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Die Wahrheit ist: wir sollen elend sein, und sind's. Dabei ist die Hauptquelle der ernstlichsten Übel, die den Menschen treffen, der Mensch selbst: homo homini lupus. Wer dies letztere recht ins Auge faßt, erblickt die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß einer der Teufel des andern sein muß.
Schopenhauer
Wir nähern uns jetzt dem schwärzesten Abschnitt der europäischen Neuzeit. Es ist die Periode von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein: die Zeit der sogenannten Religionskämpfe, eine fast hundertjährige Bartholomäusnacht. Stehen Christentum und Krieg schon an sich in einem unauflöslichen Widerspruch, so hat diese schauerliche Paradoxie, die die gesamte Geschichte der christlichen Völker befleckt, damals insofern ihre grimassenhafteste Höhe erreicht, als jene miteinander kämpfenden Christen an Hinterlist, Grausamkeit und schamloser Verhöhnung aller göttlichen und menschlichen Sittengesetze alles übertrafen, was jemals von Tataren und Türken, Hunnen und Hottentotten begangen worden ist. Denn in diesen waltete bloß ein blind tierischer Zerstörungstrieb, während es sich bei den Christen des Zeitalters der Gegenreformation um ein mit höchstem geistigen Raffinement und vollendeter Kunst der Infamie ausgebautes System handelte. Drei Menschenalter lang fand in den entwickeltsten und zivilisiertesten Ländern Europas ein Wettrennen der Unmenschlichkeit statt, ein Schwelgen in erbarmungsloser Rachsucht, tückischer Bosheit und allen jenen teuflischen Trieben, um deren Vertilgung der Heiland das Kreuz auf sich genommen hatte.
Es muß jedoch gesagt werden, daß von diesen beiden schwarzen Parteien die Katholiken zweifellos die schwärzere waren. Wir hatten im vorigen Kapitel Gelegenheit, den Protestantismus in seinen Schwächen und Beschränktheiten kennenzulernen, und sind zu dem Resultat gelangt, daß er keineswegs, wie dies so oft mit größter Selbstverständlichkeit angenommen wird, als die unbedingt höhere und vorgeschrittenere Form des christlichen Glaubens anzusehen ist, ja daß er in vielem geradezu einen Rückschritt, eine Verflachung, Materialisierung und Entfernung vom Ursinn der Lehre Christi bedeutet. In der Periode der anbrechenden Gegenreformation verhielt es sich jedoch umgekehrt: Vernunft, Moral, Gewissen, Freiheit, Aufklärung befanden sich auf der Seite der Häretiker. Doch ist dies nur relativ zu verstehen: von wirklicher Sittlichkeit, geistiger Souveränität, Verantwortlichkeitsempfindung oder gar Denkfreiheit kann auf keiner der beiden Seiten die Rede sein.
Es ist ja Politik niemals von Lüge, Schmutz, Brutalität und Selbstsucht zu trennen; aber in jenem Zeitraum hatte die politische Verruchtheit einen ihrer erschreckendsten Kulminationsgrade erreicht. Überall: in Spanien, in Italien, in Frankreich, in England, in Schottland erblicken wir wahre Musterexemplare von hartgesottenen Schurken an der Spitze der öffentlichen Geschäfte, fühllose Massenmörder von der Wildheit des Urmenschen und zugleich von einer eiskalten Berechnung, die sie tief unter das Niveau des Urmenschen herabdrückt. Alba ist nur der zusammenfassende Typus für Hunderte von ähnlichen moralischen Mißgeburten, die damals wie eine plötzlich emporgeschossene Giftflora den europäischen Boden verseuchten. Selbst in dem vielgerühmten England der Elisabeth wimmelte es auf den Höhen der Gesellschaft von scheinheiligen gierigen Banditen, die vor keinem Verbrechen zurückschreckten, wenn es ihrem Machthunger oder ihrer Habsucht Befriedigung versprach. Die Kirchenspaltung hatte eben im wesentlichen nur negative Resultate gezeitigt: sie hatte bloß den Glauben an die Autorität der göttlichen Normen zerstört, und eine neue, auf profane Erwägungen der natürlichen Einsicht und Billigkeit gegründete Ethik, die die mittelalterliche hätte ersetzen können, dämmerte erst in einigen wenigen erleuchteten Köpfen.
Erst seit dem Augsburger Religionsfrieden vom Jahr 1555, der seinen Namen sehr mit Unrecht trug, beginnt der religiöse Fanatismus in beiden Lagern seine volle verheerende Kraft zu entfalten. In der Tat enthielten die Bestimmungen dieses Vertrages die Keime zu den größten Zwistigkeiten und Verwirrungen. Die Formel » cuius regio, eius religio«, die die freie Wahl der Landeskonfession den Obrigkeiten einräumte, aber nur diesen, bedeutete eine empörende Vergewaltigung der Gewissensfreiheit aller Untertanen; das berühmte reservatum ecclesiasticum, das verfügte, daß geistliche Reichsstände, wenn sie zum Protestantismus übertreten, Amt, Gebiet und Einkünfte verlieren sollen, führte sogleich nach seiner Verkündigung zu erbitterten Diskussionen und Gegendeklarationen; und die Calvinisten waren in den Ausgleich überhaupt nicht einbezogen: es gab also jetzt drei offizielle Religionsparteien, die sich untereinander aufs heftigste bekämpften.
Der Reformismus war im Norden: in Dänemark, Schweden und Norwegen, in England, Schottland und Holland, in Norddeutschland und dem deutschen Ordensgebiet schon so gut wie Staatsreligion, er war aber auch schon im deutschen Westen und in den österreichischen Erbländern, in Polen und Ungarn, in Bayern und Böhmen öffentlich oder heimlich die herrschende Glaubensform, und alle Anzeichen sprachen dafür, daß er auch in Frankreich und in Italien zum Siege gelangen werde. Es gab überall, selbst in den Bistümern, im Kirchenstaat und im erzklerikalen Spanien, kleine Gruppen von feurigen Protestanten; aber es gab nirgends, auch nicht in den papsttreuesten Ländern, etwas anderes als lahme Katholiken. Die Reformation ganz Europas schien nur eine Frage der Zeit.
Aber gerade in diesem Augenblick setzt die Gegenreformation ein. Bis dahin war die römische Kirche in Religionsdingen entweder völlig indifferent oder selbst reformatorisch gesinnt oder rein politisch orientiert gewesen: es war für die Kurie viel wichtiger, daß das Haus Habsburg nicht übermächtig werde, als daß irgendeine kleine Häresie sich ausbreite, von der man glaubte, daß sie sich, wie alle bisherigen, leicht ersticken oder assimilieren lassen werde, und so konnte man sogar einige Male das sonderbare Schauspiel beobachten, daß der Papst die protestantische Bewegung, die ja nicht bloß in religiöser, sondern auch in politischer Hinsicht eine zentrifugale war, gegen den Kaiser unterstützte. Nun aber begann man die ungeheure Gefahr zu erkennen. Und es zeigte sich, daß Rom noch immer das stärkste Kraftzentrum Europas war.
Das System, das die katholische Kirche zur Eindämmung der Reformationsbewegung ergriff, war sehr klug und einsichtsvoll erdacht, aber sehr heikel und kompliziert zu handhaben und erforderte daher Personen von ungewöhnlichem Takt, Weltblick und Menschenurteil, die sich aber bald zur Verfügung stellen sollten. Es bestand darin, daß man einerseits die Glaubensnormen mit einer bisher noch nicht angewandten Schärfe formulierte, um dadurch jede Möglichkeit eines gradweisen Übergangs zur Häresie abzuschneiden, und daß man anderseits innerhalb dieser Normen die größte Schmiegsamkeit, Laxheit und Modernität bewährte, so daß auch freiere Regungen und zeitgemäße Forderungen ihre Befriedigung finden konnten.
Der klaren dogmatischen Abgrenzung dienten zunächst die Beschlüsse des Konzils von Trient. Diese stellten vor allem fest, daß das alleinige Recht der Schriftauslegung der Kirche zukomme: damit war die Pfahlwurzel aller Häresie, das lutherische Laienchristentum, beseitigt. In der sehr diffizilen Frage nach der Rechtfertigung bezogen sie eine Mittelstellung zwischen Augustinismus und Semipelagianismus: die guten Werke sind nötig, werden aber erst durch die Gnade Gottes zu verdienstlichen gemacht. In der Sakramentslehre hielten sie starr an den sieben Sakramenten fest, die alle von Christus selbst eingesetzt worden seien: hier Konzessionen zu machen, wäre gefährlich gewesen; ebenso bewahrten sie in der Frage der Messe und Transsubstantiation den streng orthodoxen Standpunkt. Am Ablaß werden die Mißbräuche eingeräumt und gerügt, die erlösenden Wirkungen aber aufs neue bekräftigt. Im ganzen bedeutet das Tridentinum weniger eine erschöpfende Kodifizierung der katholischen Lehren als eine genaue Grenzberichtigung gegen die neuen Häresien, besonders gegen das Luthertum: es ist eindeutig nur in der Verwerfung, hingegen in den positiven Feststellungen, und zwar offenbar mit Absicht, schwankend, doppelbödig, lückenhaft, dehnbar. Hierdurch kam in den Katholizismus einerseits ein Einschlag von Willkürlichkeit und Spitzfindigkeit, Pseudomoralität und Verweltlichung, anderseits aber auch ein Element von Liberalität und Biegsamkeit, Weitläufigkeit und Weltfreundlichkeit, das ihm bisher in diesem Maße nicht eigen war.
Jedenfalls war durch die Strenge, mit der nunmehr die Linie Intoleranz zwischen Rechtgläubigkeit und Heterodoxie gezogen war, das Signal zur Entfaltung eines militanten, aggressiven, wiedererobernden Papismus gegeben; und in der Tat datiert von jenem Zeitpunkt das Erwachen einer paneuropäischen Intoleranz von einer Gehässigkeit und Exklusivität, wie sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts nur vereinzelt zu beobachten war. Doch war das Tridentinum nicht die Ursache, sondern nur eines der zahlreichen Symptome dieser Generalpsychose, die sich auch auf die Angehörigen sämtlicher übrigen Konfessionen erstreckte.
Was die Calvinisten anlangt, so waren sie durch ihre extreme Prädestinationslehre, die die ganze Menschheit in Erwählte und Verdammte schied, geradezu gezwungen, jedem Andersgläubigen die Lebensberechtigung abzusprechen. Aber auch die Lutheraner waren eifrig bemüht, ein System der starrsten Unduldsamkeit zu entwickeln. Ihre dogmatischen Streitigkeiten waren um so absurder, als sie ein festes Dogma überhaupt nicht besaßen und nach der ganzen Natur ihrer Konfession gar nicht besitzen konnten. Melanchthons letzte Worte sollen gewesen sein, er sei glücklich, daß er von der rabies theologorum erlöst sei. Und in der Tat hatten sich bereits zu seinen Lebzeiten die Protestanten in die rechtgläubigen Lutheraner und die Melanchthonianer gespalten. In Kursachsen wurden diese Philippisten, wie sie sich nach Melanchdthons Vornamen nannten, als heimliche Calvinisten, »Kryptocalvinisten«, verfolgt, aus ihren Ämtern vertrieben, nicht selten verbannt oder eingekerkert. Zur alleinigen Glaubensrichtschnur wurde die »Konkordienformel« erhoben, eine Zusammenstellung von antiphilippistischen Sätzen, die aber niemand befriedigten und nur Anlaß zu neuen albernen Zänkereien gaben, weshalb man ihr den Spottnamen »Zwietrachtsformel« gab. In der Kurpfalz dagegen wurde im »Heidelberger Katechismus« der Calvinismus aufgerichtet und jeder Prediger, der ihn nicht annehmen wollte, aus dem Lande gewiesen. Aber auch in Kursachsen hatte das Luthertum keinen Bestand: ein Thronwechsel brachte die Konkordienformel zu Fall, und durch den Kanzler Nikolaus Crell gelangte der Philippismus zur Herrschaft. Der nächstfolgende Regent bevorzugte aber wieder die lutherische Bekenntnisform, Crell wurde gefangengesetzt und nach einem jahrelangen Intrigenspiel seiner Feinde, die sogar zu den Katholiken ihre Zuflucht nahmen, enthauptet. In der Kurpfalz spielte sich ein solcher offizieller Religionswechsel sogar viermal ab, natürlich unter steten Schikanen und Gewaltmaßregeln gegen alle Andersgesinnten. Kurz: es war nicht verwunderlich, daß einsichtige Zeitgenossen behaupteten, durch die Reformation sei eine ärgere Glaubenstyrannei in die Welt gekommen, als sie je unter dem Papsttum bestanden habe.
Von Polen aus gewann der von Lälius und Faustus Sozzini begründete und im Rakower Katechismus kodifizierte Sozinianismus einige Verbreitung. Er ist dezidiert antitrinitarisch, weshalb seine Anhänger sich auch Unitarier nannten. Sie lehrten, Christus habe sich nicht für die Sünden der Welt geopfert, sondern nur eine neue Lehre gegeben und ein sittliches Vorbild aufgerichtet. Nur der Vater Jesu Christi galt ihnen als Gott; er habe aber seinen Sohn nach dessen Tode wegen seiner Reinheit und seines Gehorsams zu göttlicher Würde erhoben, und darum sei man berechtigt, ja verpflichtet, beide anzubeten. Taufe und Abendmahl erklärten sie für nützliche, aber nicht absolut notwendige Einrichtungen. Die traditionelle Rechtfertigungslehre widerlegte der ältere Sozzini durch eine scharfsinnige, aber etwas oberflächliche Beweisführung, die seither oft wiederholt worden ist: Christus könne nicht als Repräsentant der ganzen Menschheit gelitten haben, da man andere nur zu vertreten vermöge, wenn man von ihnen eine Vollmacht besitze, eine solche Vollmacht aber konnten die kommenden Geschlechter dem Heiland unmöglich ausstellen; außerdem seien nur Geldschulden übertragbar, aber nicht moralische Verschuldungen und Strafen. Diese rein juristische Deduktion hat unter anderen der berühmte Rechtsgelehrte Hugo Grotius übernommen, obgleich sie ganz unstichhaltig ist, da sie sich ja auf einer ganz anderen Ebene bewegt als die theologische. Es zeigen sich aber schon in der bloßen Möglichkeit einer solchen Argumentation die übeln Folgen jener Rationalisierung des Satisfaktionsbegriffs, die Paulus teils nach römisch-strafrechtlichen, teils nach talmudisch- dialektischen Analogien seinerzeit vorgenommen hatte und auf deren Schwächen wir bereits hingewiesen haben.
Mit den Sozinianern und Grotius berührten sich die Arminianer oder Remonstranten in Holland, gegen die sich die Gomarianer oder Kontraremonstranten erhoben. Der Streit ging in erster Linie um die Prädestination, von der Jakob Arminius und seine Anhänger erklärten, daß sie sich auf den Glauben beziehe, indem Gott in seiner Allwissenheit bei jedem einzelnen vorhergesehen habe, ob er den Glauben besitzen werde oder nicht, während die Gomarianer im Anschluß an Franz Gomarus behaupteten, daß die Erwählung das Primäre, der Glaube nur deren Wirkung sei. Welche unüberbrückbare Kluft zwischen diesen beiden Auffassungen bestehen soll, ist für einen Vollsinnigen unersichtlich; aber wegen dieser läppischen Kontroverse wurden Tausende grausam verfolgt, der ausgezeichnete Staatsmann Oldenbarneveldt hingerichtet und Grotius zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, dem er jedoch glücklich entkam. Solche Formen nahmen die theologischen Zwistigkeiten selbst in den Niederlanden an, die damals mit Recht als das freieste Land Europas gerühmt wurden.
Auch in England hat die Reformation bewirkt, daß aus einer Kirche drei wurden. Als Heinrich der Achte sich vom Papst lossagte (teils um die Kirchengüter zu rauben, teils um sich unbehelligt seinen sadistischen Blaubartpassionen hingeben zu können), beließ er die hierarchische Gliederung und fast alle Dogmen und Einrichtungen der katholischen Kirche und änderte bloß die Spitze, indem er sich an die Stelle des Papstes setzte und von allen Geistlichen den Suprematseid forderte, durch den sie ihn als höchstes Oberhaupt anerkennen mußten. Hieraus entwickelte sich die merkwürdige Form der sogenannten anglikanischen Kirche oder Hochkirche: ein Luthertum mit Prälaten und Bischöfen, Ohrenbeichte und Zölibat, ein Katholizismus ohne Papst und Peterspfennig, Orden und Klöster. Und es lag in der Natur einer so absurden und frivolen Reform, daß jeder, der eine wirkliche religiöse Überzeugung besaß, sich damit der Verfolgung aussetzen mußte. War er ein gläubiger Katholik, der dem Papst anhing und die späteren Vermählungen des Königs als Ehebruch ansah, so wurde er als Hochverräter enthauptet; war er ein ehrlicher Protestant, der das Zeremonien wesen verwarf und die Priesterehe für erlaubt hielt, so wurde er als Kirchenschänder gehängt; war er ein strenger Calvinist, der die Brotverwandlung leugnete, so wurde er als Ketzer verbrannt. Die willkürliche Zwitterschöpfung der high church hat denn auch die Wirkung gehabt, daß in den Gebieten der englischen Krone nicht nur der Katholizismus sich mit besonderer Hartnäckigkeit behauptete, so vor allem in Irland, sondern auch die evangelische Lehre eine große Reinheit bewahrte, wie dies die Puritaner schon durch ihren Namen anzeigten: ihr Hauptverbreitungsgebiet war Schottland, wo ihr ebenso rabiater wie sittenstrenger Anführer John Knox eine Kirche gründete, die lediglich auf dem Prinzip der Leitung durch die Gemeindeältesten, die Presbyter, aufgebaut war, weshalb sie sich gleichzeitig Presbyterianer nannten; später hießen sie wegen ihres Gegensatzes zur offiziellen Kirche auch Dissenters oder Nonkonformisten, wegen des Bündnisses, das sie zum Schutz ihrer Konfession geschlossen hatten, Covenanters und wegen der völligen staatlichen und kirchlichen Unabhängigkeit, die sie für jede ihrer einzelnen Gemeinden beanspruchten, Independenten: diese letztere Bezeichnung wird jedoch im allgemeinen nur auf eine besonders radikale Gruppe innerhalb des Puritanismus angewendet.
Kurz: ganz Europa wird ein riesiges Schlachtfeld sich bekämpfender Kirchenparteien. In diesem Zeitraum verschlingt das religiöse oder, richtiger gesagt, das theologische Interesse jede andere Art von Gemeinschaftsgefühl: ein Zustand, den Macaulay sehr treffend in den Worten zusammenfaßt: »Die physischen Grenzen wurden durch moralische verdrängt.« Die politische Stellungnahme jedes einzelnen wurde nicht durch seine Staatszugehörigkeit, nicht durch Rasse, Sprache oder Familienbande, sondern lediglich durch sein Glaubensbekenntnis bedingt. Die Guisen und ihre Anhänger handelten als französische Landesverräter, indem sie mit Spanien konspirierten; die Hugenotten handelten ebenfalls als Landesverräter, indem sie heimlich mit Deutschland verhandelten. Die schottischen Katholiken suchten bei Frankreich Hilfe; die reformierten Provinzen der spanischen Niederlande riefen die Engländer ins Land. Die papistischen Untertanen der Königin Elisabeth wünschten den Sieg der spanischen Armada; die puritanischen Untertanen der Maria Stuart erhofften eine englische Invasion. Die deutschen Protestanten überließen die lothringischen Bistümer dem französischen Erbfeind; die französischen Protestanten zedierten Havre dem englischen Erbfeind. Im Zusammenhang hiermit stehen auch die ganz neuartigen Staatstheorien, die damals aufkamen. Ihre Hauptvertreter sind Jean Bodin, Johannes Althusius und der bereits erwähnte Hugo Grotius. Dieser ist der Begründer der Anschauung vom sogenannten »Naturrecht«, die während des ganzen siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Europa geherrscht hat. Recht und Staat beruhen nach ihr nicht auf unmittelbarer Einsetzung Gottes, sondern sind Menschenwerk, hervorgegangen aus unserer vernünftigen Naturanlage, unserem Selbsterhaltungstrieb und unserer Neigung zu geselligem Zusammenschluß. Auf dieselbe Weise denkt sich Althusius die Entstehung des Staates: zuerst war die Familie, aus dieser wurde der Stamm, später bildeten sich Gemeinden, aus diesen Provinzen, und schließlich kam es zum Staat; dieser besteht also nicht aus einer Summe von Individuen, sondern aus einer Summe von Korporationen, und infolgedessen kann die höchste Macht im Staate nur den Korporationen zustehen, dem gegliederten Volke, den Ständen: dies ist die berühmte Doktrin von der »Volkssouveränität«, deren Wirkungen ungeheuer waren. Aber auch Bodin, der noch ein Anhänger der absoluten Monarchie war, erklärte, die Souveränität des Fürsten finde ihre Schranke an der Religion und Moral. Gerade dies ist aber der springende Punkt, die zeitgemäße Pointe aller dieser Theorien, und hier setzte die Schule der »Monarchomachen«, der Fürstenbekämpfer ein, die den Grundsatz vertraten, daß jeglicher staatliche Eingriff in die Religion der Untertanen unerlaubt sei: das Prinzip »cuius regio, eius religio« sei sowohl ungesetzlich wie unsittlich. Der Herrscher habe seine Gewalt lediglich vom Volke, das sie ihm durch einen Kontrakt übertragen habe: dies ist die sogenannte »Kommissionstheorie«. Überschreitet er seine Befugnisse, insbesondere durch Vergewaltigung der Gewissensfreiheit seiner Untertanen, so kann der Vertrag jederzeit wieder rückgängig gemacht werden: das Volk habe in diesem Falle das ius resistendi, das Recht des Widerstandes, es dürfe den Tyrannen absetzen und, wenn er nicht freiwillig weiche, sogar töten. Die Praktiker dieser Theorie waren Jakob Clément, der Heinrich den Dritten niederstieß, Franz Ravaillac, der Heinrich den Vierten erdolchte, Balthasar Gérard, der Wilhelm von Oranien erschoß, Johann Savage und Anton Babington, die ein weitverzweigtes Komplott gegen das Leben der Königin Elisabeth anzettelten, und die Londoner Pulververschwörer, die beinahe Jakob den Ersten, seine Familie und das ganze Parlament in die Luft gesprengt hätten. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß alle Genannten fanatische Katholiken waren.
