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Wenn einem Kanarienvogel neue Federn wachsen, so ist er krank und »neurasthenisch«. Aber vom Genie, dem die neuen Gedanken wachsen, verlangt man, daß es »gesund« sei.
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Vielleicht hat das Genie bloß mehr Glück gehabt als die übrigen Menschen. Es durfte langsam werden, was es ist, während die anderen schnell werden mußten, was sie nicht sind.
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Genialität ist die Unfähigkeit, jemals etwas anderes ausdrücken zu können als sich selbst und immer wieder sich selbst. So lange ein Mensch sich selbst darstellt, kann er niemals flach, niemals langweilig, niemals unoriginell werden. Denn es gibt nur eine einzige Art von Unmoralität und Häßlichkeit: etwas anderes sein zu wollen, als man ist. Darum wirken Tiere niemals banal. Die Gans ist dumm, der Hahn ist affektiert, der Affe albern, das Känguruh ist einfach unmöglich. Trotzdem geht die Dummheit einer Gans niemand auf die Nerven, wir finden dieses Tier sogar höchst anziehend und amüsant. Man kann stundenlang einem Hahn zusehen, wie er eingebildet, icherfüllt, wichtigtuerisch vor seinen Hennen sich dickmacht. Aber vor einem Menschen mit einem solchen Benehmen würden wir sofort davonlaufen. Und doch auch wieder nicht davonlaufen: wenn es nämlich seine innerste Natur wäre, sich so zu betragen. Der Falstaff ist der Liebling der ganzen Welt, und doch ist er nichts als ein dickes Weinfaß voll abscheulicher Eigenschaften. Aber das Genie Shakespeare hat ihm Natürlichkeit geschenkt und hat dadurch ihn selbst zum Genie gemacht. Darum ist es ganz wahr, wenn auch in anderem Sinne wahr, wenn man gesagt hat: das Genie darf sich alles erlauben.
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Das Genie ist nichts Überlebensgroßes, Hypertrophisches, Exzeptionelles, Barnumartiges, sondern die richtige Lebensgröße und der natürliche Kanon. Ein genialer Mensch verhält sich zu den übrigen nicht wie der Riese zu den Zwergen, sondern wie das Normalgebilde zu den Freaks. Daß das Genie eine organische Form ist, die höchst selten vorkommt, ist nur ein Beweis hiefür. Denn das Normale ist ja überhaupt in der Natur die höchst seltene Ausnahme, und Mißbildungen und Unregelmäßigkeiten sind die Regel. Auch die körperliche Erscheinung des Menschen ist in Millionen von Fällen einmal vollkommen den anatomischen Gesetzen entsprechend. Und einen geistig ganz normalen Menschen, dessen Seele absolut nach dem Kanon gebaut ist, nennt man Genie. Man hat bei solchen Menschen nicht den Eindruck von etwas Absonderlichem und Außergewöhnlichem. Sondern im Gegenteil, man denkt sich: wenn es in der Welt richtig zuginge, müßten alle Menschen von einem ebensolchen Weltblick sein wie Bismarck, ebensolche Gehirne besitzen wie Kant, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ein ebenso gebautes Herz haben wie Emerson. An allen diesen Menschen ist nichts von »Kunst« zu spüren: niemand kann ihnen irgend welche Handgriffe abmerken, denn sie haben gar keine angewendet. Verwunderlich ist an ihnen nur dies eine: daß nicht alle übrigen Menschen ihnen gleichen. Und das Charakteristische ihrer Schöpfungen besteht darin, daß jedermann von ihnen den Eindruck hat: »es ist ein Zufall, daß ich es nicht gemacht habe«. Und so falsch dieses Urteil auch im Grunde ist, so ist es doch das einzige Merkmal, das uns die sogenannten »ewigen« Kunstwerke von den bloßen modischen Meisterstücken unterscheiden läßt. Denn diese letzteren erfüllen ihre Zeitgenossen zwar regelmäßig mit der allergrößten Bewunderung, aber dafür sehen spätere Zeitalter in ihnen nur noch »historische Belege für den damaligen Kulturzustand«.
