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Zweites Kapitel

Die Seele des Mittelalters

Wie die Welt noch im Finstern war, war der Himmel so hell, und seit die Welt so im Klaren ist, hat sich der Himmel verfinstert.
Johann Nestroy

Die »Romantik« des Mittelalters

Jenes tausendjährige Reich der Glaubensherrschaft, das wir unter dem Namen »Mittelalter« zusammenzufassen pflegen, wird um des Mitte des vierzehnten Jahrhunderts plötzlich Vergangenheit. Seine repräsentativsten Schöpfungen, die seinen Glanz und sein Lebensmark bilden: Scholastik, Gotik, Erotik schrumpfen ein, verkalken, etiolieren. Dieses medium aevum, das für die Historiker lange Zeit nichts war als eine Verlegenheitskonstruktion, ein flüchtig gezimmerter Notsteg, um vom Altertum in die Neuzeit zu gelangen, hat gleichwohl eine so scharf geprägte, deutlich gegen Vorwelt und Nachwelt abgesetzte Eigenart wie wenige Zeitalter: das hat seinen Grund in erster Linie darin, daß es damals noch eine internationale Kultur gab, die in ihren wesentlichen Zügen eine Einheit bildete.

Was wir die Romantik des Mittelalters zu nennen heben, ist vielleicht nicht der wichtigste, aber der hervorstechendste und unserem Bewußtsein vertrauteste von diesen Zügen. Eine merkwürdige Leuchtkraft strahlt von den damaligen Zuständen auf uns aus. Das Leben jener Zeit hatte offenbar noch schneidendere Kontraste: hellere Glanzlichter und tiefere Schlagschatten, frischere und sattere Komplementärfarben, während unser Dasein dafür wieder perspektivischer, reicher an Halbtönen, gebrochener und nuancierter verläuft. Der Grund für den Unterschied hegt zum Teil darin, daß die Menschen damals unbewußter und kritikloser lebten. Das Mittelalter erscheint uns düster, beschränkt, leichtgläubig. Und in der Tat: damals glaubte man wirklich an alles. Man glaubte an jede Vision, jede Legende, jedes Gerücht, jedes Gedicht, man glaubte an Wahres und Falsches, Weises und Wahnsinniges, an Heilige und Hexen, an Gott und den Teufel. Aber man glaubte auch an sich. Überall sah man Realitäten, selbst dort, wo sie nicht waren: alles war wirklich. Und überall sah man die höchste aller Realitäten, Gott: alles war göttlich. Und über alles vermochte man den Zauberschleier der eigenen Träume und Räusche zu breiten: alles war schön. Daher trotz aller Jenseitigkeit, Dürftigkeit und Enge der prachtvolle Optimismus jener Zeiten: wer an die Dinge glaubt, ist immer voll Zuversicht und Freude. Das Mittelalter war nicht finster, das Mittelalter war hell! Mit einer ganzen Milchstraße, die der Rationalismus in Atome aufgelöst hat, können wir nicht das geringste anfangen, aber mit einem pausbackigen Engel und einem bockfüßigen Teufel, an den wir von Herzen glauben, können wir sehr viel anfangen! Kurz: das Leben hatte damals viel mehr als heute den Charakter eines Gemäldes, eines Figurentheaters, eines Märchenspiels, eines Bühnenmysteriums, so wie noch jetzt unser Leben in der Kindheit. Es war daher sinnfälliger und einprägsamer, aufregender und interessanter, und in gewissem Sinne realer.