Man hat nicht selten die Jesuiten beschuldigt, zu diesen und zahlreichen anderen Untaten die Anregung gegeben zu haben, und in der Tat waren ihre Lehren geeignet, über die Erlaubtheit des politischen Mordes zumindest Mißverständnisse entstehen zu lassen. Ehe die Pulververschwörer ihre Anstalten trafen, erbaten sie sich das Gutachten eines höheren Jesuiten; die Antwort lautete: bei einem so unzweifelhaft guten Zweck sei es verzeihlich, wenn auch einige »Unschuldige« ums Leben kämen. Doch lagen derartige Auffassungen im Geist der Zeit. Jakob Clément war Dominikaner; und auch diesem erklärte sein Oberer auf die Frage, ob es eine Todsünde sei, wenn ein Priester einen Tyrannen töte, in diesem Falle handle der Priester bloß »unregelmäßig«. Aber auch die hugenottischen Prediger, denen Poltrot de Meré, der Mörder des Herzogs Franz von Guise, vorher seine Absicht enthüllte, beschränkten sich darauf, ihm zu bedenken zu geben, ob er nicht das Heil seiner Seele aufs Spiel setze.
Der Jesuitenorden ist eine der merkwürdigsten Schöpfungen der Weltgeschichte: er vereinigte in sich alle Widersprüche jener gewalttätigen und geistreichen, bigotten und verbrecherischen Übergangszeit, die ihn geboren hat und der er ihr Gesicht gegeben hat. Sein Begründer Ignatius von Loyola ist eigentlich, ganz ähnlich wie sein großer Gegenspieler Luther, eine Erscheinung, die noch vom Mittelalter herkommt, eine Mischung aus einem kühnen Ritter und einem verzückten Heiligen. Sein Grundwesen war verstiegene weltfremde Träumerei; aber gerade dadurch hat er halb Europa erobert: seine ekstatischen Phantasien waren stärker als die Realität, sie haben die Wirklichkeit vergewaltigt. Die Zentralidee, von der sein ganzes Leben beherrscht war, bestand in nichts anderem als in der Überzeugung, daß der Geist souverän sei und unsere Physis ein bloßes Instrument, auf dem er, wenn er die nötige Willenskraft und Selbstzucht besitze, nach Beheben spielen könne, ja daß er die ganze Welt nach seinem Ebenbild zu formen vermöge, wenn er nur ernstlich dazu entschlossen sei, kurz: daß die Seele stärker sei als die Materie. Loyola begann seine Laufbahn als schöner amouröser Hofmann und glorioser todesmutiger Offizier. Bei der Belagerung von Pampelona zerschmetterte ihm während eines tollkühnen Kampfes ein großer Stein den linken Fuß und brach ihm beide Beine. Ein ungeschickter Wundarzt setzte ihm das eine Bein so schlecht ein, daß es noch einmal gebrochen werden mußte. Aber es blieb noch immer verkürzt, und er war gezwungen, monatelang schwere dehnende Gewichte daran zu tragen. Unter diesen Schmerzen erwuchs in ihm die Sehnsucht und der Entschluß, zum Märtyrer der katholischen Kirche zu werden. Als er einigermaßen geheilt war, machte er sich auf die Pilgerfahrt nach Jerusalem. Das Reisegeld, das ihm sein Bruder gab, verteilte er unter die Armen. Auf dem Schiff hielt er Bußpredigten, von den rohen Matrosen verhöhnt. Dreimal des Tages geißelte er sich, sieben Stunden verbrachte er im Gebet, seine Nahrung war Wasser und Brot, seine Lagerstatt der nackte Boden. Zurückgekehrt hielt er in Spanien Wanderpredigten, die den größten Zulauf hatten. Bald jedoch erkannte er, daß zur Leitung der Menschen auch Wissen nötig sei: so erlernte er noch in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr unter großen Mühen das Lateinische und bezog dann die Universität in Alcala. Aus einer frommen Studentenverbindung entstanden die ersten Anfänge der Compañia de Jesus, die der Papst im Jahr 1540 feierlich bestätigte.
Schon der Name besagt, daß es sich um eine Organisation handelte, die nach militärischen Analogien gebildet war. An der Spitze stand der Ordensgeneral, der niemandem verantwortlich war als dem Papst, ihm waren die Provinzialgenerale untergeordnet und von diesen führten zahlreiche Stufen bis zum gemeinen Soldaten hinab. Von besonderer Bedeutung war es, daß ein striktes Verbot die Jesuiten von allen geistlichen Ämtern und Würden ausschloß: hierdurch wurden ihre Kräfte gänzlich auf den Dienst des Ordens konzentriert. Das Hauptgelübde, das sie ablegen mußten, war das des Gehorsams: »Wie bei den Weltkörpern«, hieß es in ihrer Instruktion, »nach einem ewigen Gesetze der untere Kreis in seiner Bewegung dem höheren folgt, so muß das dienende Organ vom Wink des Oberen abhängig sein.« Das Prinzip der Subordination wurde von ihnen mit derselben Strenge und Ausnahmslosigkeit gehandhabt wie bei einer Armee: sie waren angehalten, die blinde Unterwürfigkeit unter die Vorgesetzten bis zu jenem Grade zu schulen und zu betätigen, wo der Mensch »gleich einem Stück Holz oder Fleisch« werde: dies ist der berühmte jesuitische »Kadavergehorsam«. Zur Stählung für diese und ähnliche Belastungsproben der Willenskraft dienten die von Loyola ersonnenen exercitia spiritualia militaria, jene kunstvolle Anleitung zur Beherrschung und Dirigierung der Gelüste und Affekte und sogar der Vorstellungen und Gedächtnisbilder, die Karl Ludwig Schleich nicht ganz mit Unrecht mit dem preußischen Drill verglichen hat, obgleich es sich hier um etwas viel Geistigeres handelt.
Auf der anderen Seite aber zeigte dieser Orden, der alle seine Glieder zu unpersönlichen uniformen Werkzeugen machte, eine bewundernswürdige Fähigkeit, die Aufgaben jedes einzelnen nach seinen natürlichen Anlagen zu individualisieren und ihn immer an den Platz zu stellen, wo er am meisten Nutzen stiften und seine Kräfte und Neigungen am reichsten entfalten konnte. Diese virtuose Technik der Menschenverwendung ist der Grund, warum über die Jesuiten zu allen Zeiten so verschiedenartige Urteile gefällt worden sind. Die Wahrheit ist, daß alle richtig sind, denn der Jesuit war kein eindeutiges Phänomen, sondern so vielfältig, verwandlungsfähig und tausendgestaltig wie die menschliche Natur. Die Jesuiten haben viel Verderbliches und viel Wohltätiges, viel Edles und viel Böses vollbracht; aber alles, was sie taten, haben sie so gut gemacht, als es überhaupt möglich war. Sie waren die glänzendsten Kavaliere und die strengsten Asketen, die aufopferndsten Missionare und die gerissensten Kaufleute, die ergebensten Dienstboten und die gewiegtesten Staatslenker, die weisesten Seelsorger und die geschmackvollsten Theaterregisseure, die tüchtigsten Ärzte und die geschicktesten Mörder. Sie erbauten Kirchen und Fabriken, leiteten Wallfahrten und Komplotte, vermehrten die Lehrsätze der Mathematik und der Dogmatik, unterdrückten die freie Forschung und machten selber eine Reihe wichtiger Entdeckungen, verbreiteten in einigen ihrer Schriften die christliche Lehre in ihrer höchsten Reinheit und gestatteten den Indern, ihre Götter weiter unter dem Namen Christi anzubeten, retteten die Indianer in Paraguay vor der Roheit und Vernichtungswut der Spanier und reizten die Pariser zum Massenmord der Bartholomäusnacht. Sie waren im vollsten Sinne des Wortes zu allem fähig. Noch unheimlicher und unwiderstehlicher aber als durch diese proteische Gabe wurden sie durch ihre mysteriöse Ubiquität. Sie waren buchstäblich überall. Man konnte von niemandem mit voller Bestimmtheit wissen, ob er nicht ein Jesuit oder doch unter jesuitischem Einfluß sei. Kein Platz auf Erden war ihnen zu hoch, keiner zu niedrig. Man konnte ihre Spuren in den schmutzigsten Hütten ebensogut finden wie in den Geheimkabinetten der Fürsten, und selbst in China und Japan gab es Jesuitenmissionen. Vor allem aber verstanden sie es, sich der drei stärksten geistigen Machtmittel der Zeit zu bemächtigen: der Kanzel, des Beichtstuhls und der Schule. Ihre Predigten wußten Würde mit Gefälligkeit, Ernst mit Aktualität zu verbinden; ihre Unterrichtsbücher übertrafen alle anderen an Klarheit, Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Ihre Schulen waren in der ganzen Welt berühmt: nirgends fanden sich so verständige und geduldige, kenntnisreiche und anregende Pädagogen; auch an den Universitäten waren sie in den verschiedenartigsten Fächern durch bedeutende Lehrkräfte vertreten. »Wenn ich sehe«, sagte Bacon, »was dieser Orden in der Erziehung leistet, in der Ausbildung sowohl der Gelehrsamkeit als des Charakters, so fällt mir ein, was Agesilaus von Barnabazus sagte: da du so bist, wie du bist, so wünschte ich, du wärest der unsrige.« Und als Beichtväter zeigten sie erst recht ihre vollendete Fähigkeit, allen Wünschen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Sie konnten fromm und sittenstreng sein, wenn es das Beichtkind so haben wollte, und sie konnten mit alles verstehendem Verzeihen über die schwersten Vergehen hinweggehen, wenn es ihnen nur so möglich war, sich in der einflußreichen Stellung des Gewissensrates zu behaupten.
Aus ihrer Beichtpraxis entsprang jenes System des Vertuschens, Glättens, Abblendens und Zurechtbiegens, das unter dem Namen Jesuitismus eine wenig ehrenvolle Berühmtheit erlangt hat. Der Satz vom Zweck, der die Mittel heiligt, findet sich zwar in den Schriften der Jesuiten nicht, aber sie lehrten doch vieles, was diesem Prinzip sehr bedenklich in die Nähe kommt. Schon in ihrem ersten Ordensstatut findet sich die Anweisung, kein Mitglied könne zu Handlungen verhalten werden, die eine Todsünde in sich schließen; aber mit dem Zusatz: »Es sei denn, daß der Obere es im Namen Jesu Christi befiehlt«, wodurch der Vordersatz für die Praxis so gut wie aufgehoben erscheint. Und durch die Doktrin, daß bei jeder Handlung nur die intentio maßgebend sei und daher auch unerlaubte Taten zu rechtfertigen seien, wenn sie in guter Absicht geschehen, wurde ebenso wie durch den berüchtigten »geheimen Vorbehalt«, der bei Schwüren, Zeugenaussagen und Versprechungen für zulässig erklärt wurde, der Boden für jenes Allerweltschristentum der Skrupellosigkeit und Sophisterei bereitet, das im Probabilismus gipfelt, der Lehre, wonach man alles tun darf, wenn es sich durch »probable« Gründe empfiehlt. Und dazu haben die Jesuiten noch unglücklicherweise in dem tiefsten Denker und glänzendsten Schriftsteller der Barocke, Pascal, einen Gegner gefunden, der in seinen Lettres provinciales, einem Meisterwerk schöpferischer Ironie, mit vernichtender Schärfe und Vollständigkeit alles zusammenfaßte, was sich gegen ihr System vorbringen läßt. Alles in allem genommen, wird kein objektiver Beurteiler leugnen dürfen, daß der Jesuitismus von der edelsten und selbstvergessensten Hingebung an eine große Idee geschaffen und getragen worden ist; aber es lebte von allem Anfang an ein Giftkeim in ihm, tödlich für seine Feinde, aber auch tödlich für ihn: er hatte vergessen, daß man niemals und nirgends lügen darf, auch nicht »zur Ehre Gottes«, ja da am allerwenigsten.
Während die Jesuiten in ganz Europa einen unterirdischen Minenkrieg gegen die Reformation führten, trat ihr Philipp der Zweite mit offener brutaler Gewalt entgegen. Es läßt sich die Frage aufwerfen, ob dieser Herrscher nicht bis zu einem gewissen Grade geistesgestört war. Sein Sohn Don Carlos war es zweifellos; ebenso seine Großmutter Johanna, die erste Königin des geeinigten Spanien, genannt die »Wahnsinnige«. Jedenfalls erscheint in ihm die spezifisch habsburgische Psychose, von der wir schon sprachen, zu einer besonders krassen Form verdichtet. Sein Leben war von einer einzigen fixen Idee beherrscht: der völligen Restauration der römischen Universalkirche und der Ausbreitung des spanischen Absolutismus über die ganze Welt. Diesem Zweck war jede Stunde seiner mehr als vierzigjährigen Regierung gewidmet, diesem Zweck hat er unbedenklich alles geopfert, was zu opfern in seiner Macht stand: Schiffe und Gold, Äcker und Menschen, das Soldatenblut der Spanier und das Ketzerblut der Niederländer, die Ruhe seiner Nachbarn und die Wohlfahrt seiner Untertanen, und am Schlusse seiner Laufbahn sah er kein einziges seiner Ziele der Verwirklichung näher gerückt, alle Mächte, die er sein Leben lang bekämpft hatte, in siegreichem Aufstieg, sich selbst verhaßt und verarmt, machtlos und gichtgelähmt, und die Sonne, die in seinem Reich nicht unterging, hatte darin nichts zu bescheinen als Niedergang und Not.
In Philipp hat nicht nur das habsburgische, sondern auch das spanische Wesen eine seiner stärksten und absurdesten Zusammenfassungen erfahren. Der spanische Hidalgo ist bigott: Philipp war fanatisch; er ist rücksichtslos und brutal: Philipp ging über Leichen; er betrachtet sich als ein höheres Wesen: Philipp hielt sich für einen Gott; er ist exklusiv: Philipp war unnahbar; er ist finster: Philipp war überhaupt nicht zu sehen. Nur die höchsten Granden hatten bei ihm Zutritt, und auch diese durften sich ihm nur kniend nähern; seine Befehle erteilte er in halben Sätzen, deren Inhalt man erraten mußte. Niemand durfte ein Pferd besteigen, worauf er geritten hatte, niemand ein Weib ehelichen, das er besessen hatte: er galt dem Volke in Wahrheit als eine geheiligte Person, als eine Art Priesterkönig. Sein Leben verfloß in der trostlosesten Einförmigkeit: immer aß er dieselben pünktlich um die gleiche Stunde aufgetragenen Speisen; immer trug er dasselbe schwarze Gewand, selbst die Orden waren schwarz; täglich machte er dieselbe Ausfahrt durch die reizlose menschenleere Umgebung seines Schlosses, in seinen späteren Lebensjahren verließ er sein Zimmer überhaupt nur, um die Messe zu hören. In seiner ganzen Haltung verkörperte er das spanische Ideal des sosiego, der starren undurchdringlichen Ruhe und äußeren Gelassenheit, die keine ihrer inneren Regungen preisgibt; niemandem trat er zu nah, aber auch niemandem nahe, nie war er unfreundlich, aber auch niemals menschlich: er besaß jenen kalten distanzierenden Takt, der mehr demütigt und verletzt als der brutalste Hochmut. Er soll nur ein einziges Mal in seinem Leben gelacht haben: das war, als er die Nachricht von der Bartholomäusnacht empfing; der damalige Papst äußerte übrigens seine Freude noch viel sinnfälliger: er feierte das größte Massaker der neueren Geschichte durch eine Denkmünze und ein großes Tedeum und befleckte damit den Stuhl Petri mehr als alle seine Vorgänger durch ihre Sodomie, Simonie und Blutschande.
Nur in einer Eigenschaft war Philipp nicht spanisch: er war ungemein fleißig. Vom Morgen bis zum Abend saß er über seinen Staatspapieren, alles erledigte er persönlich, alles schriftlich und alles erst nach reiflichster Überlegung. Aber auch über dieser rastlosen Emsigkeit und Pflichttreue lag der Fluch der Sterilität. Seine Tätigkeit hatte nichts Schöpferisches: es war der subalterne Tretmühlenfleiß des Kanzlisten, der sich Selbstzweck ist. Hierin liegt einer der vielen Widersprüche, an denen sein Lebenswerk gescheitert ist. Er hatte die weltumspannenden Pläne eines Napoleon und wollte sie mit den Mitteln eines geistlosen, schwerfälligen, am einzelnen klebenden Bürokratismus zur Ausführung bringen. Diese zähflüssige Schneckenhaftigkeit charakterisiert sein ganzes Regime; sein Leitspruch lautete: »Ich und die Zeit« und seine stereotype Antwort auf alle, auch die dringendsten Anfragen war: mañana, morgen! Dazu kam die fast allen bürokratischen Verwaltungssystemen eingeborene Sucht, alles zu beargwöhnen. Keinem seiner Diener traute er ganz; immer suchte er einen gegen den andern auszuspielen; große militärische oder diplomatische Erfolge, starke Popularität, hervorstechende Gaben machten ihn unruhig. Gegen solche meist nur eingebildete Bedrohungen der königlichen Allmacht half ihm die Kunst der Heuchelei, die er als Spanier in vollendetstem Maße beherrschte, und der Undank, der ihm als Habsburger zur zweiten Natur geworden war: die beiden glänzendsten Opfer dieser Methode waren Egmont, der Sieger von Saint Quentin und Gravelingen, der aufs erlesenste umschmeichelt und gefeiert wurde, als sein Tod schon beschlossen war, und Don Juan d'Austria, der, nachdem er in der Schlacht von Lepanto die Seemacht der Türken für immer vernichtet hatte, auf der Höhe der königlichen Gunst plötzlich eines rätselhaften Todes starb. Durch dieses System des Verfolgungswahns und der kleinlichen Bevormundung hat Philipp aus den stolzen Spaniern eine Nation von Lakaien, Spionen und Vagabunden gemacht. Das sprechendste Symbol seines Wesens ist der Eskorial, der sich, in Form des Rostes, auf dem der heilige Laurentius litt, in steiniger Einöde erhebt: grau, kalt, monoton, freudlos,unnahbar,mehr Kloster und Totengruft als Residenz und Palast. Und was er hinterließ, war in der Tat nichts als ein riesiger escorial, auf deutsch: eine Halde von Schlacken. Es wird erzählt, daß Philipp, als er sein Ende herannahen fühlte, sich einen Totenschädel bringen ließ, auf dem eine goldene Krone ruhte; und diesen unverwandt anstarrend soll er gestorben sein: dieser ergreifende Aktschluß ist ein prachtvolles Symbol dieses ebenso machtvollen wie sinnlosen Herrscherlebens und zugleich der hohen Geistigkeit, die in diesem Untier lebte.
