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5. Von Thorn nach Berlin

Fritz hatte ausstudiert, war Magister geworden und hatte die Prüfung bestanden, welche ihn zur Übernahme eines geistlichen Amtes berechtigte. Durch seine Professoren war er einem Grafen aus Hannover empfohlen, welcher am englischen Hofe lebte und einen Erzieher für seinen Sohn suchte; zum Winter sollte der neue Kandidat mit der Familie des Grafen nach London abreisen, jetzt kehrte er in die Heimat zurück, froh der guten Aussichten für seine Zukunft.

Er fand die Mutter erkrankt. Seit dem Tode des geliebten Mannes war ihre Gesundheit erschüttert; die traurigen Nachrichten, welche sie von August erhielt, hatten ihr die letzte Kraft genommen. Weinend saß sie neben dem Sohne, der jetzt an Stelle des Gatten das Haupt der Familie werden sollte, und hielt gerade den Brief in der Hand, in welchem August von der Tyrannei des Hauptmanns und von seinem Arrest geschrieben, als Frau von Borsdorf eintrat. Auch diese hatte einen traurigen Brief in der Tasche und fand kaum höfliche Worte, um ihre Freude über die glückliche Heimkehr des Herrn Kandidaten auszudrücken. Beide Mütter hatten einander lange das Unglück ihrer Kinder zu bergen gesucht, heut aber vermochte Dorchens Mutter mitfühlende Herzen nicht zu entbehren. Sie zog unter Tränen den Brief der Tochter hervor, Dorchen war nicht mehr bei ihren Verwandten, sondern hatte sich in der Stadt Thorn unter Vermittlung der Frau Bürgermeisterin Zernecke bei redlichen Leuten eingemietet. Dort aber war ihr Aufenthalt nicht sicherer geworden: die Stadt unter den Händen wilder polnischer Banden, in den Familien der Bekanntschaft Schrecken und Todesangst, so daß die Tochter flehentlich bat, ihr nach der Heimat zurückzuhelfen. Als Frau von Borsdorf über dem Briefe die Hände rang, sagte Fritz: »Ich bin bereit, zur Stelle abzureisen, um Fräulein Dorchen zu holen, wenn mir Frau von Borsdorf das Zutrauen schenkt und die liebe Mutter mir's gestattet. Den Rückweg nehme ich durch das Preußische, vielleicht vermag ich dem Bruder in irgend etwas zu helfen.«

Frau von Borsdorf war allzu bewegt, um die schicklichen Einwendungen gegen das angebotene Opfer vorzubringen, sie nahm es mit gerührtem Danke an; auch der Mutter war willkommen, daß Fritz bei dem Bruder vorsprechen wollte, denn sie setzte bereits auf die Umsicht ihres Ältesten ein festes Vertrauen. Und Fritz trat, nachdem er sich die nötigen Pässe besorgt hatte, unter den Segenswünschen der Frauen die polnische Reise an.

An einem kalten Dezembertage fuhr er über die lange Holzbrücke der Weichsel. Über ihm bargen dunkelgraue Wolken das Sonnenlicht, ein kalter Sturmwind heulte ihm aus den Steppen des Ostens entgegen, unten wälzte der Strom seine hochgeschwollenen Fluten dem Meere zu, schäumte und gurgelte zornig an den Eisböcken und Pfählen der Brücke. Die vieltürmige Stadt vor ihm war mit Mauern und Bastionen umschanzt, aber die Erdwerke standen zerrissen und die Mauern durchlöchert von der letzten Belagerung her, das Stadttor war mit einer polnischen Wache besetzt, welche den Reisenden anherrschte und erst nach langem Aufenthalt einließ. Da Friedrich in den Straßen ein wirres Menschengedränge sah, stellte er sein Fuhrwerk in eine Herberge am Tor und ging, ohne sich aufzuhalten, vorwärts.

Er betrat eine ansehnliche Stadt, um ihn ragten hohe Häuser, von denen viele alte Steinverzierung wiesen, und große Kirchen mit Strebepfeilern; es war viel fremdes Volk in den Gassen, verwegene Gestalten mit wirrem Haar in geflickten Pelzen; auch polnische Reiter in ihrer fremden Tracht schritten zu dreien oder vieren mit klirrendem Säbel stolz durch die Menge. Aber die deutschen Bürgersleute trieben auf der Straße verstört umher, alle mit finsteren Mienen, viele verhärmt und bleich; in den Haustüren standen die Weiber beieinander und rangen die Hände, auch wohlgekleidete Männer gingen gebückt und scheu ihren Weg dahin. Den Fremden beachtete niemand, ja, ihm schien es, als wenn Männer und Frauen die Blicke von ihm abwendeten. Er kam zu einer Unglücksstunde. War eine Pest ausgebrochen oder ein Feind in das Land gefallen? Lange sah er keinen ruhigen Mann, den er sich zu fragen traute. Ein Trupp polnischer Trabanten zog dem Markte zu, wilde Gesellen mit großen Schnauzbärten, in langen Pelzröcken, die Hellebarden in der Faust. Sie nahmen die ganze Breite der Straße ein, und er wurde an der Marktecke zur Mauer eines Hauses gedrängt, wo Rüstzeug durcheinander lag. Von da blickte er über den Platz; er war mit Gruppen schweigender Stadtleute gefüllt, die auf ein Gerüst von Bohlen und Brettern starrten, über welchem die Zimmerleute arbeiteten. Kein lautes deutsches Wort wurde gehört, zuweilen nur ein polnischer Zuruf der Arbeiter. Als er auf die steinerne Türschwelle des Eckhauses trat, fand er die Tür halb geöffnet und dahinter einen bejahrten Mann in Bürgertracht, auch diesen mit einem unheimlichen Ausdruck von Schrecken und Trauer. Da faßte er sich ein Herz und fragte höflich nach der Wohnung des Herrn Rat Roesner. Als der Bürger deutsche Worte hörte, kam er aus dem Hausflur hervor, aber nach der Anrede sah er den Fragenden so überrascht und argwöhnisch an, daß Friedrich rief: »Um Gottes willen, was geht hier vor? Ich bin ein Fremder, soeben angekommen, Sie sind der erste, den ich zu fragen wage.« –

»Sie sind ein Fremder?« wiederholte der Mann grimmig, »und Sie wollen Herrn Rat Roesner besuchen? Warten Sie noch einen Tag, dann können Sie ihm von dieser Haustür gerade ins Gesicht sehen, wenn er auf dem Gerüst kniet und sein Kopf von den Schultern fällt.« Friedrich trat entsetzt zurück. Als der Bürger den Schrecken des Fremden sah, brach er klagend aus: »Als noch keiner wußte, was kommen würde, hat es mir geahnt, denn da oben« – er wies über sich – »griff seine Hand nach dem Armesündergewand, und ich sah, wie er vor den Blutflecken schauderte.« Dem Jüngling fuhr in seinem Schrecken die Ahnung durch die Seele, daß er vor dem Hause seiner Väter stand. »Wollen Sie gestatten, daß ich für kurze Zeit eintrete?« bat er tonlos.