Das Leben als Abenteuer

Zu diesen inneren Momenten kamen noch einige äußere, um das Dasein bildhafter und traumähnlicher zu gestalten. Zunächst mangelte es an fast allen Erleichterungen und Beschleunigungen des Daseins, die die seitherige Entwicklung der Technik bewirkt hat. Jede technische Erfindung ist aber ein Stück rationalisiertes Leben. Die Ausnützung der Dampfkraft hat in unsere friedlichen, die Verwendung des Schießpulvers hat in unsere kriegerischen Unternehmungen ein unpersönliches Element der Ordnung, Uniformität und Mechanisierung gebracht, das jenen Zeiten fehlte. Kampf war für die Menschen des Mittelalters noch eine pittoreske Betätigungsform, an der sich ihre Phantasie entzünden konnte. Soweit sie nicht Krieg führten, verbrachten sie ihr Leben mehr oder weniger im Müßiggang: entweder im wirklichen wie die zahllosen Ritter, Bettler und Spielleute oder im gelehrten wie die Kleriker; und hierin hegt wiederum etwas Poetisches. Ferner war die Natur noch lange nicht in dem Maße dem Menschen unterworfen, sozusagen domestiziert, wie heutzutage; sie war noch wirkliche Natur, Wildwest: herrlich und schrecklich, ein wundervolles und schauervolles Geheimnis. Und es gab keine Zeitungen, keine Flugschriften, ja eigentlich auch keine Bücher; alles ruhte in der mündlichen Tradition. Und schon hierdurch hätte, auch wenn die Menschen nicht so wortgläubig, ja wortabergläubisch gewesen wären, wie sie es in der Tat waren, eine große Freiheit und Phantastik der Überlieferung entstehen müssen: selbst in unserem heutigen erleuchteten Zeitalter der allgemeinen Schulpflicht, der vorurteilslosen Forschung und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung werden nicht zwei Personen über ein noch so einfaches und alltägliches Ereignis, dessen Zeugen sie waren, genau dasselbe berichten. Und nicht bloß auf diesem Gebiete herrschte völlige Unsicherheit, sondern überhaupt auf allen: der Begriff der modernen Sekurität war dem Mittelalter fremd. Jede Reise war ein gewichtiger Entschluß, wie etwa heutzutage eine schwere medizinische Operation; jeder Schritt war umlauert von Gefahren, Eingriffen, Zwischenfällen: das ganze Leben war ein Abenteuer.

Psychose der Geschlechtsreife

Man kann, wenn man will, das Mittelalter die Pubertätszeit der mitteleuropäischen Menschheit nennen, die tausendjährige Psychose der Geschlechtsreife in der Form verschlagener Sexualität: als in Gynophobie verschlagene Sexualität im Mönchswesen, als in Lyrik verschlagene Sexualität im Minnesängertum, als in Algolagnie verschlagene Sexualität im Flagellantismus, als in Hysterie verschlagene Sexualität im Hexenwesen, als in Rauflust verschlagene Sexualität in den Kreuzzügen. Der entscheidende Grundzug des Pubertätsalters besteht jedoch darin, daß es fast jeden Menschen zum Dichter macht. Worin unterscheidet sich nun die dichterische Anschauung sowohl von der wissenschaftlichen als von der praktischen? Dadurch, daß sie die ganze Welt der Erscheinungen symbolisch nimmt. Und genau dies war der beneidenswerte Zustand der mittelalterlichen Seele. Sie erblickte in allem ein Symbol: im Größten wie im Kleinsten, in Denken und Handeln, Lieben und Hassen, Essen und Trinken, Gebären und Sterben. In jedes Gerätstück, das er schuf, in jedes Haus, das er baute, in jedes Liedchen, das er sang, in jede Zeremonie, die er übte, wußte der mittealterliche Mensch diese tiefe Symbolik zu legen, die beseligt, indem sie zugleich bannt und erlöst. Darum war er auch so weit und leicht den Lehren der katholischen Religion geöffnet, die nichts anderes ist als ein sinnvoll geordnetes System reinigender und erhöhender Symbole der irdischen Dinge.

