« fügte Bauer hinzu.
Nur eine schwarze Stelle und neben dem Baume, an dem der Verräther erschossen war, mehrere Blutflecken auf dem weißen Schnee blieben als Zeugen der That zurück.
Die Männer gingen wieder in's Haus. Einer großen Gefahr waren sie entronnen, einen schändlichen Verräther hatten sie der gerechten Strafe überliefert, und dennoch lag es schwer auf Allen.
War es das Gefühl, daß sie nicht die Richter über das Verbrechen waren? – Und doch hatte schon die eigene Sicherheit, die Nothwehr sie zu dieser That gedrängt.
Dommer war still, scheinbar ganz ruhig. Und doch vermochte er kaum die innere Aufregung zu verbergen. Nur der Gedanke beruhigte ihn etwas, daß er von Kurt vielleicht eine große Gefahr abgewandt habe. Noch wußte ja keiner von ihnen, ob die Polizei in Cassel nicht vielleicht von ihrem Bunde in Kenntniß gesetzt war.
Diese Ungewißheit drückte sie doppelt nieder. In dem Zimmer schworen sie einander sämmtlich, wie es auch kommen möge, sich gegenseitig nicht zu verrathen.
Der Morgen brach bereits herein, als die Männer sich trennten. Es war eine erschütternde Nacht für sie gewesen.
Kurt ging wieder mit Brandes, Dommer kehrte allein zu den Seinigen zurück.
Wohl fiel seiner Frau und Lenore sein verschlossenes Wesen auf – er verrieth ihnen das Vorgefallene mit keinem Worte. Aber von Kurt und dessen That, die ihm das Leben gerettet, erzählte er viel.
Von der Polizei geschahen keine Schritte gegen die Mitglieder des Bundes. Der Verräther war noch nicht dazu gekommen, die Polizei davon in Kenntniß zu setzen.
Unsere Erzählung ist eigentlich beendet. Das Geschick selbst hat ihr den sühnenden Abschluß gegeben, welchen der Leser verlangt und den eine Erzählung auch haben muß. Es ist unmöglich, das Leben all' Derer, welche in einer Erzählung vorkommen, bis zum Tode fortzuspinnen, und dennoch können wir nicht umhin, zum wenigsten noch ein Bild aus dem Leben derjenigen Personen, welche uns am meisten beschäftigt haben, herauszugreifen.
Freilich müssen wir sogleich eine Reihe von Jahren überspringen.
Im Sommer des Jahres 1814 war es. Wieder kehren wir in dem Försterhause ein. Die Jahre, welche das Geschick von ganz Europa umgestaltet hatten, in denen Schlachten verloren und gewonnen, Throne umgestürzt und neu errichtet worden waren, in denen dem deutschen Volke die Sonne der Freiheit aufgegangen war, schienen an diesem stillen Försterhause spurlos vorübergegangen zu sein.
Dieselben alten und mächtigen Bäume umgeben es und in ihren Wipfeln rauscht es noch eben so wie vor Jahren. In dem kleinen Garten neben dem Hause blüheten die wenigen Sommerblumen ganz so wie sie jedes Jahr geblüht hatten. Mochten Millionen Menschen in den Jahren, die verflossen, auch blutig um den Sieg und die Freiheit gerungen haben, die Erde war dieselbe geblieben und die Sonne auch – sie rief dieselben Blumen hervor.
Selbst das alte, mächtige Hirschgeweih über der Eingangsthür des Hauses war dasselbe geblieben, und der hölzerne Hirschkopf, an dem es befestigt war, blickte noch eben so ruhig, so stoisch gelassen mit seinen Augen herab, als läge nur ein Tag und eine Nacht zwischen damals und jetzt.
Es erweckt ein wunderbares, unsagbares Gefühl, wenn man nach bewegten Jahren, in denen die Geschicke der Völker sich gewandelt haben, in denen Alles neu gestaltet ist, in denen das eigene Herz ein anderes geworden, an eine frühere Stätte zurückkehrt und hier Alles so wiederfindet, wie man es zuletzt verlassen, wie die Erinnerung es bewahrt hat. Es erscheint der Ort dann wie eine geheiligte Stätte, auf welche die Menschen mit ihrem unruhigen Geiste, mit ihrem Streben und ihrem Zerstörungssinn keinen Einfluß haben.