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Darin besteht seine ganze Leistung. Plato, Kant, Goethe, Nietzsche widerlegten. Und zwar taten sie das weniger mit Worten, ja nicht einmal so sehr mit Taten, sondern einfach dadurch, daß sie da waren. Sie fanden eine Kulturverfassung vor und sahen ein, daß sie auf einer falschen Basis ruhte, oder richtiger gesagt: auf einer unmodernen Basis. Sie warfen diese Basis um, ohne daß es ihnen viel Mühe gemacht hätte.
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Der originelle Mensch glaubt nur an das, was er selbst erfahren hat. Für die meisten Menschen ist das ganze Leben nicht eine unmittelbare persönliche Erfahrungstatsache, ein Erlebnis, sondern eine Art Mitteilung aus zweiter Hand. Das Original aber stellt sich zu jeder, der kleinsten wie der größten Tatsache zunächst skeptisch, es läßt die Dinge an sich herankommen, um sie zu prüfen. Der Durchschnittsmensch verhält sich passiv zur umgebenden Welt, er läßt sie auf sich einwirken, seine Vorstellungen sind tote Abdrücke und nicht Resultate einer lebendigen Aktion, einer Reaktion gegen die Eindrücke. Der originelle Mensch hingegen hat den Grundsatz: es muß alles von vorne angefangen werden. Und hierin liegt die gemeinsame Bedeutung aller genialen Menschen auf allen Gebieten, in Kunst und Wissenschaft, in Religion und Politik. Es ist gleichgültig, auf welche besondere Lebenssphäre sie ihren Blick richten: immer ist dies ihr Standpunkt und ihre Aufgabe. Descartes und die Scholastik, Richard Wagner und die Oper, Virchow und die Pathologie, Luther und der Katholizismus, Ibsen und das Drama, Newton und die Mechanik, Lavoisier und die Chemie: es ist immer dieselbe Stellung. Sie glauben nicht daran, daß etwas richtig ist, weil es bisher von allen für richtig gehalten wurde. Es kommt gar nicht darauf an, daß ein solcher Denker auf diesem Wege zu neuen, überraschenden und entgegengesetzten Resultaten kommt, sehr oft erkennt er die Richtigkeit des Bestehenden; sondern es ist eben der Weg, diese bestimmte Methode des Denkens, die ihn von anderen unterscheidet.
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Es ist an einem Künstler ein ungenialer, unkünstlerischer Zug, wenn er ein sogenanntes »geniales« Leben führt. Denn ein Genie sein heißt nichts anderes, als von einer Mission getragen sein und sich daher als höchst notwendig und unentbehrlich empfinden. Bei kleinen Geistern mag vielleicht ein solches »geniales« Sichwegwerfen, sich psychisch und physisch vergeuden, noch die einzige Möglichkeit sein, um eine Art höheren Lebensstil und eine gewisse Ästhetik zu erreichen, beim Genie jedoch ist es stillos und unästhetisch. Ein Bismarck oder Moltke, der sich in die Schlacht wagt, wäre unmoralisch.
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Wenn man die Arbeitskraft eines Künstlers rühmt, so ist das geradeso, wie wenn man den Materialwert eines Kunstwerks preist.
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»Das Genie schöpft aus dem Vollen.« Aber das ist nicht das Wesentliche, denn aus einem gewissen Reichtum und Überreichtum seiner Persönlichkeit schöpft jeder irgendwie begabte Mensch. Vielmehr zeichnet sich das Genie dadurch aus, daß es nicht der Sklave seines Reichtums ist, sondern aus seiner Fülle immer nur genau so viel schöpft, als es gerade für den gegebenen Zweck braucht, und nicht bemüht ist, in jede Sache, die es macht, alle seine Qualitäten und Künste hineinzustopfen.
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Es gibt vielleicht viele unverstandene Talente, aber ein unverstandenes Genie ist nicht denkbar, wenigstens auf die Dauer nicht. Denn »Talent« ist immer irgend eine hypertrophisch entwickelte und darum schwer verständliche Einzelbegabung, und man muß selber eine Dosis von demselben Talent besitzen, um es erfassen zu können. Das Genie dagegen hat in jedermann einen Freund und Versteher, weil es ein Stück von jedem Menschen enthält. Darum ist auch das Talent eindeutig und das Genie vieldeutig.