Der Hausherr schloß hinter ihm die Haustür und öffnete seine Stube. »Setzen Sie sich,« sagte er, auf einen Lederstuhl weisend, »ich merke, auch Sie sind erschrocken. Sind Sie evangelisch?« Friedrich nickte: »Ich bin Kandidat der Theologie.«

»Und Sie wollten zu unserem Herrn Rat?« fragte der Wirt kopfschüttelnd weiter, »woher sind Sie denn, daß Sie das Unglück nicht wissen?«

»Ich komme auf geradem Wege aus Kursachsen.«

»Da kommen Sie zur rechten Stunde, um mit anzusehen, was Ihr Kurfürst, der bei uns König von Polen heißt, den Deutschen für ein Fest bereitet. Weil der Pöbel den polnischen Studenten die Fenster des Kollegiums eingeschlagen hat, sollen morgen neun Bürger und Bürgerskinder geköpft und gevierteilt werden und dazu unsere beiden Herren Bürgermeister, den Polen und Pfaffen zur Satisfaktion.«

Friedrich stand schweigend am Fenster, sah vor sich das Gerüst und die dunklen Gestalten darauf. Nach einer Weile begann er: »Wundern Sie sich nicht über mein Benehmen, Herr Hannus; mein Name ist König, und Vorfahren von mir haben in alter Zeit dies Haus besessen.«

»Kennen Sie meinen Namen,« rief der Bürger erstaunt, »so ist mir auch der Ihre nicht fremd, die Herren Konsuln haben ihn genannt, und dieser Bekanntschaft wegen hat auch die Frau Bürgermeisterin das sächsische Fräulein bei uns in Kost gegeben.«

»Ist Fräulein Dorothee in Ihrem Hause?« fragte der Jüngling, und geschwunden waren im Nu der Zorn und die Trauer. Der Bürger wies über sich. »Sie wohnt oben, die Stube ist neu eingerichtet, auch ein Ofen ist darin.«

Fritz sprang die Treppe hinauf; er pochte an eine Tür und vernahm das »Herein« einer Stimme, deren süßer Ton ihm in den Jahren der Trennung oft im Ohr geklungen hatte. Als er das geliebte Mädchen an dem alten Fenster mit Glasrauten sitzen sah bei einem Gebetbuche, blieb er auf der Schwelle stehen.

Dorchen fuhr in die Höhe und schaute die große Gestalt, ein rosiges Licht überzog ihre Wangen, und sie hielt sich in freudigem Schreck an die Tischecke. Das war das Antlitz des Jugendfreundes, aber er war zum Mann geworden, die Züge fest, breit die Brust, sicher die Haltung und der Wuchs noch höher, als sie sich gedacht. Als er sprach: »Die Mutter schickt mich, das liebe Fräulein nach Hause zu holen«, da brachen ihr die Tränen aus den Augen und sie flog ihm mit einem Freudenruf entgegen. In schnellem Tausch von Frage und Antwort suchten beide ihrer Bewegung Herr zu werden; Fritz berichtete hastig von der Heimat und von der Trauer der Mutter, und während er sie an der Hand hielt, erzählte sie von allem Leid, das sie in schweren Jahren still getragen: von dem Unglück ihrer Cousine, welche krank und durch den rohen Gatten vernachlässigt, allen Halt verloren hatte und in devoten Bußübungen Hilfe suchte, dann von dem wilden polnischen Haushalt, von der Unordnung und Vergeudung und daß sie selbst bei allem Glanze, der sie umgab, doch durch die Verwandten hart wie eine Dienerin behandelt worden sei, und zuletzt von dem Einzug eines zügellosen Trosses polnischer Edelleute in das Schloß und von ihrer Flucht. Es kam heraus, obgleich sie es zu verbergen suchte, daß man ihr die Zumutung gestellt hatte, an den Gelagen teilzunehmen, welche mit gefälligen Frauen der Umgegend dicht neben den Zimmern der kranken Schloßherrin begangen wurden. Ein trunkener Haufe polnischer Junker war ihr eines Abends bis in die Stube der Kranken gefolgt, und sie hatte sich an dem Bett ihrer Cousine festgeklammert, um die Zudringlichen abzuwehren. Da war sie am nächsten Morgen, als noch alles schlief, begleitet von einem deutschen Diener der Woiwodin, aus dem Schlosse abgereist und hatte in der Stadt Zuflucht gesucht. Auch hierher hatten sie die Bekehrungsversuche der Geistlichen verfolgt, und der Rektor des Kollegiums war mehreremal zu ihr gekommen und durch seine Ermahnungen beschwerlich geworden.

Dem Theologen wurde heiß bei dem Gedanken an die Gefahr, in welcher die Seele des Mädchens gewesen, und er fragte zuerst: »Es ist den Fremden doch nicht gelungen, Zweifel in dem Gemüt des lieben Fräuleins zu erregen?« Aber ihre Antwort beruhigte ihn: »Auch ich habe in dem Umgange mit Ihrem seligen Vater einen Schutz gewonnen.«

»Wie aber steht es mit Ihrer Sicherheit?« fuhr Fritz in seiner Angst fort. »Hat der Pole Sie nicht als seine Verwandte zurückgefordert?«

»Ich habe es gefürchtet,« antwortete Dorchen, »doch ist es nicht geschehen. Ehe ich aus dem Schlosse ging, flehte ich die Cousine fußfällig an, mich ohne Hindernisse ziehen zu lassen und bis zur Heimreise vor Verfolgung zu schützen. Das versprach mir die Arme in Wehmut, ich verdanke wohl ihrer Fürbitte, daß man mich von dort her unbeachtet ließ.« Und in überströmender Bewegung rief sie aus: »Wie ein Engel des Himmels erschien mir der Herr Kandidat, als er in der Tür stand. Denn Tag und Nacht flehte ich um Rettung aus dieser Stätte des Unglücks. Hier im Hause habe ich menschenfreundliche Pflege gefunden, aber jetzt ist auch hier alles verstört.« Fritz sah sich in dem Zimmer um. »Dies ist die Stube,« sagte Dorchen leise, »dort an der Wand stand der Schrank mit dem blutigen Gewande, und ich habe mich oft des Abends gefürchtet, wenn ich hier allein saß.«

Die Frau des Hausbesitzers trat herein, Fritz dankte ihr im Namen der Familie, und die Rede kam auf die Schrecken der Gegenwart.