Der heilige Hund

Daß die seelische Palette des mittelalterlichen Menschen noch keine Übergänge hatte, ist ebenfalls eine an Pubertät erinnernde Eigentümlichkeit; hart und unvermittelt lagen die grellsten Farben nebeneinander: das purpurne Rot des Zornes, das strahlende Weiß der Liebe und das finstere Schwarz der Verzweiflung. Züge von höchster Zartheit und Milde finden sich neben Handlungen gedankenloser Roheit, die unseren Abscheu erregen würden, wenn wir sie nicht als Ausströmungen kindlicher Impulsivität werten müßten. Auch das äußere Benehmen der damaligen Menschen hatte noch viel von dem der Kinder. Zärtlichkeitsausbrüche sind etwas ungemein Häufiges, Umarmungen und Küsse werden bei jedem erdenklichen Anlaß gewechselt, und auch oft ohne Anlaß; die Tränen fließen leicht und reichlich. Überhaupt spielt die Gebärdensprache im Haushalt der Ausdrucksmittel eine viel größere Rolle, sie hat noch den Primat: auch hier wird eben noch viel stärker und inniger als von den später Geborenen die ernste Symbolik empfunden, die in jeder Gebärde liegt. Aber daneben besaßen jene Menschen auch die Aufrichtigkeit und Ursprünglichkeit des Kindes, sie standen noch in einer elementaren Beziehung zur Natur: zu Wiese und Wald, Wolke und Wind, und besonders ihre leidenschaftliche Liebe zu den Tieren hat etwas ungemein Rührendes. Überall: in Skulptur und Ornament, in Satire und Legende, zu Hause und bei Hofe feiern sie ihre weisen und heiteren Brüder, die ihnen vollkommen wesensgleich erscheinen und in denen sie sogar vollwertige juristische Personen erblicken, die als Zeugen und bisweilen auch als Verbrecher vor Gericht zitiert werden. Und es ist einer der schönsten Züge, die uns aus dem Mittelalter überliefert werden, daß ein Hund, der für das Kind seines Herrn sein Leben geopfert hatte, vom Volk sogar als Märtyrer und Heiliger verehrt wurde. Es erfaßt uns dieser Welt gegenüber eine Empfindung, die der Erwachsene so oft bei Kindern hat: daß sie etwas wissen, das wir nicht wissen oder nicht mehr wissen, irgendein magisches Geheimnis, ein Gotteswunder, in dem vielleicht der Schlüssel unseres ganzen Daseins liegt.

Kein Verhältnis zum Geld

Einen infantilen Zug können wir auch darin erblicken, daß der mittelalterliche Mensch kein rechtes Verhältnis zum Geld hatte. Sehr liebenswürdig drückt dies Sombart aus, indem er sagt: »Man hat zur wirtschaftlichen Tätigkeit seelisch etwa dieselben Beziehungen wie das Kind zum Schulunterricht.« Dies bedeutet zweierlei: die Arbeit ist bloße Sache des Ehrgeizes; und sie wird überhaupt nur geleistet, wenn es unbedingt sein muß. Dem mittelalterlichen Handwerker war das Wichtigste die Güte und Solidität der Leistung: Begriffe wie Schundware und Massenmanufaktur waren ihm völlig unbekannt; er stand persönlich hinter seinem Werk und trat dafür mit seiner Ehre ein wie ein Künstler. Er konnte es sich aber auch leisten, nicht nur viel gewissenhafter, sondern auch viel fauler zu sein als ein heutiger Arbeiter, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens waren seine Bedürfnisse überhaupt geringer; zweitens waren sie viel leichter zu befriedigen, eventuell auch bei einem völlig arbeitslosen Leben, da das Almosenwesen viel entwickelter war; drittens hätte eine Steigerung über die normale Einkommensstufe hinaus wenig Sinn gehabt, da der Lebensstandard jedes einzelnen ziemlich genau fixiert war und solche Spannungen des wirtschaftlichen Etats, wie sie heutzutage in jedem Provinzstädtchen zu beobachten sind, nicht existierten: jeder Stand hatte sozusagen sein bestimmtes Hohlmaß an Komfort und Genuß zugeteilt; den Stand zu wechseln war aber in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung fast unmöglich, da die Stände als von Gott geschaffene Realitäten angesehen wurden, wie etwa die einzelnen Gattungen des Tierreichs. Die mittelalterliche Wirtschaft ist aus der Agrargenossenschaft hervorgegangen, die auf nahezu kommunistischer Basis ruhte; aber auch in ihrer späteren Entwicklung zeigt sie in den von ihr geschaffenen Organisationen: in den Zünften der Handwerker, in den Gilden der Kaufleute die Tendenz nach einer ökonomischen Gleichstellung oder doch wenigstens einer Angleichung ihrer Mitglieder: man erwirbt, um zu leben, und lebt nicht, um zu erwerben. Außerdem hatte sich durch das ganze Mittelalter, das das Evangelium eben noch ernst nahm, das mehr oder minder stark ausgeprägte Gefühl erhalten, daß der Mammon vom Teufel sei, wie denn auch das Zinsnehmen stets religiöse Bedenken erregte. Und schließlich war diese jugendliche Welt überhaupt noch von der gesunden Empfindung durchdrungen, daß die Arbeit kein Segen, sondern eine Last und ein Fluch sei. Man denke sich aber nun, welchen Unterschied in der gesamten Gefühlslage einer Kultur es ausmachen muß, wenn das Geld nicht die allgemeine Gottheit ist, der jeder willenlos opfert und die alle Schicksale souverän modelt und lenkt.

