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ZUR PHILOSOPHIE DES ALLTAGS

 

AU LECTEUR

Im Grunde können wir den anderen nur sagen, was sie schon wissen. Wir vermögen einem Menschen nur diejenigen Dinge mitzuteilen, die er immer schon latent in sich gehabt hat. Im anderen Falle wird er sie entweder rundweg ablehnen oder so lange »auf seine Art« auslegen, bis sie ihm ähnlich sind und nicht mehr uns. Es hätte wenig Sinn, einem Esel Eidotter aufdrängen zu wollen, indem man ihm erklärte, es sei ein höchst nahrhaftes, wohlschmeckendes und bekömmliches Gericht. Er würde es uns einfach nicht glauben. Aber nehmen wir selbst an, es gelänge uns, seinen Abscheu zu überwinden, was wäre die Folge? Er würde aus den Eidottern machen, was er bisher aus Disteln und Kohl gemacht hat: einen Esel.

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THEATRUM MUNDI

Oft beobachte ich von meinem Fenster aus die gegenüberliegenden Fenster. Ganz gleichgültige, fremde, unbedeutende Menschen tun dort drüben fremde, unbedeutende und gleichgültige Dinge: sie öffnen Schränke und schließen sie, machen sich rätselhafte Handreichungen, gehen ab und zu, flüstern miteinander oder sitzen bloß unbeweglich da. Da war zum Beispiel ein junges Mädchen: sie zog des Morgens, in der kühlen Frische des noch unberührten Tages die Fenstervorhänge in die Höhe, warf einen kurzen, forschenden Blick auf die Straße und verschwand im Dunkel des Zimmers. Später ließ sie die Vorhänge wieder herab: am Abend, wenn bereits graue Nebel aus den Gassen emporstiegen, oder an drückend heißen Sommernachmittagen, wenn alles Leben still zu stehen schien. Sie war weder ungewöhnlich schön noch ungewöhnlich anmutig; aber während sie diese Dinge tat, umfloß sie stets eine unbeschreibliche Schönheit und Anmut. Dann war da eine einfache Familie, die des Mittags wie ein Bild um den weißgedeckten Tisch saß und des Abends eine große geheimnisvolle Lampe anzündete, die aussah wie der heilige Gral; ferner ein Mann, der den ganzen Tag in Hemdärmeln über einen wackeligen Tisch gebeugt war und schrieb, immerzu schrieb, und eine junge Köchin, die unbekannte Dinge zerschnitt und in einen Topf warf, bisweilen aber plötzlich starr wurde und mit leerem Blick lange vor sich hinspähte, in eine weite, unsichtbare Ferne, und ein kleines Mädchen, das an einer Puppe nähte, und ein anderes kleines Mädchen mit sinnenden Augen, das gar nichts tat: lauter mysteriöse Märchendramen, romantische Schauspiele in zahllosen Fortsetzungen. Man glaubt beim Anblick dieser Phantome unmittelbar den lautlosen Pendelschlag der Schicksalsuhr zu vernehmen. Man erfährt nie, worum es sich handelt, und weiß doch mehr, als man je erfahren könnte. Es sind die vollkommensten Theatervorstellungen der Welt. Sind wir in solchen Blicken dem wahren Kern des Lebens, dem Herzen seines Geheimnisses nicht näher, als wenn wir uns in seine betäubenden und verwirrenden Bewegungen mischen?

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ZWECK UND BERUF DES MENSCHENLEBENS

Sich ununterbrochen an Kräften und Schicksalen messen, die die Gefahr in sich tragen, daß man an ihnen zerbricht. Für die begabte Frau ist dieses gefahrdrohende Schicksal der Mann, wir aber müssen uns ein solches immer erst suchen – oder erfinden.

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SEI, DER DU BIST

Jedes Tier, jede Pflanze lebt naturgemäß und organisch. Eine Eidechse, eine Wasserrose, eine Koralle will von Anbeginn nichts als ihre Eidechsen-, Wasserrosen- und Korallenbestimmung erfüllen. Der Mensch hingegen will fast immer etwas anderes als das, wozu die Natur ihn geschaffen hat. Er steht nie an seinem Platz und schielt immer nach andern. Die Natur hat zum Beispiel seine gesamten Organe dazu bestimmt, Geschäftsverträge zu kopieren, Bücher zu führen, Ziffern zusammenzuzählen. Aber er ist nicht zufrieden damit und schämt sich dieser prosaischen Tätigkeit, weil andere eine andere Beschäftigung haben. Ein Zweiter wieder hat von Natur aus die Werkzeuge erhalten, um in stiller Abgeschiedenheit zu arbeiten, Beobachtungen an Beobachtungen zu reihen, Tatsachen zu verknüpfen und vorsichtige Schlüsse zu ziehen. Das paßt ihm aber nicht, und er blickt neidisch und ärgerlich auf Menschen, die mitten auf der Bühne der Welt stehen, ein reiches und buntes Dasein führen und aufregende Erlebnisse haben. Nun wären aber alle Menschen gleich wertvoll, wenn sie dem Naturgesetz gehorchten. Was daher den Rangunterschied unter ihnen ausmacht, ist nicht die Art ihrer Beschäftigung und der Umfang ihrer Begabung, sondern der Grad ihrer Natürlichkeit. Unverlogene Menschen sind immer groß.