Im Gasthofe, der mit polnischem Kriegsvolk gefüllt war, fand der Reisende mit Mühe ein Unterkommen. Der mutlose Wirt wies ihn ab, und es bedurfte der Fürsprache eines entschlossenen Hausknechts: »Wir dürfen doch unsere Vettern aus dem Deutschen nicht wegen der polnischen Schnauzbärte wegjagen? Da ist noch das Stübchen neben dem Hamburger Kaufmann, die beiden können sich miteinander unterhalten.« Auf diese Empfehlung wurde Fritz angenommen und fand in seinem Stubennachbar, der ihm an der Treppe entgegentrat, einen artigen jungen Mann, welcher über den jämmerlichen Zuständen die gute Laune nicht verloren hatte und höflich sagte: »Ich habe seither bedauert, daß hier keine Geschäfte zu machen waren, jetzt werde ich dafür durch die Ankunft des Herrn und das Vergnügen seiner Nachbarschaft entschädigt. Kann ich Ihnen in dieser verwirrten Stadt behilflich sein, so bin ich zu allen Diensten erbötig.« Darauf stellten die Herren sich einander vor. Als der Hausknecht den Namen König hörte, wurde sein Gesicht noch schlauer, als es zuvor gewesen; er erklärte dem Gaste: »Dieser also ist Herr Buschmann, ich aber heiße Schlegel«, und bewies ihm fortan in den kleinen Diensten des Hauses die größte Aufmerksamkeit.

Als Fritz das Fräulein wiedersah, sagte er: »Noch etwas Schweres habe ich mitzuteilen. Wenn die Sorge um Ihre Sicherheit es gestattet, so muß ich sogleich unsere Geistlichen aufsuchen und mich erbieten, ihnen in ihrem heiligen Amte bei den Verurteilten zur Seite zu stehen. Denn ich höre, daß bereits einige der Prediger in eigener Todesgefahr geflohen sind, und daß die übrigen durch die Jesuiten bedroht werden, weil sie von ihrer Pflicht nicht weichen wollen. Da wird ihnen vielleicht die Hilfe eines Landsmanns willkommen sein.«

Dorchen wagte kein Wort des Widerspruchs, obwohl sie sich um die Gefahr des Jugendfreundes ängstigte, sie hüllte sich schnell in die Enveloppe und führte ihn zu ihrem Bekannten, dem Herrn Prediger Köhler. So stark war die Spannung dieser Tage und so verzweifelt die Stimmung, daß der ehrwürdige Herr dem Fremden, nachdem dieser sein Anerbieten getan, weinend um den Hals fiel und ihn sogleich zur Begleitung aufforderte. Bis zur Nacht weilte Friedrich in den Zellen der Verurteilten. Dann saß er still und bleich im Hause seiner Vorfahren, umgeben von der liebevollen Sorge der Hausgenossen. Als Dorchen in zärtlicher Besorgnis ihn bat, auch an sich selbst zu denken, sagte er: »Bedauern Sie mich nicht meines Amtes wegen, wünschen Sie mir Glück, denn ich habe heut Großes erlebt; bedauern Sie vielmehr uns alle darum, daß es ein deutscher Fürst und unser Landesherr ist, welcher dieses greuliche und in der Christenheit unerhörte Bluturteil gegen Deutsche hierhergesandt hat. Morgen früh aber bitte ich das Fräulein und unsere Gastfreunde, die Fenster des alten Hauses zu verhängen, die Tür verschlossen zu halten und in einer Hinterstube für die Armen zu bitten, damit das Schreckliche von Ihren Augen fernbleibe.«

Am nächsten Tage wurde zuerst Herr Konsul Roesner im inneren Hofe des Rathauses mit dem Schwert gerichtet, dann auf offenem Markt, grausam und unter Martern, neun Bürger und Bürgersöhne, von denen mehrere an dem Tumult gar nicht beteiligt waren. Als Friedrich in der Schreckensstunde den Zug der polnischen Reiter sah, welcher das Schafott umringte, das fremde Kriegsvolk an den Ecken des Marktes und auf dem traurigen Gerüst die Unglücklichen im Armensünderkleide, da wirbelte in seinem Haupte Gegenwärtiges und Vergangenes, was er vor sich sah und was einst an derselben Stätte geschehen war, wild durcheinander. Waren es Fremde, die vor seinen Augen geopfert wurden, war es einer seiner Vorfahren, oder war er es selbst, der in Todesnot stand? Die Schläge der Totenglocke klangen ihm wie ein Schreckenston, den er schon einmal in seiner Kindheit gehört. Und als einer der Verurteilten, der im Preußischen geboren war, und den er im Gefängnis besucht hatte, mitten in dem Totengebet mit heiserer Stimme murmelte: »Unser König wird uns rächen«, da wußte Friedrich auch, daß er die wilde Rede nicht zum erstenmal hörte; schon früher, vor langer Zeit, ob im Wachen oder im Traume, war der Ruf nach Rache in sein Leben gedrungen. Und ihm war, als ob alle Büßer im Armensünderkittel sich gegen ihn neigten und mit heiserer Stimme von ihm Rache heischten. Lange stand er so, gepeinigt durch einen Sturm der Leidenschaft, und er faltete in der Bedrängnis die Hände. Da stieg das Bild seines verstorbenen Vaters vor ihm auf, er dachte an das klare, feste, liebevolle Wesen, neigte das Haupt und bat in der Weise des Vaters, daß der Himmel ihm seine Seele festigen möge gegen die Dämonen der Wut und Rachsucht. –

