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333 22. Vorlesung
Meine Damen und Herren! Wir haben gehört, daß die Libidofunktion eine weitläufige Entwicklung durchmacht, bis sie in der normal genannten Weise in den Dienst der Fortpflanzung treten kann. Ich möchte Ihnen nun vorführen, welche Bedeutung diese Tatsache für die Verursachung der Neurosen hat.
Ich glaube, wir befinden uns im Einklang mit den Lehren der allgemeinen Pathologie, wenn wir annehmen, daß eine solche Entwicklung zweierlei Gefahren mit sich bringt, erstens die der Hemmung und zweitens die der Regression. Das heißt, bei der allgemeinen Neigung biologischer Vorgänge zur Variation wird es sich ereignen müssen, daß nicht alle vorbereitenden Phasen gleich gut durchlaufen und vollständig überwunden werden; Anteile der Funktion werden dauernd auf diesen frühen Stufen zurückgehalten werden, und dem Gesamtbild der Entwicklung wird ein gewisses Maß von Entwicklungshemmung beigemengt sein.
Suchen wir uns Analogien zu diesen Vorgängen auf anderen Gebieten. Wenn ein ganzes Volk seine Wohnsitze verläßt, um neue aufzusuchen, wie es in früheren Perioden der Menschengeschichte oftmals geschah, so ist es gewiß nicht in seiner Vollzahl an dem neuen Orte angekommen. Von anderen Verlusten abgesehen, muß es sich regelmäßig zugetragen haben, daß kleine Haufen oder Verbände der Wanderer unterwegs haltmachten und sich an diesen Stationen niederließen, während die Hauptmenge weiterzog. Oder, um näherliegende Vergleiche zu suchen, Sie wissen, daß bei den höchsten Säugetieren die männlichen Keimdrüsen, die ursprünglich tief im Inneren des Bauchraumes lagern, zu einer gewissen Zeit des Intrauterinlebens eine Wanderung antreten, die sie fast unmittelbar unter die Haut des Beckenendes geraten läßt. Als Folge dieser Wanderung findet man bei einer Anzahl von männlichen Individuen, daß eines der paarigen Organe in der Beckenhöhle zurückgeblieben ist oder daß es eine dauernde Lagerung im sogenannten Leistenkanal gefunden hat, den beide auf ihrer Wanderung passieren müssen, oder daß wenigstens dieser Kanal offen geblieben ist, der normalerweise nach Abschluß des Lagewechsels der Keimdrüsen verwachsen soll.
334 Als ich als junger Student meine erste wissenschaftliche Arbeit unter der Leitung v. Brückes ausführte, beschäftigte ich mich mit dem Ursprung der hinteren Nervenwurzeln im Rückenmark eines kleinen, noch sehr archaisch gebildeten Fisches. Ich fand, daß die Nervenfasern dieser Wurzeln aus großen Zellen im Hinterhorn der grauen Substanz hervorgehen, was bei anderen Rückenmarktieren nicht mehr der Fall ist. Aber ich entdeckte auch bald darauf, daß solche Nervenzellen sich außerhalb der grauen Substanz an der ganzen Strecke bis zum sogenannten Spinalganglion der hinteren Wurzel vorfinden, woraus ich den Schluß zog, daß die Zellen dieser Ganglienhaufen aus dem Rückenmark in die Wurzelstrecke der Nerven gewandert sind. Dies zeigt auch die Entwicklungsgeschichte; bei diesem kleinen Fisch war aber der ganze Weg der Wanderung durch zurückgebliebene Zellen kenntlich gemacht. Bei tieferem Eingehen wird es Ihnen nicht schwerfallen, die schwachen Punkte dieser Vergleichungen aufzuspüren. Wir wollen es darum direkt aussprechen, daß wir es für jede einzelne Sexualstrebung für möglich halten, daß einzelne Anteile von ihr auf früheren Stufen der Entwicklung zurückgeblieben sind, wenngleich andere Anteile das Endziel erreicht haben mögen. Sie erkennen dabei, daß wir uns jede solche Strebung als eine seit Lebensbeginn kontinuierliche Strömung vorstellen, die wir gewissermaßen künstlich in gesondert aufeinanderfolgende Schübe zerlegen. Ihr Eindruck, daß diese Vorstellungen einer weiteren Klärung bedürftig sind, hat recht, aber der Versuch würde uns zu weit abführen. Lassen Sie uns noch feststellen, daß ein solches Verbleiben einer Partialstrebung auf einer früheren Stufe eine Fixierung (des Triebes nämlich) heißen soll.
Die zweite Gefahr einer so stufenweisen Entwicklung liegt darin, daß auch die Anteile, die es weiter gebracht haben, leicht in rückläufiger Bewegung auf eine dieser früheren Stufen zurückkehren können, was wir eine Regression nennen. Zu einer solchen Regression wird sich die Strebung veranlaßt finden, wenn die Ausübung ihrer Funktion, also die Erreichung ihres Befriedigungszieles, in der späteren oder höher entwickelten Form auf starke äußere Hindernisse stößt. Es liegt uns nahe anzunehmen, daß Fixierung und Regression nicht unabhängig voneinander sind. Je stärker die Fixierungen auf dem Entwicklungsweg, desto eher 335 wird die Funktion den äußeren Schwierigkeiten durch Regression bis zu jenen Fixierungen ausweichen, desto widerstandsunfähiger erweist sich also die ausgebildete Funktion gegen äußere Hindernisse ihres Ablaufes. Denken Sie daran, wenn ein Volk in Bewegung starke Abteilungen an den Stationen seiner Wanderung zurückgelassen hat, so wird es den weiter Vorgerückten naheliegen, sich bis zu diesen Stationen zurückziehen, wenn sie geschlagen werden oder auf einen überstarken Feind stoßen. Sie werden aber auch um so eher in die Gefahr der Niederlage kommen, je mehr sie von ihrer Anzahl auf der Wanderung zurückgelassen haben.
