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Fünftes Kapitel

Das Hereinbrechen der Vernunft

Der Mensch ist also nichts als ein Haufen von Irrtümern, ohnmächtig ohne die Gnade. Nichts zeigt ihm die Wahrheit: alles betrügt ihn. Die beiden Hauptstützen der Wahrheit, der Verstand und die Sinne, betrügen sich gegenseitig.
Pascal

Die Weltgeschichte ist ein dramatisches Problem

Wir halten jetzt einen Augenblick inne, um in Kürze das Bisherige zu überblicken, das Kommende anzudeuten und über Zweck und Inhalt unseres ganzen Darstellungsversuchs einigermaßen ins klare zu kommen.

Die Weltgeschichte ist ein dramatisches Problem. Sie ist nichts anderes als der bunte, verwirrende und wechselvolle, aber dennoch nach bestimmten psychologischen Gesetzen verlaufende Schicksalsweg der menschlichen Kollektivseele, dessen einzelne Etappen (man pflegt sie Zeitalter zu nennen) nicht bloß aufeinander, sondern auch auseinander folgen, indem ihr Gang den Charakter einer Szenenreihe trägt: jeder dieser Auftritte ist gegen die vorhergehenden und die nachfolgenden deutlich abgegrenzt, und doch bildet er mit ihnen eine organische Kontinuität, indem er die früheren auswirkt, die späteren bedingt. Es herrscht in dem Drama der menschlichen Geschichte eine klare und unerschütterliche Notwendigkeit; aber da es kein kaltes akademisches Schulstück, sondern eine von genialer Hand entworfene Dichtung ist, so trägt diese Notwendigkeit nicht den Charakter einer starren, sterilen Logik oder eines errechneten psychologischen Schematismus, sondern sie wird nur von fernher geahnt, thront geheimnisvoll und nur mittelbar wirksam im Hintergrunde, ist ganz von der blühenden Chaotik des Lebens überwuchert und hat überhaupt die Eigentümlichkeit, daß sie den handelnden Figuren gar nicht zum Bewußtsein kommt, sondern erst hinterher vom Kritiker des Dramas, dem Historiker, in ohnmächtigen und desillusionierenden Reden aufgedeckt und beschrieben wird.

Das Drama der Neuzeit

Was wir auf diesen Blättern zu erzählen versuchen, ist der Entwicklungsgang der europäischen Seele während jenes Abschnitts, den man ihre »Neuzeit« nennt. Wir haben bisher in Kürze den Zustand der »traumatischen Neurose« zu schildern versucht, der die unmittelbare Folge des großen Traumas der schwarzen Pest war; die aber ihrerseits wiederum nur der äußerlich sichtbare Ausdruck einer großen inneren Erschütterung und seelischen Umlagerung war: der Entthronung des mittelalterlichen Weltbilds durch den Nominalismus, der entschiedenen, obschon meist unterbewußten Abkehr von fast allen bisherigen Dominanten des Daseins. Alle die religiösen, ethischen, philosophischen, politischen, ökonomischen, erotischen, künstlerischen Normen und »Wahrheiten«, bisher so sicher geglaubt und begründet und die Orientierung des Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinbar für immer garantierend, brechen mit einem Male zusammen, ein Trümmerfeld hinterlassend, auf dem, je nach der persönlichen Charakteranlage, der eine raubend und plündernd noch irgendein letztes zweifelhaftes Wertstück zu erraffen sucht, der andere in stumpfer Betäubung allen Gütern dieser Welt abschwört, der dritte, zwischen Gier und Genuß hin und her taumelnd, nur für das Bedürfnis der nächsten Stunde ein Auge hat, keiner aber aus noch ein weiß. Wir haben aber gesehen, wie sich in Italien bereits im fünfzehnten Jahrhundert das herauszubilden begann, was wir den »psychomotorischen Überbau« genannt haben: die Regulierung, Äquilibrierung und Organisierung der bisherigen Neurose. Aus dem labilen System wird ein stabiles, aus dem pathologischen Zustand ein physiologischer, der positive Charakter der neuen Seelenverfassung kommt allmählich zum Vorschein, neue Richtlinien werden sichtbar: es stellt sich heraus, daß das, was das Gesicht einer verheerenden, ja tödlichen Krankheit trug, ein heilkräftiges Fieber war, in dem sich der ganze Organismus erneuerte, ein Schwangerschaftsstadium, in dem neue Lebenskeime ausreiften und dem Licht entgegenwuchsen. Dieser Zustand der Konsolidierung erreicht im Beginn des Cinquecento in Italien bereits seine volle Höhe und ergreift im Verlauf des Jahrhunderts die ganze westliche Hälfte des übrigen Europa.

Der neue Blick

Worin bestand nun dieses »Neue«, das allmählich ins Bewußtsein der europäischen Menschheit rückt? In nichts anderem als in der Heraufkunft eines extremen, exklusiven, allumspannenden Rationalismus. Wir könnten auch ebensogut sagen: Sensualismus, denn beides bedeutet im Grunde dasselbe. Der Sensualist glaubt nur an das, was ihm seine Sinne melden; aber wer rät ihm zu diesem Glauben? Sein Verstand. Der Rationalist baut nur auf das, was seinem Verstand einleuchtet; aber wer liefert ihm diesen Untergrund? Seine Sinneseindrücke. Beide sind nur der modifizierte, gewissermaßen verschieden pointierte Ausdruck desselben Seelenzustandes: des unbedingten Vertrauens des Menschen auf sich und seine natürlichen Hilfsquellen.

Diese Stellung zur Wirklichkeit, so selbstverständlich sie der ganzen späteren Neuzeit erschien, war etwas völlig Unerhörtes in der bisherigen Geschichte der christlichen Völkerfamilie, denn nur die Griechen und Römer kannten etwas Ähnliches; ja in dieser äußersten Zuspitzung und schärfsten Ausprägung ist sie sogar in der ganzen uns bekannten Weltgeschichte etwas Neues, denn selbst das Weltbild der Antike war nur ein rationalisierter Mystizismus, der seine orientalische Herkunft nie völlig überwunden hat.

Um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts ereignet sich also etwas sehr Merkwürdiges. Der Mensch, bisher in dumpfer andächtiger Gebundenheit den Geheimnissen Gottes, der Ewigkeit und seiner eigenen Seele hingegeben, schlägt die Augen auf und blickt um sich. Er blickt nicht mehr über sich, verloren in die heiligen Mysterien des Himmels, nicht mehr unter sich, erschauernd vor den feurigen Schrecknissen der Hölle, nicht mehr in sich, vergrübelt in die Schicksalsfragen seiner dunkeln Herkunft und noch dunkleren Bestimmung, sondern geradeaus, die Erde umspannend und erkennend, daß sie sein Eigentum ist. Die Erde gehört ihm, die Erde gefällt ihm; zum erstenmal seit den seligen Tagen der Griechen.

Dieser Blick ist von einer eigentümlich tiefen Flachheit. Es ist der Blick der untragischen Zufriedenheit, des philiströsen Wohlbehagens, der praktischen Klugheit, der problemlosen Vernünftigkeit, eine Art Mischung aus Yankeeblick und Wiederkäuerblick: die Welt ist schön, die Welt ist grün, die Welt ist saftig, sie riecht ausgezeichnet und schmeckt noch besser; assimiliere dir von ihr, soviel du kannst: dazu hat sie ja Gott, ein besonderer Gönner aller Wiederkäuer, ganz zweifellos geschaffen.

Aber die Welt ist für diesen Blick doch noch mehr als eine schmackhafte Wiese. Sie ist ein Bauplatz: ein Bauplatz für alles erdenkliche Nützliche, Wohltätige und Lebenfördernde, für Werkstätten der Heilkunst, der Meßkunst, der Scheidekunst, für Institute und Apparate zur Verfeinerung, Erleichterung und Erhöhung des Daseins, für babylonische Türme, die sich zum Himmel recken, um ihm sein Geheimnis zu entreißen, ein unermeßlich weites, unerschöpflich reiches Operationsfeld für die Betätigung und Steigerung der Kräfte des reinen Verstandes, des Verstandes, der sich ganz auf sich selbst stellt, sich alles zutraut, vor nichts zurückschreckt, durch nichts zu enttäuschen ist: dies ist die heroische Seite des neuen Blickes neben seiner animalischen.

Die Kurve von 1500 bis 1900

Kurzum: der Mensch bemerkt, zum erstenmal seit langer Zeit, daß er Verstand hat und daß der Verstand allmächtig ist. Er entdeckt sich als denkendes Wesen, als ens rationale, oder vielmehr: er gebiert diese Kräfte in sich wieder; wenn man will, ist dies der Sinn des Wortes »Renaissance«. Dieser erwachende Verstand beginnt alles zu durchdringen: Himmel und Erde, Wasser und Licht, das unendlich Große und das unendlich Kleine, die Beziehungen der Menschen untereinander und ihr Verhältnis zu Gott und Jenseits, das Walten der Natur und die Gesetze der Kunst; kein Wunder, daß er infolgedessen glaubt, er sei allein auf der Welt. Die ganze Geschichte der Neuzeit ist nun nichts anderes als die wachsende Steigerung und Übersteigerung dieser streng und einseitig rationalistisch orientierten Entwicklung. Einzelne Rückschläge sind nur scheinbar.

Der europäische Geist beschreibt von 1500 bis 1900 einen prachtvollen Bogen. Er erschöpft, planvoll fortschreitend, nahezu alle intellektuellen Möglichkeiten. Er gelangt im sechzehnten Jahrhundert in Italien zu jener extremen Rationalisierung der Kunst, von der wir bereits gehandelt haben, und im Norden zur Rationalisierung des Glaubens, die unter dem Namen »Reformation« bekannt ist. Er gibt sich in den Bewegungen der Gegenreformation und der Barocke den Anschein, als ob er zum Irrationalismus und Mystizismus zurückkehren wolle, aber dies ist nur eine optische Täuschung: der Jesuitismus ist eine Schöpfung der höchsten Logizität und intellektuellen Spannkraft, und die Barocke bedeutet erst recht die Alleinherrschaft des ordnenden, rechnenden, zerlegenden Verstandes, der das aber nicht wahr haben will und sich daher in tausend abenteuerliche Masken und künstliche Verkleidungen flüchtet: es ist der Rationalismus, der sich einen Rausch antrinkt, um der Prosa und Langweile einer reinen Verstandeskultur zu entrinnen. Das achtzehnte Jahrhundert bringt dann den unbestrittenen Triumph der reinen Vernunft auf allen Gebieten: es ist das Jahrhundert Voltaires und Kants, Racines und Winckelmanns. Man sollte glauben, daß dieser Extremismus nicht zu überbieten wäre, und dennoch wurde er überboten: durch das »junge Deutschland« und die ihm verwandten Richtungen des Auslands, die erfolgreich bemüht sind, Kunst, Religion, Wissenschaft, das ganze Leben zu einem puren Politikum umzustempeln und damit der letzten irrationalistischen Züge zu entkleiden. Dazwischen läuft die Gegenströmung der Romantik, die aber, ganz ähnlich wie die Barocke, nur viel impotenter als diese, nichts anderes ist als eine Revolte gegen den Intellektualismus, mit rein intellektuellen Mitteln unternommen, ein Literatenputsch gegen die Literatur, völlig akademisch, programmatisch, doktrinär, ein geistreiches Aperçu, aus der Lust an Paradoxie, Polemik und Modewechsel entsprungen. Und dann bringt die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts den Sieg der »naturwissenschaftlichen Weltanschauung« und der Technik, womit die Entwicklung im Sinne der marxischen »Negation der Negation« durch Selbstmord endigt und in der ebenso sinnlosen wie naturnotwendigen Katastrophe des Weltkriegs zusammenbricht.