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DAS LICHT DER WELT VERMEHREN

Ist denn das nicht die göttliche Mission jedes einzelnen Menschen auf dieser Erde, eine Mission, die jeder erfüllen soll, aber im Grunde auch jeder erfüllen kann? Irgendein Licht steckt in jedem Ding, jedem Ereignis, jeder noch so unscheinbaren Betätigung. Insgeheim wirkt in jedem, auch dem unscheinbarsten Menschen irgendeine nur ihm eigentümliche Fähigkeit und Kraft; diese Fähigkeit und Kraft allein ist es ja, der er seine Existenz verdankt, die ihn am Leben erhält; ohne sie wäre er niemals dieses einmalige Individuum geworden. Aber die Menschen besitzen meistens zu wenig Aufrichtigkeit gegen sich selbst, zu wenig Liebe gegen sich selbst, um diese ihre einzigartige Fähigkeit nun auch zu erkennen und gesammelt auf den einzigen Punkt zu lenken, wo sie Nutzen und Licht bringen kann. Wäre dies der Fall, so wimmelte die Erde von Genies auf allen Gebieten! Jedoch zugleich mit jenem Talent, das die Menschen von Gott haben, hat der Teufel ihnen in einer unbewachten Stunde eine Art Gegenmitgift verliehen, nämlich den unglückseligen Hang, niemals das sein zu wollen, was sie sind. Diese sonderbare Geisteskrankheit scheint so alt zu sein wie die Menschheit: wenigstens gibt es keine noch so ehrwürdige kulturhistorische Quelle, aus der wir sie nicht leicht herausdiagnostizieren könnten; ja im Grunde waren ihr sogar schon Adam und Eva verfallen. Gibt es etwas Schöneres als das Paradies? Und doch hatte es für Adam und Eva einen einzigen Fehler: es war nämlich ihre Bestimmung. Und der Mensch hält nun einmal nur das für ein Paradies, was ihm nicht bestimmt ist. Also handelten die ersten Menschen ganz logisch und folgerichtig, als sie den Geboten Gottes nicht gehorchten, freilich nach einer vom Teufel erfundenen Logik.

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DER FLUCH DER VERSCHWIEGENHEIT

Fast jeder Mensch könnte den übrigen nützen: durch die Feststellung irgend einer neuen Tatsache, die nur er kennt, die Richtigstellung irgend eines Irrtums, den nur er durchschaut, die Lösung irgend eines Rätsels, das nur er versteht. Aber er vergräbt diese Dinge in Schweigen, falscher Scham und bornierter Diskretion. Er hält diese Dinge für Privatangelegenheiten, mit denen man Unbeteiligte nicht behelligen dürfe. Aber keine Wahrheit ist eine Privatangelegenheit, niemand hat das Recht, sie dazu zu machen. Keine menschliche Beziehung verdient in Schweigen erstickt zu werden, und wenn sie in die finsteren und verborgenen Abgründe der menschlichen Seele hinunterreicht – gerade dann verdient sie es am meisten, ans Licht gebracht, von allen betrachtet, studiert, verstanden, aufgehellt zu werden. Diskret sein heißt: die Entwicklung der Wahrheit aufhalten, Stücke der großen allgemeinen Realität, die zu kennen jeder Lebende das Recht hat, perfid eskamotieren. Der Philister hat immer ein schlechtes Gewissen. Das allein aber ist das Schlechte an ihm. In dem Augenblick, wo man über die schlechteste Sache von der Welt spricht, ehrlich spricht, ist sie fast schon gut, ist sie aus einer häßlichen Verirrung eine wertvolle Lebenswahrheit geworden, an der die anderen lernen können.

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BLEIBE BEI DIR

Das beklagenswerteste Geschöpf dieser Zeit ist der Reisende. Er »sieht sich die Welt an«: aber dies hat zur Folge, daß er sich die einzige Welt, die wirklich ist, nämlich seine eigene, niemals ansieht! Überall trägt man Zylinder und Boas, liebt man die Musik und die Straßenreinigung, hat man mehr oder weniger dieselben Anschauungen über Parlamentarismus, Feldbau und gesellschaftliche Etikette, überall herrscht die gleiche Reisewut; und der Koreaner träumt von einer Reise nach Hamburg, weil er hofft, dort das zu erfahren, weswegen der Hamburger nach Korea möchte. Und wir begreifen den treffsicheren Volksinstinkt, der für Ahasver, der dem guten Heiland sein Dach verweigerte, als schrecklichste Strafe dies ersann, daß er ihn zum ewigen Weltreisenden machte. Und warum fahren die Menschen irgendwohin, wo sie nichts zu suchen haben und wo sie niemand brauchen kann? Weil sie sich selbst nicht ertragen! Aber gerade dieses gefürchtete »eigene Ich«, vor dem sie in fremde Länder davonlaufen, fährt als blinder Passagier überallhin mit. Und wenn diese Ablenkung den Menschen nichts nützt, so spielen sie Hasard oder bringen harmlose Tiere um. Und wenn auch das nicht hilft, so machen sie einen Weltkrieg.