Es ist für Ihr Verständnis der Neurosen wichtig, daß Sie dies Verhältnis zwischen Fixierung und Regression nicht aus den Augen lassen. Sie gewinnen dann einen sicheren Halt in der Frage nach der Verursachung der Neurosen, in der Frage der Neurosenätiologie, an welche wir bald herantreten werden.
Zunächst wollen wir noch bei der Regression verbleiben. Nach dem, was Ihnen von der Entwicklung der Libidofunktion bekannt geworden ist, dürfen Sie Regressionen von zweierlei Art erwarten, Rückkehr zu den ersten von der Libido besetzten Objekten, die bekanntlich inzestuöser Natur sind, und Rückkehr der gesamten Sexualorganisation zu früheren Stufen. Beide kommen bei den Übertragungsneurosen vor und spielen in deren Mechanismus eine große Rolle. Besonders die Rückkehr zu den ersten inzestuösen Objekten der Libido ist ein Zug, der sich bei den Neurotikern mit geradezu ermüdender Regelmäßigkeit findet. Weit mehr läßt sich über die Regressionen der Libido sagen, wenn man eine andere Gruppe der Neurosen, die sogenannten narzißtischen, mit heranzieht, was wir ja gegenwärtig nicht beabsichtigen. Diese Affektionen geben uns Aufschluß über noch andere, bisher nicht erwähnte Entwicklungsvorgänge der Libidofunktion und zeigen uns dementsprechend auch neue Arten der Regression. Ich glaube aber, daß ich Sie jetzt vor allem mahnen muß, Regression und Verdrängung nicht zu verwechseln, und Ihnen dazu verhelfen muß, sich die Beziehungen zwischen den beiden Prozessen zu klären. Verdrängung ist, wie Sie sich erinnern, jener Vorgang, durch welchen ein bewußtseinsfähiger Akt, also einer, der dem System Vbw. angehört, unbewußt gemacht, also in das System Ubw. zurückgeschoben wird. Und ebenso 336 nennen wir es Verdrängung, wenn der unbewußte seelische Akt überhaupt nicht ins nächste vorbewußte System zugelassen, sondern an der Schwelle von der Zensur zurückgewiesen wird. Dem Begriff der Verdrängung haftet also keine Beziehung zur Sexualität an; bitte, bemerken Sie das wohl. Er bezeichnet einen rein psychologischen Vorgang, den wir noch besser charakterisieren können, wenn wir ihn einen topischen heißen. Wir wollen damit sagen, er habe mit den angenommenen psychischen Räumlichkeiten zu tun, oder, wenn wir diese grobe Hilfsvorstellung wieder fallenlassen, mit dem Aufbau des seelischen Apparates aus gesonderten psychischen Systemen.
Durch die angestellte Vergleichung werden wir erst aufmerksam gemacht, daß wir das Wort »Regression« bisher nicht in seiner allgemeinen, sondern in einer ganz speziellen Bedeutung gebraucht haben. Geben Sie ihm seinen allgemeinen Sinn, den einer Rückkehr von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe der Entwicklung, so ordnet sich auch die Verdrängung der Regression unter, denn sie kann auch als Rückkehr zu einer früheren und tieferen Stufe in der Entwicklung eines psychischen Aktes beschrieben werden. Nur, daß es uns bei der Verdrängung auf diese rückläufige Richtung nicht ankommt, denn wir heißen es auch Verdrängung im dynamischen Sinne, wenn ein psychischer Akt auf der niedrigeren Stufe des Unbewußten festgehalten wird. Verdrängung ist eben ein topisch-dynamischer Begriff, Regression ein rein deskriptiver. Was wir aber bisher Regression genannt und zur Fixierung in Beziehung gebracht haben, damit meinten wir ausschließlich die Rückkehr der Libido zu früheren Stationen ihrer Entwicklung, also etwas, was von der Verdrängung im Wesen ganz verschieden und von ihr ganz unabhängig ist. Wir können die Libidoregression auch nicht einen rein psychischen Vorgang heißen und wissen nicht, welche Lokalisation im seelischen Apparat wir ihr anweisen sollen. Wenn sie auch den stärksten Einfluß auf das seelische Leben ausübt, so ist doch der organische Faktor an ihr der hervorragendste.
Erörterungen wie diese, meine Herren, müssen etwas dürr geraten. Wenden wir uns an die Klinik, um etwas eindrucksvollere Anwendungen von ihnen zu machen. Sie wissen, daß Hysterie und Zwangsneurose die beiden Hauptvertreter der Gruppe der Übertragungsneurosen sind. Bei der Hysterie gibt es nun zwar eine Regression der Libido zu den primären inzestuösen Sexualobjekten, und diese ganz regelmäßig, aber so gut wie keine Regression auf eine frühere Stufe 337 der Sexualorganisation. Dafür fällt der Verdrängung im hysterischen Mechanismus die Hauptrolle zu. Wenn ich mir gestatten darf, unsere bisherige gesicherte Kenntnis dieser Neurose durch eine Konstruktion zu vervollständigen, so könnte ich den Sachverhalt in folgender Weise beschreiben: Die Einigung der Partialtriebe unter dem Primat der Genitalien ist vollzogen, ihre Ergebnisse stoßen aber auf den Widerstand des mit dem Bewußtsein verknüpften vorbewußten Systems. Die Genitalorganisation gilt also fürs Unbewußte, nicht ebenso fürs Vorbewußte, und diese Ablehnung von Seiten des Vorbewußten bringt ein Bild zustande, welches mit dem Zustand vor dem Genitalprimat gewisse Ähnlichkeiten hat. Es ist aber doch etwas ganz anderes. – Von den beiden Libidoregressionen ist die auf eine frühere Phase der Sexualorganisation die bei weitem auffälligere. Da sie bei der Hysterie fehlt und unsere ganze Auffassung der Neurosen noch viel zu sehr unter dem Einflusse des Studiums der Hysterie steht, welches zeitlich voranging, so ist die Bedeutung der Libidoregression uns auch viel später klar geworden als die der Verdrängung. Seien wir gefaßt darauf, daß unsere Gesichtspunkte noch andere Erweiterungen und Umwertungen erfahren werden, wenn wir außer Hysterie und Zwangsneurose noch die anderen, narzißtischen Neurosen in unsere Betrachtungen einbeziehen können.
