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316 21. Vorlesung
Meine Herren! Ich stehe unter dem Eindruck, daß es mir nicht gelungen ist, Ihnen die Bedeutung der Perversionen für unsere Auffassung der Sexualität so recht überzeugend nahezubringen. Ich möchte darum bessern und nachtragen, soviel ich nur kann.
Es verhält sich ja nicht so, daß die Perversionen allein uns zu jener Abänderung des Begriffes Sexualität genötigt hätten, welche uns so heftigen Widerspruch eingetragen hat. Das Studium der infantilen Sexualität hat noch mehr dazu getan, und die Übereinstimmung der beiden wurde für uns entscheidend. Aber die Äußerungen der infantilen Sexualität, so unverkennbar sie in den späteren Kinderjahren sein mögen, scheinen sich doch gegen ihre Anfänge hin ins Unbestimmbare zu verflüchtigen. Wer auf Entwicklungsgeschichte und analytischen Zusammenhang nicht achten will, wird ihnen den Charakter des Sexuellen bestreiten und ihnen dafür irgendeinen undifferenzierten Charakter zuerkennen. Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges, es sei denn wiederum die Zugehörigkeit zur Fortpflanzungsfunktion, die wir als zu engherzig ablehnen müssen. Die biologischen Kriterien, wie die von W. Fließ aufgestellten Periodizitäten zu 23 und 28 Tagen, sind noch durchaus strittig; die chemischen Eigentümlichkeiten der Sexualvorgänge, die wir vermuten dürfen, harren erst ihrer Entdeckung. Die sexuellen Perversionen der Erwachsenen hingegen sind etwas Greifbares und Unzweideutiges. Wie schon ihre allgemein zugestandene Benennung erweist, sind sie unzweifelhaft Sexualität. Mag man sie Degenerationszeichen oder anders heißen, es hat noch niemand den Mut gefunden, sie anderswohin als zu den Phänomenen des Sexuallebens zu stellen. Um ihretwillen allein sind wir zur Behauptung berechtigt, daß Sexualität und Fortpflanzung nicht zusammenfallen, denn es ist offenkundig, daß sie sämtlich das Ziel der Fortpflanzung verleugnen.
Ich sehe da eine nicht uninteressante Parallele. Während für die meisten »bewußt« und »psychisch« dasselbe ist, waren wir genötigt, eine Erweiterung des Begriffes »psychisch« vorzunehmen und ein Psychisches anzuerkennen, das nicht bewußt ist. Und ganz ähnlich ist es, wenn die 317 anderen »sexuell« und »zur Fortpflanzung gehörig« – oder wenn Sie es kürzer sagen wollen: »genital« – für identisch erklären, während wir nicht umhin können, ein »sexuell« gelten zu lassen, das nicht »genital« ist, nichts mit der Fortpflanzung zu tun hat. Es ist nur eine formale Ähnlichkeit, aber nicht ohne tiefere Begründung.
Wenn aber die Existenz der sexuellen Perversionen ein so zwingendes Argument in dieser Frage ist, warum hat es nicht bereits längst seine Wirkung getan und diese Frage erledigt? Ich weiß es wirklich nicht zu sagen. Es scheint mir daran zu liegen, daß diese sexuellen Perversionen mit einer ganz besonderen Acht belegt sind, die auf die Theorie übergreift und auch ihrer wissenschaftlichen Würdigung in den Weg tritt. Als ob niemand vergessen könnte, daß sie nicht nur etwas Abscheuliches, sondern auch etwas Ungeheuerliches, Gefährliches sind, als ob man sie für verführerisch hielte und im Grunde einen geheimen Neid gegen die sie Genießenden niederzukämpfen hätte, etwa wie ihn der strafende Landgraf in der berühmten Tannhäuserparodie eingesteht:
»Im Venusberg vergaß er Ehr' und Pflicht!
– Merkwürdig, unser einem passiert so etwas nicht.«
In Wahrheit sind die Perversen eher arme Teufel, die außerordentlich hart für ihre schwer zu erringende Befriedigung büßen.
Was die perverse Betätigung trotz aller Fremdheit des Objektes und der Ziele zu einer so unverkennbar sexuellen macht, ist der Umstand, daß der Akt der perversen Befriedigung doch zumeist in vollen Orgasmus und in Entleerung der Genitalprodukte ausgeht. Das ist natürlich nur die Folge der Erwachsenheit der Personen; beim Kinde sind Orgasmus und Genitalexkretion nicht gut möglich, sie werden durch Andeutungen ersetzt, die wiederum nicht als sicher sexuell anerkannt werden.