Der Weltkrieg selbst aber ist bereits ebensowohl das Finale eines ablaufenden Weltalters wie der Auftakt zu einem neuen. Denn in ihm haben wir, wie bereits angedeutet wurde, eines jener großen Traumen zu erblicken, die die Geburt einer neuen historischen Spezies einleiten. Er bedeutet zugleich einen Weltuntergang und eine Krisis oder, genauer ausgedrückt: das Ende jener einen großen ununterbrochenen Krisis der europäischen Seele, die den Namen »Neuzeit« führt. Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters, und es ist daher jetzt möglich, die Geschichte der Neuzeit als Rückblick auf eine abgeschlossene Entwicklungsperiode zu schreiben. Zum erstenmal seit fast einem halben Jahrtausend beginnt die Welt dem Menschen wieder zu mißfallen, er beginnt an ihrem Besitz und an dessen Quellen, seinem Verstand und seinen Sinnen, zu zweifeln. Dies sind heute erst ferne Zeichen und Möglichkeiten, die blaß am Horizont unserer Kultur heraufdämmern, aber Zeichen, die eine völlige Umkehrung unseres Weltgefühls ankündigen.

Die mystische Erfahrungswelt der »Primitiven«

Wir haben uns an die usurpierte Suprematie der logischen Funktionen bereits derart gewöhnt, daß uns jede andere Geisteshaltung absurd oder minderwertig erscheint. Dies ist aber eine ganz willkürliche Auffassung. Vielmehr ist unsere Art, die Welt rationalistisch zu begreifen, die große Exzeption, das Absonderliche und Widernatürliche. Höchst lehrreich ist in dieser Hinsicht ein im Jahr 1910 erschienenes Werk des französischen Forschers Levy- Brühl »Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures«, das auf Grund sehr umfangreicher und gewissenhafter Beobachtungen eine Psychologie der sogenannten »primitiven Völker« unternimmt. Für diese haben sämtliche Dinge und Wesen: jeder Baum, jedes Tier, jeder Mensch, jedes Bild, jedes Gerät sowohl eine sichtbare wie eine unsichtbare Existenz, und gerade diese gilt für die wirksamere; auch die Traumerlebnisse gelten für wirklich, ja für wirklicher als die wachen. »Was für uns Wahrnehmung ist, ist für den Naturmenschen hauptsächlich Verkehr mit den Geistern, mit den Seelen, mit den unsichtbaren und unberührbaren geheimnisvollen Kräften, die ihn von allen Seiten umgeben, sein Schicksal bestimmen und in seinem Bewußtsein einen größeren Platz einnehmen als die festen, tastbaren und sichtbaren Elemente seiner Vorstellungen. Demnach hat er keinen Grund, dem Traum die niedrige Stellung einer verdächtigen subjektiven Vorstellung anzuweisen, auf die man sich nicht verlassen dürfe: dieser ist im Gegenteil eine privilegierte Form der Wahrnehmung, weil in ihr der Anteil der materiellen Elemente minimal und daher die Kommunikation mit den unsichtbaren Kräften die unmittelbarste und vollkommenste ist.« »Daher auch die Willfährigkeit und Hochachtung, die man Visionären, Sehern, Propheten, bisweilen auch Verrückten entgegenbringt. Man schreibt ihnen die spezielle Fähigkeit zu, mit der unsichtbaren Wirklichkeit zu verkehren.« »Für uns besteht das wesentlichste Merkmal für die Objektivität einer Wahrnehmung darin, daß sie unter gegebenen identischen Bedingungen von allen Beobachtern gleichzeitig und auf gleiche Weise gemacht wird. Aber bei den Primitiven geschieht es im Gegenteil fortwährend, daß Wesen oder Gegenstände sich gewissen Leuten mit Ausschluß aller Anwesenden manifestieren. Niemand ist darüber erstaunt, alle Welt findet es natürlich.« »Die Primitiven bedürfen nicht der Erfahrung, um sich von den unsichtbaren Eigenschaften der Dinge zu überzeugen, und deshalb bleiben sie auch durch die Widerlegungen, die die Erfahrung diesen Beobachtungen entgegensetzt, gänzlich ungerührt. Denn die Erfahrung, auf das Sichtbare, Tastbare, Faßbare der Wirklichkeit beschränkt, läßt sich gerade das Allerwichtigste: die geheimen Kräfte und Geister entschlüpfen.« Kurz: der Primitive lebt in einer für die Sinne nicht wahrnehmbaren und dennoch wirklichen, in einer mystischen Welt. »Wenn der Arzt eine Heilung vollbringt, so ist es der Geist des Mittels, der auf den Geist der Krankheit wirkt. Die physische Tat wird ohne die mystische gar nicht begriffen. Oder richtiger: es gibt keine eigentlich physische Tat; es gibt nur mystische Taten.«

Prälogisch oder überlogisch?

Leider ist der ausgezeichnete Verfasser des Werks ein moderner »Wissenschaftler«, der seine Untersuchungen an den Naturvölkern von oben herab macht und in den Anschauungsformen dieser Gesellschaften nur unvollkommene Vorstufen seines eigenen Denkens erblickt. Er nennt daher ihre Geistesverfassung, und zwar, wie er selbst zugibt, »in Ermangelung eines besseren Namens«, prälogisch, wobei er ausdrücklich betont, daß sie weder antilogisch noch alogisch sei. »Mit der Bezeichnung ›prälogisch‹ will ich nur sagen, daß nicht wie bei uns die Verpflichtung gefühlt wird, sich des Widerspruchs zu enthalten. Diese Denkart gefällt sich nicht in willkürlichen Widersprüchen (dadurch würde sie für uns einfach absurd werden), aber sie bemüht sich auch nicht, Widersprüche zu vermeiden.« Gleichwohl bleibt das Wort irreführend, weil es den Eindruck erweckt, daß es sich hier um eine Art Vorstudie und Vorübung zum logischen Denken handle, die dazu bestimmt sei, durch die bei uns herrschende Denkart überwunden zu werden. Man könnte aber mit weit größerer Berechtigung von einem überlogischen Denken reden. Und in der Tat ist ja auch diese Art, die Welt zu begreifen, keineswegs auf die Primitiven beschränkt: sie vollziehen diese Vorstellungen nur leichter und selbstverständlicher, weil sie noch der Natur näher stehen. Es hat wohl kaum jemals ein Kulturvolk gegeben, in dem der Seher, der Halluzinierende nicht eine ähnliche privilegierte Stellung eingenommen hätte. Auch in der Anschauung der Griechen, die doch wohl nicht zu den »Primitiven« gehörten, ist der Mensch zweimal vorhanden: in seiner wahrnehmbaren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, der »Psyche«, die erst nach dem Tode frei wird; und die Gestalten der Träume gelten auch ihnen für vollwertige Realitäten. Ferner ist die prälogische Form des Denkens das Merkmal aller schöpferischen Betätigungen: aller Kunst, aller Religion, aller wirklichen Philosophie, ja sogar aller echten Wissenschaft; denn das Leben selber ist »prälogisch«. Die ganze Natur ist wunderbar. Jede in die Tiefe gehende Erklärung einer empirischen Tatsache ist nichts anderes als die Feststellung eines Wunders. Der Philologe beschäftigt sich mit dem Wunder der Sprache, der Botaniker mit dem Wunder des Pflanzenlebens, der Historiker mit dem Wunder des Weltlaufs: lauter Geheimnisse, die noch kein Mensch zu entziffern vermocht hat, ja selbst der Physiker, wenn er nämlich genial ist, stößt fortwährend auf Wunder. Je tiefer eine Wissenschaft in die Sphäre des Wunderbaren einzudringen vermag, desto wissenschaftlicher ist sie. Wenn wir heute keine Wunder mehr erleben, so zeigt dies nicht, daß wir klüger, sondern daß wir temperamentloser, phantasieärmer, instinktschwächer, geistig leerer, kurz: daß wir dümmer geworden sind. Es geschehen keine Wunder mehr, aber nicht, weil wir in einer so fortgeschrittenen und erleuchteten, sondern weil wir in einer so heruntergekommenen und gottverlassenen Zeit leben.

Das rationalistische Intermezzo

Der Rationahsmus, dieses Irrlicht, das ganz willkürlich nur jene Ausschnitte der Wirklichkeit beleuchtet und gelten läßt, die nicht der »Erfahrung« und den »Denkgesetzen« widersprechen, das heißt: den rohen Sinneseindrücken und einer ihnen angepaßten defekten Logik, ist, dies müssen wir uns klarmachen, nichts als ein temporäres Vorurteil, dazu bestimmt, nach einer gewissen Herrschaftsdauer wieder zu verschwinden. Es soll nicht geleugnet werden, daß der Rationalismus nicht das einzige, sondern nur eines von den vielen Vorurteilen ist, die die Menschheit in ihrer Geschichte zu durchlaufen hat. Daß er aber besser als die anderen, daß er das einzig sinnvolle, ja daß er überhaupt kein Vorurteil sei: diese Annahme ist ein moderneuropäischer Lokalwahn.

Was ich also zu erzählen versuche, ist das kurze Intermezzo der Verstandesherrschaft zwischen zwei Irrationalismen: dem mittelalterlichen und dem zukünftigen, das im Rahmen der Menschheitsgeschichte nicht mehr bedeutet als eine flüchtige Mode, interessante Schrulle und kulturhistorische Kuriosität. Und es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Mensch der Zukunft – im Besitz einer exakten Astrologie und Mantik, eines genauen und ständigen Rapports mit höheren Geistern, einer Seelenwissenschaft, die sich zu unserer heutigen Psychologie verhalten wird wie die Infinitesimalrechnung zum kleinen Einmaleins, und tausend anderer Dinge, die wir nicht einmal ahnen können – in unserer Neuzeit mit ihren »Errungenschaften« die Ära des finstersten, unfruchtbarsten und borniertesten Aberglaubens der bisherigen Geschichte erblicken wird. Wie ja auch der Mensch der Vergangenheit: der Ägypter mit der für uns unfaßbaren Großartigkeit seiner Kunst, der Chinese mit der für uns unerreichbaren Reife seiner Weltweisheit, der Babylonier mit seiner für uns unwiederbringlich verschollenen Wissenschaft der Sterndeutung und Schicksalsberechnung, der Inder mit der uns unzugänglichen Tiefe seiner Religion, für die analogen Kulturschöpfungen unserer Zeit, die liberalem Dünkel als die Krone der bisherigen Entwicklung erscheinen, nur ein mitleidiges Lächeln gehabt hätte. Er würde von uns finden, was jener Memphispriester bei Herodot von den Griechen fand: daß wir ewige Kinder geblieben seien. Und ein feineres Ohr als das unsrige vermöchte vielleicht sogar zu erkennen, daß auch noch die ganze europäische Geschichte der Neuzeit von einem leisen Gelächter des Orients begleitet ist, das wie eine feine spöttische Unterstimme neben allen unseren »Fortschritten« einhergeht.