Bei der Zwangsneurose ist im Gegenteil die Regression der Libido auf die Vorstufe der sadistisch-analen Organisation das auffälligste und das für die Äußerung in Symptomen maßgebende Faktum. Der Liebesimpuls muß sich dann als sadistischer Impuls maskieren. Die Zwangsvorstellung: ich möchte dich ermorden, heißt im Grunde, wenn man sie von gewissen, aber nicht zufälligen, sondern unerläßlichen Zutaten befreit hat, nichts anderes als: ich möchte dich in Liebe genießen. Nehmen Sie dazu, daß gleichzeitig eine Objektregression stattgehabt hat, so daß diese Impulse nur den nächsten und den geliebtesten Personen gelten, so können Sie sich von dem Entsetzen eine Vorstellung machen, welches diese Zwangsvorstellungen beim Kranken erwecken, und gleichzeitig von der Fremdartigkeit, in welcher sie seiner bewußten Wahrnehmung entgegentreten. Aber auch die Verdrängung hat an dem Mechanismus dieser Neurosen ihren großen Anteil, der in einer flüchtigen Einführung wie der unserigen allerdings nicht leicht auseinanderzusetzen ist. Regression der Libido ohne Verdrängung würde nie eine Neurose ergeben, sondern in eine Perversion auslaufen. Daraus ersehen Sie, daß die Verdrängung jener Prozeß ist, welcher der Neurose am ehesten eigentümlich zukommt und sie am besten charakterisiert. 338 Vielleicht habe ich aber auch einmal Gelegenheit, Ihnen vorzuführen, was wir über den Mechanismus der Perversionen wissen, und Sie werden dann sehen, daß auch hier nichts so einfach vor sich geht, wie man es sich gerne konstruieren möchte.
Meine Herren! Ich meine, Sie werden sich mit den eben angehörten Ausführungen über Fixierung und Regression der Libido am ehesten versöhnen, wenn Sie sie als Vorbereitung für die Erforschung der Ätiologie der Neurosen gelten lassen wollen. Ich habe Ihnen hierüber erst eine einzige Mitteilung gemacht, nämlich daß die Menschen neurotisch erkranken, wenn ihnen die Möglichkeit benommen ist, ihre Libido zu befriedigen, also an der »Versagung«, wie ich mich ausdrückte, und daß ihre Symptome eben der Ersatz für die versagte Befriedigung sind. Natürlich sollte das nicht heißen, daß jede Versagung der libidinösen Befriedigung jeden, den sie trifft, neurotisch macht, sondern bloß, daß in allen untersuchten Fällen von Neurose das Moment der Versagung nachweisbar war. Der Satz ist also nicht umkehrbar. Sie werden wohl auch verstanden haben, daß jene Behauptung nicht das ganze Geheimnis der Neurosenätiologie aufdecken sollte, sondern eben nur eine wichtige und unerläßliche Bedingung hervorhob.
Man weiß jetzt nicht, soll man sich für die weitere Diskussion dieses Satzes an die Natur der Versagung oder an die Eigenart des von ihr Betroffenen halten. Die Versagung ist doch höchst selten eine allseitige und absolute; um pathogen wirksam zu werden, muß sie wohl jene Weise der Befriedigung betreffen, nach der die Person allein verlangt, deren sie allein fähig ist. Es gibt im allgemeinen sehr viele Wege, die Entbehrung der libidinösen Befriedigung zu vertragen, ohne an ihr zu erkranken. Vor allem kennen wir Menschen, die imstande sind, eine solche Entbehrung ohne Schaden auf sich zu nehmen; sie sind dann nicht glücklich, sie leiden an Sehnsucht, aber sie werden nicht krank. Sodann müssen wir in Betracht ziehen, daß gerade die sexuellen Triebregungen außerordentlich plastisch sind, wenn ich so sagen darf. Sie können die eine für die andere eintreten, eine kann die Intensität der anderen auf sich nehmen; wenn die Befriedigung der einen durch die Realität versagt ist, kann die Befriedigung einer anderen volle Entschädigung bieten. Sie verhalten sich zueinander wie ein Netz von kommunizierenden, mit Flüssigkeit gefüllten Kanälen, und dies trotz ihrer 339 Unterwerfung unter den Genitalprimat, was gar nicht so bequem in einer Vorstellung zu vereinen ist. Ferner zeigen die Partialtriebe der Sexualität, ebenso wie die aus ihnen zusammengefaßte Sexualstrebung, eine große Fähigkeit, ihr Objekt zu wechseln, es gegen ein anderes, also auch gegen ein bequemer erreichbares, zu vertauschen; diese Verschiebbarkeit und Bereitwilligkeit, Surrogate anzunehmen, müssen der pathogenen Wirkung einer Versagung mächtig entgegenarbeiten. Unter diesen gegen die Erkrankung durch Entbehrung schützenden Prozessen hat einer eine besondere kulturelle Bedeutung gewonnen. Er besteht darin, daß die Sexualbestrebung ihr auf Partiallust oder Fortpflanzungslust gerichtetes Ziel aufgibt und ein anderes annimmt, welches genetisch mit dem aufgegebenen zusammenhängt, aber selbst nicht mehr sexuell, sondern sozial genannt werden muß. Wir heißen den Prozeß »Sublimierung«, wobei wir uns der allgemeinen Schätzung fügen, welche soziale Ziele höher stellt als die im Grunde selbstsüchtigen sexuellen. Die Sublimierung ist übrigens nur ein Spezialfall der Anlehnung von Sexualstrebungen an andere nicht sexuelle. Wir werden in anderem Zusammenhange nochmals von ihr reden müssen.