Die zerstörende Wirkung Philipps erstreckte sich auf alles, was seiner Regierung unterstand: nirgends zeigte er das geringste Verständnis für die besonderen Lebensbedingungen, deren jede menschliche und nationale Eigenart zu ihrer gedeihlichen Entwicklung bedarf. Auf den spanischen Stammländern lag der doppelte Druck der staatlichen Despotie und der kirchlichen Inquisition; durch die mit verschwenderischer Pracht und ehrfurchtgebietender Feierlichkeit vollzogenen zahlreichen Autodafés wurde das Volk dezimiert und der Rest zur Unduldsamkeit und Grausamkeit erzogen. Die Zensur war nirgends so engherzig und unerbittlich wie in Spanien; der Besuch ausländischer Schulen stand unter schweren Strafen, damit das Gift freierer Anschauungen nicht ins Land dringen könne. Die Aragonier, Katalonier und Andalusier in den Randprovinzen, die sich von der Bevölkerung des Zentrallandes, der Meseta, in Sprache, Charakter und Lebensformen sehr wesentlich unterschieden, wurden brutal unterdrückt: ganz Spanien sollte kastilisiert, dem Wesen des düstern und trägen, hochmütigen und bornierten Mittelländers unterworfen werden. 1580 wurde Portugal durch Erbgang und Waffengewalt Spanien angegliedert und damit für immer ruiniert: seine Kolonien gingen verloren oder verfielen, seine Rolle im Welthandel wurde von Jahr zu Jahr dürftiger und unbedeutender. Die Reste der Araber, die Morisken, die im Süden noch zahlreich verbreitet waren, wurden durch die sinnlosesten und unerträglichsten Verordnungen zur Verzweiflung getrieben: sie durften sich weder öffentlich noch insgeheim ihrer Muttersprache bedienen, man nahm ihnen ihre Negersklaven, an denen sie mit großer Zärtlichkeit hingen, selbst ihre Bäder, ihre Kleider und ihre Musikinstrumente waren ihnen untersagt. Nach einem blutig unterdrückten Aufstand flohen viele von ihnen übers Meer, aber gerade darauf hatte es Philipp mit seinen Maßregeln abgesehen, ohne zu bedenken, daß er sich damit seiner intelligentesten, geschicktesten und fleißigsten Untertanen beraubte: den Morisken verdankte das Land seine wunderbaren Bewässerungsanlagen, die Huertas, die aus der spanischen Sandwüste einen fruchtbaren Garten gemacht hatten, in ihren Händen lag die Reiskultur, die Zuckerbereitung und die Baumwollindustrie, die Fabrikation der Seide und des Papiers: lauter Erwerbszweige, auf denen der Reichtum Spaniens beruhte.
Noch wahnwitziger verfuhr Philipp in der Kolonialpolitik. Schon für das Mutterland hatten die überseeischen Eroberungen eine Reihe von verderblichen Wirkungen: sie beförderten die Auswanderung in einem Ausmaße, das das dünn bevölkerte Spanien nicht vertrug, und steigerten bei den Zurückbleibenden den angeborenen Hang zur Faulheit und Genußsucht ins Abenteuerliche. Infolgedessen blieben die Felder bald auf weite Strecken hin unbestellt, der Bergbau wurde vernachlässigt, obgleich das Land noch ungehobene Mineralschätze im Überfluß besaß, Handel und Gewerbe gingen an Unterernährung zugrunde. In den Kolonien selbst haben sich die Spanier nicht nur wie ganz gemeine Räuber benommen, sondern auch wie ganz dumme Räuber: sie handelten ungefähr wie Banditen, die aus einem Mosaik von unschätzbarem Wert die Edelsteine herausbrechen und davontragen oder eine Milchkuh, von der sie sich jahrelang nähren könnten, erschlagen, um ihr Fleisch hinunterzuschlingen. Und in ihrer unvernünftigen Gier überfraßen sie sich an der Kuh und gingen mit ihr zugrunde. Wenn sie bloß die portugiesischen Kolonien besessen hätten, so wäre das für sie schon viel zu viel gewesen, denn diese umfaßten neben vielem andern die östliche und die westliche Küste Afrikas, die Molukken und das ungeheure Brasilien.
Zunächst kannten sie nicht einmal den einfachsten Grundsatz aller Kolonialpolitik, daß man aus einem eroberten Land nur dann dauernd Vorteile zu ziehen vermag, wenn es selbst gedeiht. Ihr einziges Wirtschaftsprinzip war die primitive Ausplünderung der Eingeborenen. Dieser dienten die berüchtigten ripartimentos, die zwangsweisen Verteilungen wertloser europäischer Importwaren zu Phantasiepreisen. Als diese Einnahmequelle bald versiegte, begannen sie mit der Exploitierung des Landes durch ebenfalls zwangsweise Arbeit. Aber die rote Rasse, durch ein jahrhundertelanges Leben in einer milden Natur und unter einer ebenso milden Regierung verweichlicht, war diesen Anforderungen nicht gewachsen, viele erlagen den Anstrengungen, andere flohen in die Wildnis und der Rest griff zum systematischen Selbstmord: entweder vernichteten sie sich selbst durch Pflanzengifte oder ihre Nachkommenschaft durch Enthaltung vom Geschlechtsverkehr. Nur wenige harrten aus: das waren jene, die von den spanischen Priestern erfahren hatten, daß sie auch im Jenseits Weiße vorfinden würden. Auf Jamaika zum Beispiel war schon fünfzig Jahre nach der spanischen Eroberung die indianische Bevölkerung ausgestorben; ebenso auf Kuba. Die Geistlichkeit, die, wie immer wieder rühmend hervorgehoben werden muß, fast immer auf der Seite der Eingeborenen stand, verfiel nun auf ein Mittel zu ihrem Schutze, das leider zur Ursache neuer Bestialitäten wurde: sie proponierte die Einfuhr schwarzer Sklaven aus Afrika, und tatsächlich gelangte schon in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts dieser verruchte Handelszweig, an dem sich fast sämtliche europäischen Nationen eifrig beteiligten, zu großer Blüte. Daß die Spanier mit den stummen Eingeborenen Amerikas ebenfalls sehr töricht und rücksichtslos verfuhren, versteht sich von selbst: durch mutwillige Ausrottung der autochthonen Tierwelt, vandalische Entwaldung, planlose Erschöpfung der Bodenkräfte sind ihre Spuren überall bezeichnet.
Auch in den blühenden Niederlanden, dem reichsten, regsamsten und zivilisiertesten Gebiet des damaligen Nordens, haben die Spanier nicht anders gewirtschaftet, als ob es sich um eine unterworfene Negerkolonie gehandelt hätte. Es hat sehr lange gedauert, bis es ihnen gelang, durch die unsinnige Verbohrtheit, blinde Gier und unmenschliche Roheit ihrer Verwaltung dieses friedliebende und schwerbewegliche Volk von bücherführenden Kaufleuten und bücherschreibenden Schulmeistern zum todesmutigen Aufstand zu reizen; aber einmal entbrannt, war er nicht mehr zu ersticken. Die Art, wie Alba auf Grund der genauen Instruktionen seines Königs in den Niederlanden verfuhr, war mehr als niederträchtig: sie war unbegreiflich. Der von ihm errichtete »Rat der Unruhen« oder »Blutrat«, wie ihn das Volk mit Recht nannte, hatte die Aufgabe, Hochverräter zu bestrafen. Als solcher galt unter anderem: wer sich an einer Bittschrift um Milderung der Inquisition beteiligt hatte; wer eine solche Bittschrift nicht verhindert hatte; wer, wenn auch gezwungen, eine evangelische Predigt geduldet hatte; wer gesagt hatte, der König habe nicht das Recht, den Provinzen ihre Freiheit zu nehmen; wer bezweifelt hatte, daß der »Rat der Unruhen« an keine Gesetze gebunden sei; wer behauptet hatte, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen; und wer irgendeine derartige Äußerung stillschweigend angehört hatte. Es ist klar, daß es fast unmöglich war, wenigstens eines von diesen Delikten nicht zu begehen. Es war nichts als die streng logische Schlußfolgerung aus diesen wahnsinnigen Prämissen, daß am 16. Februar 1568 alle Einwohner der Niederlande als Ketzer zum Tode verurteilt wurden: ein Staatsakt, der in der Geschichte einzig dastehen dürfte. Nachdem Tausende gehängt, verbrannt, eingekerkert, exiliert, enteignet waren, erschien eine königliche Amnestie, die allen, die nachweisbar nicht das geringste begangen hatten, Straflosigkeit zusicherte, falls sie binnen einer bestimmten Frist reuig um Gnade bäten: auch von einer solchen Amnestie dürfte es in der Weltgeschichte kaum ein Duplikat geben.
Es ist nun für den Beobachter der menschlichen Natur sehr lehrreich, daß dies alles die Niederländer nicht zum Aufstand trieb, sondern erst eine Maßnahme des Statthalters auf finanziellem Gebiete, die allerdings an Dummheit und Infamie den übrigen gleichkam, von der man aber doch meinen sollte, daß sie leichter zu ertragen gewesen wäre als die bisherigen. Alba, der Philipp versprochen hatte, er werde einen klaftertiefen Goldstrom von den Niederlanden nach Spanien leiten, verfügte in einem Dekret, daß von allem beweglichen und unbeweglichen Besitz eine einmalige einprozentige Vermögenssteuer, von jedem verkauften Grundeigentum der »zwanzigste Pfennig«, also fünf Prozent, und von jeder verkauften beweglichen Ware sogar der »zehnte Pfennig«, also das Doppelte, erhoben werden solle. Besonders diese letztere Abgabe hätte, streng durchgeführt, den vollständigen Ruin des niederländischen Handels bedeutet. Nun erst sagte sich das ganze Land von Spanien los, und es begann unter dem Schlachtruf: »Lieber türkisch als päpstlich!« der große »Abfall der Niederlande«, der weltbekannte siegreiche Heldenkampf eines kleinen Krämervolkes gegen die größte Militärmacht des damaligen Europa. Dies ist sehr merkwürdig; aber so ist der Mensch nun einmal geartet: er läßt sich seine Freiheit, seinen Glauben, ja sein Leben eher antasten als seinen Verdienst, sein Geld, sein Geschäft. Auch die Jakobiner, deren Staatsverwaltung in ihrer Stupidität und Barbarei sehr sonderbar an dieses von einer so ganz anders gearteten Weltanschauung getragene Regime erinnert, machten sich nicht durch ihre Unterdrückung jeder freien Meinung, ihre Verhöhnung der Religion und ihre Massenhinrichtungen unmöglich, sondern durch ihre Eingriffe ins Privateigentum und ihre zerstörende Wirkung auf Handel, Gewerbe und Geldverkehr. Nicht ihre Guillotinen haben sie zu Fall gebracht, sondern ihre Assignaten.
Von der Erhebung der Niederlande datiert der Abstieg Philipps. Seitdem glückte ihm nichts mehr. Sein imperialistisches Programm bestand in Kürze in folgendem: er wollte in Frankreich, das er im Norden durch die Niederlande, im Osten durch die Franche- Comté und im Süden durch Spanien umklammert hielt und im Innern durch die ihm verbündete starke Macht der papistischen und antidynastischen Ligue beunruhigte, einen Agnaten seines Hauses oder eine von ihm abhängige französische Linie auf den Thron bringen und so die einzige Kontinentalmacht, die ihm gefährlich werden konnte, in einen spanischen Schutzstaat verwandeln; England hoffte er sich entweder durch eine Personalunion, wie sie schon einmal während seiner Ehe mit Maria der Blutigen bestanden hatte, oder durch die Überlegenheit seiner Flotte leicht unterwerfen zu können. Da er außerdem bereits einen großen Teil Italiens besaß, von dem aus er die anderen Gebiete diplomatisch und militärisch in Abhängigkeit hielt, und in den österreichischen Erblanden und auf dem deutschen Kaiserthron eine habsburgische Nebenlinie herrschte, so wäre dann in der Tat die Hispanisierung und Rekatholisierung ganz Europas erreicht gewesen; denn die Türken hätten sich gegenüber dieser vereinigten Riesenmacht wohl kaum zu halten vermocht.
Aber die Wirklichkeit versagte sich überall diesen scheinbar so leicht auszuführenden Entwürfen. Nicht einmal seine eigene Familie fügte sich Philipps Plänen. Unter seinem Oheim Ferdinand dem Ersten, dem Nachfolger Karls des Fünften, gewann die neue Lehre in den österreicliischen Gebieten zahlreiche Anhänger, und dessen Sohn, Kaiser Maximilian der Zweite, einer der bedeutendsten habsburgischen Herrscher, war fast ein Protestant. In Frankreich kam nach jahrzehntelangen furchtbaren Wirren der erste und größte König aus dem Hause Bourbon, Heinrich der Vierte, auf den Thron, der nicht nur durch das Edikt von Nantes den Hugenotten dieselben bürgerlichen Rechte einräumte wie den Katholiken, sondern auch eine streng nationale antispanische Politik verfolgte. Elisabeth verschmähte die Heiratsanträge Philipps und unterstützte sogar die aufständischen Niederländer mit Geld und Truppen. Gegen England richtete daher Philipp seinen ersten großen Angriff. Im Frühling des Jahres 1588 verließ die »unüberwindliche Armada«, die stärkste und bestausgerüstete Flotte, die das neuere Europa bisher gesehen hatte, den Hafen von Lissabon. Ihr Schicksal ist bekannt: aber es waren nicht die Stürme allein, die sie vernichteten. Sie unterlag aus ganz ähnlichen Gründen wie die ungeheuere Seemacht, die Xerxes gegen die Griechen aufbot. Sowohl die persischen wie die spanischen Schiffe waren riesige schwimmende Häuser, vollgepfropft mit Menschen und Waffen, aber unfällig zu manövrieren und durch ihre große Zahl einander mehr im Wege als dem Feinde. Die englischen und die griechischen Fahrzeuge dagegen waren nicht dazu gebaut, Schrecken zu erregen, sondern leichtbewegliche und wirksame taktische Einheiten zu bilden: sie konnten ebenso mühelos fliehen wie angreifen, während die unförmigen Kolosse der Gegner warten mußten, bis man zum Kampf an sie herankam, und sich, falls sie zum eiligen Rückzug gezwungen wurden, gegenseitig zertrümmerten. Die wahre und tiefere Ursache des Debakels lag aber in beiden Fällen darin, daß auf der Seite der schwächeren Partei der Geist stand: dieser ist es, der bei Salamis und im Kanal gesiegt hat.
Und so konnte der italienische Dichter Alessandro Tassoni im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts bereits die allgemeine Meinung aussprechen, wenn er sagte, Spanien sei ein Elefant mit der Seele eines Hühnchens, ein Blitz, der blende, aber nicht töte, ein Riese, dessen Arme mit Bindfäden gefesselt seien. Trotz diesen Fehlschlägen haben aber die Spanier Philipp stets die leidenschaftlichste Loyalität bewahrt, und noch nach Jahrhunderten sagten sie: Felipe segundo sin segundo, es gibt keinen zweiten Philipp den Zweiten. Dies hat seinen Grund zunächst darin, daß in ihm, wie schon erwähnt wurde, die spanischen Nationaleigenschaften bis zum Extrem, ja bis zum Wahnsinn gesteigert erschienen; aber auch darin, daß dieser sonderbare Mensch einer der großzügigsten und verständnisvollsten Förderer der Kunst und Wissenschaft gewesen ist. Er hat seinem Volk einen bleibenden, starken und einzigartigen Geistesstil geschenkt. Seine Handschriftensammlung im Eskorial, riesenhaft wie alles, was er unternahm, erregte die Bewunderung der ganzen Welt; die unter seiner Patronanz geschaffene Architektur im Goldschmiedestil, estilo plateresco, ein verwirrendes Mosaik aus maurischen, gotischen und italienischen Elementen, eklektisch und dabei doch höchst eigentümlich in ihrer ornamentwütigen Überprächtigkeit, ist ein leuchtender Ausdruck des spanischen Nationalcharakters; und die Literatur hat schon unter seiner Regierung die merkwürdigsten Schöpfungen hervorgebracht. Unter ihm lebten Tino de Molina und Cervantes, und ein jeder von beiden hat das Höchste und Seltenste geschaffen, was einem Dichter gelingen kann: eine Gestalt, die mehr ist als ein starkes einmaliges Individuum, nämlich eine neue menschliche Spezies, die künstlerische Zusammenfassung einer ganzen Gattung. Von Tirso de Molina stammt das erste Drama, das von Don Juan handelt, dem romanischen Gegenstück zum Faust; und der »Don Quixote«, ursprünglich als bloße Verspottung des zeitgenössischen verstiegenen Ritterromans und der heroischen Unarten des Hidalgo gedacht, ist weit mehr geworden: die unsterbliche Tragikomödie des menschlichen Idealismus. Im Grunde ist Don Quixote der ewige Typus des Dichters: er hat entdeckt, daß die Realität ihrem innersten Wesen nach immer enttäuschen muß, weil sie eigentlich das Unwirkliche ist, und beschließt daher, sie nicht anzuerkennen! Und wie der »Don Quixote« der erste echte Roman der Weltliteratur ist, so ist Mendozas »Historia de la guerra de Granada« das erste wirkliche Geschichtswerk der Neuzeit: klar, anschaulich, präzis, erstaunlich unparteiisch, und Lope de Vega, dieses monstruo de naturaleza mit seinen fünfzehnhundert Dramen, der erste moderne Theaterschriftsteller großen Stils. Denn jeder richtige Dramatiker ist von Natur Stückefabrikant, Polygraph: seine Lebensleistung gehört gar nicht in die Geschichte der Literatur, sondern in die Geschichte der Technik. Er will nicht Gestalten schaffen, sondern Rollen, nicht »Werke«, sondern Textbücher, ja oft sogar nur Textrahmen, nicht Ewigkeitswerte, sondern Aktualitäten. Sein Herr ist das Publikum, das er verachtet, aber bedient. Dies hat Lope selber bekannt, als er in seiner Poetik erklärte, der Zweck der dramatischen Kunst sei, zu gefallen. Dies verhielt sich ebenso bei Calderon und Molière, und es war sicher auch nicht anders bei Shakespeare, der ungeheuer viel schrieb, aber nur solange er Theaterdirektor war, und kein einziges seiner Stücke selber drucken ließ, weil sie ihm außerhalb des Theaters keine Lebensberechtigung zu haben schienen: die Shakespearephilologen mit ihren Streitigkeiten über Reinheit und Authentizität des Wortlauts wären ihm ungeheuer lächerlich vorgekommen.
Der spanische Stil hatte eine solche Suggestionskraft, daß ganz Europa sich ihm unterwarf. Dies zeigte sich zunächst im Kostüm, das sich vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts an völlig hispanisiert. Sein Grundcharakter ist finstere Nüchternheit, gepreßte Förmlichkeit und gespreizte Bigotterie. Man ist gewissermaßen immer im Staatskleid. Der enge spanische Stiefel, die starre spanische Krause, das steife spanische Mäntelchen sind noch heute sprichwörtlich. Dazu kam noch die mit Roßhaaren ausgestopfte spanische Puffhose, das spanische Wams mit den wattierten Ärmeln und dem gepolsterten »Gänsebauch« und der spitze spanische Hut mit kleinem Rand. Waren die Damen in der bisherigen Tracht bemüht, ihre Reize zu unterstreichen, so suchen sie sie jetzt schamhaft zu verbergen; sie tragen Schnürleibchen, die die Brust verflachen, und ausgesteifte oder auf Draht gezogene tonnenförmige Reifröcke, die den ganzen Unterkörper unsichtbar machen. Eine große Neuerung ist das Taschentuch; für eine komplette Toilette wird außerdem bei den Damen der Fächer und die Maske, bei den Herren der spitz abstehende Degen, bei beiden Geschlechtern der Handschuh unentbehrlich; auch im Zimmer gilt es für unschicklich, ohne Kopfbedeckung und Mantel zu erscheinen. Die bald zu riesigen Dimensionen anwachsende Halskrause hat zur Folge, daß die Kavaliere das Haar bürstenförmig kurz, den Bart schmal und spitz scheren: in Form des Henri quatre, den aber Heinrich der Vierte niemals getragen hat.