Und doch waren auch in diesem Hause während der Jahre Glück und Unglück ein- und ausgegangen und hatten gewechselt, wie ja Alles im Menschenleben dem Wechsel des Geschickes unterworfen ist.
Selbst nach Außen hin machte sich eine Umgestaltung, wenn es auch nur eine vorübergehende war, geltend.
Ueber dem Hofthore war eine einfache Ehrenpforte aus Tannengrün und Eichenlaub errichtet. Die Hausthür war mit einer Guirlande umwunden, und selbst der alte Hirschkopf über der Thür trug an seinem Geweih einen frischen Kranz.
Eine junge Frau trat aus der Hausthür, einen kräftigen Jungen von ungefähr drei Jahren an der Hand. Wir kennen sie – es war Marie. Eine zweite weibliche Gestalt folgt ihr – Lenore.
Ungeduldig wollte der Junge sich von der Mutter losreißen, um mit dem Jagdhund, der vor der Thür lag, zu spielen.
»Komm, Kurt,« sprach die junge Frau, deren Wangen die Freude geröthet hatte – »komm, der Papa wird bald hier sein!«
»Der Papa – der Papa!« rief der Kleine jubelnd.
Wohl trug er das Bild desselben nicht mehr in der Erinnerung, allein seine Mutter hatte ihm so oft und so viel von dem Manne ihres Herzens erzählt, daß er mit ungeduldiger Freude der Ankunft desselben entgegensah.
»Du mußt aber auch artig sein, Kurt,« fuhr die Frau fort, »damit sich der Papa über Dich freut!«
»Der Papa – der Papa!« wiederholte der kleine dicke Kerl jubelnd, riß sich von der Hand der Mutter und lief durch das Hofthor auf dem in den Wald führenden Wege weiter.
Lächelnd blickte ihm die Frau nach, und als er bei der Biegung des Weges stehen blieb und sich nach ihr umschaute, drohte sie ihm scherzend mit dem Finger. Laut aufjauchzend lief er weiter, stolperte über eine Wurzel, kollerte sich einige Mal um, so daß die junge Frau erschreckt zusammenfuhr und ihm zu Hilfe eilen wollte, allein schnell raffte er sich wieder auf und lief jauchzend weiter.
»Ein echter Junge!« sprach sie zu Lenore, indem die Freude den leichten Schreck wieder verscheucht hatte. »Kurt wird seine Freude über ihn haben. Wäre er nur erst hier! Er bleibt lange.«
»Dann hättest Du nicht leiden sollen, daß der Vater ihm entgegengeeilt ist,« erwiderte Lenore. »Dem muß er sicherlich erst Alles erzählen. Du weißt ja, wie ungeduldig er war. Seit mehreren Tagen hat er schon keine Ruhe mehr gehabt.«
»Kurt wird sich auch nach uns sehnen, wie wir nach ihm,« sprach Marie. »Er wird sich nicht zurückhalten lassen – ich kenne ihn zu gut.«
Sie eilten dem Kinde auf dem Wege in den Wald nach.
Kurt hatte schon früher vom Militär Abschied genommen, um dem Lieblingswunsche seines Vaters nachzukommen und Jäger zu werden. Er hatte Lust zu dem Waidmannshandwerke bekommen. Nachdem er lange Zeit in Brandes' Hause geblieben war und die Nachstellungen mit dem Tode Hellborn's, von dem sie ja nur ausgegangen waren, nachgelassen hatten, hatte er sich hervorgewagt und war von der Polizei unangefochten geblieben.
Er hatte als Jäger still in dem Hause seines Vaters gelebt, um ihn zu unterstützen, denn die Erlebnisse hatten den Alten früh gebeugt und geschwächt.
Mit der festen Zusicherung, seines Vaters Stelle zu erhalten, hatte er endlich Marie als seine Braut heimgeführt und. still und glücklich an ihrer Seite gelebt.
Da waren die Tage von 1813 herangebrochen. Das deutsche Volk war aufgestanden und zu den Waffen geeilt. Mächtig war der Hauch der Freiheit über alle deutschen Lande hingeweht. Auch in dem stillen Försterhause hatte er in mehreren Herzen mächtige Flammen angefacht.