Sie werden nun den Eindruck haben, daß die Entbehrung durch alle diese Mittel, sie zu ertragen, zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt worden sei. Aber nein, sie behält ihre pathogene Macht. Die Gegenmittel sind allgemein nicht ausreichend. Das Maß von unbefriedigter Libido, das die Menschen im Durchschnitt auf sich nehmen können, ist begrenzt. Die Plastizität oder freie Beweglichkeit der Libido ist keineswegs bei allen voll erhalten, und die Sublimierung kann immer nur einen gewissen Bruchteil der Libido erledigen, abgesehen davon, daß die Fähigkeit zu sublimieren vielen Menschen nur in geringem Ausmaße zugeteilt ist. Die wichtigste unter diesen Einschränkungen ist offenbar die in der Beweglichkeit der Libido, da sie die Befriedigung des Individuums von der Erreichung einer sehr geringen Anzahl von Zielen und Objekten abhängig macht. Erinnern Sie sich nur daran, daß eine unvollkommene Libidoentwicklung sehr ausgiebige, eventuell auch mehrfache Libidofixierungen an frühe Phasen der Organisation und Objektfindung hinterläßt, welche einer realen Befriedigung meist nicht fähig sind, so werden Sie in der Libidofixierung den zweiten mächtigen Faktor erkennen, der mit der Versagung zur Krankheitsverursachung zusammentritt. In schematischer Verkürzung können Sie es aussprechen, 340 daß die Libidofixierung den disponierenden, internen, die Versagung den akzidentellen, externen Faktor der Neurosenätiologie repräsentiert.
Ich ergreife hier die Gelegenheit, Sie vor der Parteinahme in einem ganz überflüssigen Streit zu warnen. Im wissenschaftlichen Betrieb ist es sehr beliebt, einen Anteil der Wahrheit herauszugreifen, ihn an die Stelle des Ganzen zu setzen und nun zu seinen Gunsten das übrige, was nicht minder wahr ist, zu bekämpfen. Auf diesem Wege haben sich auch bereits aus der psychoanalytischen Bewegung mehrere Richtungen abgespalten, von denen die eine nur die egoistischen Triebe anerkennt, die sexuellen dagegen verleugnet, die andere nur den Einfluß der realen Lebensaufgaben würdigt, den der individuellen Vergangenheit aber übersieht u. dgl. mehr. Nun bietet sich hier ein Anlaß zu einer ähnlichen Entgegenstellung und Streitfrage: Sind die Neurosen exogene oder endogene Krankheiten, die unausbleibliche Folge einer gewissen Konstitution oder das Produkt gewisser schädigender (traumatischer) Lebenseindrücke, im besonderen: werden sie durch die Libidofixierung (und die sonstige Sexualkonstitution) oder durch den Druck der Versagung hervorgerufen? Dies Dilemma scheint mir im ganzen nicht weiser als ein anderes, das ich Ihnen vorlegen könnte: Entsteht das Kind durch die Zeugung des Vaters oder durch die Empfängnis von Seiten der Mutter? Beide Bedingungen sind gleich unentbehrlich, werden Sie mit Recht antworten. In der Verursachung der Neurosen ist das Verhältnis, wenn nicht ganz das nämliche, doch ein sehr ähnliches. Für die Betrachtung der Verursachung ordnen sich die Fälle der neurotischen Erkrankungen zu einer Reihe, innerhalb welcher beide Momente – Sexualkonstitution und Erleben, oder wenn Sie wollen: Libidofixierung und Versagung – so vertreten sind, daß das eine wächst, wenn das andere abnimmt. An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libidoentwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie sorgfältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären gewiß der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr von schädigenden 341 Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexualkonstitution hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Verhältnisse der Libido andere gewesen wären. Ich kann in dieser Reihe vielleicht ein gewisses Übergewicht an Bedeutung für die disponierenden Momente zugestehen, aber auch dies Zugeständnis hängt davon ab, wie weit Sie die Grenzen der Nervosität abstecken wollen.
Meine Herren! Ich mache Ihnen den Vorschlag, Reihen wie diese als Ergänzungsreihen zu bezeichnen, und bereite Sie darauf vor, daß wir Anlaß finden werden, noch andere solche Reihen aufzustellen.