Der europäische Rationalismus, dessen Entwicklungsgang wir zu schildern haben, war also nichts als die vorübergehende idée fixe einer kleinen asiatischen Halbinsel, eine der rudimentärsten, primitivsten und infantilsten Geistesperioden der Menschheit; und was wir unter dem Namen der »Neuzeit« erzählen, ist eigentlich die Geschichte eines grauen Altertums, einer Art Menschheitskindheit, Urzeit und Prähistorie.

Die drei Schwarzkünste

Diese Neuzeit, so müssen es wenigstens noch immer alle Schulknaben lernen, war eine Wirkung der Entdeckung Amerikas. Aber, wir können dies nicht oft genug wiederholen, es verhielt sich gerade umgekehrt: ein solches Geschlecht, wie es damals lebte, mit dieser neuen Abenteuerlust, diesem Drang in die Ferne, diesem wiedererwachten Realismus, diesem unbezähmbaren Wissensdurst mußte eines Tages in Westindien anlegen, mit derselben Notwendigkeit, mit der es seine übrigen Erfindungen und Entdeckungen machen mußte. Daß ein Gemälde oder ein lyrisches Gedicht das organische Produkt des Zeitalters ist, in dem es geschaffen wurde, wissen heutzutage sogar schon die Universitätsprofessoren; aber mit den technischen Leistungen verhält es sich auch nicht anders. Es gibt keine »zufälligen« Erfindungen. Es ist ja auch nicht wahr, daß das ausgehende neunzehnte Jahrhundert dem Telephon, dem Telegraphen, den Blitzzügen und dergleichen Dingen ein neues Gefühl von Zeit und Raum, ein unendlich beschleunigtes Lebenstempo verdankt hat, sondern dieses neue Tempo war das Primäre, dieses neue Zeit- und Raumgefühl wurde mit der Generation, die den Magnetismus, die Elektrizität und die Dampfkraft nutzbar machte, bereits geboren, es mußte sich diese Lebensformen schaffen.

Unter den Ereignissen, die die Neuzeit einleiten, war die Entdeckung Amerikas auch gar nicht das Wesentlichste, ganz abgesehen davon, daß die damalige Menschheit Amerika ja gar nicht entdeckt hat, sondern bloß dort landete, um nicht zu sagen: strandete; für die seelische Gesamtverfassung eines Zeitalters fallen aber nur bewußte Kulturleistungen ins Gewicht. Die entscheidendsten Metamorphosen bewirkten vielmehr drei andere Tatsachen: der allgemeine Gebrauch des von Berthold Schwarz erfundenen Pulvers, die Verwendung beweglicher schwarzer Lettern zur Massenherstellung von Büchern und das leidenschaftliche Interesse für die Geheimnisse der Alchimie. Diese drei Schwarzkünste stehen bedeutungsvoll am Eingang der Neuzeit.

Neben diesen allbekannten großen Erscheinungen bringt das letzte Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts und der Anfang des sechzehnten noch eine Reihe anderer bemerkenswerter Fortschritte auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik. 1471 wird die erste Sternwarte errichtet, 1490 entwirft Martin Behaim den ersten Globus, 1493 erscheint Hartman Schedels »Liber chronicarum«, ein mit über zweitausend Holzschnitten geschmücktes epochemachendes geographisch-historisches Werk, 1505 wird die erste Post eingerichtet, 1506 gibt Reuchlin seine hebräische Grammatik heraus, 1510 ersinnt Peter Hele Henlein seine Federuhr, das berühmte »Nürnberger Ei«, das man in der Tasche tragen kann, 1515 kommen die Radschloßgewehre in Gebrauch. Anfänge des modernen Zeitbegriffs setzen sich durch: die öffentlichen Uhren beginnen die Viertelstunden zu schlagen. Auch die weiteren Jahre sind von regem wissenschaftlichem Leben erfüllt. 1540 entdeckt Servet den kleinen Blutkreislauf, drei Jahre später, im Veröffentlichungsjahr des kopernikanischen Systems, läßt der große Anatom Vesalius sein grundlegendes Werk »De humani corporis fabrica« erscheinen, Christoph Rudolff schreibt das erste Kompendium der Algebra in deutscher Sprache, Adam Riese die ersten Lehrbücher der praktischen Rechenkunst, Georg Agricola begründet die Mineralogie, Konrad Gesner die wissenschaftliche Zoologie, Gerhard Kremer, Kosmograph und Kupferstecher, bekannt unter seinem latinisierten Namen Mercator, erneuert die Erfindung des Ptolemäus, die Kreise des Gradnetzes auf einen Kegelmantel zu projizieren, und verbessert sie so vorzüglich, daß »Mercators Projektion« bis zum heutigen Tage in Gebrauch ist.

Paracelsus

Daß wir uns aber noch immer in einer Art Übergangszeit vom Mittelalter zum Rationalismus befinden, zeigen die zahlreichen Mystiker, Kabbalisten und Wunderkünstler, die den geistigen Bestrebungen des Zeitalters das eigentliche Gepräge geben. Sie haben gleichsam den Habitus einer neuentstandenen zoologischen Spezies, die noch Rudimente der früheren, aus der sie hervorgegangen ist, mit sich herumträgt, etwa wie wenn Geschöpfe, die bereits den Übergang von der Wasserexistenz zum Landleben vollzogen haben, noch Schwimmhäute oder Doppelatmung durch Kiemen und Lungen aufweisen. Im Grunde waren gerade sie es, die das lehrten, was man in jener Zeit unter »Wissenschaft« verstand. Unter ihnen erlangten Agrippa von Nettesheim und Theophrastus Bombastus Paracelsus von Hohenheim die meiste Popularität. Der erstere gab im Jahr 1510 unter dem Titel »De occulta philosophia« eine Art Lehrbuch der Magie heraus, die er in eine natürliche, eine himmlische und eine religiöse gliedert: die erste zeigt, wie man über die irdischen Kräfte Herr wird, die zweite, wie man in die Geheimnisse der Gestirne eindringt, die dritte, wie man Macht über die Dämonen gewinnt; und Paracelsus ist eine der originellsten Figuren des ganzen Zeitalters: Humanist und Physiker, Alchimist und Astrolog, Chiromant und Totenbeschwörer, Chirurg und Theurg, Entdecker des Wasserstoffs und Erneuerer der wissenschaftlichen Medizin; auf seinem steten Wanderleben als Arzt, Lehrer und Goldmacher von aller Welt umworben und von einem lärmenden Hofstaat umschwärmt, in dem wahre Jünger der Wissenschaft mit Abenteurern und Müßiggängern, die nach dem Stein der Weisen begehrten, bunt durcheinandergemischt waren (wie ja überhaupt in jener Zeit gemeiner Goldhunger und edler Wissensdurst kaum voneinander zu trennen sind); überall sensationelle Kuren vollbringend, Kenntnisse sammelnd und ausbreitend, Skandal und Bewunderung erregend, um schließlich auf Anstiften einiger graduierter Kollegen, die in seiner Genialität eine Geschäftsstörung erblickten, hinterlistig ermordet zu werden. Im Gedächtnis der Nachwelt lebt er teils als Typus des Scharlatans, als skurrile und verächtliche Jahrmarktsfigur, teils als Typus des Sehers, als Märtyrer der Wissenschaft und Wohltäter der Menschheit. Beide Versionen haben recht.

Auch seine Schriften tragen diesen zwiespältigen Charakter. Schwülstig und gesucht, großsprecherisch und weitschweifig, dunkel und überladen, zeigen sie, daß ihr Verfasser den Namen Bombastus nicht mit Unrecht trug; aber auch dem Namen Theophrastus hat er Ehre gemacht: er war ein wahrer Beauftragter Gottes, ein Künder tiefen Wissens und echter Weisheit. Nicht in den Büchern, betont er immer wieder, müsse man die Wahrheit suchen, sondern im Buch der Natur: was in Galens Schriften zu finden ist, gleiche dem Schwamm, der auf dem Baum des Lebens wächst; nur ein Tor kann den Schwamm mit dem Baum verwechseln. Er lehrte, um es mit einem Worte zu sagen: eine pantheistische Medizin: alles hängt zusammen, Aufgabe des Arztes ist es, diesen Zusammenhang zu ergründen; auch die Welt, die Erde ist ein großer Organismus mit Leben und Störungen, Antlitz und Krankheiten, Atemzug, Pulsschlag, Fieber und Genesung.

An den Stein der Weisen hat er fest geglaubt: das Gesetz von der Erhaltung der Elemente war ihm eben noch unbekannt. Dieses Gesetz ist jedoch neuerdings durch das Radium widerlegt worden, das sich bekanntlich in ein anderes Element, das Helium, zu verwandeln vermag. So wird »unwissenschaftlich«, was bisher ein Pfeiler der Naturforschung war, und »wissenschaftlich«, was bisher als roher Aberglaube galt. Dies ist die Geschichte der sogenannten Wissenschaften, und ihre Betrachtung müßte den Dünkel der gelehrten Handwerker sehr herabmindern, wenn diese für freie Erwägungen des gesunden Menschenverstandes überhaupt zugänglich wären.

Die Alchimie bezweckte übrigens keineswegs bloß Goldmacherei. Der geheimnisvolle Stoff, das »Arcanum«, das man suchte, sollte auch zugleich eine Panazee gegen alle Krankheiten sein, gleich dem Theriak des Altertums. Man war damals überhaupt der Ansicht, daß es eine allgemeine erlösende Formel geben müsse, die mit einem Schlage die Rätsel der Welt entschleiert, einen Generalschlüssel, der das Tor zu allen Geheimnissen öffnet: dies ist der tiefere Sinn des Steins der Weisen.