Kurt hatte keinen Augenblick mit dem Entschlusse gezögert, Weib und Kind zu verlassen und für die Befreiung seines Vaterlandes in die Reihen der Freiwilligen einzutreten. Aber auch sein Vater hatte ihn trotz seiner ergrauten Haare begleiten wollen, um an dem großen Kampfe Theil zu nehmen.
Es hatte aller Bitten und Ueberredungen Kurt's, Lenorens und Mariens bedurft – seine Frau war ihm schon vor einigen Jahren durch den Tod entrissen – um ihn von diesem Entschlusse abzubringen. An Muth und Feuer würde er dem Jüngsten nicht nachgestanden haben, aber sein sonst so kräftiger Körper war durch die Erlebnisse gebeugt, seine Gesundheit angegriffen.
Kurt war fortgezogen in den Kampf.
Mit steter, fieberhafter Aufregung hatte der Förster den Kampf des deutschen Volkes gegen den französischen Herrscher verfolgt. Die Tage, an denen er die Nachricht von der Schlacht bei Leipzig und von dem Einzuge der Verbündeten in Paris erfahren hatte, waren in dem stillen Försterhause als hohe Festtage gefeiert worden.
Kurt hatte den ganzen Feldzug mitgemacht, bei Leipzig mitgefochten, in mehreren Schlachten sich ausgezeichnet, war mit in Paris eingerückt, war bis um Hauptmann befördert worden und kehrte jetzt zurück.
Deshalb die Ehrenpforte und die Guirlanden um die Thür. Deshalb die Ungeduld seines Weibes, das ihn seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatte.
Sie schritten langsam weiter auf dem Waldwege.
Der Jäger, den sie als Wache ausgestellt hatten, kam ihnen eilig entgegen und rief: »Sie kommen!«
Eine dunkle Röthe übergoß das Gesicht der jungen Frau. Hastig, mit pochendem Herzen eilte sie den Kommenden entgegen. Lenore folgte ihr, den Knaben auf dem Arme.
Schon hörte sie ihres Vaters laute, jubelnde Stimme.
»Hallo! Hallo!« rief er ihr zu, als er sie erblickte.
Sie sah Kurt neben ihm im Wagen sitzen, ihr Vater fuhr. Sie hätte laut aufjauchzen mögen.
Da sprang Kurt mitten im schnellen Fahren vom Wagen. Es ging zu langsam für sein ungeduldiges Herz.
Er flog ihr entgegen und die beiden Gatten lagen einander in den Armen.
Marie schluchzte laut vor Freude und Glück.
»Mein Weib – mein gutes Weib!« flüsterte Kurt und küßte ihr die Thränen von den Wangen, sah ihr in die Augen und umschloß sie dann auf's Neue mit beiden Armen.
Der Wagen war herangekommen – er hörte es nicht.
Der Alte war vom Wagen gestiegen und hatte das Kind aus Lenorens Armen genommen.
»Kurt – Junge – sieh hier – hier, Dein Junge!« rief er, ihm den Jungen entgegen haltend.
Da blickte Kurt auf. Auf sein Kind stürzte er zu, riß es an sich, küßte ihm die rothen, vollen Wangen und hob es in jubelnder Lust hoch, hoch empor mit beiden Armen, bis auch Lenore sich zu ihm drängte, um ihren Antheil des Glückes zu empfangen.
Das war ein froher, glücklicher Einzug in das alte Försterhaus.
Auf dem linken Arme trug Kurt seinen Jungen, der ihn mit großen Augen erstaunt, schweigend ansah, mit dem rechten Arme hatte er sein Weib umschlungen.
Und der Alte eilte voran, um das Thor zu öffnen, damit es das Glück einlasse in sein Haus und es immerdar treu und fest bewahre. Seine alten Wangen hatten sich geröthet, sein gebeugter Körper war wieder gerade aufgerichtet und sein lustiges »Hallo!« klang so laut durch den Wald hin, als hätte es ein Bursch von zwanzig Jahren in voller frischer Jugendlust gerufen. Die Freude verjüngt! –
Ende des Werkes.
* * *