Die Zähigkeit, mit welcher die Libido an bestimmten Richtungen und Objekten haftet, sozusagen die Klebrigkeit der Libido, erscheint uns als ein selbständiger, individuell variabler Faktor, dessen Abhängigkeiten uns völlig unbekannt sind, dessen Bedeutung für die Ätiologie der Neurosen wir gewiß nicht mehr unterschätzen werden. Wir sollen aber auch die Innigkeit dieser Beziehung nicht überschätzen. Eine ebensolche »Klebrigkeit« der Libido – aus unbekannten Gründen – kommt nämlich unter zahlreichen Bedingungen beim Normalen vor und wird als bestimmendes Moment bei den Personen gefunden, welche in gewissem Sinne der Gegensatz der Nervösen sind, bei den Perversen. Es war schon vor der Zeit der Psychoanalyse (Binet), daß in der Anamnese der Perversen recht häufig ein sehr frühzeitiger Eindruck von abnormer Triebrichtung oder Objektwahl aufgedeckt wird, an dem nun die Libido dieser Person fürs Leben haften geblieben ist. Man weiß oft nicht zu sagen, was diesen Eindruck dazu befähigt hat, eine so intensive Anziehung auf die Libido auszuüben. Ich will Ihnen einen selbstbeobachteten Fall dieser Art erzählen. Ein Mann, dem heute das Genitale und alle anderen Reize des Weibes nichts bedeuten, der nur durch einen beschuhten Fuß von gewisser Form in unwiderstehliche sexuelle Erregung versetzt werden kann, weiß sich an ein Erlebnis aus seinem sechsten Jahre zu erinnern, welches maßgebend für die Fixierung seiner Libido geworden ist. Er saß auf einem Schemel neben der Gouvernante, bei der er englische Stunde nehmen sollte. Die Gouvernante, ein altes, dürres, unschönes Mädchen mit wasserblauen Augen und aufgestülpter 342 Nase, hatte an diesem Tage einen kranken Fuß und ließ ihn darum mit einem Samtpantoffel bekleidet, ausgestreckt auf einem Polster ruhen; ihr Bein selbst war dabei in dezentester Weise verhüllt. Ein so magerer sehniger Fuß, wie er ihn damals an der Gouvernante gesehen, wurde nun, nach einem schüchternen Versuch normaler Sexualbetätigung in der Pubertät, sein einziges Sexualobjekt, und der Mann war widerstandslos hingerissen, wenn sich zu diesem Fuß noch andere Züge gesellten, welche an den Typus der englischen Gouvernante erinnerten. Durch diese Fixierung seiner Libido wurde der Mann aber nicht zum Neurotiker, sondern zum Perversen, zum Fußfetischisten, wie wir sagen. Sie sehen also, obwohl die übermäßige, zudem noch vorzeitige Fixierung der Libido für die Verursachung der Neurosen unentbehrlich ist, geht ihr Wirkungskreis doch weit über das Gebiet der Neurosen hinaus. Auch diese Bedingung ist für sich allein sowenig entscheidend wie die früher erwähnte der Versagung.
Das Problem der Verursachung der Neurosen scheint sich also zu komplizieren. In der Tat macht uns die psychoanalytische Untersuchung mit einem neuen Moment bekannt, welches in unserer ätiologischen Reihe nicht berücksichtigt ist und das man am besten bei Fällen erkennt, deren bisheriges Wohlbefinden plötzlich durch die neurotische Erkrankung gestört wird. Man findet bei diesen Personen regelmäßig die Anzeichen eines Widerstreites von Wunschregungen oder, wie wir zu sagen gewohnt sind, eines psychischen Konfliktes. Ein Stück der Persönlichkeit vertritt gewisse Wünsche, ein anderes sträubt sich dagegen und wehrt sie ab. Ohne solchen Konflikt gibt es keine Neurose. Das schiene uns nichts Besonderes. Sie wissen, daß unser seelisches Leben unaufhörlich von Konflikten bewegt wird, deren Entscheidung wir zu treffen haben. Es müssen also wohl besondere Bedingungen erfüllt sein, wenn ein solcher Konflikt pathogen werden soll. Wir dürfen fragen, welches diese Bedingungen sind, zwischen welchen seelischen Mächten sich diese pathogenen Konflikte abspielen, welche Beziehung der Konflikt zu den anderen verursachenden Momenten hat.
Ich hoffe, Ihnen auf diese Fragen ausreichende Antworten geben zu können, wenn sie auch schematisch verkürzt sein mögen. Der Konflikt wird durch die Versagung heraufbeschworen, indem die ihrer Befriedigung verlustige Libido nun darauf angewiesen ist, sich andere Objekte und 343 Wege zu suchen. Er hat zur Bedingung, daß diese anderen Wege und Objekte bei einem Anteil der Persönlichkeit ein Mißfallen erwecken, so daß ein Veto erfolgt, welches die neue Weise der Befriedigung zunächst unmöglich macht. Von hier aus geht der Weg zur Symptombildung weiter, den wir später verfolgen werden. Die abgewiesenen libidinösen Strebungen bringen es zustande, sich auf gewissen Umwegen doch durchzusetzen, allerdings nicht ohne dem Einspruch durch gewisse Entstellungen und Milderungen Rechnung zu tragen. Die Umwege sind die Wege der Symptombildung, die Symptome sind die neue oder Ersatzbefriedigung, die durch die Tatsache der Versagung notwendig geworden ist.
Man kann der Bedeutung des psychischen Konflikts auch durch eine andere Ausdrucksweise gerecht werden, indem man sagt: zur äußeren Versagung muß, damit sie pathogen wirke, noch die innere Versagung hinzutreten. Äußere und innere Versagung beziehen sich dann natürlich auf verschiedene Wege und Objekte. Die äußere Versagung nimmt die eine Möglichkeit der Befriedigung weg, die innere Versagung möchte eine andere Möglichkeit ausschließen, um welche dann der Konflikt losbricht. Ich gebe dieser Art der Darstellung den Vorzug, weil sie einen geheimen Gehalt besitzt. Sie deutet nämlich auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß die inneren Abhaltungen in den Vorzeiten menschlicher Entwicklung aus realen äußeren Hindernissen hervorgegangen sind.
Welches sind aber die Mächte, von denen der Einspruch gegen die libidinöse Strebung ausgeht, die andere Partei im pathogenen Konflikt? Es sind, ganz allgemein gesagt, die nicht sexuellen Triebkräfte. Wir fassen sie als »Ichtriebe« zusammen; die Psychoanalyse der Übertragungsneurosen gibt uns keinen guten Zugang zu ihrer weiteren Zerlegung, wir lernen sie höchstens einigermaßen durch die Widerstände kennen, die sich der Analyse entgegensetzen. Der pathogene Konflikt ist also ein solcher zwischen den Ichtrieben und den Sexualtrieben. Es hat in einer ganzen Reihe von Fällen den Anschein, als ob es auch ein Konflikt zwischen verschiedenen, rein sexuellen Strebungen sein könnte; aber das ist im Grunde dasselbe, denn von den beiden im Konflikt befindlichen Sexualstrebungen ist immer die eine sozusagen ichgerecht, während die andere die Abwehr des Ichs herausfordert. Es bleibt also beim Konflikt zwischen Ich und Sexualität.