Menschenmaterial und verschiebbare Letter

Die beiden anderen »Tendenzen des Zeitalters«: das Schießpulver und der Buchdruck haben zweifellos ungleich verderblicher gewirkt als die Alchimie. Durch den Gebrauch der Feuerwaffen ist ein Moment der Verpöbelung, Barbarisierung und Mechanisierung ins Kriegswesen gekommen, wie es bisher unbekannt war. Durch das Pulver wird der Mut demokratisiert, nivelliert, entindividualisiert. Der ritterliche Kampf, Mann gegen Mann, zu Pferde, mit besonderen Schutz- und Angriffsrüstungen, deren Handhabung Sache eines besonderen Talents oder doch zumindest einer durch Jahre und Generationen währenden Übung und Züchtung war, schuf eine bestimmte Gesellschaftsklasse, ja Rasse, deren Beruf der Mut war. Mit dem entscheidenden Auftreten der Feuertaktik und des Fußvolks hört der Krieg auf, Sache einer besonderen Menschenart, Gemütsanlage und Fähigkeit zu sein, der Mut ist allgemein geworden, das heißt: er ist verschwunden. Die Waffe ist nicht mehr ein persönliches Organ des Menschen, gleichsam ein Glied seines Körpers, sondern der Mensch ist ein unpersönliches Organ der Waffe, nichts als ein Glied der großen Kriegsmaschine. Hieraus folgt zweierlei: erstens eine viel größere Skrupellosigkeit und Brutalität in der Kriegführung, da der einzelne nur noch ein leicht ersetzliches Teilchen des Ganzen, sozusagen ein Stück Fabrikware, ein leicht herstellbarer Massenartikel ist, und zweitens die Ausdehnung der Kriegstätigkeit auf viel größere Teile der Bevölkerung, schließlich auf alle. Der Begriff »Menschenmaterial« ist erst durch die Erfindung des Schießpulvers geschaffen worden, ebenso wie die allgemeine Wehrpflicht, denn eine allgemeine Pflicht kann nur sein, was jeder kann. Daher ist die Geschichte der Neuzeit die Geschichte der fortschreitenden Auflösung des Kriegsbegriffes, seines ursprünglichen Inhalts und Sinns. Die letzte Stufe dieser Selbstzersetzung bildet der Weltkrieg: der Krieg aus Geschäftsgründen.

Eine ähnliche mechanisierende und nivellierende Tendenz wohnt der Druckerpresse inne, die übrigens nie eine so allgemeine Bedeutung erlangt hätte, wenn ihre Erfindung nicht mit der Einführung guten und billigen Papiers zusammengefallen wäre. Gutenberg (oder wer es sonst war) zerlegte die Holztafeln, mit denen man zuerst Bilder, später Unterschriften und schließlich auch schon Bücher gedruckt hatte, in ihre einzelnen Bestandteile, die Buchstaben. Hierin liegt zunächst eine Tat des Individualismus, eine Befreiung aus der Gebundenheit, Assoziation und Korporation des Mittelalters. Die Elemente, die Zellen gleichsam, die den Organismus des Wortes, des Satzes, des Gedankens aufbauen, machen sich selbständig, freizügig, jede ein Leben für sich, unendliche Kombinationsmöglichkeiten eröffnend. Bisher war alles fest, gegeben, statisch, konventionell; jetzt wird alles flüssig, variabel, dynamisch, individuell. Die verschiebbare Letter ist das Symbol des Humanismus. Aber die Kehrseite ist: es wird auch alles mechanisch, dirigierbar, gleichwertig, uniform. Jede Letter ist ein gleichberechtigter Baustein im Organismus des Buches und zugleich etwas Unpersönliches, Dienendes, Technisches, Atom unter Atomen. Ähnliche Erscheinungen hat der neue Geist auch auf anderen Gebieten gezeitigt. Vom Kriegswesen sprachen wir soeben: jeder Ritter war eine Schlacht für sich, der Soldat ist bloß eine anonyme Kampfeinheit. An die Stelle des Bürgers tritt der Untertan, an die Stelle des Handwerkers der Arbeiter, an die Stelle der Ware das Geld. Alle vier: Soldat, Untertan, Arbeiter und Geldstück haben das Gemeinsame, daß sie gleichartige Größen, reine Quantitäten sind, die man nach Belieben addieren, umstellen und auswechseln kann. Ihr Wert wird nicht so sehr durch ihre persönlichen Eigenschaften als durch ihre Zahl bestimmt. Dasselbe zeigt sich auch auf dem Gebiet des Komforts und der ganzen äußeren Lebenshaltung. Der Mensch der Neuzeit hat praktischere Möbel, schnellere Fahrzeuge, wärmere Öfen, hellere Beleuchtungskörper, bequemere Wohnhäuser, bessere Bildungsanstalten als der mittelalterliche, und diese und noch hundert andere Dinge garantieren ihm ein freieres, unbelasteteres, individuelleres Dasein: aber alle diese Möbel, Fahrzeuge, Öfen, Beleuchtungskörper, Wohnhäuser und Bildungsanstalten sind vollkommen gleich. Es muß eben in Natur und Geschichte immer für alles bezahlt werden. Es ersteht die Individualität, und es verschwindet die Persönlichkeit.

Dies waren entscheidende Umlagerungen des Weltbildes, zu denen nun noch die neuen astronomischen Ansichten traten, die von Kopernikus ausgingen. Die Abhandlung »De revolutionibus orbium coelestium libri VI«, in der er sein neues Weltsystem aufstellte, erschien erst in seinem Todesjahr, dazu noch mit einer Vorrede des protestantischen Theologen Osiander, die eigenmächtig das Ganze für eine Hypothese erklärte, offenbar weil Luther und Melanchthon sich dagegen ausgesprochen hatten: »Der Narr«, sagte Luther, »will die ganze Kunst Astronomiam umkehren; aber die Heilige Schrift sagt uns, daß Josua die Sonne stillstehen ließ und nicht die Erde.« Aber das Werk ist bereits viel früher entstanden. Kopernikus erklärt selbst in der Widmung (die merkwürdigerweise an Papst Paul den Dritten gerichtet war), es habe viermal neun Jahre bei ihm geruht, und es muß auch schon vorher durch geheimnisvolle Kanäle ins Publikum gedrungen sein. Sobald eine Erkenntnis einmal da ist, läßt sie sich eben nicht unterdrücken, sie infiziert gleichsam die Luft, verbreitet sich wie ein Bazillus.

Die Entdeckung war übrigens nicht völlig neu. Ein Vierteljahrtausend vor Christus hatte Aristarch von Samos ein ähnliches System aufgestellt: Sonne und Fixsterne unbeweglich, die Erde in Drehung um sich selbst und die Sonne; und schon von Plato berichtet Plutarch, daß er »die Erde nicht mehr in der Mitte des Ganzen gelassen, sondern diesen Platz einem besseren Gestirn eingeräumt habe«. Aber der Grieche wollte die Welt als begrenzte geschlossene Kugel und sich als Betrachter in der Mitte, er wollte einen Kosmos, ein schönes, kunstvoll gegliedertes Ganzes, leicht vorstellbar und bequem überschaubar wie ein Tempel, eine Bildsäule oder ein Stadtstaat: das heliozentrische System entsprach nicht seinem Weltbild und war daher falsch. Jetzt erwacht im Menschen der Trieb ins Weite und zugleich der Trieb nach Ordnung, Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit, nach einer in Formeln ausdrückbaren Welt, die sozusagen eine mathematische Sprache redet. Durch die neue Astronomie wird er scheinbar zum Nichts herabgedrückt, in Wirklichkeit aber zum Entschleierer, Durchschauer, ja Gesetzgeber des Weltalls emporgehoben: er will lieber eine Welt von schauerlicher Unendlichkeit, in der die Erde als blasser Lichtfunken schwimmt, die aber berechenbar, seinem Geist unterworfen ist, als eine wohlabgegrenzte, die aber in Dunkel und Geheimnis gehüllt und einem unerforschlichen Schicksal unterworfen ist. Es ist eine der größten Geschichtsfälschungen, wenn man immer wieder behauptet, das heliozentrische System habe den Menschen demütiger und bescheidener gemacht: ganz im Gegenteil.

Übrigens lehrte Kopernikus zwar eine heliozentrische und daher der bisherigen an Größe unendlich überlegene, aber doch eine fixe und endliche Welt, in deren Mittelpunkt unbeweglich die Sonne thront und deren äußerste Grenze von der »achten Sphäre« gebildet wird, einer festen, in sich geschlossenen Kugelschale, hinter der nichts mehr ist. Seine Welt war also doch noch eine wesentlich andere: nicht nur eine kleinere, sondern auch eine einfachere, übersichtlichere, stabilere, sozusagen solidere als die unsere, in der unzählbare Sonnensysteme, durch unfaßbare Entfernungen voneinander getrennt, mit rasender Geschwindigkeit durch einen Abgrund jagen, von dem wir nur sagen können, daß er nirgends aufhört.

Aber das Instrument, das für die beginnende Neuzeit im höchsten Maße symbolisch ist, ist nicht die Tafel des Astronomen, auch nicht die Druckerpresse, die Retorte oder die Kanone, sondern der Kompaß. Erfunden war er schon längst; aber erst jetzt wagt man, sich ihm ganz anzuvertrauen. Das Wesentliche der neuen Geisteshaltung ist, wie wir schon mehrfach betonten, ein unbezwinglicher, bisher unerhörter Zug in die Ferne, ein unersättlicher Trieb, alles zu entschleiern, zu penetrieren, zu durchforschen: darum heißen diese Jahrzehnte das Zeitalter der Entdeckungen. Aber nicht die Entdeckungen, die man machte, waren das Wichtige; das Entscheidende war die Tendenz, zu entdecken: ein edles Suchen um des Suchens willen war die dämonische Leidenschaft, die die Geister jener Zeit erfüllte. Das Reisen, bisher bestenfalls als ein notwendiges Übel angesehen, wird jetzt die höchste Lust der Menschen. Alles wandert, vagiert, schweift von Ort zu Ort: der Schüler, der Handwerker, der Soldat, der Künstler, der Kaufmann, der Gelehrte, der Prediger; gewisse Berufe, wie der des Humanisten oder des Arztes, werden überhaupt fast nur im Umherziehen ausgeübt; man wertet einen jeden nach dem Maße, wie weit er herumgekommen ist: der »Fahrende« stellt in fast allen Berufszweigen eine höhere Qualifikation, eine Art Aristokratie dar. In der damaligen Zeit haben die Menschen alles Neue im eigentlichen Sinne des Wortes erfahren. Und es war gar nicht zu vermeiden, daß sich diese neue Reiseenergie alsbald auch der Wasserwege bemächtigte.