Gern hätte Friedrich seine Jugendfreundin an demselben Tage hinweggeführt, aber der Fuhrmann verweigerte die Fahrt. In der Stadt waren die Häuser geschlossen, weil man eine Plünderung durch die Polen befürchtete, aus der Umgegend kamen Schreckensgerüchte von bewaffneten Banden, welche den Deutschen auflauern sollten. So wurde er gezwungen, noch mehrere Tage zu verweilen. Er sah in dieser Zeit den zweiten Bürgermeister, Herrn Zernecke, für den sich der Adel der Umgegend verwendet hatte und dessen Schicksal noch unsicher zwischen Leben und Tod schwebte; der milde, auf alles gefaßte Herr fand einen Trost darin, mit dem Landsmanne von dem traurigen Geschick seiner Stadt zu reden und von der unsicheren Zukunft des polnischen Preußens an der Weichsel. In diesen Tagen war auch der Hamburger zuweilen ein willkommener Gesellschafter, er bewies sich als ein kaltblütiger und beherzter Mann, der mit Verachtung in die wilde Unordnung hineinsah und die Sorge um das eigene Behagen nicht vergaß. Er blieb dem Sachsen treu zur Seite und machte bei Gängen durch die Stadt gern den Führer.

Als der Hamburger erfuhr, daß Friedrich mit einem Fräulein, welches ihm anvertraut sei, nach Berlin abreisen wolle, sagte er warnend: »Möge der Herr nicht für anmaßend halten, wenn ich einwende, daß der Weg bis an die preußische Grenze noch keineswegs sicher ist. Die Polen sind wie aufgestörte Hornissen in Bewegung, und ein sächsischer Paß wird den Herrn nicht schützen. Derselbe braucht entweder eine polnische Eskorte oder einen Passierschein von den großen Woiwoden der Gegend.«

»Beides habe ich nicht,« versetzte Fritz bekümmert, »ich muß es darauf ankommen lassen.« Herr Buschmann schüttelte den Kopf: »Ich möchte dem Herrn nicht zudringlich erscheinen; doch da auch ich in das Deutsche zurückkehre, so wage ich den Vorschlag, daß wir die Reise bis Berlin miteinander machen und uns in die Kosten teilen; ich habe mir Passierscheine verschafft, und meine Gegenwart könnte Sie vor Unannehmlichkeiten von seiten der Polen bewahren.«

Der Kandidat empfand, daß er dafür dankbar sein müsse, und doch war ihm die Gesellschaft des Fremden durchaus nicht willkommen. Er entschuldigte sich deshalb höflich, daß er dem Fräulein die Entscheidung überlassen müsse. Als er zu Dorchen von dem Anerbieten sprach, nahm sie es eifriger an, als ihm lieb war. »Mir ist der Gedanke fürchterlich, daß Sie meinetwegen noch in Gefahr kommen könnten.«

Als er aber den Tag vor der Abreise in das Hoftor trat, winkte ihm der Hausknecht nach dem Stall und begann, auf den Besen wie auf ein Zepter gestützt: »Herr Kandidat König, Sie sind ein guter Mann, aber Ihr Bruder ist schlauer.«

»Wie, Schlegel, du kennst meinen Bruder?« fragte Friedrich überrascht.

Der Knecht nickte. »Jetzt bin ich nur ein Schlegel, früher war ich der Böttcher selbst und stand mit Ihrem Bruder in einer Kompanie. Ich bin der Veränderung wegen desertiert. Aber diese polnische Schlächterei gefällt mir nicht« – er spuckte zornig aus –, »sogar die Henker sind hier betrunken. Und sollten Sie Ihren Bruder wiedersehen, so sagen Sie ihm: Wenn mir der Hauptmann einen Pardonbrief schickt, so komme ich zur Kompanie zurück. Das ist mein Geschäft, ich aber wollte von dem Ihren reden. Ich habe Sie zu dem Hamburger gebracht, weil Sie von der richtigen Größe sind und ich dem splendiden Herrn eine Freude verschaffen wollte. Als ich aber Ihren Namen hörte und von Ihrer Verwandtschaft mit Markgraf Albrecht, taten Sie mir leid, obgleich Ihr Bruder auf mich geschossen hat.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Fritz ungeduldig.

»Das ist's ja eben; Ihr Bruder würde mich schon verstehen. Nämlich der dort oben ist kein Hamburger und heißt nicht Buschmann, sondern ist ein Edelmann und ein preußischer Werbeoffizier, welcher Sie eingefangen hat. Leicht genug haben Sie es ihm gemacht.«

»Du kommst sogleich mit, ich werde ihm deine Aussage vorhalten.«

»Ich werde nicht kommen, und Ihnen würde das auch nichts nützen«, versetzte Böttcher. »Denn wenn Sie ihn hier abschütteln, was Sie ja leicht können, so reist er Ihnen nach und läßt Sie als Rekruten arretieren, sobald es ihm im Preußischen gelegen ist.«

»Und wenn ich nicht über Berlin zurückkehre?«

»Dann reist er Ihnen durch Polen nach, und Sie mögen sich verlassen, daß er auf dem Wege für sein Geld Helfer findet, welche Sie festnehmen.«

»Du unterstehst dich, mit mir zu scherzen.«

»Nein,« versetzte Böttcher, »Sie haben mehr als zwölf Zoll, da hört aller Spaß auf. Wer so groß ist, kommt nach Potsdam, das ist wie Amen in der Kirche, mag er ein Russe oder ein Engländer sein. Mich wundert's, daß Sie als Student den Werbern entlaufen sind.«

»Sagst du mir das, um mich zu schrecken, so wisse, daß ich nicht furchtsam bin. Redest du in guter Absicht, so sprich kurz, wie die Gefahr zu meiden ist.«

»Sie wollen durch das Preußische?« fragte Böttcher.