344 Meine Herren! Oft und oft, wenn die Psychoanalyse ein seelisches Geschehen als Leistung der Sexualtriebe in Anspruch genommen hat, wurde ihr in ärgerlicher Abwehr vorgehalten, der Mensch bestehe nicht nur aus Sexualität, es gebe im Seelenleben noch andere Triebe und Interessen als die sexuellen, man dürfe nicht »alles« von der Sexualität ableiten u. dgl. Nun, es ist hocherfreulich, sich auch einmal eines Sinnes mit seinen Gegnern zu finden. Die Psychoanalyse hat nie vergessen, daß es auch nicht sexuelle Triebkräfte gibt, sie hat sich auf der scharfen Sonderung der sexuellen Triebe von den Ichtrieben aufgebaut und vor jedem Einspruch behauptet, nicht daß die Neurosen aus der Sexualität hervorgehen, sondern daß sie dem Konflikt zwischen Ich und Sexualität ihren Ursprung danken. Sie hat auch gar kein denkbares Motiv, Existenz oder Bedeutung der Ichtriebe zu bestreiten, während sie die Rolle der sexuellen Triebe in der Krankheit und im Leben verfolgt. Nur daß es ihr Schicksal geworden ist, sich in erster Linie mit den Sexualtrieben zu beschäftigen, weil diese durch die Übertragungsneurosen der Einsicht am ehesten zugänglich geworden sind, und weil es ihr obgelegen hat, das zu studieren, was andere vernachlässigt hatten.
Es trifft auch nicht zu, daß sich die Psychoanalyse um den nicht sexuellen Anteil der Persönlichkeit gar nicht gekümmert hat. Gerade die Sonderung von Ich und Sexualität hat uns mit besonderer Klarheit erkennen lassen, daß auch die Ichtriebe eine bedeutsame Entwicklung durchmachen, eine Entwicklung, die weder ganz unabhängig von der Libido, noch ohne Gegenwirkung auf diese ist. Wir kennen allerdings die Ichentwicklung sehr viel schlechter als die der Libido, weil nämlich erst das Studium der narzißtischen Neurosen eine Einsicht in den Aufbau des Ichs verspricht. Doch liegt bereits ein beachtenswerter Versuch von Ferenczi vor, die Entwicklungsstufen des Ichs theoretisch zu konstruieren, und an wenigstens zwei Stellen haben wir feste Anhaltspunkte für die Beurteilung dieser Entwicklung gewonnen. Wir denken ja nicht daran, daß sich die libidinösen Interessen einer Person von vornherein im Gegensatz zu ihren Selbsterhaltungsinteressen befinden; vielmehr wird das Ich auf jeder Stufe bestrebt sein, mit seiner derzeitigen Sexualorganisation im Einklang zu bleiben und sie sich einzuordnen. Die Ablösung der einzelnen Phasen in der Libidoentwicklung folgt wahrscheinlich einem vorgeschriebenen Programm; es ist aber nicht abzuweisen, daß dieser Ablauf von Seiten des Ichs beeinflußt werden kann, und ein gewisser Parallelismus, eine bestimmte Entsprechung 345 der Entwicklungsphasen von Ich und Libido dürfte gleichfalls vorgesehen sein; ja, die Störung dieser Entsprechung könnte ein pathogenes Moment ergeben. Ein für uns wichtiger Gesichtspunkt ist es nun, wie sich das Ich verhält, wenn seine Libido an einer Stelle ihrer Entwicklung eine starke Fixierung hinterläßt. Es kann dieselbe zulassen und wird dann in dem entsprechenden Maß pervers oder, was dasselbe ist, infantil. Es kann sich aber auch ablehnend gegen diese Festsetzung der Libido verhalten, und dann hat das Ich dort eine Verdrängung, wo die Libido eine Fixierung erfahren hat.
Auf diesem Wege gelangen wir zur Kenntnis, daß der dritte Faktor der Neurosenätiologie, die Konfliktneigung, von der Entwicklung des Ichs ebensosehr abhängt wie von der der Libido. Unsere Einsicht in die Verursachung der Neurosen hat sich also vervollständigt. Zuerst als allgemeinste Bedingung die Versagung, dann die Fixierung der Libido, welche sie in bestimmte Richtungen drängt, und zu dritt die Konfliktneigung aus der Ichentwicklung, die solche Libidoregungen abgelehnt hat. Der Sachverhalt ist also nicht so sehr verworren und schwer zu durchschauen, wie es Ihnen wahrscheinlich während des Fortschrittes meiner Ausführungen erschienen ist. Aber freilich, wir werden finden, daß wir noch nicht fertig sind. Wir müssen noch etwas Neues hinzufügen und etwas bereits Bekanntes weiter zerlegen.