Universalia sunt realia

Aber wenn diese Menschen Kinder waren, so waren sie jedenfalls sehr kluge, begabte und reife Kinder. Die Ansicht, daß sie in einer dumpfen Gebundenheit gelebt und geschaffen hätten, läßt sich zumindest für das hohe Mittelalter nicht aufrechterhalten. Sie waren äußerst klare Denker, helle Köpfe, Meister des kunstvollen Schließens und Folgerns, Virtuosen der Begriffsdichtung, in ihrer Baukunst voll konstruktiver Kraft und Feinheit des Kalküls, in ihrer Plastik von einer bewundernswerten Pracht und Innigkeit der Wirklichkeitstreue und in ihren gesamten Lebensäußerungen von einem Stilgefühl, das seither nicht wieder erreicht worden ist. Ebensowenig stichhaltig ist die Behauptung, daß die Menschheit des Mittelalters aus lauter Typen bestanden habe. Es fehlte in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft keineswegs an scharf profilierten, unverwechselbaren Persönlichkeiten. Die Selbstbekenntnisse eines Augustinus oder Abälard offenbaren eine fast unheimliche Fähigkeit der Introspektion und Selbstanalyse, die eine sehr ausgebildete und nuancierte Individualität zur Voraussetzung hat; die Porträtstatuen zeigen uns Gestalten von machtvollster Eigenart und zugleich die Gabe der Bildhauer, diese Einmaligkeit voll zu erfassen; die Nonne Roswitha hat schon im zehnten Jahrhundert das Drama, die individuellste aller Künste, in fast allen seinen Gattungen: als Historie, als Prosa, als comédie larmoyante, als erotische Tragödie zu hoher Blüte gebracht und Figuren von einer Zartheit und Durchsichtigkeit geschaffen, die geradezu an Maeterlinck erinnert. Das ganze Vorurteil vom »typischen« Menschen des Mittelalters dürfte seinen Grund darin haben, daß es ein eminent philosophisches Zeitalter war. Das bedarf einer kleinen Erläuterung.

Der Zentralgedanke des Mittelalters, gleichsam das unsichtbare Motto, das über ihm schwebt, lautet: universalia sunt realia; nur die Ideen sind wirklich. Der große »Universalienstreit«, der fast das ganze Mittelalter erfüllt, geht niemals um den eigentlichen Grundsatz, sondern nur um dessen Formulierungen. Es gab bekanntlich drei Richtungen, die einander in der Herrschaft ablösten. Der »extreme Realismus« behauptet: universalia sunt ante rem, das heißt: sie gehen den konkreten Dingen vorher, und zwar sowohl dem Range nach wie als Ursache; der »gemäßigte Realismus« erklärt: universalia sunt in re, das heißt: sie sind in den Dingen als deren wahres Wesen enthalten; der »Nominalismus« stellt den Grundsatz auf: universalia sunt post rem: sie sind aus den Dingen abgezogen, also bloße Verstandesschöpfungen, und er bedeutet daher in der Tat eine Auflösung des Realismus: seine Herrschaft gehört aber, wie wir später sehen werden, nicht mehr dem eigentlichen Mittelalter an.