Gleichzeitig verbreitete sich von Spanien her der estilo culto oder cultismo, eine süßliche und geschwollene, gezierte und überschmückte, mit gesuchten Bildern und hohlen Allegorien prunkende Ausdrucksweise. Sein Begründer ist der Dichter Luis de Gongora, weshalb diese Richtung auch Gongorismus genannt wird; in Italien hieß sie Marinismus, nach ihrem Hauptvertreter Giambattista Marini, dessen gekünstelte Antithesen und blumige Gleichnisse von der ganzen Welt bewundert und nachgeahmt wurden, in Frankreich Preziosismus, in England Euphuismus, nach John Lillys berühmtem Roman »Euphues, anatomy of wit«, einer Aneinanderreihung von frostigen Witzen und geschraubten Wortspielen, sogenannten concetti, die bekanntlich auf Shakespeares Diktion einen ebenso nachhaltigen wie nachteiligen Einfluß ausgeübt haben. Dieser Ton durchdrang die ganze Poesie des Zeitalters, aber auch die wissenschaftliche Literatur und die gesellschaftliche Konversation, ja er findet sich sogar in Akten, Petitionen und Parlamentsbeschlüssen. Sein Ideal ist die bizzaria um jeden Preis, sein Ziel lo stupore, die Verwunderung: » è del poeta il fin la maraviglia« lehrt Marini, von dem die Zeitgenossen erklärten, er stehe turmhoch über allen griechischen, römischen und hebräischen Dichtern.
Dieser Hang zur leeren AfFektation und überladenen Manieriertheit äußerte sich auch in der krankhaften Sammelwut und kindischen Freude an jeglicher Art von Raritäten, die für diese Periode besonders charakteristisch ist. In den großen Kollektionen Kaiser Rudolfs des Zweiten in der Prager Burg fanden sich zwischen den erlesensten Kunstschätzen Schachteln mit Magnetsteinen und indianischen Federn, Alraunwurzeln, drei Sackpfeifen, zwei eiserne Nägel aus der Arche Noah, ein Krokodil in einem Futteral, ein »Stein, der da wächst«, ein Monstrum mit zwei Köpfen, ein »Fell, welches vom Himmel gefallen«, »allerlei seltene Meerfische, darunter eine Fledermaus«. In dieselbe Linie gehört das wahllose Antikisieren und geschmacklose Prunken mit allen erdenklichen mythologischen, archäologischen und philologischen Reminiszenzen. So wird zum Beispiel vor Elisabeth ein großes Maskenfest »Das Urteil des Paris« aufgeführt. In den Gärten tummeln sich Waldnymphen, auf den Terrassen Satyrn, in den Teichen Nereiden und Tritonen. Diana kommt der Königin entgegen, erklärt sie für das Urbild unbefleckter Keuschheit und lädt sie in ihre Gebüsche ein, wo sie vor den Nachstellungen Aktäons sicher sei. Schließlich wird Paris der Prozeß gemacht, weil er nicht Elisabeth, sondern Venus den Apfel gegeben habe. Auf der königlichen Tafel erschienen Pasteten, die ovidische Verwandlungen darstellten, und man erzählte sich von einem Rosinenkuchen, worauf die Zerstörung Trojas zu sehen war. Ein andermal näherte sich der Königin Kupido inmitten einer Schar von olympischen Göttern und überreichte ihr einen goldenen Pfeil, den schärfsten seines Köchers, der, von so unwiderstehlichen Reizen gelenkt, auch das härteste Herz verwunden müsse. Sie war damals fünfzig Jahre alt.
Seine stärkste Einflußsphäre aber hatte der Klassizismus schon damals in Frankreich. Durch die Konsolidierung der Monarchie wurde Paris allmählich der beherrschende, alle Kräfte an sich herransaugende Mittelpunkt, das große Repräsentationszentrum des Landes, das es bis zum heutigen Tage geblieben ist. Die Literatur, die Architektur, die Mode, der Lebensstil: alles orientiert sich an der Hauptstadt. Seit Franz dem Ersten gehen alle Wandlungen der Bauform vom Hof, von der Residenz aus. Die Sorbonne ist in allen theologischen und wissenschaftlichen Fragen die absolute Autorität. Paris ist Frankreich.
Der eigentliche Begründer des französischen Klassizismus in der Poesie ist François de Malherbe, der, wie Boileau rühmt, »die Muse zu den Regeln der Pflicht zurückgeführt hat«. Er ist der Vater jener korrekten und pathetischen, nüchternen und graziösen Dichtungsweise, die in Frankreich, bis ins neunzehnte Jahrhundert regiert hat. Er hat den Alexandriner zur fast absoluten Herrschaft erhoben, jenes ebenso biegsame wie eintönige Versmaß, in dem sich, gerade weil es so nichtssagend ist, mit Leichtigkeit alles sagen läßt. Und um dieselbe Zeit ist ein zweites Element in die französische Literatur eingetreten, das für sie ebenso typisch geblieben ist: Honoré d'Urfé schrieb seinen berühmten Schäferroman »Astrée« und schuf damit das Vorbild für jenen kalt-sentimentalen, verlogenen Spieloper-Naturalismus, der zwei Jahrhunderte lang die Franzosen begeistert hat: sein Celadon ist ebenso wie Don Juan und Don Quixote aus einem Individuum ein Begriff geworden, und seine geschminkten Theaterhirten und parfümierten Nymphen, deren lüsterne Keuschheit sich zur natürlichen Sinnlichkeit verhält wie das Dekolleté zur Nacktheit, beleben noch die Vorstellungswelt Rousseaus.
In der Architektur hat der »französische Stil« schon damals einen Höhepunkt erreicht: in den Schlössern des sechzehnten Jahrhunderts hat sich die Oberschicht der Vornehmen und Geistigen, die auf den Gipfeln wandeln, ein strahlendes Symbol errichtet; diese Bauwerke sind genau so wie die Weltanschauung und Lebensform dieser Menschen: heiter und elegant, aber etwas prosaisch; voll Licht und weiter Aussicht, aber ohne rechte Wärme; wohlklingend und klar gegliedert, aber ohne den grandiosen Wurf ihrer italienischen Vorbilder; bilderreich und kostbar kassettiert, aber von sparsamer Innenarchitektur; luftig und geräumig, aber ein wenig kahl wirkend; und eben doch Schlösser: isoliert, abgeriegelt und auf sich selbst gestellt. Man wird vielleicht schon bemerkt haben, daß wir von Montaigne reden.
Bei den zünftigen Historikern der Philosophie, soweit sie sich überhaupt dazu herablassen, sich mit einem so unphilosophisch klaren und weltkundigen Denker zu befassen, figuriert Montaigne als der Typus des Skeptikers. Allein bei Montaigne fließt die Skepsis nicht aus einseitiger Verneinung, sondern aus allseitiger Bejahung: er ist der Mensch, der zu viel weiß, um noch etwas Positives behaupten zu können, der keinen bestimmten Standpunkt einzunehmen vermag, weil er alle Standpunkte einzunehmen vermag, dessen Denkapparat zu weiträumig ist, um an Platzmangel zu leiden: nämlich an einem »System«.
Der Skeptiker im Sinne Montaignes ist ein leidenschaftlicher Freund der goldenen Mitte, er ist das »Zünglein der Waage«, wie Emerson sagt. Er will weder die Welt beherrschen noch sich ihr willenlos hingeben, er will sie betrachten. Sein Wahlspruch ist Dantes wunderbares Wort: Non ci hadar, guarda e passa! Blick hin und geh vorüber: das ist die beste Stellung, die man zum Weltlauf einnehmen kann. Oder wie Byron gesagt hat: »Ich betrachte mich als ein Wesen, das von der Hand Gottes in die Mitte eines großen Theaters gesetzt wurde.« Der Skeptiker weiß alles, versteht alles und belächelt alles. Der Idealist nimmt die Wirklichkeit nicht ernst. Demgegenüber sagt der Realist zum Idealisten: ich nehme deine Welt der Ideen nicht ernst. Und der Skeptiker nimmt alle beide nicht ernst. Für ihn ist die Welt nichts als eine ewige Schaukel. »Alle Dinge schaukeln ohne Unterlaß«, heißt es in den »Essays«, »die Erde, die Felsen des Kaukasus, die ägyptischen Pyramiden. Die Beständigkeit selbst ist nichts als eine schwächer geschwungene Schaukel.« Montaignes Gemütsart war eine wohltätige Mischung aus behaglicher Lebensfreude und einein beunruhigenden Hang zur Introspektion. »Ich bin von Haus aus nicht melancholisch, sondern nur grüblerisch« sagt er von sich selbst. Das Leben an sich ist in seinen Augen weder ein Gut noch ein Übel, »es ist der Raum des Guten und des Übels, je nachdem, was du hineinlegst«: ein Gedanke, den wir bei Shakespeare wiederfinden. Und »in Bereitschaft sein« ist auch ihm alles: »ich singe und sage mir beständig vor: alles, was eines Tages geschehen kann, kann noch heute geschehen.« Er war zweifellos ein Stoiker, aber der liebenswürdigste und menschlichste, der je gelebt hat. Den letzten Zweck des Daseins erblickt er im Vergnügen: »Selbst bei der Tugend ist das Endziel, auf das wir es abgesehen haben, die Wollust. Dieser Wollust sollten wir den Namen des angenehmsten, süßesten und natürlichsten Genusses geben.« Er war also zweifellos ein Epikureer, aber einer der spirituellsten und veredeltsten, die je gelebt haben. Der Zentralzweck seiner ganzen Philosophie aber war die Selbstbeobachtung und Selbstschilderung: »Ich studiere mich selbst; das ist meine Metaphysik und Physik.« Und der Mensch, an der Hand Montaignes auf sich selbst gelenkt, auf die liebevolle und rücksichtslose Erforschung seiner Besonderheiten und Idiotismen, Irrationalismen und Paradoxien, Zweideutigkeiten und Hintergründe, muß notwendig zum Skeptiker werden, indem er erkennt, daß er sich nicht auskennt.
Der von Montaigne geschaffene Typus des heiteren Weltmensehen, der starke Neigungen mit schwachen Überzeugungen verbindet und stets gleich bereit ist, zu genießen und zu sterben, begegnet uns allenthalben in den höheren Kreisen, doch waren nur die wenigsten imstande, der Gefahr der moral insanity zu entgehen, die in jedem konsequenten Skeptizismus verborgen liegt; auch haben sie Montaignes tapferen Wirklichkeitssinn zumeist zu massiv genommen. Aber sie alle haben Montaigne im Blut, sowohl seinen Zweifel wie seinen Sensualismus: der selbstprüferische und menschenkennerische Wilhelm von Oranien, dessen sprichwörtliche Schweigsamkeit nichts war als Skepsis, nämlich die Erkenntnis, daß das Wort die Wahrheit tötet, und der, obgleich der stärkste Vorkämpfer des Protestantismus, im tiefsten Innern in Glaubensdingen völlig gleichgültig war; die kühle Realpolitikerin Elisabeth, die als »Hort der Reformation« gepriesen wurde und gleichwohl ebenso neutral empfand; die sogar politisch völlig parteilose Katharina von Medici, die, mit der Leidenschaft einer Morphinistin nach dem Opiat der Macht lechzend, nur um jeden Preis herrschen will: ob durch Guisen oder Hugenotten, Spanier oder Franzosen, Adel oder Volk, ist ihr völlig gleichgültig; der ebenso blind machtgierige Essex; der »spottlustige« Cecil; der konfessionell, obschon nicht religiös indifferente Kepler; vor allem aber Heinrich der Vierte, der größte Regent des Zeitalters: er durchschaut mit seinem souveränen Scharfblick beide Parteien, wie sie wirklich sind, erkennt, daß sie so, wie sie sind, alle beide unrecht haben, und vermag so beiden gerecht zu werden. Daneben aber macht er die ebenso sachliche Erkenntnis, daß die kompakten Genüsse des Daseins: schöne Weiber und Kleider, Landhäuser, Gärten und Pferde, guter Wein und ein Huhn im Topf auch nicht zu verachten sind. Aber auch Hamlet hat Montaigne gelesen und gelangt durch ihn zu der sehr tiefen Einsicht, daß jeder Handelnde, indem er Partei ergreift, notwendig beschränkt, ungerecht, grausam sein muß, daß die Tat der Unsinn ist.
Selbst in dem vollkommensten philosophischen Antipoden Montaignes, dem schwerblütigen und eigensinnigen, dumpfen und dunkeln Jakob Böhme lebt etwas von Montaigneschem Geiste. Denn keiner hat das Prinzip der coincidentia oppositorum, der Widersprüchlichkeit der Welt und des Menschen, so bohrend durchgedacht und so allseitig beleuchtet wie dieser tiefgründige Schustermeister. Eines Tages bemerkte er ein dummes altes Zinngefäß, in dem sich die Sonne spiegelte, und sagte sich mit Erstaunen: dies ist nur ein schlechter grober Zinnkrug und doch ist in ihm die ganze Sonne! Darauf wurde er, was man »tiefsinnig« nennt, zog sich zurück und schrieb eines der schönsten theosophischen Bücher. Es war ihm die plötzliche Einsicht aufgegangen, daß alles auf dieser Welt sich nur an seinem Gegensatze zu offenbaren vermöge: das Licht an der Finsternis, das Gute am Bösen, das Ja am Nein, Gott an der Welt, seine Liebe an seinem Zorn, und daß daher alles Sein nicht nur aus Gegensätzen bestehe, sondern auch durch Gegensätze, denn ihnen allein verdankt es seine Existenz.
Auch der sublimste und universellste Kopf des Zeitalters, Giordano Bruno, hat die coincidentia oppositorum zu einem Kardinalbegriff seines Systems gemacht: »Die Koinzidenz der Gegensätze«, sagt er, »ist eine Zauberformel der Philosophie.« Seine genialen Intuitionen sind seinen Zeitgenossen um mehrere Jahrhunderte vorausgeeilt. Er begann als Dominikaner, verließ jedoch, wegen Ketzerei beargwöhnt, den Orden und führte ein unruhiges Wanderleben durch Italien, Frankreich, England und Deutschland, erwarb in Toulouse den philosophischen Doktorgrad, gewann in Paris zahlreiche begeisterte Anhänger, hielt in Oxford und in Wittenberg vielbesuchte astronomische und philosophische Vorlesungen, war aber überall wegen seiner freien Anschauungen und seiner Spottlust Verfolgungen ausgesetzt und wurde, von der Inquisition bei der Rückkehr in seine Heimat verhaftet, nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, eine Ableugnung seiner Lehren zu erreichen, im Jahr 1600 in Rom verbrannt.
Wilhelm Dilthey weist einmal daraufhin, daß Bruno »der Sohn des Landstrichs zwischen Vesuv und Mittelmeer« gewesen sei. Und in der Tat, er war selber ein Vesuv: feurige und formlose Schlacken auswerfend, alle Welt durch die Pracht und Kraft seiner vulkanischen Ausbrüche in Bewunderung und Schrecken versetzend, sich in seiner eigenen Glut verzehrend und eines Tages zu Asche verbrannt. Er war ebensosehr Dichter wie Philosoph, aber diese beiden Gaben ergänzten sich nicht in seiner Seele, sondern lagen in tragischem Kampfe miteinander, weshalb er nur gigantische Zwittergeburten zutage gefördert hat: auch in ihm ist etwas von der Bilderwut und Übertreibungssucht des Gongorismus, aber zu unheimlicher Dämonie gesteigert. Gott ist ihm das schlechthin Unerkennbare, er wohnt in einem Licht, zu dem irdische Einsicht niemals gelangen kann. Wir sehen wohl die Statue, aber nicht den Bildhauer; von der göttlichen Substanz können wir nur eine Spur erkennen, eine entfernte Wirkung; wir vermögen sie nicht anders als im Spiegel, im Schatten, im Rätsel zu erblicken. Von da gelangt er aber zu einem ziemlich eindeutigen Pantheismus. Die spinozistische Formel »deus sive natura« findet sich schon bei ihm: »Nur im Glauben der Einsichtslosen bilden Gott und die Natur einen Gegensatz.« Und das Prinzip der Monade hat Leibniz von ihm übernommen und zum Siege geführt. Seine Lehren hierüber decken sich vollkommen mit denen Leibnizens: es gibt ein mathematisches Minimum: den Punkt; ein physikalisches Minimum: das Atom; ein metaphysisches Minimum: die Monade. Jede dieser Monaden ist ein Spiegel des Alls, jede ewig, nur die Verbindung wechselt. Die Monaden sind daher die Gottheit selbst, die, obgleich eine unspaltbare Einheit, doch in jeder einzelnen von ihnen sich als eine besondere Erscheinungsform darstellt, gleichwie in jedem Teilchen des Organismus die organische Kraft, in jeder Einzelheit des Kunstwerks die künstlerische Kraft ungeteilt enthalten ist und sich doch eigenartig manifestiert: omnia ubique. Wie die Erde sich gleichzeitig um die eigene Achse und um die Sonne bewegt, so folgt jedes Ding sowohl seinem besonderen Lebensgesetz wie dem allgemeinen Weltgesetz. Der Tod der Monade ist ebensowenig ein Übergang ins Nichts, wie ihre Geburt ein Hervorgehen aus dem Nichts ist. Durch diese Spekulationen ist also Bruno der Lehrer der beiden größten Philosophen des Jahrhunderts geworden, in dessen erstem Jahr sein Leib den Flammen übergeben wurde. Sein Einfluß reicht aber noch viel weiter: Hamann, der tiefste Denker der deutschen Aufklärung, hat an ihn angeknüpft, und noch Schelling nannte eine seiner Schriften »Bruno oder über das natürliche und göttliche Prinzip der Dinge«.
Noch erstaunlicher aber sind Brunos Antizipationen auf dem Gebiet der Astronomie. Er ist der Vollender des kopernikanischen Systems und der Vorläufer Galileis: er lehrte, daß die Erde nur eine annähernde Kugelgestalt besitze und an den Polen abgeplattet sei, daß auch die Sonne um ihre eigene Achse rotiere, daß alle Fixsterne Sonnen seien, um die sich zahlreiche wegen ihrer Entfernung für uns unsichtbare Planeten bewegen, er hat die Theorie vom Weltäther aufgestellt, die erst in allerneuester Zeit zur Geltung gelangt ist, er hatte sogar eine Ahnung von der Relativitätstheorie, indem er lehrte, es gebe ebenso viele Zeiten, als es Sterne gibt, ja einzelne seiner Ansichten greifen selbst über den Stand unserer jetzigen Wissenschaft hinaus und gehören der Zukunft an: es sind seine Hypothesen über den Zustand der Weltkörper. Im Kosmos, wie er ihn sich dachte, kreisen zahllose Sterne und Weltkugeln, Sonnen und Erden. Von diesen Gestirnen ist keines in der Mitte. Denn das Universum ist nach allen Seiten hin gleich unermeßlich. Es gibt vielmehr ebenso viele Mittelpunkte der Welt, als es Welten, ja Atome gibt. Alle Gestirne sind Individuen, Kolossalorganismen und im Verhältnis zu noch größeren Weltindividuen wiederum nur Teile und Organe. Alle diese Riesenkörper sind aus denselben Elementen aufgebaut. Es wirken daher in ihnen auch dieselben uns wohlbekannten Kräfte. »Wer meint, es gebe nicht mehr Planeten, als wir kennen, ist ungefähr ebenso vernünftig wie einer, der glaubt, es flögen nicht mehr Vögel durch die Luft, als er soeben aus seinem kleinen Fenster beobachtet hat.« »Nur ein ganz Törichter kann die Ansicht haben, im unendlichen Raum, auf den zahllosen Riesenwelten, von denen gewiß die meisten mit einem besseren Lose begabt sind als wir, gebe es nichts anderes als das Licht, das wir auf ihnen wahrnehmen. Es ist geradezu albern, anzunehmen, es gebe keine anderen Lebewesen, keine anderen Denkvermögen, keine anderen Sinne als die uns bekannten.« Mit dieser intuitiven Erkenntnis hat Bruno selbst unsere heutigen Astronomen weit überflügelt, die in kleinlicher Vorsicht und bornierter Pedanterie nicht wagen, über die armseligen Tatsachen hinauszugehen, die ihnen ihre angebeteten Röhren enthüllen. Immer wieder bekommen wir von Gelehrten, das heißt: Menschen, die nur die eine Seite irgendeiner Wahrheit erblickt haben, die Versicherung zu hören, der Mond sei eine »tote Erde«, die Sonne sei nur dazu da, um Licht und Wärme zu spenden, aber Leben sei auf ihr unmöglich, der Mars habe vielleicht einmal hochintelligente Wesen beherbergt, das sei aber leider längst vorbei. Aber dies und dergleichen ist anthropomorphistisches Geschwätz hochmütiger und engstirniger Stubenmenschen. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, daß es eine Erde gibt, die tot ist: das würde ihrem Begriff völlig widersprechen. Erde heißt Leben und Heimat von Leben; wie kann so etwas jemals tot sein? Und die Sonne: wie könnte sie so viel Leben auf so viel Planeten schaffen, erhalten, steigern, erneuern, wenn sie nicht selbst ein unerschöpflicher Lebensherd wäre? Oder sollte sie wirklich ihre ungeheueren schöpferischen Energien nur für ihre Trabanten aufbrauchen, für sich aber gar nichts davon verwenden? Und was den Mars anlangt, so ist es, wenn jemals Leben dort war, völlig ausgeschlossen, daß heute keines mehr dort ist. Leben hat die Tendenz, sich immer mehr zu verbreiten, zu erhöhen, zu vervielfältigen. Läßt sich im Ernst daran zweifeln, daß die Mission aller gottgeschaffenen Wesen, sich vollkommen zu vergeistigen, nicht schon auf vielen Weltkörpern erreicht ist? Jeder Weltkörper stellt eine Stufe der Vollkommenheit dar, das heißt: einen der möglichen Grade der Vergeistigung. Jeder ist belebt, bevölkert, in der Entwicklung nach oben begriffen, wenn auch seine Bewohner vielleicht nicht immer so aussehen wie ein Professor der Astronomie.