Um Ihnen den Einfluß der Ichentwicklung auf die Konfliktbildung und somit auf die Verursachung der Neurosen zu demonstrieren, möchte ich Ihnen ein Beispiel vorführen, das zwar durchaus erfunden ist, aber sich in keinem Punkte von der Wahrscheinlichkeit entfernt. Ich will es in Anlehnung an den Titel einer Nestroyschen Posse mit der Charakteristik »Zu ebener Erde und im ersten Stock« versehen. Zu ebener Erde wohnt der Hausbesorger, im ersten Stock der Hausherr, ein reicher und vornehmer Mann. Beide haben Kinder, und wir wollen annehmen, daß es dem Töchterchen des Hausherrn gestattet ist, unbeaufsichtigt mit dem Proletarierkind zu spielen. Dann kann es sehr leicht geschehen, daß die Spiele der Kinder einen ungezogenen, das heißt sexuellen Charakter annehmen, daß sie »Vater und Mutter« spielen, einander bei den intimen Verrichtungen beschauen und an den Genitalien reizen. Das Hausmeistermädchen, das trotz seiner fünf oder sechs Jahre manches von der Sexualität der Erwachsenen beobachten konnte, mag dabei die Rolle der Verführerin übernehmen. Diese Erlebnisse reichen hin, auch wenn sie sich nicht über lange Zeit fortsetzen, um bei beiden Kindern 346 gewisse sexuelle Regungen zu aktivieren, die sich nach dem Aufhören der gemeinsamen Spiele einige Jahre hindurch als Masturbation äußern. Soweit die Gemeinsamkeit; der endliche Erfolg wird bei beiden Kindern sehr verschieden sein. Die Tochter des Hausbesorgers wird die Masturbation etwa bis zum Auftreten der Periode fortsetzen, sie dann ohne Schwierigkeit aufgeben, wenige Jahre später einen Geliebten nehmen, vielleicht auch ein Kind bekommen, diesen oder jenen Lebensweg einschlagen, der sie vielleicht zur populären Künstlerin führt, die als Aristokratin endigt. Wahrscheinlich wird ihr Schicksal minder glänzend ausfallen, aber jedenfalls wird sie ungeschädigt durch die vorzeitige Betätigung ihrer Sexualität, frei von Neurose, ihr Leben erfüllen. Anders das Töchterchen des Hausherrn. Dies wird frühzeitig und noch als Kind die Ahnung bekommen, daß es etwas Unrechtes getan habe, wird nach kürzerer Zeit, aber vielleicht erst nach hartem Kampf, auf die masturbatorische Befriedigung verzichten und trotzdem etwas Gedrücktes in seinem Wesen behalten. Wenn sie in den Jungmädchenjahren in die Lage kommt, etwas vom menschlichen Sexualverkehr zu erfahren, wird sie sich mit unerklärtem Abscheu davon abwenden und unwissend bleiben wollen. Wahrscheinlich unterliegt sie jetzt auch einem von neuem auftretenden unbezwingbaren Drang zur Masturbation, über den sich zu beklagen sie nicht wagt. In den Jahren, da sie einem Manne als Weib gefallen soll, wird die Neurose bei ihr losbrechen, die sie um Ehe und Lebenshoffnung betrügt. Gelingt es nun durch Analyse Einsicht in diese Neurose zu gewinnen, so zeigt sich, daß dies wohlerzogene, intelligente und hochstrebende Mädchen seine Sexualregungen vollkommen verdrängt hat, daß diese aber, ihr unbewußt, an den armseligen Erlebnissen mit ihrer Kinderfreundin haften.
Die Verschiedenheit der beiden Schicksale trotz gleichen Erlebens rührt daher, daß das Ich der einen eine Entwicklung erfahren hat, welche bei der anderen nicht eingetreten ist. Der Tochter des Hausbesorgers ist die Sexualbetätigung später ebenso natürlich und unbedenklich erschienen wie in der Kindheit. Die Tochter des Hausherrn hat die Einwirkung der Erziehung erfahren und deren Ansprüche angenommen. Ihr Ich hat aus den ihm dargebotenen Anregungen Ideale von weiblicher Reinheit und Unbedürftigkeit gebildet, mit denen sich die sexuelle Betätigung nicht verträgt; ihre intellektuelle Ausbildung hat ihr Interesse für die weibliche Rolle, zu der sie bestimmt ist, erniedrigt. Durch diese höhere moralische und intellektuelle Entwicklung ihres Ichs ist sie in den Konflikt mit den Ansprüchen ihrer Sexualität geraten.
347 Ich will heute noch bei einem zweiten Punkt in der Ichentwicklung verweilen, sowohl wegen gewisser weitschauender Ausblicke, als auch darum, weil gerade das Folgende geeignet ist, die von uns beliebte, scharfe und nicht selbstverständliche Sonderung der Ichtriebe von den Sexualtrieben zu rechtfertigen. In der Beurteilung der beiden Entwicklungen, des Ichs wie der Libido, müssen wir einen Gesichtspunkt voranstellen, der bisher noch nicht oft gewürdigt worden ist. Beide sind ja im Grunde Erbschaften, abgekürzte Wiederholungen der Entwicklung, welche die ganze Menschheit von ihren Urzeiten an durch sehr lange Zeiträume zurückgelegt hat. Der Libidoentwicklung, möchte ich meinen, sieht man diese phylogenetische Herkunft ohne weiteres an. Denken Sie daran, wie bei der einen Tierklasse der Genitalapparat in die innigste Beziehung zum Mund gebracht ist, bei der anderen sich vom Exkretionsapparat nicht sondern läßt, bei noch anderen an die Bewegungsorgane geknüpft ist, Dinge, die Sie in dem wertvollen Buch von W. Bölsche anziehend geschildert finden. Man sieht bei den Tieren sozusagen alle Arten von Perversion zur Sexualorganisation erstarrt. Nur wird der phylogenetische Gesichtspunkt beim Menschen zum Teil durch den Umstand verschleiert, daß das, was im Grunde vererbt ist, doch in der individuellen Entwicklung neu erworben wird, wahrscheinlich darum, weil dieselben Verhältnisse noch fortbestehen und auf jeden einzelnen wirken, die seinerzeit zur Erwerbung genötigt haben. Ich möchte sagen, sie haben seinerzeit schaffend gewirkt, sie wirken jetzt hervorrufend. Außerdem ist es unzweifelhaft, daß der Lauf der vorgezeichneten Entwicklung bei jedem einzelnen durch rezente Einflüsse von außen gestört und abgeändert werden kann. Die Macht aber, welche der Menschheit eine solche Entwicklung aufgenötigt hat und ihren Druck nach der gleichen Richtung heute ebenso aufrechthält, kennen wir; es ist wiederum die Versagung der Realität, oder wenn wir ihr ihren richtigen großen Namen geben, die Not des Lebens: die Ἀνάγκη. Sie ist eine strenge Erzieherin gewesen und hat viel aus uns gemacht. Die Neurotiker gehören zu den Kindern, bei welchen diese Strenge üble Erfolge gebracht hat, aber das ist bei jeder Erziehung zu riskieren. – Diese Würdigung der Lebensnot als des Motors der Entwicklung braucht uns übrigens nicht gegen die Bedeutung von »inneren Entwicklungstendenzen« einzunehmen, wenn sich solche beweisen lassen.