Und nun erwäge man, welche ungeheure Bedeutung es für das allgemeine Weltbild haben muß, wenn überall von der Voraussetzung ausgegangen wird, daß die Universalien, die Begriffe, die Ideen, die Gattungen das eigentlich Reale sind: eine Annahme, die bekanntlich der größte Philosoph des Altertums zum Kernstück seines Systems gemacht hat. Aber Plato hat diese Ansicht nur gelehrt, das Mittelalter hat sie gelebt. Die mittelalterliche Menschheit bildet ein Universalvolk, in dem die klimatischen, nationalen, lokalen Differenzen nur als sehr sekundäre Merkmale zur Geltung kommen; sie steht unter der nominellen Herrschaft eines Universalkönigs, eines Cäsars, der diese Regierung zwar fast immer nur theoretisch ausgeübt, in seinen Ansprüchen aber nie aufgegeben hat, und unter der tatsächlichen Herrschaft einer Universalkirche oder vielmehr zweier Kirchen, die beide behaupten, die universale zu sein: die eine, indem sie sich die allgemeine, die katholische, die andere, indem sie sich die allein wahre, die orthodoxe nennt; sie hat, wie wir bereits sahen, eine Universalwirtschaft, die die Lebenshaltung, Erwerbsgebarung, Produktion und Konsumtion jedes einzelnen möglichst gleichmäßig zu gestalten sucht; sie hat einen Universalstil, der alle Kunstschöpfungen von der Schüssel bis zum Dom, vom Türnagel bis zur Königspfalz durchdringt und gestaltet: die Gotik; sie hat eine Universalsitte, deren Anstandsregeln, Grußformen, Lebensideale überall gelten, wo abendländische Menschen ihren Fuß hinsetzen: die ritterliche Etikette; sie hat eine Universalwissenschaft Die die oberste Spitze, den Sinn und die Richtschnur alles Denkens bildet: die Theologie; sie hat eine Universalethik: die evangelische, ein Universalrecht: das römische, und eine Universalsprache: das Lateinische. Sie bevorzugt in der Skulptur das Ornamentale, also das Begriffliche, in der Architektur das Abstrakte, das Konstruktive, sie reagiert überhaupt gänzlich unnaturalistisch (und zwar ist der mangelnde Naturalismus keineswegs auf mangelndes Können zurückzuführen: daß er im Bereich der technischen Möglichkeit lag, zeigen die Porträtplastiken; wie ja überhaupt Naturalismus niemals einen künstlerischen Höhepunkt bezeichnet, sondern entweder ein roher Anfang ist oder ein absichtliches, programmatisches Zurückgehen auf frühere Stufen); ja selbst die Natur ist für diese Menschen eine Abstraktion, eine vage, fast unwirkliche Idee, die eigentlich nur ein Leben in der Negation führt: als Gegensatz des Reiches des Geistes und der Gnade.

Die Weltkathedrale

So baut sich die mittelalterliche Welt auf als eine wunderbare Stufenordnung von geglaubten Abstraktionen, gelebten Ideen, in feiner und scharfer Gliederung ansteigend wie eine Kathedrale oder eine jener kunstvollen »Summen« der Scholastiker: auf der einen Seite der weltliche Trakt mit seinen Bauern und Bürgern, Rittern und Lehnsleuten, Grafen und Herzogen, Königen und Kaisern, auf der anderen Seite der geistliche Trakt, von dem breiten Fundament aller Gläubigen emporklimmend zu den Priestern, den Äbten, den Bischöfen, den Päpsten, den Konzilien und darüber hinaus zur Rangleiter der Engel, deren höchste zu Füßen Gottes sitzen: eine große, wohldurchdachte und wohlgeordnete Hierarchie von Universalien. Diese Menschheit konnte in der Tat mit vollem philosophischem Bewußtsein und nicht als bloße dialektische Spielerei und Spitzfindigkeit den Satz aufstellen: universalia sunt realia.