Es ist natürlich, daß Bruno, der sogar unserer Zeit noch in so vielem voraus ist, von fast allen Mitlebenden entweder als teuflischer Irrlehrer oder als grotesker Phantast angesehen wurde. Der Philosoph, der klar und bestimmt aussprach, was alle Welt dachte, war Francis Bacon: kein abgrundtiefer Vulkan wie Bruno, kein im Dunkel ringender Gottsucher wie Böhme, kein feinnerviger Seelenanatom wie Montaigne, kein feuriges Weltauge wie Shakespeare, aber ein besonnener und eindrucksvoller Sprecher, der es verstand, das Streben seines Zeitalters in scharfgeprägten Worten deutlich zusammenzufassen und glänzend zu formulieren. Es ist wesentlich für ihn, daß er Engländer war; nur von England konnte eine solche Philosophie ausgehen.
England ist während des sechzehnten Jahrhunderts von einem mittelalterlichen Kleinstaat zu einer modernen europäischen Großmacht emporgestiegen, nicht durch seine Herrscher, wie die loyale Legende berichtet, sondern trotz seinen Herrschern, die fast alle mittelmäßig und zum Teil niederträchtig waren. Heinrich dem Achten sind wir schon einige Male begegnet. Selbst Shakespeare hat in seiner bestellten Hofdichtung mit allen virtuosen Retuschen nicht vermocht, etwas anderes als das Bild eines rohen und tückischen Despoten zu geben. Man braucht nur Holbeins Porträt anzusehen, um von diesem brillantengeschmückten Fleischermeister, dieser vernichtenden Inkarnation bestialischer Energie und unersättlicher Vitalität eine Vorstellung zu bekommen. Sein Sohn Eduard der Sechste, der allem Anschein nach sehr begabt war, starb in sehr jungen Jahren. Nach ihm bestieg die »blutige Mary« den Thron, eine verbitterte alte Jungfer und verbohrte Bigotte, die, ganz unter dem Einfluß ihres Gatten, Philipps des Zweiten, in den sie zeitlebens unglücklich verliebt war, mit den brutalsten Mitteln die katholische Restauration anstrebte und im Krieg gegen Frankreich, den sie an der Seite Spaniens führte, Calais verlor, was ihr die Engländer noch mehr verübelten als ihre grausamen Reaktionsversuche: hätte sie nur einige Jahre länger regiert, so wäre es schon damals zu einer Revolution gekommen. Ihre Nachfolgerin war die »große Elisabeth«, eine kluge und zielbewußte, aber maßlos eitle und egoistische Frau von jener brutalen Skrupellosigkeit, kalten Hinterlist und scheinheiligen Prüderie, die die Feinde Englands als typisch national bezeichnen. Jedenfalls war der cant in ihr bereits zu vollendeter Meisterschaft entwickelt, jene Eigenschaft, für die keine andere Sprache ein bezeichnendes Wort hat, weil kein anderes Volk etwas besitzt, das ihr entspricht. Was ist cant? Cant ist nicht »Verlogenheit«, ist nicht »Heuchelei« oder dergleichen, sondern etwas viel Komplizierteres. Cant ist ein Talent, das Talent nämlich, alles für gut und wahr zu halten, was einem jeweils praktische Vorteile bringt. Wenn dem Engländer etwas aus irgendeinem Grunde unangenehm ist, so beschließt er (in seinem Unterbewußtsein natürlich), es für eine Sünde oder eine Unwahrheit zu erklären. Er hat also die merkwürdige Fähigkeit, nicht etwa bloß gegen andere, sondern auch gegen sich selbst perfid zu sein, und er betätigt diese Fähigkeit mit dem besten Gewissen, was ganz natürlich ist, denn er handelt in der Ausübung eines Instinkts. Cant ist etwas, das man »ehrliche Verlogenheit« nennen könnte oder »die Gabe, sich selbst hineinzulegen«.
Die beiden berüchtigtsten Flecken der Regierung Elisabeths sind die beiden Hinrichtungsprozesse gegen Essex und Maria Stuart. Sie war beide Male als Königin und als Politikerin im Recht: Essex war ein Hochverräter und Maria Stuart das Haupt zahlreicher gefährlicher Verschwörungen. Nur das gereicht ihr zur Unehre, daß sie beide Male ihr blutiges Recht nicht einfach vollzogen hat, sondern auch noch den Ruhm der weiblichen Milde und christlichen Barmherzigkeit für sich einheimsen wollte. Auch ihre vielen Liebhaber wird ihr kein vernünftiger Mensch zum Vorwurf machen, wohl aber die unverfrorene Tartüfferie, mit der sie sich während ihrer ganzen Regierung als »jungfräuliche Königin« feiern ließ und zum Beispiel gestattete, daß die erste englische Kolonie von Walter Raleigh, der es selber besser wissen mußte, nach ihr Virginien genannt wurde. Hierin stand sie tief unter ihrer tödlichen Rivalin Maria Stuart, die in ihrem Leben vielleicht ebenso viele Verbrechen begangen hat, aber keines in kalter Berechnung, und sicherlich weniger »Fehltritte«, aber sich zu ihnen offen bekannte. Als Marias Liebhaber Bothwell ihren Gatten Darnley in die Luft sprengte, geriet ganz Schottland in Aufruhr; als Elisabeths Günstling Leicester seine Gattin vergiftete, schwieg die öffentliche Meinung, denn es war viel schlauer arrangiert. Geschicklichkeit hat aber für Mörder niemals als besondere Entschuldigung gegolten.
Als Elisabeth nach fünfundvierzigjähriger Regierung starb, gelangte Jakob der Erste, der Sohn der Maria Stuart und Urenkel der Tochter Heinrich Tudors, zur Herrschaft und vereinigte in seiner Person die Kronen, aber auch die schlechten Eigenschaften der beiden feindlichen Häuser: den herrschsüchtigen Eigensinn und Hochmut der Tudors und die Trägheit und moralische Verantwortungslosigkeit der Stuarts. Sein Vater war wahrscheinlich Marias Sekretär, der häßliche David Riccio, der von Darnley auf die bestialischste Weise umgebracht worden war. Seine Gestalt war plump und unansehnlich, sein Kopf dick, sein Bart dünn, seine Augen hervorquellend, seine Rede stotternd und mißtönend: man sagte, daß er die Worte mehr herausspucke als artikuliere. Er war ungemein furchtsam und mißtrauisch, konnte keine blanke Waffe sehen und lebte in beständiger Angst vor Verschwörungen und Attentaten. Er war ebenso kindisch eitel wie seine Vorgängerin, aber viel unvernünftiger, denn er vertrug nur Ansichten, die mit den seinigen übereinstimmten. Besonders stolz war er auf seine theologische Bildung, die er zum Schrecken seiner Umgebung fortwährend in den spitzfindigsten Debatten zur Schau stellte. Seine zweite Passion waren schöne junge Menschen, die alles von ihm erreichen konnten, auch wenn sie noch so unbedeutend und vulgär waren. Obgleich er mit seinen zappelnden Bewegungen, seinem unbeholfenen Gang und seinen bäurischen Manieren das Gegenteil einer königlichen Erscheinung war, so war doch kein Herrscher von seinem Gottesgnadentum so überzeugt wie er. Er hielt sich für den unumschränkten Diktator über Leben, Eigentum und Meinungen seiner Untertanen, und dies in einer Zeit und einer Nation, die für solche Theorien nichts weniger als empfänglich war. Da es ihm außerdem völlig an politischem Takt und Überblick fehlte, so lag er ununterbrochen mit seinen Parlamenten im Streit; der offene Aufruhr kam aber erst unter seinem Nachfolger zum Ausbruch. Als er zu Ende regiert hatte, sagte man: Großbritannien ist kleiner als Britannien.
Trotzdem sind diese hundert Jahre die erste große Glanzperiode Englands. Handel, Gewerbe und Schiffahrt, Wissenschaft, Kunst und Literatur entwickelten sich zu überreicher Blüte. London war unter Elisabeth schon eine Stadt von dreimalhunderttausend Einwohnern mit zahllosen Kaufläden, einer gebietenden Börse, einer dauernden Messe und fast zwanzig stehenden Theatern. Die Straßenpflasterung war sorgfältig, die Wasserversorgung durch hölzerne Leitungen reguliert, die Beleuchtung und die Feuerpolizei erheblich verbessert. Es gab zahlreiche wohleingerichtete Schulen, Apotheken und Druckereien und sogar schon so etwas wie Zeitungen. Die Themse wimmelte von geschmückten Booten, ein ununterbrochener Strom von Fußgängern, Reitern, Sänften belebte die Stadt, die Vornehmen benutzten auch schon Kutschen, und ihre neuen Landhäuser, im Tudorstil erbaut, waren sachlich, praktisch, einladend und (im Unterschied von den kontinentalen Villen) in erster Linie für den Wohnzweck angelegt: schon damals äußert sich der Sinn des Engländers für gediegene und behagliche Häuslichkeit. Die Kleidung ist festlich, reich, soigniert und nicht ohne Geschmack, der Komfort aber noch nicht wesentlich vom mittelalterlichen unterschieden: man schläft noch ziemlich primitiv, ist mit der Gabel noch immer nicht bekannt, legt beim Essen den Hauptwert auf die Quantität und bedient sich für den gewöhnlichen Gebrauch mit Vorliebe hölzerner Geräte. Ein neues Genußmittel war der Tabak, der, von Jean Nicot zuerst als bloßes Arzneimittel angepriesen, später durch Drakes und Raleighs Matrosen rasch eingebürgert wurde und schon gegen Ende des Jahrhunderts allgemein beliebt war: man rauchte ihn aber nicht in Zigarrenform, wie es die Indianer mit Vorliebe taten, sondern ausschließlich in Pfeifen. Die Geistlichkeit bekämpfte das Rauchen, auch der doktrinäre Jakob belegte es aus theologischen Gründen zuerst mit Verboten und Strafen, erkannte es aber bald als eine ergiebige Steuerquelle. Die Tabaksläden, wo Unterricht im Rauchen erteilt wurde, waren überfüllt, die jeunesse dorée kam mit ihren dampfenden Pfeifen ins Theater, und Raleigh warf man vor, daß er sogar bei der Hinrichtung seines Feindes Essex Tabakswolken ausgestoßen habe.
Die Durchschnittsbildung der besseren Kreise stand auf einem ziemlich hohen Niveau: alle Welt las die römischen Dichter und Philosophen, sang und musizierte, trieb Mathematik und Astronomie, und zwar die Damen so gut wie die Herren; die Konversation war witzig und gewählt, obschon durch Euphuismen verkünstelt. Daneben fehlte es freilich auch nicht an Roheiten. Die Justiz war nach wie vor barbarisch. Die drei stärksten dramatischen Talente neben Shakespeare: Peel, Greene und Marlowe waren wüste Messerhelden und Trunkenbolde, König Jakob war ein vollkommener Flegel, aber auch die Queen Bess freute sich, wenn das Volk ihr auf der Straße zurief: »Wie geht's, alte Hure?«, liebte es, mitten in der gepflegtesten Unterhaltung gemeine Matrosenausdrücke zu gebrauchen und konnte, wenn sie gereizt wurde, zanken wie ein Fischweib. Berühmt ist ihr Streit mit Essex, in dem dieser ihr zurief: »Your mind is as crooked as your carcass; dein Geist ist so krumm wie dein Gestell!«, worauf sie ihm mit den Worten: »Häng dich auf!« eine schallende Ohrfeige versetzte.
Der Mensch der sogenannten »englischen Renaissance«, die unter Elisabeth ihren Höhepunkt erreicht hat, ist überhaupt noch eine Mischung aus ungezügeltem Urmenschentum und modernem Engländertum, eine Kreuzung aus einem zähen und umsichtigen Sachlichkeitsmenschen und einem wilden und tollkühnen Abenteurer. Der präzise Ausdruck dieser Geisteslage sind die merchants adventurers, raubritternde Kaufleute und Seefahrer, die zuerst auf eigene Faust, später durch königliche Privilegien unterstützt, die Küsten des fernen Ostens und Westens plünderten, aber auch Geschäftsniederlassungen gründeten und Handelsbeziehungen einleiteten. Es war, mit einem Wort, Piraterie unter staatlicher Oberhoheit und Profitbeteiligung: im Kriegsfall nannte man es Kaperei. Die großen Admirale, Weltumsegier, Eroberer und Kolonisatoren: Drake, Raleigh, Hawkins, Essex und alle übrigen Seehelden des elisabethinischen Zeitalters waren nichts anderes als Korsaren. Etwas ganz Ähnliches waren die »Handelskompanien«: konzessionierte Gesellschaften zur Ausbeutung überseeischer Länder. Schmuggel, Seeraub und Sklavenhandel stehen an der Wiege des englischen und des ganzen modernen Kapitalismus.
Dies hat zwei Gründe. Zunächst ist ja aller Handel und Gelderwerb nichts als eine Art zivilisierter und in geordnete Bahnen geleiteter Betrug. Wir haben im dritten Kapitel gesehen, unter wie großen moralischen und sozialen Widerständen sich der Übergang von der Naturalwirtschaft und dem reinen Handwerk zur Geldwirtschaft und zum Handel als Selbstzweck vollzogen hat. Sind nun diese Hemmungen im Anfang stärker als später, so pflegen diese Übergangszeiten auch anderseits als Korrelat die großen Hemmungslosen zu erzeugen. Sodann wird aber überhaupt jede neue Wirklichkeit: in Religion, Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft zu ihrer Entstehungszeit von der Verfemung getroffen, da sie das »gute Gewissen« der bisherigen Wirklichkeit gegen sich hat, und ist daher gezwungen, in asozialen Formen aufzutreten: sie beginnt fast immer als Paralogismus, als »Romantik«, als Verbrechertum. Und ebenso deutlich, wie wir noch in den respektabeln und friedliebenden Kaufherren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Züge ihres Stammvaters, des Raubritters und Piraten zu erkennen vermögen, können wir im heutigen Großfinanzier entdecken, daß er sich vom Glücksritter, vom Spieler und Falschspieler herleitet. Jene Zeiten aber waren die Flegeljahre des Kapitalismus. Der Erwerbstrieb trat damals noch in ekstatischen und tumultuarischen Formen auf: er hat den Charakter eines Fiebers, eines Rausches, einer Kinderkrankheit. Niemand vermochte sich dieser Ansteckung zu entziehen: wir werden sogleich sehen, daß selbst der hellste und besonnenste Kopf Englands und des ganzen Zeitalters von ihr ergriffen war. Das sichtbare Zeichen dieses neuen Merkantilgeistes war das große Londoner Börsengebäude, das 1571 vom Hofbankier Sir Thomas Gresham dem Verkehr übergeben wurde.
Parallel mit den wirtschaftlichen Wandlungen ging ein großer Aufschwung der exakten Wissenschaften. Wir haben gesehen, daß schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine Reihe wichtiger Fortschritte auf dem Gebiet der Mathematik und Kosmologie, der Medizin und Chemie, der Zoologie und Erdbeschreibung zu verzeichnen sind; und diese Forschungen finden in den beiden nächsten Menschenaltern ihre Fortsetzung und zum Teil sogar schon ihren vorläufigen Abschluß. François Viète erhob die Algebra zu wissenschaftlicher Höhe, begann bereits mit ihrer Anwendung auf die Geometrie und förderte die Kreisberechnung durch Untersuchungen über die Zahl ; Geronimo Cardano schuf die Formel für die Auflösung von Gleichungen dritten Grades und machte in den imaginären Größen, deren Typus -1 ist, eine Erfindung von unberechenbarer Tragweite; John Napier edierte unter dem Titel »mirifici logarithmorum canonis descriptio« die ersten Logarithmentafeln; der niederländische Arzt Johann van Helmont entdeckte luftartige Stoffe, die sich von der Luft unterscheiden: die Gase, und Stoffe, die in den Körpersäften Zersetzungsprozesse anzuregen vermögen: die Fermente; Kaspar Bauhin beschrieb sämtliche bekannte Pflanzen nach Wurzel, Stengel und Blattbildung, Blüte, Frucht und Samenbeschaffenheit, gab ihnen eine doppelte Bezeichnung nach Gattung und Spezies und wurde damit der bedeutendste Vorläufer Linnés; Piccolomini begründete durch seine Beschreibung der Gewebe die allgemeine Anatomie, Coiter die pathologische Anatomie, Paré die neuere Chirurgie und Palissy die Paläontologie, indem er bereits mit voller Entschiedenheit erklärte, daß die versteinerten Tierformen Überreste von Organismen seien, die in früheren Perioden auf der Erde lebten.
Die erstaunlichsten Erfolge wurden aber in der Physik und Astronomie erzielt. William Gilbert, der Leibarzt der Königin Elisabeth, wurde zum Begründer der Lehre von der Elektrizität und dem Magnetismus und erkannte auch schon, daß die ganze Erde ein großer Magnet sei, weshalb er den kugelförmigen Magnetstein, mit dem er seine Experimente machte, Terella, Miniaturerde nannte. Der Holländer Simon Stevin, der sich auch als Festungsingenieur und Erfinder des Segelschlittens hervortat, untersuchte in seinen »Hypomnemata mathematica« als erster die mechanischen Eigenschaften der schiefen Ebene und legte in dem Satz vom Kräfteparallelogramm und in dem Prinzip der virtuellen Verschiebungen die Fundamente zur modernen Statik. Er machte auch eine Reihe folgenschwerer Untersuchungen auf dem Gebiet der Hydrostatik und fand unter anderm das »hydrostatische Paradoxon«, wonach der Bodendruck in einem Gefäß, das sich nach oben erweitert, kleiner, in einem, das sich nach oben verengert, größer ist als das Gewicht der vorhandenen Flüssigkeitsmenge; ferner bewies er, daß in kommunizierenden Röhren der Wasserstand stets die gleiche Höhe hat, auch wenn sie verschiedene Durchmesser besitzen. Der große dänische Astronom Tycho de Brahe beobachtete die Konjunktion von Jupiter und Saturn, entdeckte einen neuen Stern in der Kassiopeia und erbaute mit Hilfe des Königs eine großartige Sternwarte, mußte aber später auf Betreiben der Theologen sein Vaterland verlassen und starb als Hofastrolog Kaiser Rudolfs des Zweiten in Prag. Dort war Kepler sein Gehilfe, dem er durch die beispiellos genauen Berechnungen und Tabellen, die er ihm hinterließ, seine Entdeckungen ermöglicht hat. Sein System bedeutet in gewisser Hinsicht einen Rückschritt, denn er nahm zwar an, daß die Planeten um die Sonne kreisen, ließ die Sonne selbst aber sich um die Erde bewegen, die er wieder in den Mittelpunkt des Weltalls zurückversetzte. Er gelangte zu dieser Annahme durch die Erwägung, daß, wenn das kopernikanische System richtig sei, im Frühjahr und im Spätjahr die Erde sich in ganz verschiedenen Entfernungen von den einzelnen Sterngruppen befinden und daher der Fixsternhimmel ein ganz ungleiches Aussehen haben müsse. Daß die ungeheuern Dimensionen des Weltalls diesen scheinbar so berechtigten Einwand gegenstandslos machen, konnte er noch nicht ahnen.