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Für den genialen Menschen gibt es nichts Geistvolleres, Tieferes als seine eigene Lebensgeschichte. Wenn große Künstler und Philosophen jeder unbedeutenden Einzelheit ihres Lebens eine Art religiösen Kult gewidmet haben, so kann nur ein sehr oberflächlicher Mensch glauben, daß dies Selbstberäucherung war: sie haben sich eben nur mit den tiefsten Dingen befaßt, die ihnen zugänglich waren. – Es gibt nichts Falscheres als die so häufige Behauptung: nur seichte Menschen reden viel von sich selbst. Das Gegenteil ist richtig. Der seichte Mensch spricht fast nie von sich. Die Täuschung, als ob er dies tue, wird dadurch bewirkt, daß er sehr viel von äußeren Dingen redet, die nur für ihn wichtig sind, zum Beispiel von seinem Mittagessen, seinem Vordermann im Amt, seinem Geschäftslieferanten. Von sich selbst aber spricht er fast nie, und wenn, wie von einem Fremden. Die bedeutenden Menschen aber haben immer und immer wieder von sich selbst geredet: sie spürten nämlich, daß dies eigentlich das einzige Thema sei, worüber sie ein Recht hätten, zu reden.
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Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, daß das Denken ein Vorgang sei, der uns frei mache: denn auch die Gedanken liegen ja nicht in unserer Macht. Was in uns denkt, ist ein unkontrollierbarer, undirigierbarer Folgeprozeß unserer Gesamtvitalität, unseres Stoffwechsels, unserer Blutzirkulation, unserer Verdauung. Wer vermöchte den Anteil zu bestimmen, den Schopenhauers chronische Obstipation an Schopenhauers pessimistischer Philosophie gehabt hat? Und Carlyles einzigartige Denk- und Schreibweise: seine dunkle Weitschweifigkeit, sein überheiztes Pathos, seine unartikulierte, mühsame, immer mit sich selbst ringende Prosa, der ganze Rhythmus seiner Gedankenbewegung, bei dem man stets im Zweifel ist, ob man ihn feurig oder holprig nennen soll: – wie sehr ist dies alles, wodurch Carlyle doch erst zum unnachahmlichen Unikum in der gesamten Weltliteratur wird, der Ausdruck von Carlyles Dyspepsie!
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Immer wiederholt sich die alte Geschichte vom Scherbengericht, die wir alle so oft aus dem Deutschen ins Lateinische und, wenn wir Pech hatten, sogar ins Griechische übersetzen mußten. Die Griechen, die ein für allemal den Kanon des menschlichen Körpers aufgestellt haben, sind auch in dieser Frage des Kanons der menschlichen Seele vorbildlich gewesen. Sie haben auch diese Elementartatsache der menschlichen Natur klassisch ausgedrückt, nämlich gesund, naiv und mit lapidarer Klarheit: die Stellung, die die Menschen zu jeder geistigen Überlegenheit einnehmen: »Wir brauchen dich, Genie, aber du bist uns lästig. Wir möchten deine Bildsäulen um keinen Preis entbehren, Phidias, aber eigentlich ist es eine Frechheit von dir, ein so großer Künstler zu sein, und von dir, Themistokles, ein so großer Feldherr zu sein, und von dir, Aristides, so gerecht zu sein, und von dir, Sokrates, so weise zu sein, denn das alles sind wir nicht; und wir, das Volk, die Masse, der Durchschnitt, die Gewöhnlichen, sind doch eigentlich diejenigen, auf die es ankommt. Jede eurer Taten ist für uns eine Beleidigung, denn jede beweist uns aufs neue, daß in euch mehr Schönheit, Edelmut und Verstand ist, als in uns allen zusammengenommen. Wir wissen recht wohl, daß wir ohne euch nicht auskommen könnten, aber das hindert nicht, daß wir in euch nichts anderes erblicken als ein notwendiges Übel, das wir nur genau so lange ertragen werden, als wir es ertragen müssen.« So dachten die Griechen und so denken, wenn auch weniger bewußt und plastisch, alle Völker, und wer darüber klagt, daß das Genie verkannt werde, der ist selber ein Verkenner des Genies. Denn wäre es allgemein beliebt und anerkannt, so wäre es eben kein Genie. Der große Mann ist eine Naturkraft, ein Elementarereignis, eine Umwälzung, eine Katastrophe, und solche Erscheinungen nimmt man hin, aber man liebt sie nicht.