»Ich habe ein Gesuch an den König.«

Böttcher pfiff durch die Zähne: »Dies wird Knirpsen schon recht sein. Doch das ist Ihre Sache. Für diesen Fall ist meine Meinung: Der Hamburger reist auf Werbung für einen mächtigen Mann, für den Fürsten Leopold von Dessau. Das weiß ich, weil er so unvorsichtig war, durch mich einen Brief an den Feldmarschall auf die Post zu schicken. Deshalb wird ihm viel daran liegen, Sie wohlbehalten in Berlin abzuliefern; denn wenn er Sie auf dem Wege dorthin bei einem Regiment festhalten läßt, so behält Sie das Regiment, und ihm entgeht sein Fang. Darum meine ich, daß Sie bis Berlin, solange er Ihnen nicht mißtraut, durchaus nichts von ihm zu fürchten haben, zumal auch eine Demoiselle von Adel bei Ihnen ist. In Berlin aber dürfen Sie nicht in das Quartier gehen, zu dem er Ihnen raten wird, sondern müssen einen Schutz suchen und Ihre Wege vor ihm verbergen. Ich kenne die Schliche, denn ich selbst war eine Zeitlang im Dienst eines Werbers, und ich weiß auch, daß die vom Regiment Schulenburg und Markgraf Albrecht, welche hier zunächst an der Grenze liegen, meinem Hamburger auf den Dienst lauern, weil er ihnen die größten Leute für den Dessauer wegfängt.«

Fritz antwortete: »Laß mich eine Weile nachdenken.« Er setzte sich auf eine Bank, und Böttcher fuhr mit dem Besen umher. Nicht lange, und der Jüngling sprach aufstehend: »Deiner Rede glaube ich; deinem Vorschlag aber folge ich nicht, und den Betrüger nehme ich nicht mit auf die Reise. Doch wenn du selbst in das Preußische zurückwillst und deinen Dienst hier sogleich aufgeben kannst, so führe ich dich bis Berlin als meinen Bedienten mit.« Böttcher sah ihn groß an: »Sie sind doch klüger, als ich dachte. Jetzt lassen Sie mich überlegen. Fort von hier kann ich jeden Augenblick; gehe ich mit Ihnen, so weiß der Hamburger, daß ich ihn verraten habe, er wird sich an mir rächen wollen, und fängt er uns, so schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe. Auf der anderen Seite freie Reise, außerdem guter Lohn, denke ich.« Friedrich nickte. »Und Böttcher auf dem Bock des ersten Wagens und kapabel, dem, der hinter uns fährt, einen Nebel vorzuhexen.« Diese letzte Aussicht gefiel ihm am meisten. »Ich gehe mit, wenn Sie mich als Diener des Fräuleins in den Paß schreiben lassen, und wenn Sie mir versprechen, Ihre Rechnung mit dem Hamburger erst morgen abzumachen, denn sonst könnte er mir noch heut etwas zuleide tun.« Das versprach Friedrich. Am nächsten Morgen früh bat er den Fremden in die Wirtsstube und sagte ihm leise, daß er Grund habe, ihn für einen preußischen Werbeoffizier zu halten. Herr Buschmann war nur einen Augenblick betroffen, dann entgegnete er drohend: »Um meiner Sicherheit willen bestehe ich darauf, zu erfahren, wer dem Herrn diesen Verdacht beigebracht hat.«

»Nicht an dem Herrn Offizier ist es, mir zu drohen«, antwortete Fritz. »Demselben ist bewußt, daß ein lautes Wort von mir ihm unter den Polen große Unannehmlichkeit bereiten kann. Ich fürchte, der Herr hatte die Absicht, mich in einen Zustand zu versetzen, der für mich lebenslängliche Gefangenschaft wäre; ich darf jemand, den ich unter den Fremden für meinen Landsmann halte, nicht in ein ähnliches Unglück bringen, und werde schweigen, wenn der Herr mich nicht zu anderem nötigt.«

»Ich bin dem Monsieur König für diese Rücksicht verbunden«, versetzte der falsche Buschmann mit höflichem Lächeln. »Auch ich habe Pflichten zu erfüllen gegen die Firma, für die ich reise, und bitte daran zu denken, wenn meine Bekanntschaft dem Herrn in Zukunft einmal zu einer unangenehmen Erinnerung werden sollte.« Beide grüßten einander, Friedrich verließ den Gasthof. Vor dem Hause seiner Ahnen erwartete ihn der Reisewagen, in den durch Böttcher schon vor dem Morgengrau das Gepäck eingestaut war. Er hob das geliebte Mädchen in den Wagen, schüttelte dem Hauswirt die Hand, warf noch einen traurigen Blick über die alten Hausmauern und den Marktplatz und fuhr zum Tore hinaus. Erst vor der Stadt stieg Böttcher, der sich in einen alten Lakaienmantel gehüllt hatte, beim Kutscher auf.

Auf dem Wege brauste der Sturm und flog der Schnee; hinter den Reisenden lag Verwüstung und Schrecken, vor ihnen das friedliche Leben der Heimat. Um Dorchens Mund spielte wieder das holde Lachen, welches einst dem Jugendgespielen so entzückend gewesen war, und der Kandidat verlor viel von der feierlichen Strenge, die ihm unter den Polen auf der Stirn lag. Nie hätte Dorchen für möglich gehalten, daß der ernste Mann so zarter Sorgfalt fähig wäre, wenn er sie bat, sich fester zu verhüllen, wenn er unablässig kleine Erfindungen machte, um den Schnee abzusperren, der sich das Eindringen durchaus nicht wehren ließ, und vollends, wenn sie abends in die Herbergen kamen, in denen die Wirtsleute das Dorchen immer für die gnädige Frau hielten. Da bewies der Kandidat so viel ritterliches Zartgefühl, daß Dorchen zuweilen ängstlich wurde, denn er brachte die Nacht jämmerlich zu, während sie selbst auf leidlichem Lager ausruhen konnte. Aber er war nicht allein gut, er war auch sehr gescheit. Während er sie von vielem unterhielt, was die Frauen damals nicht sehr kümmerte, über das polnische Wesen, welches dem Fräulein völlig verleidet war, und über das preußische, vor dem die Sächsin eine unbestimmte Scheu hatte, erschien ihr alles, was er sagte, großartig, und über jedes hatte er seine eigenen Gedanken, so daß ein verständiges Mädchen sich gar nichts Besseres wünschen konnte, als immer mit ihm durch die Welt zu fahren. Es begegnete ihnen auch so wenig Ärgerliches, als auf einer Reise nur möglich war. Einmal blieben sie in einer Schneewehe stecken, aber während der Fuhrmann eine Schaufel aus dem Wagen zog und den Weg zu räumen begann, stapfte Friedrich gleich einem Hünen den Schnee mit den Füßen nieder, so daß die Pferde hindurch konnten. Ein andermal brach ein Rad und der Wagen neigte zur Seite, so daß Dorchen aufschrie, da ergriff ihr Begleiter das Handbeil des Fuhrmanns, schlug im Nu einen Baumast ab und stemmte ihn mit Riesenkraft unter den Wagen. Und während der Fuhrmann nach dem nächsten Dorfe ritt, um ein Rad zu holen, und die Reisenden beim Zwielicht im Kieferwald festsaßen, wo viel Ursache war, sich vor Räubern zu ängstigen, da wußte der Kandidat lustig zu erzählen, wie er auf der Leipziger Tour einmal im gefüllten Wagen umgeworfen war, und die klagenden Frauen und Kinder aus dem Gewimmel im Korb des Wagens, wie aus einem Bergwerk ans Tageslicht herausgezogen hatte, so daß gar keine Angst aufkommen konnte. Wurden die Reisenden ja einmal angehalten, so verhandelte der neue Diener mit dem ungefügen Volk in polnischer Sprache, er schrie noch lauter als die Angreifer und die stürmischen Überfälle endigten nach kleinen Geschenken in Versöhnung.