Die Erfindung des Fernrohrs lag zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ebenso in der Luft wie hundert Jahre früher die Entdeckung der amerikanischen Küsten. Es wurde 1608 von Hans Lippershey konstruiert, dem Zacharias Jansen die Priorität bestritt, und im darauffolgenden Jahre ein drittes Mal ganz selbständig von Galilei. Im Jahr 1611 machte Kepler in seiner »Dioptrik« die Angaben für den Bau des sogenannten »astronomischen Fernrohrs«, die der Jesuitenpater Scheiner 1613 zur Ausführung brachte. Ungefähr um dieselbe Zeit beobachtete Galilei die Mondgebirge, den Saturnring, die Sonnenflecken, deren Bewegung ihm die Achsendrehung der Sonne bestätigte, und die Jupitermonde: eine für die Anhänger der alten Lehren sehr kompromittierende Entdeckung, da durch sie die Welt des Jupiter sich als ein verkleinertes Abbild des Planetensystems enthüllte und bewiesen wurde, daß ein Weltkörper sehr wohl ein Bewegungszentrum zu bilden und gleichzeitig eine Eigenbewegung zu besitzen vermag. Seine Entdeckungen gingen aber noch viel weiter. 1610 schreibt er an einen Freund: »Auch habe ich eine Menge von nie gesehenen Fixsternen beobachtet, die die Zahl derer, die man mit bloßem Auge wahrnehmen kann, um mehr als das Zehnfache übertrifft, und weiß nun, was die Milchstraße ist, über die sich die Weltweisen zu allen Zeiten gestritten haben.« Ebenso groß wie als Astronom ist Galilei als Physiker: er ist der Begründer der Dynamik, einer ganz neuen Wissenschaft, die den Alten fremd war, da sie nur Untersuchungen über Statik kannten, der Schöpfer der Theorie des Wurfs und des freien Falls, auf die er durch die Schwingungen einer Lampe im Dom zu Pisa gekommen sein soll, der Entdecker des Gesetzes der Trägheit und der Erfinder der hydrostatischen Waage und des Thermometers.
Die Lehren Galileis wirkten so beunruhigend, daß es Leute gab, die sich weigerten, in sein Teleskop zu blicken, um darin nicht Wahrnehmungen zu machen, die die Lehren der bisherigen Philosophie und der Kirche umstürzen könnten. Die Legende hat aus ihm einen Märtyrer der freien Forschung gemacht, dem von den Mächten der Finsternis ein Widerruf abgepreßt worden sei. Aber so lesebuchartig haben sich die Dinge nicht zugetragen. Die Wahrheit ist, daß viele kirchliche Würdenträger und zumal der damalige Papst Urban der Achte seinen Forschungen das größte Interesse entgegenbrachten und an ihnen anfangs nichts Anstößiges fanden. Die wahren Gründe für die Verfolgungen, die Galilei zu erdulden hatte, lagen in seiner krankhaften Reizbarkeit und Rechthaberei, seinem Mangel an diplomatischem Takt und Kunst der Menschenbehandlung und seiner noch in den Gepflogenheiten des Humanismus wurzelnden Sucht, religiöse Spekulationen mit exakten Untersuchungen zu vermengen: ein Verfahren, das schon die damalige Zeit mit Recht nicht nur als irreligiös, sondern auch als unwissenschaftlich ansah. Dazu kam freilich auch der Neid der Kollegen. In dem astronomischen Hauptwerk Galileis, worin er nach der Sitte der Zeit seine Lehre in Dialogform vortrug, kam eine alberne Figur namens Simplicius vor, die gegen das neue Weltsystem die unsinnigsten Einwände vorbringt. In ihr sollten die Aristoteliker verspottet werden, aber es gelang den Feinden Galileis, den Papst glauben zu machen, daß er gemeint sei. Erst von diesem Augenblick an begann Urban, der ebenso geistreich und freidenkend wie eitel und cholerisch war, gegen Galilei einzuschreiten. Es wurde über ihn eine (übrigens ziemlich milde) Haft verhängt, und seine Bücher kamen zugleich mit allen andern, die das heliozentrische System lehrten, auf den Index. Von hier datiert der Gegensatz zwischen der katholischen Kirche und der neuen Astronomie. Kopernikus hatte, wie wir gehört haben, sein Werk dem Papst gewidmet, die Jesuiten, zum Beispiel der vorhin erwähnte Pater Scheiner, beteiligten sich sehr lebhaft an den neuen Untersuchungen, und der Jesuit Grimberger erklärte, wenn Galilei es verstanden hätte, sich die Sympathien der Jesuiten zu erwerben, so hätte er über alles mögliche schreiben können, auch über die Umdrehung der Erde. Übrigens hat die Kirche durch ihre veränderte Haltung sich selbst weit mehr geschadet als den Forschern, die sie verfolgte, denn sie hat sich dadurch in einen verhängnisvollen Kampf mit allen vorwärtsweisenden Kräften der nächsten Jahrhunderte verwickelt, in dem sie unvermeidlich unterliegen mußte.
Neben Galilei wirkte Johannes Kepler. Er entdeckte 1607 den sogenannten Halleyschen Kometen, den ersten, dessen Wiederkehr berechnet und seither regelmäßig (in Abständen von 76 Jahren, zuletzt 1910) beobachtet worden ist, entwickelte in seiner »Dioptrik« die Gesetze der Lichtbrechung und die Theorie des Sehens, ermittelte die wahre Gestalt der Planetenbahnen und schuf die dauernden Grundlagen für unsere Vorstellungen von der Einrichtung des Sonnensystems in den »Keplerschen Gesetzen«, die besagen, daß erstens alle Planeten sich in Ellipsen bewegen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht, daß zweitens die Flächen, die die Verbindungslinie zwischen Sonne und Planet bestreicht, immer den darauf verwendeten Zeiträumen proportional sind und daß drittens die Quadrate der Umlaufszeiten der Planeten sich verhalten wie die Kuben ihrer mittleren Entfernungen von der Sonne. Hiermit war zugleich dargetan, daß ein einheitliches strenges Gesetz und eine gleichmäßig wirkende Kraft unser ganzes Planetensystem, ja das ganze Weltall regiert.
Alle diese wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Tendenzen hat Bacon in seiner Philosophie zusammengefaßt. Er war in jederlei Sinn das, was man »auf der Höhe der Zeit stehend« nennt. Er machte eine glänzende politische Karriere, wurde Kronanwalt, Großsiegelbewahrer, Lordkanzler, Baron von Verulam und Viscount von Saint Albans. Alle Welt blickte auf ihn, alles Licht sammelte sich um seine Person; und dies hat bewirkt, daß nicht nur seine philosophischen Verdienste heller, sondern auch seine moralischen Verfehlungen greller erschienen, als sie in Wirklichkeit waren. Über seinen Charakter herrscht bis zum heutigen Tage noch keine Einigkeit. Macaulay, in seiner juristischen Betrachtungsart, die der Geschichte gegenüber gern den Advokaten oder den öffentlichen Ankläger spielt, hat ihn völlig verurteilt; andere haben, in noch viel einseitigerer Weise, versucht, ihn als gänzlich fleckenlos hinzustellen. Die beiden großen Skandale, in die sein Leben verwickelt wurde, waren der Prozeß gegen Essex unter Elisabeth und der Prozeß gegen ihn selbst unter Jakob. Essex, der sich von der Königin zurückgesetzt glaubte, hatte gegen sie in seiner leidenschaftlichen und unüberlegten Art einen Tumult angezettelt, der sofort niedergeschlagen wurde. In seiner Verteidigung erklärte er, der Aufstand sei nur gegen seinen mächtigsten Rivalen Walter Raleigh gerichtet gewesen, der ihm nach dem Leben getrachtet habe; das Todesurteil nahm er mit der größten Fassung entgegen. Bacon plädierte in der Untersuchung, der er beigezogen war, auf die schonungsloseste Weise gegen Essex, obgleich er mit ihm zeitlebens befreundet war und ihm viele Förderungen und Geschenke verdankte: er verglich ihn mit Heinrich von Guise, dem Haupt der antidynastischen Partei in Frankreich, mit Absalon, der sich gegen seinen Vater erhob, mit Pisistratus, der seine usurpatorischen Pläne damit zu maskieren suchte, daß er vorgab, selbst von Mördern bedroht zu sein, und Wunden vorzeigte, die er sich selbst geschlagen hatte. Aber er ging noch weiter. Nach der Hinrichtung schrieb er im Auftrag der Königin, die durch das Bluturteil gegen den Volksliebling Essex ihre Popularität bedroht sah, eine »Erklärung der Ränke und Verrätereien, versucht und begangen durch weiland Robert Graf Essex und seine Mitschuldigen«, worin er alle seine früheren Anklagen in den gehässigsten Ausdrücken wiederholte und den Toten außerdem, und sicher mit Unrecht, beschuldigte, mit den irischen Rebellen, gegen die er als Feldherr geschickt worden war, gemeinsame Sache gemacht und eine bewaffnete Landung in England verabredet zu haben, um die Königin zu ermorden und sich selbst auf den Thron zu setzen. Zwanzig Jahre später, auf der Höhe seines Ruhms und seiner Macht, wurde er selbst unter Anklage gestellt: er wurde beschuldigt, in seinem Richteramte Geldgeschenke angenommen zu haben, und von den Lords auf Grund zahlreicher Zeugenaussagen und seines eigenen Geständnisses einstimmig zu einer Geldbuße und zur Verbannung auf seine Güter verurteilt, wodurch er endlich für die Abfassung seiner Werke die Muße gewann, die ihm die Jagd nach Reichtum und Einfluß bisher nicht vergönnt hatte. Bestechungen waren damals bei Beamten durchaus üblich, und wenn man gerade gegen Bacon die Anklage erhob, so lag der Grund nicht in besonders krassen Verfehlungen des Kanzlers, sondern darin, daß man in einem besonders exponierten Vertreter das ganze System treffen wollte. Eben darum beschwor auch der König Bacon, das Urteil widerstandslos hinzunehmen: er versprach ihm, ihn bei der ersten günstigen Gelegenheit zu rehabilitieren, wenn er nur durch Passivität verhindere, daß die Sache weitere Kreise ziehe; und darum hat Bacon auf jede Verteidigung verzichtet, obgleich sie für ihn bei seinem hohen wissenschaftlichen Ansehen, seiner außergewöhnlichen Rednergabe und der laxen Auffassung, die man allgemein von seinem Delikt hegte, keineswegs aussichtslos gewesen wäre.
Der Grund für die beiden Verirrungen, die ihm so viel üble Nachrede eingetragen haben, war also beide Male eine hemmungslose Servilität gegen den Hof, eine fast krankhafte Angst vor königlicher Ungnade und öffentlicher Zurücksetzung. Um sich bei der Königin in Gunst zu setzen, opferte er durch jene bestellte Schmähschrift das Andenken seines Freundes, und um das Wohlwollen des Königs nicht zu verlieren, opferte er durch den Verzicht auf jede persönliche Rechtfertigung sein eigenes Andenken bei der Nachwelt. Wenn wir also das Urteil über seinen Charakter zusammenzufassen versuchen, so werden wir sagen dürfen: er war sicherlich weder ein gemeiner noch ein boshafter Mensch (vielmehr schildern ihn sogar seine Feinde als liebenswürdig, dienstfertig, generös, frei von Anmaßung und, was zu jener Zeit fast ein Unikum bedeutete, frei von Rachsucht), wohl aber ein schwacher Mensch und ein kalter Mensch und, was gerade bei einem Mann vom Rufe Bacons sonderbar klingen mag, ein unphilosophischer Mensch. Aber wenn es wahr ist, daß eine der Grundeigenschaften des Philosophen in der Verachtung der Realität besteht, dann war Bacon kein Philosoph; er konnte nicht leben ohne Titel, Ämter, Würden, königliches Lächeln und Verbeugungen der Höflinge, ohne Pferde, Landgüter, Roben, Silbergeschirr und Lakaien: Ehre, Macht, Besitz, flüchtiger Genuß und leerer Prunk waren ihm allezeit wichtiger als Frieden und Wissen.
Ja es läßt sich sogar die Frage aufwerfen, ob er sich nicht in seinen Werken ebensowenig als Philosoph gezeigt hat wie in seinen Taten. Die landläufige Meinung geht dahin, daß sein Leben ebenso schwarz und verwerflich gewesen sei wie sein Schaffen strahlend und unvergleichlich. Es spricht aber viel dafür, daß beide Ansichten ungerecht sind und den wirklichen Tatbestand vergrößern.
Die Philosophie Bacons will, wie er schon durch die Titel seiner Schriften andeutet, nicht mehr und nicht weniger sein als eine Instauratio Magna: eine große Erneuerung der Wissenschaften, ein Novum Organon und »die größte Geburt der Zeit«. »Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit«, sagt Bacon: eine solche Philosophie, die die legitime Tochter ihres Zeitalters ist, die aus allen Erfahrungen, Entdeckungen und Fortschritten der Gegenwart den Extrakt und die Summe zieht, will er begründen. Seine Betrachtungen sind also im Gegensatze zu denen Nietzsches höchst »zeitgemäße«: er will gleichsam seinem Weltalter den Puls abhören und ihm die Diagnose stellen. Er will aber auch eine Prognose liefern und den Weg zu neuen Siegen weisen: »ich übernehme die Rolle des Zeigers«, sagt er in der Vorrede zu seinem Hauptwerk. Beide Zwecke sucht er dadurch zu erreichen, daß er ein System der reinen Erfahrungsphilosophie entwirft. Nach seiner Ansicht haben in der Philosophie bisher Grundsätze geherrscht, die der Verstand ohne Rücksicht auf die wirkliche Natur der Dinge einfach als gegeben voraussetzte: daher nennt er diese Forschungsart die »Methode der Antizipationen«. Ihr stellt er seine eigene neue Untersuchungsweise als »Methode der Interpretationen« gegenüber, die auf das genaue und gründliche Verständnis der Natur abzielt. Der Verstand soll die Natur auslegen wie der gute Interpret einen Autor, indem er sich bemüht, möglichst genau auf ihren Geist einzugehen. Dies gelingt nicht durch hochfliegende Ideen und weltferne Spekulationen, sondern nur durch geduldige Unterwerfung unter die Natur: natura parendo vincitur. Dazu müssen wir uns vor allem der Vorurteile und Trugbilder, der Idole entledigen, mit denen unser Geist behaftet ist. Bacon unterscheidet vier Klassen solcher Idole. Die ersten sind die Trugbilder, die aus dem individuellen Charakter jedes einzelnen Menschen fließen und, weil sie sich ins Unbestimmbare und Dunkle, gleichsam in die Höhle der Individualität verlieren, von Bacon idola specus genannt werden: sie sind aber zu vielfältig und unberechenbar, um näher verfolgt und beschrieben werden zu können. Die zweiten stammen aus der Überlieferung, dem Respekt vor der Autorität fremder Meinungen und werden blind geglaubt, obgleich sie ebenso erdichtet sind wie die Fabeln der Theaterwelt und daher bloße idola theatri darstellen. Die dritten entspringen der Gewohnheit, an die Stelle der Dinge Worte zu setzen: sie verwechseln die konventionellen Zeichen für die Dinge mit den Dingen selbst, den Marktwert mit dem Realwert und heißen daher idola fori: in diesen Betrachtungen finden sich die ersten Anfänge einer Sprachkritik. Die vierte Gruppe endlich, die mächtigste und gefährlichste, die am schwersten zu erkennende und am mühsamsten zu überwindende, bilden die idola tribus, die unserer Gattung eingeborenen Trugbilder, die uns fortwährend veranlassen, die physische Natur in die menschliche zu übersetzen, wobei das Original seine Eigentümlichkeit einbüßt und den Geist des Übersetzers annimmt. Die menschliche Seele ist ein Spiegel der Dinge, aber dieser Spiegel ist so geschliffen, daß er die Dinge, indem er sie abbildet, zugleich verändert. Es ist aber falsch, den menschlichen Sinn für das Maß der Dinge zu halten. Hier könnte man Ansätze zu einer phänomenalistischen Betrachtungsweise vermuten; aber Bacon meint es ganz anders als Kant und seine Schule: für ihn ist das, was er »Natur« nennt, nicht eine Schöpfung unseres Geistes, ein Produkt unserer Apperzeptionsformen, sondern etwas, dessen wahres Wesen das menschliche Bewußtsein sehr wohl zu erkennen vermag, falls es ihm gelingt, sich der Idole zu entledigen. Ja Bacon ist sogar so wenig philosophischer Idealist, daß er den erkenntnistheoretischen Wert übergeordneter Ideen bei jeder Gelegenheit leugnet und sogar, wie wir gleich sehen werden, die Anwendung abstrakter mathematischer Spekulationen auf die Naturbetrachtung perhorresziert.
Als der sicherste Weg zur Erkenntnis der »Natur an sich«, der Natur, wie sie wirklich ist, erscheint ihm die auf Beobachtung und Experiment gegründete und von Tatsache zu Tatsache behutsam vorwärtsschreitende Induktion; diese Methode erklärt er für die allein zuverlässige und ertragreiche, nicht allein in der Physik und den übrigen Naturwissenschaften, sondern auch in der Psychologie, der Logik, der Moral, der Politik: in dieser Feststellung dürfen wir die Vorausahnung einer ganzen Reihe von fruchtbaren Disziplinen erblicken, die erst viele Generationen nach ihm erfolgreich in Angriff genommen worden sind. Um den Induktionsschlüssen Sicherheit und Tragkraft zu geben, ist eine stetige und sorgfältige Beobachtung der negativen Instanzen notwendig, jener Fälle, die eine Ausnahme von einer bisher gültigen Regel statuieren: durch eine einzige solche negative Instanz wird die Regel zum Idol. Hat man nun durch gewissenhafteste Beobachtung und vorsichtiges Schließen ein einwandfreies Erfahrungsmaterial gesammelt, so steht das unermeßlich weite Reich der Erfindung offen: ihre Vervollkommnung zu immer höheren Graden ist das Lieblingsthema Bacons; wenn er von ihr spricht, erhebt sich seine Phantasie zu dichterischer Höhe. Aber darum ist seine Philosophie keineswegs einseitig utilitaristisch. Bei den Experimenten, in denen er die stärksten Hebel der fortschreitenden Naturbeherrschung erblickt, unterscheidet er lichtbringende und fruchtbringende: die ersteren führen zu neuen Axiomen, die letzteren zu neuen Erfindungen; aber er betont ausdrücklich, daß diese um so geringer zu schätzen seien, je mehr sie auf bloßen Gewinn ausgehen, statt die Einsicht in die Natur zu erleuchten. Ja er hat sogar für die mechanischen Bemühungen der Handwerker und Fabrikanten eine lebhafte Geringschätzung gehabt, die Goethe an ihm rügt. Auf Grund seines neuorientierten Weltbildes entwirft Bacon schließlich den globus intellectualis, eine Enumeration, Einteilung und Beschreibung aller Wissenschaften, wobei er mit scharfsinniger Kombinationsgabe eine Reihe ganz neuer Disziplinen aus dem Kopf konstruiert, wie die Literaturgeschichte, die er mit feinem Verständnis als einen Teil der Kulturgeschichte begreift, die Krankheitsgeschichte, die vergleichende Spezialforschung, die Handelswissenschaft, die Stenographie.