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DER GOLDENE BODEN

In jedem solid und kundig geübten Handwerk liegt etwas, das zur Verehrung, ja zur Bewunderung herausfordert. Um einen Schrank, einen Rock, eine Uhr wirklich gut zu machen, dazu gehört eine gewisse Sittlichkeit: Achtung vor dem gottgeschaffenen Material, Selbstzucht, Nachdenken, treue Hingabe an die Sache, Sinn für das Wesentliche. Ein Meister ist allemal etwas sehr Schönes, ob er einen Schuh macht oder einen Dom.

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DER ALKOHOL

Der Alkohol ist ein Gift. Das haben die Physiologen bewiesen. Aber gegen den Alkohol ist damit gar nichts bewiesen. Denn ein Gift kann immer noch eine Medizin sein.

Der Alkohol gleicht auch darin einer Medizin, daß er schlecht schmeckt. Leute, die geistige Getränke zu sich nehmen, weil sie ihnen gut schmecken, sind gar keine Alkoholiker. Sie trinken den Alkohol nicht, sie essen ihn. Sie sind alle noch leicht zu retten; denn man könnte ihnen jederzeit Bier, Wein oder Branntwein durch ein anderes Gericht ersetzen, das noch schmackhafter ist. Der richtige Alkoholiker trinkt mit Überwindung. Für ihn ist die Weinflasche identisch mit der Lebertran- und Kirschlorbeerflasche.

»Wann wird denn endlich«, rufen die Antialkoholiker mit Emphase, »die Menschheit so weit sein, daß sie sich nicht mehr betäuben muß? Daß sie dieses schädliche, unwürdige und unmännliche Gift nicht mehr braucht?«

Wann? In dem Augenblick, wo alle Niedertracht, Ungerechtigkeit, Rohheit und Dummheit aus unseren Mitmenschen entfernt sein wird. In dem Augenblick, wo alle Unvollkommenheit, Unnatürlichkeit, Krankheit und Unfähigkeit aus uns selbst entfernt sein wird. Dann werden wir den Alkohol nicht mehr brauchen, der ja nichts anderes ist als ein Antitoxin gegen die Enttäuschungen, die die anderen und wir selbst uns bereiten. Dann wird der Name »Alkohol« für uns nicht mehr bedeuten als etwa der Name »Wasserstoffsuperoxyd«.

Viele Künstler waren Alkoholiker. Aber man muß sich hier vor einer Verwechslung von Ursache und Wirkung hüten. Sie waren nicht Künstler, weil sie Alkoholiker waren. Sie waren Alkoholiker, weil sie Künstler waren. Weil sie Künstler waren, empfanden sie die Häßlichkeit und Unzulänglichkeit gewisser Realitäten tiefer und schärfer, und dies machte sie zu Alkoholikern.

Daß aber umgekehrt der Alkohol die künstlerische Inspiration irgendwie fördern kann, daß die »Muse« sich durch gegorene Kohlehydrate anlocken läßt, ist unwahrscheinlich. Sie läßt mit sich keine Geschäfte machen. Und wenn ein Künstler sich durch Spirituosen auf eine unwahre und unredliche Weise in Stimmungen versetzt hat, die gar nicht die seinigen sind, so darf er sich nicht wundern, daß niemand ihm diese erschlichenen Stimmungen glaubt. Die natürlichen Räusche aber sind nicht beim Schnapshändler für Geld zu kaufen. Diese Räusche sind wirklich, ja sie sind wirklicher als alle Wirklichkeit. Es ist aber sicher, daß sie um so zögernder herankommen werden, je mehr man sie durch Gewaltmittel herbeizwingen will.

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LOB DER HALBHEIT

Alles Ganze, Vollendete ist eben vollendet, fertig und daher abgetan, gewesen; das Halbe ist entwicklungsfähig, fortschreitend, immer auf der Suche nach seinem Komplement. Vollkommenheit ist steril.

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DIE BANGE WAHL

Dem Menschen bleibt nur die Wahl zwischen Schmutz und Langeweile (Schiller sagte »Sinnenglück« und »Seelenfrieden«).

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LOS DER ANALPHABETEN

Jeder Mensch wird mit einem sehr stattlichen Scheck auf die Zukunft geboren; aber dieser Scheck ist für die meisten Menschen wertlos, denn sie sind nicht imstande, ihn zu lesen.

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LASCIATE OGNI SPERANZA

Die wirklichen Erlebnisse liegen im Gebiet des Unausgesprochenen und Unaussprechlichen. Was sich sagen läßt, kann niemals ganz wahr sein. Kleide einen Gedanken in Worte, und er verliert alle Bewegungsfreiheit. Unser Wissen ist allemal besser als unsere Reden.

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