An der Spitze der modernen Entdeckungsgeschichte steht die Gestalt des Infanten Heinrich von Portugal, der zwar selber nie eine Seefahrt unternommen hat, aber wegen der großartigen Energie, mit der er alle maritimen Bestrebungen förderte, mit Recht den Namen »Heinrich der Seefahrer« erhalten hat. Nie berührte er ein Glas Wein oder einen Weibermund: seine einzige Leidenschaft war die Entschleierung der afrikanischen Küsten. Bis zu seiner Zeit hatte das Kap Bojador als die äußerste Grenze gegolten, über die kein Schiffer hinausgelangen könne, weil von da an das Meer so sehr an Salzgehalt zunehme, daß die zähe Masse von den Fahrzeugen nicht mehr zu zerteilen sei. Es führte daher den bezeichnenden Namen Cap Non. Auch herrschte allgemein die zuerst von Aristoteles aufgestellte und von Ptolemäus bestätigte Ansicht, daß es innerhalb der Wendekreise nur wüstes Land geben könne, weil die Glut der senkrecht auffallenden Sonnenstrahlen keine Vegetation dulde. Auf Veranlassung Heinrichs wurden aber gleichwohl Schiffe auf Expeditionen ausgesandt, und im Jahr 1445 konnte einer seiner Untertanen berichten, er habe weiter südlich Küsten mit saftigen Kräutern und großen Palmenhainen entdeckt: »Dies alles«, fügte er ironisch hinzu, »schreibe ich mit Verlaub Seiner Gnaden des Ptolemäus, der recht gute Sachen über die Einteilung der Welt hat verlauten lassen, aber in diesem Stücke sehr fehlerhaft dachte. Zahllos wohnen am Äquator schwarze Völkerschaften, und zu unglaublicher Höhe erheben sich die Bäume, denn gerade im Süden steigert sich die Kraft und Fülle des Pflanzenwuchses.« Und noch in demselben Jahre gelangte man zu dem fruchtbaren Vorgebirge, das seitdem unter dem Namen Cap verde bekannt ist. Alsbald entwickelte sich ein lebhafter afrikanischer Tauschhandel: die wichtigsten Ausfuhrartikel waren Goldstaub, Moschus und Elfenbein, und auf Madeira entstanden reiche Zuckerplantagen. Auch der Sklavenfang gehörte zu den merkantilen Begleiterscheinungen dieser ersten Entdeckungsfahrten, bei denen der Infant selbst jedoch niemals andere als wissenschaftliche Interessen im Auge gehabt hat.

Als er im Jahre 1460 starb, gerieten die Unternehmungen ins Stocken. Erst die achtziger Jahre brachten wieder bedeutende Fortschritte. 1482 wurde auf einer Reise, an der auch Martin Behaim teilgenommen haben soll, die Kongomündung entdeckt, und 1486 erreichte Bartolomeo Diaz die Südspitze Afrikas, die von ihm wegen der furchtbaren Stürme, die dort herrschten, Cabo tormentoso genannt, von seinem König João dem Zweiten aber in Cabo de bõa esperanza umgetauft wurde, ja er fuhr sogar um das Kap herum und befand sich bereits auf dem Wege nach dem Indischen Ozean, als er von seiner Mannschaft bestimmt wurde, umzukehren. Die Hoffnung auf einen südlichen Seeweg nach Ostindien, die der König mit seiner Namensänderung zum Ausdruck bringen wollte, sollte sich zwölf Jahre später erfüllen: Vasco da Gama gelangte nach Kalikut, der Hauptstadt des vorderindischen Reiches Malabar, die zugleich der Hauptort für den Verkehr mit den Molukken, den »Gewürzinseln«, war: von da an datiert die Suprematie der Portugiesen im europäischen Gewürzhandel.

Schon sechs Jahre früher aber hatte der Genuese Cristoforo Colombo im Dienste der spanischen Regierung, der zu Ehren er sich von nun an Cristobal Colon nannte, den ersten Vorstoß nach Westen gemacht. Er wählte zunächst den ungeschicktesten Weg nach Amerika, nämlich die weiteste Entfernung, und er wäre wahrscheinlich nie ans Ziel gekommen, wenn nicht besonders günstige Winde diesen Fehler ausgeglichen hätten. Sein Plan war, »das Morgenland in westlicher Richtung« zu erreichen. Mit der Kugelgestalt der Erde, wie sie auf Martin Behaims berühmtem »Erdapfel« zum Ausdruck gelangte, war er also schon vollkommen vertraut; aber er teilte auch den auf diesem Globus verzeichneten Irrtum, daß Asien eine zusammenhängende Masse bilde, die sich hufeisenförmig um den Planeten herumschlinge. Daß er jedoch, wie gemeinhin behauptet wird, auf diesem Wege nach »Westindien« zu gelangen glaubte, ist nicht ganz richtig, vielmehr nahm er an, und zwar in seinem Sinne ganz logisch, daß er in Kathai (China) oder an der vorgelagerten Insel Zipangu (Japan) landen werde. Bestärkt wurde er in dieser Vermutung durch das Werk des berühmten Weltreisenden Marco Polo »Mirabilia mundi«, der tatsächlich zweihundert Jahre früher, aber in östlicher Richtung und auf dem Landwege, nach China und Japan gelangt war. Columbus hielt auch wirklich die Insel Cuba, das erste größere Gebiet, das er anlief, für Zipangu; als er etwas später die Nachbarinsel Haiti entdeckte, die er Española nannte, modifizierte er seine Ansicht dahin, daß diese Zipangu und Cuba das chinesische Festland sei. Er war in die Meinung, daß er sich auf asiatischem Boden befinde, so verrannt, daß er noch für seine letzte Reise arabische Dolmetscher für den Verkehr mit dem Großkhan von Kathai verlangte und einmal sogar einen Trupp Flamingos, den er gravitätisch durch die Nacht wandeln sah, für weißgekleidete chinesische Priester hielt. Er erreichte auf seiner zweiten Reise Jamaica, auf seiner dritten die Orinocomündung und damit das Festland, auf seiner letzten Honduras, das er für Hinterindien erklärte, und starb vier Jahre später, 1506, in demselben Jahre wie Martin Behaim, ohne zu ahnen, daß er einen neuen Weltteil entdeckt hatte.

Es ist daher kein so besonders himmelschreiendes Unrecht, daß dieser nicht den Namen Columbia trägt, obschon eine noch viel geringere Berechtigung vorlag, ihn nach Amerigo Vespucci zu benennen. Das Ereignis der Entdeckung Amerikas lag in der Luft. Es wäre ohne Columbus nicht ausgeblieben, ja nicht einmal verzögert worden. »Amerika wäre bald entdeckt worden,« sagt der große Naturforscher Karl Ernst von Baer, »auch wenn Columbus in der Wiege gestorben wäre.« 1497 erreichte der Venezianer Giovanni Gabotto (John Cabot) unter englischer Flagge die Küste von Labrador, betrat also ein Jahr früher als Columbus das amerikanische Festland. 1500 wurde Pedro Cabral auf seiner Fahrt nach Kalikut nach Westen abgetrieben und entdeckte auf diese Weise Brasilien und, allerdings ganz zufällig, eine viel kürzere Verbindung zwischen Europa und Amerika. Es kommt hinzu, daß Columbus mit seiner Entdeckung nicht bloß wissenschaftlich, sondern auch praktisch nichts anzufangen wußte. Seine Verwaltung der neuen Provinzen war eine wahre Schreckensherrschaft und zeigt an ihm nur häßliche Seiten: maßlose Goldgier, gedankenlose Grausamkeit gegen die Eingeborenen, Hinterhältigkeit und blinde Eifersucht gegen seine Landsleute. Alle administrativen Einrichtungen, die er getroffen hat, waren ebenso unmenschlich wie kurzsichtig: die skrupellose Dezimierung der Bevölkerung durch Sklavenhandel, ihre sinnlose Überanstrengung in der Plantagenarbeit, die Verschickung spanischer Verbrecher nach Española, die Einführung wilder Hunde zum Zwecke der Menschenjagd. Geiz und Habsucht hatten ein solche Macht über ihn, daß sie es dahin brachten, alle edleren Regungen in ihm zu ersticken und alle idealeren Züge seines Wesens zu verdunkeln: schon sein Eintritt in die Neue Welt ist dadurch bezeichnet, daß er den Matrosen, der zuerst Land gemeldet hatte, um die hierfür ausgesetzte Prämie prellte. Achtung verdient er nur für die unerschütterliche, durch nichts zu entmutigende Ausdauer und Tatkraft, mit der er seine Pläne verfolgte; im übrigen war sein Werk ein Produkt der Schwärmerei, der Gewinnsucht und des Eigensinns und seine ganze Fahrt ein zufälliger Prioritätserfolg und Lotterietreffer, eine nautische Rekordleistung von subalternem sportlichem Interesse. Columbus war ein Probierer: er fuhr in einer bestimmten Richtung los, probeweise, und fand Amerika, er probierte an einem Ei so lange herum, bis es stand, und beide Erfolge beweisen gleich viel für seine Genialität.

Die größte Entdeckertat des Zeitalters, schon deshalb, weil sie bewußt vollbracht wurde, ist die Erdumsegelung durch Fernão Magalhães, einen in spanische Dienste getretenen Portugiesen. Er verließ im September 1519 Spanien, fuhr, unter vielerlei Meutereien und Anschlägen seiner Gefährten, längs der südamerikanischen Ostküste bis zur südlichsten Spitze des Festlands, durchsegelte im Spätherbst 1520 die nach ihm benannte höchst beschwerliche und gefährliche Straße, die den Kontinent vom Feuerlandarchipel trennt, und erreichte so den Stillen Ozean, den er in nordwestlicher Richtung durchquerte. Nach einer fast viermonatigen mühseligen und entbehrungsreichen Reise, auf der sich die Besatzung schließlich von Leder und Ratten nähren mußte, gelangte er nach den Ladronen und einige Tage später nach den Philippinen, wo er im April 1521 in einem Kampfe mit den Eingeborenen, den er waghalsig ohne genügende Deckung unternommen hatte, getötet wurde. Sein Schiff »Vittoria« fuhr unter dem Kommando Sebastian d'Elcanos nach den Molukken und kam von da durch den Indischen Ozean über das Kap der Guten Hoffnung und die Kapverdischen Inseln glücklich nach der Heimat zurück. Im September 1522, fast genau nach drei Jahren, landete die Expedition in demselben Hafen, von dem sie ausgegangen war. Bei ihrer Ankunft auf der Kapverdischen Insel Santiago, Juli 1522, bemerkten die Seefahrer, daß der dortige Kalender bereits Donnerstag, den zehnten Juli anzeigte, während sie selbst erst Mittwoch, den neunten Juli zählten. Da sie sich von Ost nach West um die Erde bewegt hatten, hatten sie einen Tag verloren. Hätten sie die umgekehrte Richtung eingeschlagen, so wäre es ihnen wie in der »Reise um die Erde in achtzig Tagen« gegangen, deren geistreiche und überraschende Pointe bekanntlich darin besteht, daß der Held, ohne es zu ahnen, einen Tag und damit seine Wette gewinnt. Sie waren über ihre Entdeckung vermutlich nicht weniger verblüfft und erfreut als Mr. Phileas Fogg. Denn sie bedeutete einen absolut unwiderleglichen Beweis für die Kugelgestalt der Erde.

Um dieselbe Zeit wurde Mittelamerika und etwa zehn Jahre später die Westküste Südamerikas den Europäern erschlossen. Wir wollen bei diesen beiden Ereignissen: der Eroberung Mexikos und Perus ein wenig länger verweilen, weil sie zu den empörendsten und zugleich sinnlosesten Taten der Weltgeschichte gehören.