Fritz fuhr nicht in demselben guten Vertrauen, er sah öfter besorgt rückwärts und sprach leise mit dem Diener. Aber auch ihm wuchs die Zuversicht, als sie ungefährdet die preußische Grenze erreicht hatten und auf geradem Wege der Hauptstadt zurollten.

Bei der letzten Raststelle vor Berlin sagte Böttcher vertraulich: »Noch ist der Hamburger uns nicht vor, und ich glaube auch nicht, daß er eine andere Straße gewählt hat, denn dies ist der kürzeste Weg und der beste.«

»Wahrscheinlich folgt er uns gar nicht«, antwortete Fritz. Der Diener schüttelte den Kopf: »Sie sind ihm wohl tausend Taler wert, dafür lohnt sich's, den Weg zu machen.«

Sie waren noch nicht weit gefahren, als ein leichter Wagen sie überholte. Böttcher ließ den Fuhrmann in einem Gehölz halten und bat den Kandidaten, auszusteigen. »Das war der Offizier«, flüsterte er. »Er hat sich vermummt, ich erkannte ihn doch; er ist immer hinter uns her gewesen; jetzt, wo er uns zu haben meint, jagt er voraus. Er wird der Torwache den Befehl geben, uns festzuhalten, während Sie die Pässe vorzeigen. Wir aber fahren sogleich vom Wege ab und versuchen, auf einer anderen Seite in die Stadt zu dringen. Hat er noch nicht Zeit gehabt, uns bei allen Toren anzumelden, so kommen wir durch. Auf jeden Fall bitte ich Sie, mir hier meinen Lohn zu geben. Denn in der Stadt suche ich mir sogleich einen Schlupfwinkel.«

Der Wagen lenkte vom Wege ab und während Dorchen in freudiger Hoffnung auf die Rauchwolke sah, welche am klaren Winterhimmel über der großen Stadt schwebte, erwartete ihr Begleiter mit klopfendem Herzen die bevorstehende Einfahrt.

Der Schnee lag auf der Straße und die Wintersonne warf ihre kalten Strahlen darüber, als die Reisenden ohne Hindernis in Berlin einfuhren. Fritz gab der Torwache als Zweck der Reise ein Gesuch bei Seiner Majestät an und als Aufenthalt die Wohnung des sächsischen Geschäftsträgers, dessen Frau eine Verwandte Dorchens war und dieser die weitere Reise in die Heimat vermitteln sollte. Dem sächsischen Beamten teilte er die Gefahr mit, in welcher er schwebte, aber ihm wurde die verlegene Antwort: »Unsere Stellung ist jetzt in Berlin so schlecht, daß wir darauf gefaßt sind, selbst abzureisen, und unsere Verwendung in dieser widerwärtigen Angelegenheit würde Ihnen mehr schaden als nützen.« Da beschloß Fritz, es darauf ankommen zu lassen. Er erhielt einen Diener zur Begleitung, der ihn vor das Schloß führen sollte, damit er dem König, wenn dieser von der Wachtparade zurückkehre, sein Gesuch mündlich vortrage. Denn es war bekannt, daß König Friedrich Wilhelm zu dieser Stunde Bitten und Eingaben gern persönlich in Empfang nahm.

Fritz wartete am Schloß, er dachte, daß diese Stunde auch über sein eigenes Leben entscheiden könne, aber er war nach dem Schweren, was er erfahren, in einer so gehobenen Stimmung, daß in ihm kein Bangen aufkam, obgleich die Offiziere der Portalwache ihn nicht aus den Augen ließen und leise miteinander sprachen. Endlich kam der König mit einem großen Gefolge von hohen Offizieren heran und der Diener raunte dem Harrenden einige Namen zu. Der nächste beim Könige war der Fürst von Anhalt-Dessau. In demselben Augenblick trat ein Offizier an den Dessauer und Fritz erkannte den Werber von Thorn; der Fürst blieb im Gespräch mit dem Offizier einige Schritt zurück und beide sahen nach dem Sachsen hin. Als der König den großen Mann am Schloßportale wahrnahm, ging er schnell auf ihn zu, hielt vor der tiefen Verbeugung an und maß ihn höchst wohlgefällig mit den Augen.

»Der Kandidat der Theologie König aus Kursachsen wagt Eurer Majestät in tiefster Ehrfurcht zu nahen, um Urlaub für seinen Bruder zu erbitten, welcher als Freikorporal bei ›Markgraf Albrecht‹ steht.« Der Fürst von Dessau kam heran. »Königliche Majestät, der Mann gehört mir, er hat sich in Polen meinem Werber durch die Flucht entzogen. Der Offizier ist ihm nachgereist, um ihn zur Stelle zu rekognoszieren.«

»Der Offizier spricht die Unwahrheit,« antwortete Fritz mit lauter Stimme, »er hat mich nicht geworben und ich bin nicht vor ihm geflohen, sondern ich habe ihm vor meiner Abreise erklärt, daß ich wegen der hinterlistigen Täuschung, welche er vergebens an mir versucht hatte, seine Reisegesellschaft verschmähe.«

»Habt Ihr von dem Offizier Handgeld genommen?« fragte der König, immer noch in die Betrachtung des großen Mannes vertieft.

»Es konnte zwischen uns von Handgeld nie die Rede sein,« antwortete Fritz, »da er in der Maske eines Hamburger Kaufmanns den Verkehr mit mir suchte.«

»Dann also kommt der Mann dem Offizier Eurer Durchlaucht nicht zu«, entschied der König.