Die Physik des Glaubens

Die Herrschaft dieses wirklichkeitsfremden Grundsatzes war nur deshalb so dauerhaft, ja überhaupt möglich, weil die Welt für den mittelalterlichen Menschen kein wissenschaftliches Phänomen war, sondern eine Tatsache des Glaubens. Die geistige Richtschnur war im wesentlichen immer die von Anselm von Canterbury und schon lange vorher von Augustinus aufgestellte Norm: neque enim quaero intelligere, ut credam, sed credo, ut intelligam: ich will nicht erkennen, um zu glauben, sondern glauben, um zu erkennen; »denn eher wird die menschliche Weisheit sich selbst am Felsen des Glaubens einrennen als diesen Felsen einrennen«. Die damaligen Menschen waren eben noch frei von dem modernen Aberglauben, daß der ausschließliche Zweck menschlichen Denkens und Forschern eine möglichst lückenlose Durchdringung und Beherrschung der Erfahrungswelt sei. Was suchten sie zu wissen? Zwei Dinge: Deum et animam! Deum et animam, sagt Augustinus mit vollkommen unmißverständlicher Bestimmtheit, scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino. Physik ist für ihn vor allem die Lehre von Gott; was sie sonst noch lehren kann, ist entbehrlich, da es nichts zum Heile beiträgt. Und drei Vierteljahrtausende später, auf der Höhe des Mittelalters, erklärt Hugo von Sankt Victor, das Wissen habe nur insofern Wert, als es der Erbauung diene, ein Wissen um des Wissens willen sei heidnisch; und Richard von Sankt Victor fügt hinzu, der Verstand sei kein geeignetes Mittel zur Erforschung der Wahrheit. Dies kann uns nur so lange befremden, als wir uns nicht daran erinnern, daß gerade die höchsten Wahrheiten des Christentums übervernünftig sind, aber darum keineswegs wider vernünftig, wie dies der klassische Philosoph des Katholizismus, Thomas von Aquino, klar präzisiert hat, und daß schon an der Schwelle der Kirchengeschichte der berühmte Satz Tertullians steht: » Crucifixus est dei filius; non pudet, quia pudendum est. Et mortuus est dei filius; prorsus credibile est, quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est, quia impossibile est: Gekreuzigt wurde der Gottessohn; das ist keine Schande, weil es eine ist. Und gestorben ist der Gottessohn; das ist glaubwürdig, weil es ungereimt ist. Und begraben ist er auferstanden; das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.« Man kann, wenn man Wert darauflegt, auch hierin wieder einen kindlichen Zug erblicken, denn in der Tat erscheinen den Kindern gerade die ungereimtesten Dinge als die glaubwürdigsten, die unmöglichsten als die gewissesten: sie bringen einem Märchen viel mehr Vertrauen entgegen als einer nüchternen Erzählung und halten überhaupt alle Phänomene, die den Gang der natürlichen Kausalität durchbrechen, nicht nur für die höheren, sondern auch für die realeren. Genau dies war auch die »Physik« des mittelalterlichen Menschen: für ihn war das Wunder das eigentlich Wirkliche, die natürliche Erscheinungswelt nur der blasse Abglanz und wesenlose Schatten einer höheren, lichteren und wahreren Geisteswelt. Kurz: er führte ein magisches Dasein. Und wiederum müssen wir uns fragen, ob ihn hier nicht eine tiefere, obschon dunklere Erkenntnis leitete und er nicht der Wurzel des Geheimnisses näher war als wir.