Als Hernando Cortez im Jahre 1519 den Boden Mexikos betrat, fand er dort eine hochentwickelte, ja überentwickelte Kultur, die der europäischen weit überlegen war; als Weißer und Katholik, verblendet durch den doppelten Größenwahn seiner Religion und seiner Rasse, vermochte er sich jedoch nicht zu dem Gedanken zu erheben, daß Wesen von anderer Weltanschauung und Hautfarbe ihm auch nur ebenbürtig seien. Es ist tragisch und grotesk, mit welchem Dünkel diese Spanier, Angehörige der brutalsten, abergläubischsten und ungebildetsten Nation ihres Weltteils, eine Kultur betrachteten, deren Grundlagen sie nicht einmal ahnen konnten. Gleichwohl läßt sich der Gestalt des Cortez eine gewisse Größe nicht absprechen; er war zwar ein Conquistador wie alle anderen: roh, verschlagen, gierig und ohne höhere moralische Hemmungen, aber es fehlte ihm nicht an planvollem Mut, politischer Klugheit und einer gewissen primitiven Anständigkeit; auch tat er nie etwas aus bloßer Blutgier, ja er hatte sogar einen gewissen Abscheu vor dem Blutvergießen, wie er ja auch die Schlachtopfer der Azteken abgeschafft hat: vielleicht die einzige eines Kulturmenschen würdige Handlung, die im Laufe der ganzen spanischen Conquista begangen worden ist. Seine Umgebung jedoch bestand mit wenigen Ausnahmen, zu denen vor allem die Geistlichen gehörten, aus Subjekten niedrigster Kategorie, Rowdys und Verbrechern, die ihr Mutterland ausgestoßen hatte: deklassierten Spaniern, also dem Abschaum des Abschaums des damaligen Europa. Das einzige Motiv der Expedition war ganz gemeine Goldgier: »Die Spanier«, sagte Cortez nicht ohne eine gewisse überlegene Ironie zu dem Statthalter, den ihm Kaiser Montezuma entgegenschickte, »leiden an einer Herzkrankheit, gegen die Gold ein besonders geeignetes Mittel ist.«

Die mexikanische Spätkultur

Die Kultur Mexikos haben wir uns ungefähr auf einer Entwicklungsstufe vorzustellen, die von der der römischen Kaiserzeit nicht allzuweit entfernt war. Sie war offenbar schon in jenes letzte Stadium getreten, das Spengler als »Zivilisation« bezeichnet und das durch Großstadtwesen, raffinierten Komfort, autokratische Regierungsform, expansiven Imperialismus, Massigkeit der Kunstbauten, gehäufte Ornamentik, ethischen Fatalismus und Barbarisierung der Religion charakterisiert ist. In der Hauptstadt Tenochtitlan, die auf Pfählen in einen wunderschönen See gebaut war, sahen die Spanier riesige Tempel und Spitzsäulen; ausgedehnte Arsenale, Krankenhäuser und Kriegerasyle; große Menagerien und botanische Gärten; Barbierläden, Dampfbäder und Springbrunnen; Teppiche und Gemälde aus prachtvollem Federmosaik; köstliche Goldschmiedearbeiten und kunstvoll ziselierte Geräte aus Schildpatt; herrliche Baumwollmäntel und Lederrüstungen; Plafonds aus wohlriechendem Schnitzwerk; Thermophore für Speisen, Parfümzerstäuber und Warmwasserleitungen. Auf den von Hunderttausenden besuchten Wochenmärkten war eine Fülle aller erdenklichen gediegenen Waren zum Kauf ausgebreitet. Eine bewundernswert organisierte Post beförderte durch Schnelläufer auf sorgfältig ausgebauten Wegen und Stufengängen, die das ganze Land durchzogen, jede Nachricht mit unglaublicher Geschwindigkeit und Präzision; Polizei und Besteuerungsapparat funktionierten mit der größten Genauigkeit und Zuverlässigkeit. In den Küchen der Wohlhabenden dufteten die erlesensten Speisen und Getränke: Wildbret, Fische, Waffeln, Eingemachtes, zarte Brühen, pikante Gewürzgerichte; dazu kamen noch eine Reihe Genüsse, die der alten Welt neu waren: der delikate Truthahn; chocolatl, das Lieblingsgericht der Mexikaner, kein Getränk, sondern eine feine Creme, die, mit Vanille und anderen Spezereien gemischt, kalt gegessen wurde; pulque, ein berauschender Trank aus der Aloe, die den Azteken außerdem ein schmackhaftes artischockenähnliches Gemüse und ausgezeichneten Zucker lieferte; und yetl, der Tabak, der entweder, mit flüssigem Ambra vermischt, aus reich vergoldeten Holzpfeifen oder in Zigarrenform aus schönen silbernen Spitzen geraucht wurde. Die Sauberkeit der Straßen war so groß, daß, wie ein spanischer Bericht sagt, ein Mensch, der sie passierte, sicher sein konnte, sich die Füße ebensowenig zu beschmutzen wie die Hände. Ebenso erstaunlich war die Ehrlichkeit der Bevölkerung: alle Häuser standen vollkommen offen; wer seine Wohnung verließ, legte zum Zeichen seiner Abwesenheit ein Rohrstäbchen vor die Türmatte, und nie gab dies Anlaß zu Diebstählen; überhaupt sollen die Gerichte fast niemals genötigt gewesen sein, über Eigentumsdelikte zu judizieren. Die Aufzeichnungen geschahen auf piktographischem Wege, das heißt: mit Hilfe einer sehr ausgebildeten Bilderschrift; außerdem gab es Schnellmaler, die mit unglaublicher Geschwindigkeit alle Ereignisse sprechend ähnlich festzuhalten wußten. Der mathematische Sinn der Azteken muß sehr entwickelt gewesen sein, denn ihr arithmetisches System war auf dem schwierigen Prinzip der Potenzierung aufgebaut: die erste Grundzahl war 20, die nächsthöhere 20 2=400, die nächste 20 3=<68000 und so weiter; auch sollen die Maya, unabhängig von den Indern, die Null erfunden haben, jenen ebenso fruchtbaren wie komplizierten Begriff, der sich in Europa nur sehr langsam durch die Araber eingebürgert hat.

Höchstwahrscheinlich war der amerikanische Kulturkreis ein Glied jenes großen Kulturgürtels, der in für uns prähistorischer Zeit die ganze bewohnte Erde umschlang, indem er sich von Ägypten und Vorderasien über Indien und China bis nach Mittelamerika erstreckte und vermutlich auch die beiden vorantiken europäischen Welten, die etruskische und die ägäische, in sich schloß: eine Hypothese, die unter dem Namen »Panbabylonismus« viel Widerspruch und Anerkennung hervorgerufen hat. Und in der Tat zeigten die Azteken in ihrem Kalenderwesen, ihrer Bilderschrift und ihrem Gestirnkult eine große Verwandtschaft mit den Babyloniern, während anderseits eine ganze Reihe von Eigentümlichkeiten sehr lebhaft an die Ägypter erinnern: ihre Regierungsform, die eine Verbindung von Gottkönigtum und Priesterherrschaft darstellte; ihr Bureaukratismus, der in der pedantischen Bevormundung der breiten Volksmassen eine Hauptaufgabe der Verwaltung erblickte; das sorgfältig abgezirkelte Zeremoniell ihrer Verkehrsformen; die Fratzenhaftigkeit und Tiergestalt ihrer Götterbildnisse; ihre große Begabung für das naturalistische Porträt, verbunden mit einem starken Hang zur Stilisierung der höheren Kunstformen; die verschwenderische Pracht und ausschweifende Kolossalität ihrer Bauten.

Christliche Elemente in der aztekischen Religion

Am frappantesten sind jedoch die Ähnlichkeiten zwischen der Religion der Mexikaner und dem Christentum. Die Krone ihres Kaisers, der zugleich der höchste Priester war, hatte fast dieselbe Form wie die päpstliche Tiara; ihre Mythologie kannte die Geschichten von Eva und der Schlange, der Sintflut und dem babylonischen Turmbau; sie besaßen in etwas transformierter Gestalt das Institut der Taufe, der Beichte und des Abendmahls; sie hatten Klöster mit Mönchen, die ihr Leben mit Vigilien, Fasten und Geißelungen verbrachten; sie erblickten im Kreuz ein heiliges Symbol und hatten sogar eine Ahnung von der Dreieinigkeit und der Inkarnation. Ihre Sittengebote zeigen manchmal eine fast wörtliche Übereinstimmung mit der Bibel. Eine ihrer Lehren lautete: »Halte Frieden mit allen, ertrage Schmähungen mit Demut: Gott, der alles sieht, wird dich rächen.« Und eine andere: »Wer eine Ehefrau zu aufmerksam ansieht, begeht Ehebruch mit seinen Augen.«

Ihre Religion war jedoch, ganz ebenso wie die damalige christliche, befleckt durch die Sitte der Menschenopfer, wobei die Kriegsgefangenen die Rolle der Ketzer spielten. Sie wurden an bestimmten Festtagen zum Tempel geführt, wo ein für diesen Dienst bestimmter Priester ihnen mit einem scharfen Beinmesser die Brust öffnete und das noch rauchende und klopfende Herz herausriß, das dann am Altar des Gottes niedergelegt wurde. Dieser Brauch hat begreiflicherweise den Abscheu der Nachwelt erregt und der Vermutung Raum gegeben, daß die Mexikaner doch nur eine Art Wilde gewesen seien; doch läßt sich zu seiner Entschuldigung einiges anführen. Zunächst war er auf die Azteken beschränkt, die Tolteken übten ihn nicht, und er scheint auch bei jenen im Schwinden gewesen zu sein: wenigstens gab es in Cholula, der zweitgrößten Stadt Mexikos, einen Tempel des Gottes Quetzalcoatl, dessen Kultus die Menschenopfer durch Vegetationsopfer ersetzt wissen wollte. Sodann trug er keineswegs den Charakter der Grausamkeit und Blutgier, sondern war eine, obschon höchst barbarische, religiöse Zeremonie, durch die der Gläubige sich die Gottheit geneigt zu stimmen suchte und die für so wenig entehrend galt, daß sich bisweilen fromme Personen freiwillig dazu erboten: er war eine einfache Frucht der Angst und des Aberglaubens und stand moralisch sicher nicht tiefer als die Autodafés der Spanier, deren Motive Fanatismus und Rachsucht waren, und zweifellos höher als die Gladiatorenspiele der Römer, die ihre Gefangenen zum Vergnügen schlachten ließen.

Der weiße Gott

Eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten der mexikanischen Religion war der Glaube an die Rückkehr des soeben erwähnten Gottes Quetzalcoatl, von dem man annahm, daß er vor langer Zeit geherrscht und das Volk in allen möglichen nützlichen Künsten unterrichtet, auch alle bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen gestiftet habe und schließlich in seiner Zauberbarke davongefahren sei, mit dem Versprechen, eines Tages zurückzukehren.