»Es war meine Absicht,« versetzte der Fürst mit verhaltenem Unwillen, »Eurer Majestät diesen Mann für das Potsdamer Regiment vorzustellen.«

»Das ist etwas anderes«, sprach der König. »Er hat mehr als zwölf Zoll, ich schätze ihn auf nahe an dreizehn. Legt ihm ein Gewehr in den Arm, damit wir die Höhe messen.« Schnell wurde ein Gewehr herzugebracht und an den Leib des Sachsen gelegt. »Ich sagte ja, es sind fast dreizehn. Ich bin Eurer Durchlaucht sehr obligiert.« Und der König wandte sich ab, um das Unangenehme, was jetzt kommen mußte, nicht zu sehen und zu hören, ganz ähnlich dem Knaben, welcher nach einem gelungenen Streiche sich der Verantwortung entziehen will.

Da merkte Friedrich, daß er von den Menschen verlassen in großer Gefahr stand und rief laut hinter dem Könige her: »Gerechter Gott, Vater im Himmel, gib nicht zu, daß der König von Preußen in tyrannischem Gelüste dem hohen Amt der Gerechtigkeit untreu wird, gerade in der Zeit, wo tausende bedrängter evangelischer Herzen auf ihn als ihren Erlöser aus den Greueln der Verfolgung hoffen. Wenn der Feldherr, den du gerüstet hast zum Beschirmer des reinen Glaubens und der Gerechtigkeit, selbst zu einem ungerechten Tyrannen wird, welche Hoffnung bleibt dann noch den gequälten Opfern von Thorn?«

Er hob flehend die Arme gen Himmel; das Gewehr, welches sie an ihn gelegt hatten, fiel klirrend zu Boden.

»Höre ihn nicht, Herrgott!« rief der Dessauer, zornig den Hut lüftend: »Er hat das Gewehr auf die Steine geschmissen.«

Der König hatte bei der Beschwörung den Schritt gehemmt, er stand abgewandt und sah von der Seite auf den Bittenden. Jetzt kehrte er sich zu ihm und fragte heftig: »Was schreit Er hier von den Gequälten zu Thorn über den Platz?«

»Ich stand in meinem geistlichen Amt auf dem Blutgerüst bei den armen Märtyrern, welche gerichtet wurden, weil sie Deutsche und Evangelische waren, und ich vernahm die Seufzer, mit denen sie für ihre Zugehörigen den Schutz Eurer Majestät anriefen.«

Der König sah ihn ungnädig an, aber der begeisterte Blick, welcher dem seinen begegnete, bändigte den Ausbruch des Zornes, und er gebot dem diensttuenden Offizier: »Behaltet ihn hier, ich will ihn allein sprechen.«

Friedrich hatte nicht nötig, lange am Portal zu warten. Ein Kammerdiener kam heraus, maß mit den Augen die Größe, winkte, ohne ein Wort zu sprechen, und führte durch einen Hof und langen Gang in ein Empfangzimmer. Gleich darauf trat der König ein, den Hut auf dem Haupte, den Stock in der Hand, offenbar nicht in guter Laune. Er trat vor den Bittsteller und stampfte mit dem Stock auf den Boden. »Er hätte auch nicht nötig gehabt, die Arme aufzuheben und den Himmel gegen mich um Hilfe anzurufen. Ich bin kein Tyrann, sondern ein christlicher König, der den Willen hat, vor unserem Herrgott ein ehrlicher Mann zu bleiben; warum hat Er geschrien wie ein Bärenhäuter?« Wieder stieß der König auf den Boden. »Warum graut Ihm davor, meinen Rock zu tragen?«

»Euer Majestät halten zu Gnaden, ich fühlte, daß man ungerecht und gewalttätig gegen mich verfuhr. Und solche Gewalttätigkeit, mit welcher ich in königlicher Gegenwart bedroht wurde, kränkte mich gerade deshalb in tiefster Seele, weil ich Eurer Majestät in wahrhafter Ehrfurcht und herzlichem Vertrauen genaht bin. Denn ich habe in der Stadt Thorn wohl erkannt, daß Eure Majestät die Zuflucht der Deutschen und Evangelischen sind, und die unglücklichen Männer, deren grausames Ende ich anschauen mußte, haben mich beauftragt, ihre letzten flehentlichen Bitten Eurer Majestät vorzutragen.«

Da rief der König: »Es ist eine greuliche und unerhörte Geschichte, und ich habe mir alle Mühe gegeben, den Bürgermeister und die andern zu retten. Das Blut schreit zum Himmel. Aber der polnische König hat nicht mehr Macht als ein Dorfschulze. Es ist Euer eigner Kurfürst«, fuhr er wieder unwillig fort. »Wie sieht es jetzt in der Stadt aus? Liegen noch die polnischen Reiter darin?«

»Die Stadt und Umgegend ist mit Fußvolk angefüllt, die Soldaten sind bei den Evangelischen einquartiert und wirtschaften wie in Feindesland; in der Marienkirche, welche seither evangelisch war, hielten die Jesuiten Hochamt und sangen Jubellieder, daß die Ketzerei gedämpft sei. Auch der Rat wird zur Hälfte polnisch gemacht.«

»Was habt Ihr sonst in Thorn gesehen?« fragte der König. »Erzählt geradeaus und ehrlich.«

Friedrich begann seinen Bericht über die Standhaftigkeit und die letzten Stunden des Konsuls Roesner und der übrigen Gerichteten. Der König setzte sich und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis der Erzähler mit den Worten schloß: »Königliche Majestät, in diesen schrecklichen Tagen habe ich das Größte erlebt, was einem Diener des heiligen Amtes zuteil werden kann, denn ich sah fromme deutsche Männer, welche mit Gottvertrauen mutig in einen elenden Tod gingen. Jeder von den zehn Gerichteten konnte sich Leben und Freiheit retten, wenn er seinen Glauben abschwor. Aber nur einer von elfen wurde schwach, die anderen zehn blieben treu bis zum Tode.« Da faltete der König die Hände: »Was sagtet Ihr vorhin über eine Hilfe, die sie von mir begehrt haben?«