Alles ist

Jene feinen und gefährlichen Spekulationen wie »Phänomenalismus«, »Skeptizismus«, »Agnostizismus« und dergleichen waren dem Mittelalter durchaus nicht fremd. In den »Selbstgesprächen« des Augustinus finden sich Stellen wie diese: Tu, qui vis te nosse, scis esse te? Scio. Unde scis? Nescio. Simplicem te sentis an multiplicem? Nescio. Moveri te scis? Nescio. Cogitare te scis? Scio. Das ist ganz und gar die Deduktion, mit der Descartes einen neuen Abschnitt des menschlichen Denkens eröffnet hat: Cogito ergo sum. Daß Körper sind, heißt es in den »Konfessionen«, können wir freilich nur glauben; aber dieser Glaube ist notwendig für die Praxis: das ist ganz die Art, wie Berkeley am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts seinen idealistischen Dogmatismus begründet hat. Aber, meint Augustinus, auch zur Erkenntnis des Willens anderer Menschen bedürfen wir des Glaubens: diese Feststellung klingt geradezu schopenhauerisch. Mag es auch kein Übel geben, sagt er ein andermal, so gibt es doch unzweifelhaft die Furcht vor dem Übel: das ist allermodernster Psychologismus. Aber der große Unterschied derartiger Spekulationen von den Untersuchungen der neueren Philosophie besteht eben darin, daß sie sich alle auf dem festen und unverrückbaren Grundstein des Glaubens erheben, daß sie vom Glauben ausgehen, während die Erkenntnistheorie der Neuzeit bestenfalls in den Glauben mündet. Die Schöpfung eine einzige große Heilstatsache, die Welt ein Phänomen des Glaubens: an diesem Elementarsatz hat wohl kaum irgendein mittelalterlicher Mensch jemals gezweifelt. Man hatte eben die Lehre Jesu voll begriffen, deren Kern in der ernsten und einfachen Mahnung besteht, zu glauben; nicht daran zu zweifeln, daß diese Welt ist und daß sie ein Werk Gottes ist; daß alles ist, auch das Geringste und Niedrigste: die Ärmsten und Einfältigsten, die Kinder, die Sünder, die Lilien und Sperlinge; daß dies alles ist, wenn man daran glaubt oder, was dasselbe ist, wenn man es hebt.

Der Szenenwechsel

So gewährt uns das Mittelalter ein eigentümlich widerspruchsvolles Bild. Auf der einen Seite zeigt es uns den Aspekt einer seligen Ruhe, einer majestätischen Mittagsstille, die alles Leben leuchtend und schützend umfängt, und auf der anderen Seite das Schauspiel einer großartigen Unzufriedenheit, einer tiefen inneren Durchwühltheit und Erregung. Wohl lebt und webt alles in Gott und fühlt sich in ihm geborgen; aber wie ihm genügen? Diese bange Frage zittert überall unter der heiteren und friedlichen Oberfläche des Daseins. So liegt die mittelalterliche Seele vor uns: ein klarer silberner Spiegel, aber auf dem Grunde bewegt; ewig suchend und niemals findend; brauend, brodelnd, schweifend, tastend; Türme zum Himmel reckend, steingewordene Asymptoten, die sich im blauen Abgrund des Firmaments zu verlieren streben; ewig ungesättigt in ihrer Erotik, ihrer ureigensten Entdeckung oder vielmehr Erfindung, die ihren Gegenstand so hypostasiert, daß er unerreichbar, nur noch ein Symbol unendlicher Sehnsucht wird; und über alledem die Gestalt Christi, des Unvergleichlichen, dem nachzuleben dennoch jedem durch die Taufe als heilige Pflicht aufgetragen ist!

Mit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts betritt eine ganz anders geartete Menschheit die Szene, oder genauer gesagt: eine, die den Keim zu einer anderen in sich trägt. Man wird auch weiterhin noch suchen; aber auch finden. Bewegung wird es auch weiterhin geben; aber nicht bloß mehr auf dem Grunde. Eine tragische Kultur macht einer bürgerlichen Platz, eine chaotische Kultur einer organischen und schließlich sogar einer mechanischen: die Welt ist fortan nicht mehr ein gottgewolltes Mysterium, sondern eine menschengeschaffene Rationalität.

 


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