Nun hatten gerade um jene Zeit die Priester erklärt, daß die Zeit der Wiederkunft des Gottes nahe sei. Er wurde aus dem Osten erwartet, und es hieß, daß er sich von den Azteken durch weiße Hautfarbe, blaue Augen und blonden Bart unterscheiden werde. Alle diese Prophezeiungen sollten sich erfüllen, und dieser rührende Glaube, von den Spaniern in der niederträchtigsten Weise ausgenützt, war einer der Gründe für die wunderbare Tatsache, daß es einer hergelaufenen Rotte von analphabetischen Banditen gelungen ist, diese Kulturwelt nicht nur zu unterjochen, sondern völlig zu zertrampeln. Dazu kamen noch andere Ursachen: die geringere physische Energie der Eingeborenen, deren Existenz durch das erschlaffende Tropenklima und das jahrhundertelange Leben in Ruhe und Überfluß allmählich etwas Vegetatives, Blumenhaftes angenommen zu haben scheint; die Ausrüstung der Europäer mit Feuergewehren, Pulvergeschützen, Stahlpanzern und Pferden, lauter Dingen, die den Mexikanern völlig unbekannt waren und auf sie neben der physischen Wirkung auch einen ungeheuren moralischen Eindruck machen mußten; die höhere Entwicklungsstufe der spanischen Taktik, die der aztekischen etwa ebenso überlegen war wie die makedonische der persischen; die innere Uneinigkeit des Reichs und der Abfall mächtiger Stämme. Der Hauptgrund dürfte aber darin bestanden haben, daß die ganze Mayakultur sich bereits im Stadium der Agonie befand und es ihr irgendwie bestimmt gewesen sein muß, unterzugehen. In der ganzen uns bekannten Geschichte können wir ja das Schauspiel verfolgen, daß ältere Kulturen durch jüngere unterworfen werden: die sumerische durch die babylonische, die babylonische durch die assyrische, die assyrische durch die persische, die persische durch die griechische, die griechische durch die römische, die römische durch die germanische. Aber immer bemerken wir auch, daß die niedrigeren Kulturen die höheren assimilieren: so übernahmen die Babylonier die sumerische Keilschrift, die Perser die chaldäische Sternkunde, die Römer die griechische Kunst und Philosophie, die Germanen die römische Kirche. Aber in Amerika hat sich nichts dergleichen ereignet: die indianische Kultur ist spurlos verschwunden. Dieser in der Weltgeschichte einzig dastehende Fall erklärt sich aber eben durch die ebenfalls einzigartige Tatsache, daß ein ganzes Volk nicht von einem andern Volk, das zwar barbarischer, aber doch auch ein Volk war, unterjocht, sondern von einer ruchlosen Räuberbande ausgeplündert und ausgemordet wurde; und während längst versunkene Kulturen wie die ägyptische oder die vorderasiatische, von der griechischen und römischen gar nicht zu reden, noch heute auf geheimnisvolle Weise ihre befruchtenden Wirkungen ausüben, ist durch das schändliche Verbrechen der Conquista die Menschheit um eine hohe und einmalige Art, die Welt zu sehen, und damit gewissermaßen um einen Sinn ärmer geworden.

Peru

Vielleicht noch höher als die aztekische Kultur stand die ihr verwandte peruanische: beide Völker zeigen große Übereinstimmungen, scheinen aber nichts voneinander gewußt zu haben. Das ganze Land war mit wahren Wunderwerken der Ingenieurkunst bedeckt, durch endlose Kanäle, Aquädukte und Berieselungsterrassen zur höchsten Fruchtbarkeit gebracht und nicht bloß in die Breite, sondern auch in die Höhe aufs sorgfältigste bebaut: selbst über den Wolken waren Obstgärten angelegt. Straßen, die jedes Hindernis überwanden, durchzogen das ganze Gebiet, indem sie sich bald ausgehauener Treppenfluchten und ausgefüllter Schluchten, bald langer Tunnels und kunstvoller Hängebrücken bedienten. Die Dungmethoden der Peruaner haben ganz Europa belehrt, und von der Einführung des Guanos datiert bei uns eine neue Ära des Ackerbaues. Unerreicht war ferner ihre Webekunst, die ihnen zugleich durch ein kompliziertes, bis heute noch unentziffertes Knüpfsystem die Schrift ersetzte; auch waren sie Meister im Ziselieren und besaßen ein reguläres Drama. Ihr Staatswesen war eine Art Kommunismus mit aristokratischer Oberschicht und theokratischer Spitze, und es ist wahrscheinlich nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß unser Erdteil bisher noch keines von ähnlicher Vernünftigkeit, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit hervorgebracht hat. Durch ihre genialen Bewässerungsanlagen, ihre Religion, die als höchsten Gott die Sonne und als dessen Schwestergattin den Mond verehrte, und ihren Mumienkult erinnern sie fast noch auffallender als die Azteken an die Ägypter.

Noch weit aufreizender als die mexikanische Eroberung ist die peruanische: eine Kette infamster Taten der Tücke und Bestialität. Der Name des Schurken Francisco Pizarro, der nicht umsonst von einer Sau gesäugt wurde, würde es verdienen, als sprichwörtliches Sinnbild hinterlistiger Gemeinheit, schamloser Raubgier und viehischer Roheit, als das entehrendste Schimpfwort, das ein Mensch dem andern entgegenzuschleudern vermag, in der Erinnerung der Nachwelt fortzuleben. Die Geschichte seiner »Eroberung« ist in Kürze die folgende. Er vereinbarte mit Atahuallpa, dem peruanischen Kaiser, eine Unterredung, zu der dieser mit einem großen, aber unbewaffneten Gefolge erschien. Während des Gesprächs gab er plötzlich ein Zeichen, Soldaten drangen aus dem Hinterhalt hervor, hieben die ganze kaiserliche Suite nieder und nahmen Atahuallpa gefangen. Dieser, der ebenso wie Montezuma ein Mensch von einer Sanftheit, Zartheit und Noblesse gewesen zu sein scheint, wie sie im damaligen Europa nicht einmal geahnt werden konnte, war anfangs über dieses niederträchtige Vorgehen, das jeder bessere Räuberhauptmann verschmäht hätte, wie erstarrt, faßte sich aber bald und bewahrte seine Ruhe und Würde so sehr, daß er sich sogar im Gespräch mit dem spanischen Gesindel zu scherzhaften Äußerungen herabließ. Da er bald durchschaute, daß es den Einbrechern hauptsächlich auf seine Schätze ankam, versprach er ihnen, als Lösegeld ein ganzes Zimmer bis zur Höhe eines emporgestreckten Mannesarmes mit Gold zu füllen. Pizarro ging darauf ein und schleppte eine unermeßliche Beute fort, wie sie bisher in seinem Mutterland noch nie auf einem Haufen gesehen worden war. Als er das Gold beisammen hatte, ließ er den Inka erdrosseln: auf Grund heuchlerischer Anklagen von so lächerlicher Frechheit und Stupidität, daß sogar einige der übrigen Banditen dagegen Protest erhoben. Dies vollbrachten Christen im Jahre 1533, genau anderthalb Jahrtausende nach der Kreuzigung ihres Heilands.

Die Rachegeschenke Amerikas

Pizarro endete wie die meisten Mörder: er wurde eines Tages von einigen seiner Spießgeseilen geschlachtet. Und ganz Spanien Amerikas hat von seinen amerikanischen Schandtaten keinen Segen gehabt: es ergab sich immer mehr der entnervenden und verdummenden Gewohnheit, von gestohlenem Gut zu leben, und in kaum einem Jahrhundert lag es da, wie es bis zum heutigen Tage daliegt: ein seelenloser, halbtoter Kadaver, düster, träge, sich selber verzehrend, seiner eigenen trostlosen Geistesstumpfheit, schauerlichen Herzensöde und wilden Grausamkeit ausgeliefert. Ja ganz Europa ist von der göttlichen Nemesis ereilt worden; denn es brachte aus der neuen Welt nicht bloß Mais und Tabak, Tomate und Banane, Kakaobohne und Kartoffelknolle, Cochenille und Vanille, sondern auch das Gold und die Syphilis.

Die Lustseuche, die »Venerie«, wurde in kürzester Zeit eine Art Modekrankheit des Zeitalters. Fast alle prominenten Persönlichkeiten jener Tage waren laut den zeitgenössischen Berichten Luetiker: Alexander und Cesare Borgia, Julius der Zweite und Leo der Zehnte, Celtes und Hutten, Karl der Fünfte und Franz der Erste, der sie sogar auf eine höchst romanhafte Art erworben haben soll, indem sich, wie Mézeray, der Verfasser der berühmten »Histoire de France«, erzählt, der Gatte der schönen Ferronière, mit der der König ein Liebesverhältnis unterhielt, absichtlich schwer infizierte, um diesen zugrunde zu richten, und tatsächlich soll dies auch seinen Tod herbeigeführt haben. Die Krankheit war so verbreitet, daß niemand sich scheute, sie offen zu bekennen, sie war der Gesprächsstoff der besten Gesellschaft, ja es wurden sogar Gedichte auf sie gemacht. Sie ist sicherlich einer der Hauptgründe für die Verdüsterung Europas, die sich seit dem Ausgang des Mittelalters zu verbreiten beginnt: sie hat in den höchsten und niedrigsten, irdischsten und metaphysischsten Akt des Menschen ein Element des Mißtrauens gebracht und ihn damit doppelt vergiftet.

Das amerikanische Gold hat sich als ein vielleicht noch größerer Fluch erwiesen als die Syphilis. Die ebenso plötzliche wie massenhafte Einführung von Edelmetall, woran im Mittelalter Mangel geherrscht hatte, hat die Ausbreitung der Geldwirtschaft unmittelbar gefördert, ja überhaupt erst den vollen kapitalistischen Betrieb ermöglicht, die Unterschiede zwischen arm und reich maßlos gesteigert und eine allgemeine Teuerung erzeugt, mit der die Löhne nicht Schritt halten konnten: in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts stiegen die Preise um hundert und hundertfünfzig, bei einzelnen Artikeln sogar um zweihundert und zweihundertfünfzig Prozent. Die Rachegeschenke Amerikas an Europa waren Seuche und Not oder vielmehr zwei Seuchen: Lues und Goldfieber. Jeder will möglichst schnell und mühelos reich werden, auch die heimische Erde wird gierig nach Schätzen durchwühlt, und in der Tat werden auch hier neue Edelmetalle entdeckt, die man durch eine vervollkommnete Bergwerkstechnik exploitiert.

Wir sehen: die »Inkubationszeit« ist vorüber, der Giftstoff wird wirksam und ergreift Kopf, Herz und Mark des europäischen Organismus.