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Bekanntlich hat Shakespeare im »Julius Cäsar« den Plutarch wörtlich abgeschrieben. Manche bedauern, daß dadurch ein häßlicher Fleck auf den großen Dichter fällt. Andere sind toleranter und sagen: ein Shakespeare durfte sich dies erlauben! Beiden ist jedoch zu erwidern: Wenn man von Shakespeare nichts anderes wüßte als dies, so würde dies allein ihn schon als echten Dichter kennzeichnen. Es ist wahr: große Dichter sind oft originell, aber immer nur, wenn sie müssen. Sie haben nie den Willen zur Originalität; den haben die Literaten. Der Dichter ist ein Mensch, der sieht und sehen kann, weiter nichts. Und er freut sich, wenn er einmal ganz ohne Einschränkung seinem eigentlichen Beruf obliegen kann: dem des Abschreibens. Wenn Shakespeare den Plutarch abschrieb, so tat er es nicht, obgleich er ein Dichter war, sondern weil er ein Dichter war. Die Halbgenies, die Talente, die Spezialisten suchen sich und überall nur sich. Sie erblicken in allem: in Gott, Natur, Menschen, Ereignissen, Büchern nur eine Gelegenheit, sich in Szene zu setzen. Das Genie aber hat eine leidenschaftliche Liebe zum Guten, Wertvollen; es sucht nichts als dieses. Hat schon ein anderer die Wahrheit, zum Beispiel Plutarch, wozu sich auch nur um einen Schritt von ihm entfernen? Was könnte dabei herauskommen? Es bestünde die Gefahr, eine Wahrheit, die minder groß und wahr wäre, an die Stelle der alten zu setzen, und diese Gefahr fürchtet das Genie mehr als den Verlust seiner »Originalität«. Lieber schreibt es ab. Lieber ist es ein »Plagiator«.
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Die Originalität jedes Menschen besteht in seiner Tüchtigkeit. Wer irgend etwas wirklich kann, der ist originell und unersetzlich. Darum ist die landläufige Bemerkung »Kein Mensch ist unersetzlich« so ziemlich das Dümmste, was gesagt werden kann. Sie wurde von jenen Menschen aufgebracht, die allerdings ersetzlich sind und auch in der Tat immer wieder ersetzt werden: von den Kretins. Ein bedeutender Mensch stirbt. »Das Leben geht dennoch weiter«, sagt man. Natürlich, es geht weiter. Aber wie? Mit einem Schlage ist aus einer wohl organisierten, zentralisierten Institution ein jämmerlicher Mißbetrieb geworden. Ein Mensch, der auf die Hirnschale fällt, »geht auch weiter«, aber als ein trostloses, bemitleidenswertes Zerrbild seiner selbst. Wenn Julius Cäsar nicht ermordet worden wäre, würden Europa, Afrika und Asien heute ein anderes Antlitz haben. Natürlich, sie sind nicht bei seinem Tode vor Schreck in den Ozean versunken, aber die Menschen haben sich Jahrhunderte lang vergeblich um Dinge abplagen müssen, die fast schon realisiert waren; und das ist ebenso schlimm. Man denke, daß Goethe bei Valmy gefallen wäre. Die ganze deutsche Kultur würde heute anders aussehen. Oder daß das Attentat auf Bismarck im Jahre 1866 geglückt wäre. Oder man wage sich auszudenken, daß Nietzsche heute noch, als noch nicht Achtzigjähriger, schaffend unter uns lebte. Das ist schon ganz unvorstellbar in seinen Wirkungen. Kleist erschoß sich im Alter von vierunddreißig Jahren. Infolgedessen haben wir kein deutsches Drama. Aber die Menschen sagen: niemand ist unersetzlich; war's nicht der, so war's ein anderer. Jawohl: Kotzebue.
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Die genialen Bücher setzen uns immer wieder von neuem in Erstaunen. Wir erwarteten etwas Geistreiches und finden statt dessen das Gegenteil: etwas Wahres.
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