»Mehrere der Gerichteten hinterlassen Frau und Kinder in bitterer Not, denn ihre Habe ist eingezogen, und die Kinder werden den Müttern entrissen, um in polnischer Weise erzogen zu werden. Da hofften die Sterbenden, daß Eure Majestät sich der armen Witwen und Waisen erbarmen werde, und ich versprach, ihr demütiges Flehen hierherzutragen.«

»Ich will versuchen, ihnen zu helfen«, antwortete Friedrich Wilhelm. »Sie sollen nach Preußen kommen. In meinem Lande befehle ich, und die Leute gehorchen, aber selbst in meinem Lande vermag ich nicht immer zu tun, was ich will, denn auch hier muß ich mancherlei Rücksicht nehmen; und vollends dort draußen, wo alles widerhaarig und feindselig ist. Ihr sagtet etwas von den letzten Worten des seligen Roesner. Was meinte er, als er klagte: Der Bürgermeister büßt für sein eigenes Unrecht und für die Sünden der Vorfahren? War das richtiger evangelischer Glaube?«

»Sich selbst klagte Herr Konsul Roesner darum an, weil er früher der polnischen Krone zu treu gedient und den Übergriffen der Polen nicht immer Widerpart gehalten habe«, antwortete der Kandidat. »Wenn der Verstorbene aber die Sünden der Vorfahren beklagte, so dachte er wohl an frühere Schicksale seiner Stadt. In alter Zeit wollte die Mehrzahl der Bürger von Thorn lieber zu Polen gehören als zu dem Ordensland Preußen. Damals hat die polnische Partei in der deutschen Stadt viele Mitbürger, weil sie zu Preußen hielten, in Bruderhaß auf dem Schafott hingerichtet und die Stadt unter die Krone Polen gebracht. Jetzt haben die Polen den Nachkommen jener Alten dasselbe getan, denn sie haben durch Hinrichtungen den Enkeln vergolten, daß die Ahnen einst ihre Köpfe der Krone Polen untergestellt hatten. Und in Thorn gibt es Leute, welche ausrechnen, daß es seit jener alten Hinrichtung der preußischen Partei jetzt gerade das siebente Glied ist, an welchem die Strafe vollzogen wird nach den Worten der Schrift. Solches Gericht des Herrn ist uns Menschen furchtbar und entsetzlich.«

»Es wird auch an den Jesuitern und Niepozwalums heimgesucht werden bis ins siebente Glied«, rief der König, seinen Stock schüttelnd. »Woher wißt Ihr aber, daß die Hingerichteten gerade Nachkommen jener alten Übeltäter sind? Der Schuster Wunsch war ein geborener Brandenburger, wie kommt er dazu? Das riecht nach Prädestination.«

»Der Tod traf die Armen nur, weil sie in der Stadt lebten, über welcher der Fluch hing«, antwortete Friedrich traurig. »Gerade das, was Eure Majestät sagen, macht uns solch göttliches Strafgericht allzu hoch und schwer, und uns bleibt nichts übrig, als demütig zu rufen: Des Herrn Wege sind nicht unsere Wege. Als die Angst über diese Strenge mir im Herzen riß, hat mich der Gedanke getröstet, daß unser Vater im Himmel dadurch die Menschen an die Pflicht mahnen will, altes Unrecht ihrer Vorfahren wiedergutzumachen, und daß er nur zuweilen an den einzelnen schwere Vergeltung übt, um die Menge der Irrenden und Verstockten auf den rechten Weg zu weisen. Darum vertraue ich, er wird noch die Herzen der Könige lenken und wird das unglückliche Thorn, welches ihn jetzt in der Not anruft, nicht gänzlich den wilden Polen überlassen, sondern ihm die Rettung bereiten.«

Während der Theologe in seiner Begeisterung sprach, ging eine Tür auf. Zwei halbwüchsige Knaben in Soldatenröcken traten ein und stellten sich militärisch auf. Der König schritt in großer Bewegung auf und ab, musterte aber doch im Vorübergehen die Knaben und gebot dem einen, indem er mit dem Stock seinen Rücken berührte: »Gerade stehen!« Dann wandte er sich zu dem Fremden und begann in gütigem Ton: »Hast du dich um die Thorner gegrämt, so habe auch ich ihretwegen schlaflose Nächte gehabt und Gott angerufen, daß er da helfen möge, wo unser guter Wille nichts vermag.« Er trat wieder dicht vor den Jüngling, sah an ihm hinauf und fragte, ihm einen Knopf am Rocke drehend, vertraulich: »Warum willst du meinen blauen Rock nicht tragen?«

»Eure Majestät, ich bin Theologe, und mein Amt ist nicht der Krieg, sondern Verkündigung der Lehre, welche gegeben ward, um Frieden auf die Erde zu bringen.«

»Ich soll Euch also ziehen lassen?« fragte der König wieder unzufrieden. »Und was wollt Ihr noch?«

»Ich flehe Eure Majestät an, meinem Bruder Urlaub zu geben. Der Vater ist gestorben, die Mutter ist krank.«

Der König ging einige Schritte und sah sich den Bittsteller wieder an. »Wieviel Kinder hat Euer Vater hinterlassen?«

»Nur meinen Bruder und mich.«

»Hat Eure Mutter einen Sohn in meinem Dienste, so will ich ihr den zweiten nicht nehmen«, entschied der König mit Selbstüberwindung. »Du sollst nicht von mir gehen und zu den Wolken schreien, daß ich ein Tyrann bin. Dein Bruder kann Urlaub haben, aber unter einer Bedingung: Du bürgst mir dafür, daß er in meinen Dienst zurückkehrt, und du bürgst mir mit deinem eigenen Leben. Kommt er nicht, so kommst du und trittst für ihn ein. Willst du mir das versprechen, so sollst du ihn haben.«

Friedrich stand betroffen; er wußte, daß die Mutter daran dachte, den Sohn in ihrer Nähe zu bewahren, und er fürchtete auch, stille Hoffnungen des Bruders durch sein Gelöbnis zu kreuzen.

»Kurz und gut,« fuhr der König fort, »keine Bedingung und Ausrede; willst du als ein ehrlicher Mann versprechen: er oder du?«

»Ja«, antwortete Friedrich leise.

Der König maß ihn noch einmal mit den Augen, öffnete schnell die Tür des Vorzimmers und rief dem Offizier zu: »Der Freikorporal König von Markgraf Albrecht hat von morgen Urlaub nach der Heimat; sorge dafür, daß dieser hier einen sichern Paß bekommt, seinen Bruder zu begleiten.«


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