Faust

Alle Tendenzen der anbrechenden Neuzeit sind von der Volksphantasie sehr wirksam in eins zusammengefaßt worden in der Figur des Faust. Faust ist Goldmacher und Schwarzkünstler: durch Wissenschaft und Magie sucht er Reichtum und weltliche Macht zu erlangen. Faust ist Protestant und Theolog: Landsmann Melanchthons, Zeitgenosse Luthers und eine Zeitlang in Wittenberg ansässig. Faust ist Humanist und Liebhaber der Antike: er erbietet sich, die verlorengegangenen Komödien des Plautus und Terenz wieder herbeizuschaffen, zitiert die Schatten der homerischen Helden aus dem Hades, verbindet sich, durch geheimnisvolle Kräfte verjüngt, mit Helena und erfüllt damit symbolisch den Sinn der Renaissance: die Regeneration des gotischen Geistes durch seine Vermählung mit dem hellenischen. Faust galt sogar jahrhundertelang als der eigentliche Erfinder der Buchdruckerkunst: denn nach einer der Überlieferungen hat er die »Matrizen« ersonnen, mit denen die beweglichen Lettern gegossen wurden, während Gutenberg noch mit festen Holztafeln druckte. Diese Annahme wird neuerdings bestritten; aber jedenfalls hat das Volk einen gesunden Instinkt bewiesen, als es ihn zum Schöpfer jener Erfindung machte, durch die mehr als durch irgendeine andere der selbstherrliche Trieb des Menschen nach geistiger Expansion Nahrung und Sättigung gefunden hat. Faust verschreibt sich dem Teufel und verlangt von ihm kontraktlich, daß er ihm auf alle Fragen antworte, und immer die Wahrheit; hier personifiziert sich der tiefste Grundzug des Zeitalters: der grenzenlose Erkenntnisdrang und zugleich der Glaube, daß es geheime Formeln gebe, die auf alles antworten; und wiederum hat die Legende einen sicheren Takt bewiesen, indem sie Faust als Verbündeten und Opfer des Teufels schildert und damit tiefsinnig ausdrückt, daß alle »reine Vernunft« vom Teufel ist und das Streben nach ihr blinde Hoffart, geweckt durch den trügerischen Rat der Satansschlange, wie es schon auf den ersten Blättern der Bibel verzeichnet steht: eritis sicut Deus. Ja schon in dem Namen Faustus, der Glückliche, offenbart sich die Grundtendenz, die ein neues Zeitalter einleitet: der Glaube, daß es in dieser Welt auf Glück ankomme und daß dieses Glück in Macht, Sinnengenuß und Wissen bestehe.

Das Außerordentliche und (vielleicht sogar unbewußt) Geniale der Goethischen Faustdichtung besteht darin, daß sie eine kompendiöse Darstellung der Kulturgeschichte der Neuzeit ist. Faust beginnt als Mystiker und endet als Realpolitiker. Faust ist die ganze Versuchung des modernen Menschen, die sich in tausend Masken und Verkleidungen anschleicht: als Alkoholismus, als Sexualität, als Weltschmerz, als Übermenschentum; und dabei ist er der vorbildliche Unbefriedigte, in allem Einzeldasein sich wiedererkennend, qualvoll nach der Einheit der Erscheinungen ringend, und immer vergeblich. Die Tragödie Fausts ist die Tragödie des Menschen der Neuzeit, die Tragödie des Rationalismus, des Skeptizismus, des Realismus. Ihm zur Seite steht der Teufel. Aber Mephisto ist gar nicht böse, sondern bloß frivol, zynisch, materialistisch und vor allem geistreich: die Erscheinung gewordene pure, kalte, sterile Intelligenz, ein höchst differenziertes Gehirnwesen und der konsequenteste Vertreter der genialen Ichsucht. Das Geistreiche und Nurgeistreiche ist der zerstörende Dämon im Menschen der Neuzeit. Mephisto hat den bösen Blick des Intellektualismus, des Sensualismus, des Nihilismus. Er zeigt dem ringenden Genius Fausts die ganze Welt und legt sie ihm zu Füßen; aber, betrogen, muß Faust erkennen, daß diese Welt ihm nur scheinbar gehört, nämlich nur seinem Verstand, der etwas schlechthin Unwirkliches ist. Dem Menschen des Mittelalters, dessen Weltbild eng und zum Teil schief war, gehörte dieses Bild, denn es war konkret, es war mit dem Herzen erfaßt. Seit dem Ausgang des Mittelalters aber gibt es keine Realitäten mehr! Die letzte große Realität, die Europa erlebt hat, war der Irrsinn der »Inkubationszeit«: diese Menschen lebten noch in einer realen Welt, denn für den Irrsinnigen ist nicht, wie eine oberflächliche Betrachtung glauben könnte, alles Phantom, sondern ganz im Gegenteil alles leibhaft und wirklich, sogar seine Träume, seine Wahnbilder, seine Wunschvorstellungen. Alles, was seitdem kam, waren verzweifelte und ergebnislose Versuche, Wirklichkeit zu erraffen.

Sieg des Menschen über Gott

Es ist schwer über die Empfindung hinwegzukommen, daß der Schluß des »Faust« eigentlich unmoralisch ist. Faust wird durch die Liebe erlöst; aber ohne zureichenden Grund. Denn hier gibt es nur zwei Möglichkeiten. Die eine wäre, daß alle durch die göttliche Liebe erlöst werden: dann gibt es überhaupt keine Verdammten, und Faust verfällt nur deshalb nicht dem Teufel, weil ihm niemand verfällt; so aber ist es nicht gemeint, denn Goethe rezipiert mit voller Absicht das mittelalterliche Weltbild mit Himmel und Hölle, Seligkeit und Verdammnis. Es handelt sich vielmehr um den zweiten Fall: daß Faust gerettet wird, weil er ein besonders reines und frommes, Gott wohlgefälliges Leben geführt hat. Das hat er aber nicht getan: er hat mit der Sünde und dem inneren Versucher nicht einmal gekämpft, geschweige denn in diesem Kampf gesiegt; er hat niemals um seinen Gott gerungen: dieser Gedanke tritt nie in seinen Gesichtskreis. Der Himmel kommt bloß am Anfang und am Schluß vor, als eine eindrucksvolle Vedute und erhabene Kulisse, ein imposanter Farbenfleck, der im Gesamtgemälde der faustischen Seelengeschichte nicht gut entbehrt werden konnte. Was dazwischen liegt, ist pures Weltleben. Faust ist Polyhistor, Philanthrop, Lebemann, Kolonisator, Bankier, Wettermacher, Liebhaber, Ingenieur und noch vieles andere, aber niemals Gottsucher. Wie kann er da jemals erlöst werden? In den wenigen Bibelworten von der dreimaligen Versuchung Christi ist mehr Religiosität enthalten als im ganzen »Faust«. Es treten wohl auch an Faust Versuchungen heran, aber diese Versuchungen sind keine christlichen.

Fausts Konflikt ist ein philosophischer, gelehrter, mondäner, der typische Konflikt des modernen Menschen. Daß er vom Dichter als der tragische Konflikt, als die Tragödie der ganzen Menschheit dargestellt wird, ist sehr charakteristisch: hier riecht man achtzehntes Jahrhundert, common sense, »reine Vernunft«, kurz das ganze einseitig nach Bildung und Erkenntnis orientierte Weltbild des Klassizismus; und sogar neunzehntes Jahrhundert: Aktivismus, Technokratie, Imperialismus. Denn womit »krönt« Faust schließlich sein Lebenswerk? Er trocknet Sümpfe aus.

Vom theozentrischen zum geozentrischen Weltbild

Sieg des Menschen über die Natur: in diesen Akkord klingt der »Faust« aus. Und mit diesem schließt auch die Tragödie der Neuzeit. An ihrem Beginn steht, ebenso wie am Beginn des »Faust«, der Sieg des Menschen über Gott, nämlich die Entdeckung der weltgesetzgeberischen Selbstherrlichkeit des Menschen, seiner auf Sinne und Verstand gegründeten Allmacht. In einem lateinischen Epigramm sagt Agrippa von Nettesheim, der Goethe mehr als einen Zug für seinen Faust geliefert hat: »Agrippa ist ein Philosoph, ein Dämon, Heros, Gott und alles.« Es ist eine sehr äußerliche, sehr oberflächliche Ansicht, daß zu Anfang der Neuzeit auf Grund der astronomischen Entdeckungen das anthropozentrische Weltbild aufgegeben worden sei. In Wahrheit verhielt es sich gerade umgekehrt: das Weltgefühl des Mittelalters, das ganz im Außermenschlichen: in Gott, im Jenseits, im Glauben, im Unbewußten verankert war, wird abgelöst von einem Weltgefühl, das im Menschlichen und Nurmenschlichen: im Diesseits, in der Erfahrung, im Verstand, im Bewußtsein wurzelt. Der Mensch, das Maß aller Dinge, tritt an die Stelle Gottes, die Erde an die Stelle des Himmels, das Weltbild, das bisher theozentrisch war, wird erst jetzt anthropozentrisch und geozentrisch: das Irdische, bisher mit Mißtrauen und Geringschätzung betrachtet, wird erst jetzt legitim, Realität, schließlich alleinige Realität. Und während die Erde in den astronomischen Experimenten und Systemen zum winzigen Lichtfleck herabsinkt, wird sie in den Herzen und Köpfen der Menschen zum alles beherrschenden Zentrum, zum allein Wichtigen, allein Wirksamen, allein Bewiesenen, allein Wahren, zum Mittelpunkt des Weltalls.

Der Augustinermönch

Wir können uns heute kaum mehr eine Vorstellung davon machen, welchen ungeheuren Auftrieb diese neue Erkenntnis, die sich vorerst nur als ein allgemeines dunkles Grundgefühl geltend machte, den damaligen Menschen verlieh. Eine tiefe Heiterkeit und Daseinslust erfüllte die ganze Epoche. Wenn man die einzelnen kulturgeschichtlichen Zeitalter auf ihre allgemeine Stimmung und Temperatur, ihr Kolorit und »Ambiente« hin betrachtet, so wird man zumeist an irgendeine Tageszeit und Witterung erinnert werden. So hat man zum Beispiel beim ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter unserer »Klassiker«, die Impression eines gemütlichen, schummerigen Spätnachmittags: es ist die beste Zeit, zum Fenster hinauszusehen und bei Kaffee und Pfeife zu plaudern. Die »Inkubationszeit« haben wir mit einer Polarnacht verglichen; wir könnten auch sagen, sie wirke wie eine sternenklare und doch gruselige Winternacht: alles ist schattenhaft, transparent, unwirklich wie die Bilder einer Zauberlaterne. Jenes anbrechende sechzehnte Jahrhundert aber war wie ein kühler frischer Sommermorgen: die Hähne krähen, die Luft singt, die ganze Natur dampft von duftendem Leben, alle Welt ist prachtvoll ausgeschlafen und reckt sich tatenlustig dem Tagwerk und der Sonne entgegen. Ein vulkanischer Wagemut, eine edle Neugier und Wißbegierde durchbrauste die Köpfe und Herzen. Man forschte nach dem Fabelland Indien und lernte etwas viel Märchenhafteres kennen: einen ganzen Weltteil mit Dingen, wie sie bisher noch keine Phantasie geträumt hatte. Man suchte den Stein der Weisen und fand etwas viel Wertvolleres: die Kartoffel. Man bemühte sich um das Perpetuum mobile und entschleierte ein viel größeres Geheimnis: den ewigen Lauf der Gestirne. Aber während man draußen so große Dinge entdeckte, machte ein junger Augustinermönch eine noch viel wichtigere Entdeckung im Innern des Menschen, die mehr wert war als Goldsand, Tabak und Kartoffeln, als Druckerpresse, Schießpulver und alle Astronomie: er wies seinen Brüdern den Weg, wie sie das Wort Gottes wiederfinden könnten und die Freiheit eines Christenmenschen.


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