348 Nun ist es sehr beachtenswert, daß Sexualtriebe und Selbsterhaltungstriebe sich nicht in gleicher Weise gegen die reale Not benehmen. Die Selbsterhaltungstriebe und alles, was mit ihnen zusammenhängt, sind leichter zu erziehen; sie lernen es frühzeitig, sich der Not zu fügen und ihre Entwicklungen nach den Weisungen der Realität einzurichten. Das ist begreiflich, denn sie können sich die Objekte, deren sie bedürfen, auf keine andere Art verschaffen; ohne diese Objekte muß das Individuum zugrunde gehen. Die Sexualtriebe sind schwerer erziehbar, denn sie kennen zu Anfang die Objektnot nicht. Da sie sich gleichsam schmarotzend an die anderen Körperfunktionen anlehnen und am eigenen Körper autoerotisch befriedigen, sind sie dem erziehlichen Einfluß der realen Not zunächst entzogen, und sie behaupten diesen Charakter der Eigenwilligkeit, Unbeeinflußbarkeit, das, was wir »Unverständigkeit« nennen, bei den meisten Menschen in irgendeiner Hinsicht durchs ganze Leben. Auch hat die Erziehbarkeit einer jugendlichen Person in der Regel ein Ende, wenn ihre Sexualbedürfnisse in endgültiger Stärke erwachen. Das wissen die Erzieher und handeln danach; aber vielleicht lassen sie sich durch die Ergebnisse der Psychoanalyse noch dazu bewegen, den Hauptnachdruck der Erziehung auf die ersten Kinderjahre, vom Säuglingsalter an, zu verlegen. Der kleine Mensch ist oft mit dem vierten oder fünften Jahr schon fertig und bringt später nur allmählich zum Vorschein, was bereits in ihm steckt.
Um die volle Bedeutung des angezeigten Unterschiedes zwischen beiden Triebgruppen zu würdigen, müssen wir weit ausholen und eine jener Betrachtungen einführen, die ökonomische genannt zu werden verdienen. Wir begeben uns damit auf eines der wichtigsten, aber leider auch dunkelsten Gebiete der Psychoanalyse. Wir stellen uns die Frage, ob an der Arbeit unseres seelischen Apparates eine Hauptabsicht zu erkennen sei, und beantworten sie in erster Annäherung, daß diese Absicht auf Lustgewinnung gerichtet ist. Es scheint, daß unsere gesamte Seelentätigkeit darauf gerichtet ist, Lust zu erwerben und Unlust zu vermeiden, daß sie automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird. Nun wüßten wir um alles in der Welt gerne, welches die Bedingungen der Entstehung von Lust und Unlust sind, aber daran fehlt es uns eben. Nur so viel darf man sich getrauen zu behaupten, daß die Lust irgendwie an die Verringerung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im Seelenapparat waltenden Reizmenge gebunden ist, die Unlust aber an eine Erhöhung derselben. Die Untersuchung der intensivsten Lust, welche dem Menschen zugänglich ist, der Lust bei der Vollziehung des 349 Sexualaktes, läßt über diesen einen Punkt wenig Zweifel. Da es sich bei solchen Lustvorgängen um die Schicksale von Quantitäten seelischer Erregung oder Energie handelt, bezeichnen wir Betrachtungen dieser Art als ökonomische. Wir merken, daß wir die Aufgabe und Leistung des Seelenapparates auch anders und allgemeiner beschreiben können als durch die Betonung des Lustgewinnes. Wir können sagen, der seelische Apparat diene der Absicht, die von außen und von innen an ihn herantretenden Reizmengen, Erregungsgrößen, zu bewältigen und zu erledigen. Von den Sexualtrieben ist es ohne weiteres evident, daß sie zu Anfang wie zu Ende ihrer Entwicklung auf Lustgewinn arbeiten; sie behalten diese ursprüngliche Funktion ohne Abänderung bei. Das nämliche streben auch die anderen, die Ichtriebe, anfänglich an. Aber unter dem Einfluß der Lehrmeisterin Not lernen die Ichtriebe bald, das Lustprinzip durch eine Modifikation zu ersetzen. Die Aufgabe, Unlust zu verhüten, stellt sich für sie fast gleichwertig neben die des Lustgewinns; das Ich erfährt, daß es unvermeidlich ist, auf unmittelbare Befriedigung zu verzichten, den Lustgewinn aufzuschieben, ein Stück Unlust zu ertragen und bestimmte Lustquellen überhaupt aufzugeben. Das so erzogene Ich ist »verständig« geworden, es läßt sich nicht mehr vom Lustprinzip beherrschen, sondern folgt dem Realitätsprinzip, das im Grunde auch Lust erzielen will, aber durch die Rücksicht auf die Realität gesicherte, wenn auch aufgeschobene und verringerte Lust.
Der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip ist einer der wichtigsten Fortschritte in der Entwicklung des Ichs. Wir wissen schon, daß die Sexualtriebe dieses Stück der Ichentwicklung spät und nur widerstrebend mitmachen, und werden später hören, welche Folgen es für den Menschen hat, daß seine Sexualität sich mit einem so lockeren Verhältnis zur äußeren Realität begnügt. Und nun zum Schlusse noch eine hierher gehörige Bemerkung. Wenn das Ich des Menschen seine Entwicklungsgeschichte hat wie die Libido, so werden Sie nicht überrascht sein zu hören, daß es auch »Ichregressionen« gibt, und werden auch wissen wollen, welche Rolle diese Rückkehr des Ichs zu früheren Entwicklungsphasen bei den neurotischen Erkrankungen spielen kann.