Man wird vielleicht schon aus diesen kurzen Angaben ersehen haben, daß Bacons System der Weltbetrachtung zwar eine Menge geistreicher und anregender Ideen enthält, aber weder auf Tiefe noch auch nur auf Neuheit Anspruch machen kann. Er sagt zwar im »Novum Organon«, die Induktion sei der wahre Weg, den bisher noch keiner versucht habe, aber er ist bei der Aufstellung dieses Axioms selbst einem »Idolon« zum Opfer gefallen, denn ein nur flüchtiger Blick auf die Geschichte der Philosophie zeigt uns sogleich eine Reihe negativer Instanzen. Schon der von Bacon verabscheute Aristoteles hat die induktive Methode sehr wohl zu handhaben verstanden, die Alexandriner haben mit ihr auf den verschiedenartigsten Wissensgebieten großartige Resultate erzielt, und die ganze Philosophie der Renaissance ist, in den einen mehr dunkel, in anderen sehr bewußt, von baconischen Tendenzen erfüllt. Bacons Zeitgenosse, der italienische Naturphilosoph Tommaso Campanella, lehrte, das Ziel alles velle sei das posse, das posse aber sei nur möglich durch das nosse, und summiert seine Lehre in dem Satz: tantum possumus, quantum scimus, der mit Bacons berühmtem Wahlspruch: wisdom is power vollkommen identisch ist; und Bernardino Telesio, der zwei Menschenalter vor Campanella zu Cosenza geboren wurde, der Stifter der telesianischen oder, wie man sie lieber nannte, cosentinischen Akademie in Neapel, stellte das Leitprinzip auf: die Natur muß aus sich selbst erklärt werden. Noch älter als Telesio war der Spanier Ludovicus Vives, ein Zeitgenosse des Erasmus: auch er dringt auf Ausschaltung der subjektiven Elemente aus der Naturbetrachtung, auf »schweigende Betrachtung der Natur« und will alle Forschung auf Erfahrung gegründet, alle Metaphysik durch direkte Untersuchung und Experiment ersetzt wissen, wobei er der Antike viel gerechter wird als Bacon: »Die echten Schüler des Aristoteles«, lehrt er, »befragen die Natur selbst, wie auch die Alten dies getan haben.« Die überraschendsten Zusammenhänge aber bestehen zwischen Francis Bacon und Roger Bacon, dem doctor mirabilis, der während des größten Teils des dreizehnten Jahrhunderts, also mehr als dreihundert Jahre vor seinem Namensvetter gelebt hat. Er hatte sich aus arabischen und griechischen Schriften und durch eigene Beobachtung eine ungewöhnliche Kenntnis der mathematischen, mechanischen, optischen und chemischen Wissenschaften angeeignet und versuchte auf diesen Grundlagen ein System der Erfahrungsphilosophie zu errichten, das er der Scholastik, die damals auf der Höhe ihrer Herrschaft stand, entgegensetzte. Es gibt nach ihm zwei Arten der Erkenntnis: die erste geschieht durch Beweise, sie führt uns zu Schlüssen, die aber niemals zweifelfreie Wahrheiten zutage zu fördern vermögen; die zweite geht durchs Experiment, sie ist der einzige Weg zum gesicherten Wissen: sine experientia nihil sufficienter sciri potest. Die experientia selbst hat wiederum zwei Arten: sie ist entweder eine äußere durch die Sinne oder eine innere durch Eingebung; diese letztere Form, die mindestens ebenso wichtig ist wie die erstere, hat der jüngere Bacon vollkommen ignoriert. Ferner erkannte er die Mathematik als das Fundament aller Naturwissenschaft, worin er ebenfalls seinem Nachfolger an Einsicht voraus war. Er unterscheidet sich auch darin von ihm, daß er es verstand, seine Theorien fruchtbar zu machen: er erfand die Vergrößerungsgläser, reformierte den julianischen Kalender und stellte eine Mischung dar, die dem Schießpulver sehr ähnlich war. Anderseits zeigen die Lehren der beiden Bacon in den Einzelheiten oft geradezu verblüffende Übereinstimmungen. Roger Bacon macht vier offendicula der Erkenntnis namhaft, die uns den Weg zur wahren Naturerfassung versperren: Respekt vor Autoritäten; Gewohnheit; Abhängigkeit von den marktgängigen Meinungen der großen Menge; Unbelehrbarkeit unserer natürlichen Sinne; wie man sieht, decken sie sich fast vollständig mit den idola. Auch er prophezeit der menschlichen Erfindungskunst eine unabsehbare Entwicklung, und seine phantastischen Konstruktionen möglicher neuer Apparate erinnern sehr an Lord Bacon: er spricht von Flugmaschinen, Fahrzeugen, die sich ohne Zugtiere fortbewegen, und Booten, die von einem einzelnen Menschen schneller als durch vier Ruderer gelenkt werden können. Wir haben es hier mit einem ähnlichen sonderbaren Zufall zu tun wie bei Erasmus Darwin, der die weltberühmten Theorien seines Namensvetters Charles Darwin über Vererbung, Anpassung, Schutzvorrichtungen und Konkurrenzkampf bereits vollständig vorweggenommen hat.
Indes: Neuheit ist kein Maßstab für die Größe einer Philosophie. Bei Bacon liegt der Fall aber insofern mißlich, als seine Philosophie, wenn sie nicht das ihr allgemein vindizierte Verdienst der Neuheit besitzt, eigentlich gar keines besitzt. Denn sie ist gar keine brauchbare und fruchtbare Methodik im modernen Sinne, und sie hat nicht nur Bacon, sondern auch die übrigen Forscher seines Zeitalters um keinen Schritt weiter geführt. Er war der Zeitgenosse Galileis und Keplers und der Landsmann Gilberts und Harveys, der beiden genialsten Naturforscher der englischen Renaissance, und alle diese sind von ihm nicht nur nicht gefördert, sondern, was schlimmer ist, nicht einmal verstanden worden: er lehnte ihre Arbeiten ab und mußte es auch von seinem System aus tun, das zwei katastrophale Gebrechen hatte. Das eine bestand darin, daß ihm der Sinn für den Wert der schöpferischen Intuition fehlte, die der beste Teil aller, auch der exaktesten Forschung ist. Ihm war eben, wie Goethe in der »Farbenlehre« hervorhebt, »in der Breite der Erscheinung alles gleich«. Für die geniale Erleuchtung, die blitzartig Analogien erhellt, wie sie durch die rein empirische Beobachtung und Vergleichung von Tatsachen nie zutage gefördert werden können, für die kühne Kraft, die hundert bedeutungslose Schlußglieder überspringt, um zu dem einen auflösenden und entsiegelnden zu gelangen, war in seiner philiströsen Methode kein Platz. Er hätte niemals das Wort verstanden, das ein so außerordentliches Genie der exakten Forschung wie Gauß gesprochen hat: »Meine Resultate habe ich längst, ich weiß nur noch nicht, wie ich zu ihnen gelangen soll.« Hier liegt auch der wahre Grund, warum er gegen die Antike so ungerecht war. Und dennoch bewahrt die Schlußlehre des Aristoteles, auf die er so hochmütig herabsah, ihre Brauchbarkeit noch heute, während sein neues Organon, durch das er sie ersetzen und abtun wollte, nur noch ein historisches Interesse beanspruchen kann. Den zweiten Mangel seiner Philosophie haben wir bereits angedeutet: er verkannte in fast unbegreiflicher Weise, welche grundlegende Bedeutung die Mathematik für die strenge Naturforschung besitzt. Gerade in dieser Entdeckung bestand aber das Umwälzende und Schöpferische der neuen Naturbetrachtung. Ihr Begründer ist Lionardo da Vinci, dessen Leitsatz lautete: »Keine menschliche Untersuchung kann wahre Wissenschaft genannt werden, wenn sie nicht durch die mathematischen Demonstrationen gegeben ist.« Dasselbe lehrte Kepler: »Wahres Erkennen ist nur dort, wo Quanta erkannt werden«, und dasselbe Galilei: »Das Buch des Universums ist in mathematischen Lettern geschrieben.« Die Probe auf die Richtigkeit dieser Prinzipien war das neue Weltsystem.
Nicht den hohen Spekulationen, mit denen der Menschengeist in den nächsten Generationen den Aufbau und die Gesetze des Weltalls, der Erde, der Organismen und der in ihnen wirksamen Kräfte erhellte, hat Bacon den Weg gewiesen, sondern den vorwiegend technologisch orientierten bürgerlichen Nützlichkeitswissenschaften. Wir haben schon vorhin in Kürze hervorgehoben und müssen nochmals betonen, daß er selbst eine solche rein utilitaristische Richtung der Forschung nicht befürwortet und den Erkenntniswert immer über den praktischen Nutzen gestellt hat; aber eine solche Entwicklung lag trotzdem in seiner Linie. Macaulay hat die Absichten Bacons nicht ganz richtig gedeutet und doch aus ihnen nur die letzten unvermeidlichen Konsequenzen gezogen, wenn er in seinem berühmten Essay, der im übrigen ein Meisterwerk gefüllter und farbiger Dialektik ist, die Behauptung aufstellt, das Ziel der baconischen Philosophie sei die Vervielfältigung der menschlichen Genüsse und die Milderung der menschlichen Leiden; dadurch habe sie die gesamte bisherige Philosophie überflügelt, die es verschmähte, dem Behagen und dem Fortschritt zu dienen, und sich damit begnügte, unverrückbar auf derselben Stelle stehen zu bleiben. Er zitiert Seneca, der gesagt hat, wenn es das Amt der Philosophie sei, Erfindungen zu machen und die Menschen über den Gebrauch ihrer Hände zu belehren, statt ihre Seelen zu bilden, so könne man auch ebensogut behaupten, daß der erste Schuhmacher ein Philosoph gewesen sei, und fügt hinzu: »Was uns betrifft, so würden wir uns, wenn wir zwischen dem ersten Schuhmacher und dem Verfasser der Bücher Über den Zorn zu wählen hätten, für den Schuhmacher entscheiden. Es mag schlimmer sein, zornig zu werden als naß zu werden. Aber die Schuhe haben Millionen vor dem Naßwerden bewahrt, und wir bezweifeln, ob es Seneca gelungen ist, einen einzigen Menschen vor dem Zorn zu bewahren.« Es wird nicht nötig sein, auf diese Erörterung näher einzugehen: die Geschichte aller Religionen lehrt, daß die Philosophie imstande ist, die Menschen gegen Ärgeres zu wappnen als gegen Nässe und Zorn; und zugleich lehrt diese Deduktion, was für eine Art von Philosophie Bacon in seinen Schülern schließlich erzeugt hat und erzeugen mußte: eine Philosophie für Schuster oder, um es vornehmer auszudrücken, für Erfinder von Fußbekleidungssystemen und Nässeschutzapparaten. Macaulay fährt fort: »Wenn der Baum, den Sokrates pflanzte und Plato pflegte, nach seinen Blüten und Blättern beurteilt werden soll, so ist er der edelste aller Bäume. Aber wenn wir den einfachen Probierstein Bacons anwenden und den Baum nach seinen Früchten beurteilen, wird unsere Meinung vielleicht weniger günstig ausfallen. Wenn wir alle nützlichen Wahrheiten, die wir jener Philosophie verdanken, zusammenzählen, wie hoch wird sich ihre Summe belaufen?... Ein Fußgänger kann in einer Tretmühle eine ebenso große Muskelkraft entfalten wie auf einer Landstraße. Aber auf der Landstraße wird seine Kraft ihn vorwärts bringen, während er in der Tretmühle nicht um einen Zoll von der Stelle rückt. Die alte Philosophie war eine Tretmühle und kein Weg.« In diesen Sätzen haben wir die ganze utilitaristische Philosophie, die sich von Bacon herleitet, im Extrakt. Macaulay weist den Gedanken weit von sich, daß der Zweck eines Baumes im Blühen bestehen könne. Bäume sind offenbar ausschließlich dazu geschaffen, um den Menschen Früchte zu liefern, und Philosophien, um ihnen nützliche Wahrheiten abzuwerfen. Es fällt Macaulay nicht ein, während er diese Wahrheiten sammelt, daß Nutzen und Wahrheit zweierlei Dinge sind, ja in den meisten Fällen einander ausschließen: kein Wunder, daß die Bilanz Platos so ungünstig ausfällt. Wahrheiten haben nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie den Menschen durch ihre Früchte fetter machen. Blüten nur eine Existenzberechtigung als Vorstadien dieser Nährprodukte, Blätter sind zu nichts gut als zum Verbrennen und Heizen, eine Philosophie, die sich Selbstzweck ist, hat gar keinen Zweck. Wer sich mit derlei müßigen Spekulationen abgibt, wandelt in einer Tretmühle, er vergeudet seine Muskelkraft, während er sie auf der Landstraße sehr vorteilhaft und fortschrittlich verwenden könnte, zum Beispiel zum Düngertransport oder zum Ausmessen der Länge der Landstraße; aber offenbar ist ein Spaziergänger, der wandert, um die Schönheiten des Weges kennenzulernen oder um einfach seine lebendigen Energien spielen zu lassen, ebenso sinnlos und wertlos wie ein Mühlentreter, und eine Philosophie, die dergleichen tut, ist Narretei oder Vagabondage.
Wenn nun Bacons Philosophie im Grunde eine Antiphilosophie und dabei nicht neu und nicht einmal wissenschaftlich brauchbar war, welchem Umstande verdankte sie die ungeheuere Wirkung, die sie auf ihr Zeitalter und sogar auf die Nachwelt ausgeübt hat? Denn irgendwelche Qualitäten muß sie doch gehabt haben. »Die Natur«, sagt Emerson, »läutert ununterbrochen ihr Wasser und ihren Wein: kein Filter kann vollkommener sein. Was für eine furchtbare Überprüfung muß ein Werk durchgemacht haben, damit es nach zwanzig Jahren wieder erscheinen darf, und wenn es gar nach einem Jahrhundert wieder gedruckt wird! Dann ist es, als ob Minos und Rhadamanthys ihr Imprimatur gegeben hätten.« Die Menschheit pflegt ihre Ehrungen nicht zu verschenken. Ex nihilo nihil fit: wo Rauch ist, muß Feuer sein oder doch gewesen sein.
Ein Hauptgrund für die außerordentliche Wirkung Bacons liegt zunächst darin, daß er der größte Schriftsteller seines Zeitalters und überhaupt einer der vollkommensten englischen Prosaisten gewesen ist. Er besaß das Geheimnis, Farbigkeit mit Durchsichtigkeit und Fülle mit Klarheit zu verbinden. Was seine Feder beschrieb, das umriß sie mit unvergeßlich scharfen und leuchtenden Zügen. Schon von den Parlamentsreden des jungen Bacon sagte Ben Jonson, ihre Urteile seien so gehaltvoll und ernst, ihre Wendungen so anmutig und leicht, ihre Gedanken so streng und durchgearbeitet gewesen, daß er die Aufmerksamkeit aller Zuhörer fortwährend spannte und jeder den Augenblick fürchtete, wo er aufhören werde. Das Grundwesen seines Stils ist ein gediegener Prunk: Glanz, Reichtum und Kolorit leben bei ihm nicht auf Kosten der Solidität, Gründlichkeit und Ordnung. Seine Bildersprache ist eine ganz andere als die Shakespeares: bei diesem herrscht eine gejagte Bilderflucht, die eine ganze Welt von sich kreuzenden und überstürzenden Gleichnissen zusammenzuraffen sucht, bei Bacon saubere Porträtplastik, die treffend veranschaulichen will; Shakespeares Metaphern dienen der Suggestion, Bacons Metaphern der Verdeutlichung. Er sagt zum Beispiel von der Philosophie, ein Tropfen aus ihrem Becher führe zum Unglauben, leere man aber den Becher bis auf den Grund, so werde man fromm, und von der Ethik, sie habe bisher nur kalligraphische Vorschriften gezeigt, aber nicht gelehrt, wie man beim Schreiben die Feder führen soll; er vergleicht die Weisheit der Griechen mit einem Kinde, das fertig zum Schwatzen, aber unkräftig und unreif zum Zeugen sei, die mittelalterliche Wissenschaft mit einer gottgeweihten Nonne, die in ein Kloster gesperrt wurde und unfruchtbar geblieben sei, die Werke des Aristoteles mit leichten Tafeln, die sich auf dem Strome der Zeit durch ihr geringes Gewicht über Wasser gehalten hätten, während das Schwerere und Gehaltvollere versunken sei, und die Wahrheit mit dem nackten hellen Tageslicht, das die Masken, Mummereien und Prunkzüge der Welt nicht halb so schön und stattlich zeige wie das Kerzenlicht der Lüge. Sehr einprägsam sagt er in der Schrift »De dignitate et augmentis scientiarum«: die Natur erscheine uns in direktem Licht, Gott, den wir nur durch die Natur zu erkennen vermögen, in gebrochenem Licht und unser eigenes Wesen, zu dem wir durch die Selbstbespiegelung gelangen, in reflektiertem Licht, und im »Novum Organon«: die bloße Erfahrung mache es wie die Ameisen, die nur zu sammeln verstehen, der sich selbst überlassene Verstand wie die Spinnen, die aus sich ihr Gewebe hervorbringen, die denkende Erfahrung aber wie die Bienen, die zugleich sammeln und sichten; und berühmt ist sein Ausspruch: wenn wir aus dem Reich der Natur in das Reich der Offenbarung gelangen wollen, so müssen wir aus dem Boot der Wissenschaft, worin wir die Welt umsegelt haben, in das Schiff der Kirche steigen. Solche glückliche Bilder, die ihm wie von selbst zuströmten, durchdrangen alle seine Schriften, machten alle von ihm erörterten Gegenstände anziehend und anschaulich und belebten sogar seine Konversation: so sagte er zum Beispiel zu Essex, sein herrisches Benehmen gegen die Königin gleiche den heißen Wasserkuren, die wohl bisweilen helfen, aber fortgesetzt schaden, und Kriegsruhm und Volksgunst seien wie die Schwingen des Ikarus mit Wachs befestigt.
Den zweiten Grund für die Wirkung Bacons haben wir bereits erwähnt. Er hat den Willen der Zeit, der leidenschaftlich nach Wissen und Macht strebte, in zündenden Devisen, schlagenden Formeln und weithin leuchtenden Signalen zum Ausdruck gebracht, er hat seinem Jahrhundert die präzisen Stichworte gegeben. Seine Bedeutung war daher, in dem besten Sinne, den dieses Wort haben kann, eine journalistische. Er war der klare glänzende Spiegel, in dem der elisabethinische Mensch mit Vergnügen sein Porträt erblicken durfte, ja noch mehr: er hat den Typus des englischen Menschen, der sich erst im Laufe der späteren Generationen voll ausprägen sollte, vorauskonzipiert. Hier steht er bereits vor uns: der kühle, wohlinformierte, weitblickende Engländer mit seinem leidenschaftlichen Positivismus, seinem praktischen Genie, seiner gesunden Mischung aus Konsequenz und Anpassungsfägigkeit, seinem welterobernden Tatsachensinn; Gentleman, Gelehrter und Weltreisender in einer Person, in der einen Hand den Kompaß, in der anderen die »Times«.
Das neue Organon, die wahre Enzyklopädie, Instauratio Magna und Geburt der Zeit war aber nicht Bacon, sondern jener Mann, an dem den Mitlebenden nur denkwürdig erschienen ist, daß er einmal wegen Wilderns in Untersuchung war, eines der vielen Londoner Theater mit ziemlich gutem Geschäftserfolg leitete und in seiner Vaterstadt als leidlich begüterter Bodenspekulant starb. Bacon hat ihn in seinen Schriften nicht ein einziges Mal erwähnt, nicht einmal dort, wo er von der dramatischen Poesie redet, die er überhaupt sehr gering einschätzte: was konnte denn auch ein so seriöser Gelehrter und vornehmer Lord, was konnte ein Zeitalter, angefüllt mit Armadasiegen, Kolonialpolitik und wissenschaftlichen Fortschritten, an derlei Komödiantenplunder Bemerkenswertes finden? Aber so machen es die Menschen immer. Sie wollen ihr Leben erhöht sehen, den Sinn der Stunde erklärt wissen, Schönheit erblicken. Sie spähen ängstlich und angestrengt, ob sich nicht am Horizont ein neues Licht zeigt. Es zeigt sich nicht. Denn am Horizont ist es nicht zu finden. Sondern es müßte mitten unter ihnen, neben ihnen, in ihnen selbst aufleuchten. Da aber suchen sie es niemals. Ein Dichter, denken sie, muß aufsteigen wie eine ferne blendende Prachtsonne, in blutigroten pompösen Farben. Es gibt aber keine »pompösen Dichter«. Die echten Dichter gehen immer inkognito umher wie die Könige in den Anekdoten. Sie sprechen mit dem Volk, das Volk antwortet ihnen kaum und sieht an ihnen vorbei. Später kommt dann einer und erklärt den Leuten, wer das eigentlich gewesen sei. Aber inzwischen hat sich der verkleidete König längst davongemacht. Zweihundert Jahre nach Shakespeares Tode kamen einige Menschen und sagten: »Ja wißt ihr denn, wer dieser kleine Schauspieler und Schmierendirektor war? Es war William Shakespeare!« Da waren alle sehr erstaunt, aber Shakespeare hatte sich längst davongemacht.
Shakespeare hat inmitten einer Zeit des Jubels, der Weltwenden und des Glanzes ein stilles, einfaches und fast banales Leben geführt. Er begann als Inspizient und »Hausdichter«, hielt täglich seine Proben, überarbeitete Dramen, schrieb selbst ein paar eigene, grübelte über Kostümrechnungen, Kassenrapporten und Grundbüchern und erreichte erst wenige Jahre vor seinem Tode das höchste Ziel, das er seinem Leben gesetzt hatte: ein sorgenloses Dorfdasein in Stratford, ohne Schminke und ohne Manuskripte. Der Poeta laureatus des Zeitalters war Ben Jonson, ein Mann von stupender Gelehrsamkeit, die er ungemein geschickt in seine Dramen verflocht, ein geschmackvoller Mosaikmaler und scharf gliedernder Logiker, der, weil er sich an der leeren Typenkunst der römischen Dichter fleißig geschult hatte, für einen Klassiker galt und sich selber für einen Hohenpriester der Kunst hielt. Es ist, so sonderbar es uns heute klingen mag, mehr als wahrscheinlich, daß die Zeitgenossen in ihm den Vertreter der hohen Richtung, den Dichter für die Unsterblichkeit erblickten und in Shakespeare den unterhaltenden und packenden Tagesschriftsteller, den Mann für die Galerie.
Die geringe oder falsche Schätzung, die Shakespeare zu seinen Lebzeiten erfahren hat, ist manchen so paradox erschienen, daß sie auf das Auskunftsmittel verfielen, seine Existenz überhaupt zu leugnen. Das ist allerdings eine sonderbare Art, den Widerspruch zu lösen. Denn wenn es schon schwer vorstellbar ist, daß diese beispiellose Schöpferkraft im Dunkel gelebt hat, so ist es völlig unvorstellbar, daß sie überhaupt nicht gelebt haben soll. Diesen Zweiflern muß man erwidern: wer hätte denn diese sechsunddreißig Dramen, deren Gewalt und Fülle bis heute noch niemand erreicht hat, schreiben sollen, wenn nicht Shakespeare? Vielleicht hieß er nicht Shakespeare: was kümmert uns seine Adresse! Aber vorhanden muß er doch gewesen sein. Shakespeare ist auf uns gekommen in der untrüglichsten und sichersten Form, in der der Genius sein Leben bezeugen kann: durch seine Geisteswerke. Seine Dramen sind der evidenteste Beleg für seine Existenz. So viele haben ihre Meldezettel, Geburtsatteste und Totenscheine und sind nicht gewesen, haben niemals gelebt vor dem Antlitz der Geschichte. Shakespeare ist von keinem Seelsorger, Magistratsbeamten und Bezirksarzt bescheinigt und lebt.
Und doch würden wir viel darum geben, noch heute ein wenig in der Seele dieses myriad minded man, wie ihn Coleridge so schön nennt, ein wenig lesen zu dürfen. Aber seine Seele schweigt in seinen Werken: sie hat sich verflüchtigt in den tausendköpfigen farbensprühenden Zug seiner Gestalten. Viele halten den »Macbeth« für die stärkste dramatische Blase, die dieser Planet bisher ausgeworfen hat, und doch wissen wir bis zum heutigen Tage noch nicht, was Shakespeare damit beabsichtigt hat: wollte er ein Zugstück schreiben, dessen gedrängten Schreckwirkungen das Publikum willenlos erliegen müsse, oder in einem Helden, der ganz Tat ist, ein Gegenstück zum Hamlet schaffen oder einen der schottischen Stoffe, die durch die Thronbesteigung Jakobs aktuell geworden waren, neu und effektvoll appretieren oder die letzten Weisheiten über Weltlauf und Schicksal verkünden, die sich ihm auf dem Scheitel seiner Erdenbahn enthüllt hatten? Alle diese Fragen sind ebenso viele Philistrositäten. Was bei Shakespeare zurückbleibt, selbst bei seinen primitivsten Gelegenheitslustspielen, ist immer eine große Irrationalität. Die geheimnisvolle dreifache Erscheinungsform des Genies, von der wir in der Einleitung sprachen, zeigt sich an Shakespeare in besonders suggestiver Weise. Er ist der kompletteste und intensivste Ausdruck seiner Zeit; er hat seine Zeit, obgleich sie die Quelle dieser Kraftwirkungen übersah, aufs gebieterischste und nachhaltigste influenziert; aber am stärksten ist doch der Eindruck, daß er selbst hinter allen diesen Wechselbeziehungen als unergründliche einmalige Absurdität thront. Wollte man den Versuch wagen, das Wesen dieses unfaßbaren Menschen in einem einzigen Wort auszudrücken, so könnte man vielleicht sagen: er war der vollkommenste Schauspieler, der je gelebt hat. Er war der leidenschaftlichste und objektivste, hingegebenste und souveränste Charakterdarsteller der menschlichen Natur, aller ihrer Höhen und Niederungen, Flachheiten und Abgründe, Zartheiten und Bestialitäten, Träume, Taten und Widersprüche. Er ist der roheste Schlächter und der femininste Gefühlsmensch, der feinste Artist und der geschmackloseste Barbar, der, gleich den Edelleuten seiner Zeit, mit einer Überfülle von Juwelen prunkt, er schreckt vor nichts zurück und bevorzugt nichts: denn alles ist ja nur eine Rolle, die möglichst glaubhaft und möglichst einprägsam vorgetäuscht werden will. Deshalb ist er auch völlig skrupellos in der Verwendung fremden Eigentums, den Begriff Plagiat kennt er nicht, er nimmt die Texte, wo er sie findet, in dem Vertrauen, daß dadurch, daß er sie aufsagt, etwas Besseres herauskommen wird, als diese Texte jemals waren. Er selbst aber erscheint nie, und wenn er eines Tages das ganze Repertoire der Menschheit heruntergespielt haben wird, dann wird er seine glitzernde Puppenbühne schließen, ins Dunkel der Nacht hinaustreten und den Blicken der Zuschauer für immer entschwinden.
Dieses Bühnengenie mußte seine Phantasiewelt, die alles enthielt, was es gibt, und daneben noch so ziemlich alles, was es nicht gibt, in einer bretternen Matrosenschenke realisieren und, was noch merkwürdiger ist, dieser erotischste aller Dramatiker hatte ein Theater ohne Weiber. Aber das Allersonderbarste ist doch, daß in seinen Dramen, die sich ohne jede Szenerie behelfen mußten, die stumme Außenwelt auf Schritt und Tritt als ein wirksamer Faktor in die Entwicklung eingreift und die Schicksale der Menschen fast wie eine handelnde Person bestimmt. Die Lokalität ist bei Shakespeare stets so stark mitgemalt und so organisch mit den Vorgängen verknüpft wie bei keinem einzigen der modernen Dramatiker, denen alle Mittel der Illusion zu Gebote standen. Zum Beispiel die erste Szene im »Hamlet«: hier ist die Umwelt geradezu ein Stück der Exposition. Man fühlt es: wer diesen Schauplatz betritt, muß Hamlets Vater erblicken, aus dem Grauen und Dunkel wächst das Gespenst förmlich hervor. Oder die Nacht im »Macbeth«: sie ist sozusagen der Hauptintrigant. Oder man denke an die sturmumbrauste Heide im »Lear«, an die aus Blumenduft, Mondschein und Nachtigallenschlag gewobene Atmosphäre in »Romeo und Julia«, an die magische Waldwelt im »Sommernachtstraum«. In eigentümlich pantheistischer Weise spielt die Natur überall mit, läßt geheimnisvoll aus ihrem Schoße Gefühle und Taten heraufsteigen.
Damit hängt es zusammen, daß Shakespeare einer der größten Dichter des Unbewußten geworden ist, der dumpfen und dunklen Triebe, die die wahren Motoren unserer Handlungen sind und sich doch unserer Lenkung fast gänzlich entziehen. Daher kommt auch die elementare Wirkung seiner Dramen, die den Charakter von Urgeschehnissen, von Naturereignissen an sich tragen, daher sein unnachahmlicher Realismus, der nicht aus den Oberflächen, sondern aus den Tiefen kommt. Daher auch seine Undeutbarkeit, die er mit dem Leben selbst teilt. Wir sahen vorhin, daß der Montaignemensch, indem er tiefer als bisher in die schwarzen Schachte der menschlichen Seele hinabgrub, notwendig zum Agnostizismus gelangen mußte: ein ähnliches Weltgefühl macht auch Shakespeares Dramen so chaotisch. Dies erstreckt sich auch auf die äußere Form: Shakespeare ist der Dramatiker der bunten Szenenfolge, der aufgelösten Architektur; gerade dies aber macht sein Theater unsterblich. Denn das »starre System« des Klassizismus kann nur so lange leben, als die Leidenschaft für rationalistische Gliederung den Kunstsinn beherrscht, Shakespeares Bühnenform aber hat allen Zeiten etwas zu sagen, und nicht bloß allen Zeiten, sondern auch allen Ständen, Altersklassen und Bildungsgraden: sie verhält sich zum klassischen Drama ähnlich wie die Kolportagegeschichte zum Kunstroman, die ebenfalls unsterblich ist, wenn sie auch zu allen Zeiten totgesagt wurde. Devrient nennt in seiner »Geschichte der deutschen Schauspielkunst« Shakespeares Dramen »die höchste Verherrlichung des mittelalterlichen Dramas«. Und so verhält es sich in der Tat. Dieses mittelalterliche Drama war bei aller Unbeholfenheit der Technik und Dürftigkeit der Individualisierung ein Fund und Treffer, die Entdeckung der wahren, allein lebensvollen und allein lebensberechtigten Form des Dramas. Bilderflucht und Gestaltenflucht, Mystik und Supranaturalismus sind das innerste Wesen aller Theaterkunst. Es ist ja auch der letzte große Theatermagier, den die europäische Kultur hervorgebracht hat, wiederum, wenn auch auf Umwegen, zu dieser ewigen Form zurückgekehrt; denn wenn sich Ibsen auch bisweilen der klassischen Einheit des Ortes und der Zeit bedenklich zu nähern scheint, so ist das doch nur eine optische Täuschung: daß die Kulisse stehen bleibt, ist eine belanglose Äußerlichkeit, die Handlung selbst aber in ihrer bunten Verwickeltheit und Vielfältigkeit, in ihren tausendfachen Wechselbeziehungen, die auch Vergangenheit und Zukunft fast körperlich mitspielen lassen, ist aus einem romantischen Kunstgefühl geboren, und was den Supranaturalismus anlangt, so vermögen wir heute, aus der Entfernung eines Menschenalters sehr deutlich zu erkennen, daß sich Dichtungen wie die »Gespenster« oder »Rosmersholm« nur durch ihren modernen und daher raffinierten Apparat von Zaubermärchen unterscheiden.
Shakespeares Dramen sind wirkliche Spiele: das macht sie so amüsant. In ihnen ist das ganze Dasein als Traum, als Maskerade oder, bitterer ausgedrückt, als Narrenhaus konzipiert. Taten sind Tollheit: dies ist die Kernweisheit aller seiner Dichtungen, nicht bloß des »Hamlet«. Er hat einen ganzen Kosmos von Tatmenschen, eine komplette Zoologie dieser so varietätenreichen Spezies geschaffen; aber er belächelte und verachtete sie alle. Sein ganzes Leben war dem Drama, der Darstellung von Handlungen gewidmet: Abbilder menschlicher Taten zu malen, war der Sinn seiner Erdenmission; und er selbst fand alles Handeln sinnlos. Darin, daß er sich auf diese Weise über seine eigene Tätigkeit erhob, zeigt sich seine höchste Genialität. Seine ganze Weltanschauung ist in seiner Grabschrift enthalten: » We are such stuff as dreams are made of; wir sind aus gleichem Stoff gemacht wie Träume.« Dies scheint mir auch der Sinn des »Hamlet« zu sein: Hamlet ist ein so intensiver Phantasiemensch, daß er alles, was erst noch geschehen soll, in seinen Träumen vorwegnimmt, durchdenkt, zuendedenkt und schließlich zerdenkt; man kann aber eine Sache nur einmal voll erleben: in der Vorstellung oder in der Realität; Hamlet hat ohne seine Schuld und vielleicht sogar gegen seinen Willen das erstere gewählt: er träumt die Welt so stark, daß er sie nicht mehr erleben kann.
Und was war denn dieser Shakespeare selber anderes als ein luftiges Traumgebilde oder flackerndes Lichtspiel, ein zitternder Spuk und Alpdruck, der durch die Welt fuhr, unheimlich und unwirklich, alle bunten Geschehnisse der Wirklichkeit widerspiegelnd und vorüberhuschend wie eine gigantische Sinnestäuschung? Wie ein riesiges Brillantfeuerwerk ging er nieder, den Himmel mit Flammengarben der Leidenschaft und Leuchtkugeln des Witzes färbend und eine unendliche Schleppe von prasselndem Gelächter und glitzernden Tränen hinter sich herziehend.
Die Welt als Traum, die Welt als Mysterium, die Welt als Chaos: dies ist eine Apperzeptionsform, die der Renaissance völlig entgegengesetzt ist. Und Shakespeare bedeutet denn auch in der Tat nicht etwa den Höhepunkt, sondern das Ende und die definitive Auflösung der Renaissance. In den Zeitraum von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs fällt die Agonie der Renaissance. Dies zeigt sich am deutlichsten in ihrem Geburtsland. Genau im Jahre 1550, wie um einen Schlußpunkt zu machen, erscheint Vasaris berühmtes Werk, das die Gesamtleistung der italienischen Renaissancekunst rekapitulierend zusammenfaßt. Aber schon hatten sich bedeutsame Geschmackswandlungen angekündigt: in der häßlichen und blutigen Phantastik der Cellinischen Perseusstatue; in der Begeisterung, mit der neu ausgegrabene Werke von einer so unantik wirkenden wildbewegten Kolossalität wie die farnesischen Skulpturen: die Flora, der Herkules, der Nil begrüßt wurden; in dem Beifall, den die großsprecherischen, hart ans Groteske streifenden Kompositionen Giulio Romanos errangen. Das große Losungswort heißt von nun an nicht mehr Kontur, sondern Bewegung; die Plastik gilt zwar noch immer als Kanon alles Kunstschaffens, aber es ist eine aus allen Maßen geschleuderte, betrunkene Plastik, die nun die Herrschaft antritt. Und dazu kam der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer gebieterischer lastende Druck der allgemeinen Hispanisierung. Wie eine Spinne begann die spanische Großmacht von Norden und Süden her das Land zu umklammern: sie herrschte unmittelbar in Mailand und Neapel, indirekt in Toskana und Mantua, in Piemont und im Kirchenstaat. Durch die Entdeckung Amerikas hatte der Mittelmeerhandel seine zentrale Stellung eingebüßt, die großen Seemächte Venedig und Genua glitten langsam von ihrer Höhe herab und konnten kein Gegengewicht mehr bilden. In Florenz herrschten die Medici nicht mehr als erste Bürger, sondern als Großherzoge. Die neuen Päpste sind nicht mehr prunkliebende weltfreudige Kunstmäcene, sondern feurige Glaubensstreiter und ernste Asketen. Nirgends war man vor der Inquisition sicher. Italien, das Kernland des Klassizismus und des Freigeists, wird romantisch und kirchlich. Aber die meisten machten den neuen Kurs freiwillig mit: die Gegenreformation siegte auch über die Köpfe und Herzen. Tintoretto ist bereits der vollendetste Maler jener starren Eiswelt besinnungsloser Unterwerfung unter Staat und Kirche, die nur von den unheimlichen Strahlen eines ekstatischen Glaubens erhellt wird. Vergeblich suchten die Caracci den Geist der Antike am Leben zu erhalten, um so vergeblicher, als sie selbst unbewußt von dem neuen Geist ergriffen waren. 1583 kam die Niobegruppe ans Tageslicht, ein pathetisches und larmoyantes Werk der griechischen Dekadenz; ihre Spuren sind noch in den religiösen Bildern Guido Renis zu erkennen, deren verzuckerte Sentimentalität geradezu blasphemisch wirkt. Unter dem Eindruck der Beschlüsse des Konzils von Trient schuf der größte Musiker des Zeitalters den nach ihm benannten streng kirchlichen Palestrinastil. Francesco Braccioloni erlangte mit seinem burlesken Gedicht »Lo scherno degli Dei«, worin er die antike Mythologie travestiert, die größte Popularität, und Tassonis Epos »La secchia rapita«, das die olympischen Götter auf offenbachische Manier verspottet, war in ganz Europa berühmt: Venus ist darin eine mondäne Lebedame, Jupiter ein träger alter Wichtigtuer, die Parzen backen Brot, Merkur trägt eine Brille, Saturn hat Schnupfen und eine rote Nase; das Ganze ist eine offenkundige Parodie auf alle antikisierenden Kunstrichtungen. Zugleich macht die Wildheit der menschlichen Natur, die fast ein Jahrhundert lang künstlich zurückgedämmt war, wieder ihre Rechte geltend: etwas Bestialisches und Plebejisches kommt in die Kunst. Caravaggio, der größte Meister dieses Zeitraums, hat die Existenz eines lebensgefährlichen Rowdys geführt und hieß »der Maler der schmutzigen Füße«. Man malt am liebsten den anarchischen Menschen und die entfesselte Natur: Briganten, verrufenes lärmendes Gesindel, wüstes rauhes Felsgeklüft, aufgeregte Gewässer, Gewitter und Sturm. Europa treibt dem Dreißigjährigen Krieg entgegen.
Dieser Krieg war, als Produkt der hemmungslosen Roheit, des engstirnigen Partikularismus und des fanatischen Theologengezänks, die stärkste und sinnfälligste Zusammenfassung der bisherigen Entwicklung und darum eine Art Schlußpunkt, aber doch auch, wie jede Krisis, der Anfang von etwas Neuem. Er ist die große Wasserscheide, die zwei Weltalter trennt und verbindet, weshalb seine Behandlung besser dem nächsten Buch vorbehalten bleibt.
Wir haben gesehen, wie der europäische Mensch durch den Sieg des Nominalismus und durch das große Trauma der Schwarzen Pest einen ungeheuren Choc erlitt, der sich in einer mehr als hundertjährigen Psychose entlud, einer Psychose der Erwartung; wie am Schlusse dieser Inkubationsfrist der Mensch der Neuzeit endlich ans Licht trat: noch unklar, unreif und unsicher, voll Atavismen, Reminiszenzen und Rezidiven, aber schon deutlich sein Wesen verratend, das in einem extremen, exklusiven, selbstherrlichen Rationalismus oder, was dasselbe ist, Sensualismus bestand; wie er in der Renaissance die Kunst und die Philosophie, in der Reformation die Religion und den Staat säkularisierte und schließlich zusammenfassend den ersten Versuch machte, die ganze Erscheinungswelt dem ordnenden, sichtenden, rechnenden Verstande zu unterwerfen, indem er das souveräne Wissen als die einzige legitime Macht proklamierte. Aber dies alles geschah noch tastend und unvollkommen, blieb überall in der Tendenz, im Ansatz, im Entwurf stecken. Ein neuartiges großes Trauma schließt diese Werdeperiode ab. Deshalb beginnt die wahre Neuzeit erst nach dem Westfälischen Frieden, und was wir bisher zu erzählen versucht haben, war nur das Vorwort und Vorspiel, gleichsam die Prähistorie der Neuzeit.
Die folgenden Jahrhunderte bringen dann den definitiven, umfassenden und völlig bewußten Sieg der Verstandeskultur. Sie tragen daher auch eine viel einheitlichere Signatur als die bisherigen Stufen der Neuzeit: die Kristallisationsgedanken werden uns mächtiger und klarer, die verdichtenden Persönlichkeiten reicher und zahlreicher und die einander ablösenden Lebensstile so scharf geprägt und umrissen entgegentreten, wie wir dies bisher nur ein einziges Mal, nämlich bei der italienischen Hochrenaissance, beobachten konnten.
Der Verstand, der zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts erwachte und im Laufe des Jahrhunderts seine Herrschaft immer mehr ausbreitete und befestigte, beginnt um die Wende des Jahrhunderts zu stutzen und während der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts an sich irre zu werden; er bemerkt die Widersprüche des Daseins, die Täuschungen des Daseins, die Leiden des Daseins: lauter Probleme, die sich seiner Auflösung entziehen, und wirft sich abermals in die Arme der Religion. Aber er bleibt doch da, läßt sich nicht einfach auslöschen. Wie kann man nun gleichzeitig der Realist und Verstandesmensch sein, der man nun einmal ist, und der Supranaturalist und homo religiosus, der man doch gerne sein möchte? Wie lassen sich diese beiden äußersten Enden zusammenknüpfen, diese beiden extremsten Gegensätze menschlichen Wesens verschmelzen? Mit dieser Frage und dem Versuch, sie zu beantworten, befinden wir uns bereits mitten in der Barocke.