Ich muß noch etwas hinzufügen, um die Würdigung der sexuellen Perversionen zu vervollständigen. So verrufen sie auch sein mögen, so scharf man sie auch der normalen Sexualbetätigung gegenüberstellt, so zeigt doch die bequeme Beobachtung, daß dem Sexualleben der Normalen nur selten der eine oder andere perverse Zug abgeht. Schon der Kuß hat Anspruch auf den Namen eines perversen Aktes, denn er besteht in der Vereinigung zweier erogener Mundzonen an Stelle der beiderlei Genitalien. Aber niemand verwirft ihn als pervers, er wird im Gegenteil in der Bühnendarstellung als gemilderte Andeutung des Sexualaktes zugelassen. Gerade das Küssen kann aber leicht zur vollen Perversion werden, wenn es nämlich so intensiv ausfällt, daß sich Genitalentladung und Orgasmus direkt daranschließen, was gar nicht so selten vorkommt. Im übrigen kann man erfahren, daß Betasten und Beschauen des Objektes für den einen unentbehrliche Bedingungen des Sexualgenusses sind, daß ein anderer auf der Höhe der sexuellen Erregung kneift oder beißt, daß die größte Erregtheit beim Liebenden nicht immer durch das Genitale, sondern durch eine andere Körperregion des Objektes hervorgerufen wird, und ähnliches in beliebiger Auswahl mehr. Es hat gar keinen Sinn, Personen mit einzelnen solchen Zügen aus der Reihe der Normalen auszuscheiden und zu den Perversen zu stellen, vielmehr erkennt man immer deutlicher, daß das Wesentliche der Perversionen nicht in der Überschreitung des Sexualzieles, nicht in der Ersetzung der Genitalien, ja nicht einmal immer in der Variation des Objektes besteht, sondern allein in der Ausschließlichkeit, mit welcher sich diese Abweichungen vollziehen und durch welche der der Fortpflanzung dienende Sexualakt beiseite geschoben wird. Sowie sich die perversen Handlungen als vorbereitende oder als verstärkende Beiträge in die Herbeiführung des normalen Sexualaktes einfügen, sind sie eigentlich keine Perversionen mehr. Natürlich wird die Kluft zwischen der normalen und der perversen Sexualität durch Tatsachen dieser Art sehr verringert. Es ergibt sich ungezwungen, daß die normale Sexualität aus etwas hervorgeht, was vor ihr bestanden hat, indem sie einzelne Züge dieses Materials als unbrauchbar ausscheidet und die anderen zusammenfaßt, um sie einem neuen, dem Fortpflanzungsziel, unterzuordnen.
Ehe wir unsere Vertrautheit mit den Perversionen dazu verwenden, um uns mit geklärten Voraussetzungen neuerlich in das Studium der infantilen Sexualität zu vertiefen, muß ich Sie auf einen wichtigen Unterschied zwischen beiden aufmerksam machen. Die perverse Sexualität ist in der Regel ausgezeichnet zentriert, alles Tun drängt zu einem – meist zu einem einzigen – Ziel, ein Partialtrieb hat bei ihr die Oberhand, er ist entweder der einzig nachweisbare oder hat die anderen seinen Absichten unterworfen. In dieser Hinsicht ist zwischen der perversen und der normalen Sexualität kein anderer Unterschied, als daß die herrschenden Partialtriebe und somit die Sexualziele verschiedene sind. Es ist sozusagen hier wie dort eine gut organisierte Tyrannis, nur daß hier die eine, dort eine andere Familie die Herrschaft an sich gerissen hat. Die infantile Sexualität ist dagegen im großen und ganzen ohne solche Zentrierung und Organisation, ihre einzelnen Partialtriebe sind gleichberechtigt, ein jeder geht auf eigene Faust dem Lusterwerb 319 nach. Der Mangel wie die Anwesenheit der Zentrierung stimmen natürlich gut zu der Tatsache, daß beide, die perverse wie die normale Sexualität aus der infantilen hervorgegangen sind. Es gibt übrigens auch Fälle von perverser Sexualität, die weit mehr Ähnlichkeit mit der infantilen haben, indem sich zahlreiche Partialtriebe unabhängig voneinander mit ihren Zielen durchgesetzt oder besser: fortgesetzt haben. Man spricht in diesen Fällen richtiger von Infantilismus des Sexuallebens als von Perversion.
So vorbereitet können wir an die Erörterung eines Vorschlages gehen, der uns sicherlich nicht erspart werden wird. Man wird uns sagen: Warum steifen Sie sich darauf, die nach ihrem eigenen Zeugnis unbestimmbaren Äußerungen der Kindheit, aus denen später Sexuelles wird, auch schon Sexualität zu nennen? Warum wollen Sie sich nicht lieber mit der physiologischen Beschreibung begnügen und einfach sagen, beim Säugling beobachte man bereits Tätigkeiten, wie das Lutschen oder das Zurückhalten der Exkremente, die uns zeigen, daß er nach Organlust strebt? Dadurch würden Sie doch die jedes Gefühl beleidigende Aufstellung eines Sexuallebens für das kleinste Kind vermieden haben. – Ja, meine Herren, ich habe gar nichts gegen die Organlust einzuwenden; ich weiß, daß die höchste Lust der sexuellen Vereinigung auch nur eine an die Tätigkeit der Genitalien gebundene Organlust ist. Aber können Sie mir sagen, wann diese ursprünglich indifferente Organlust den sexuellen Charakter bekommt, den sie in späteren Phasen der Entwicklung unzweifelhaft besitzt? Wissen wir von der »Organlust« mehr als von der Sexualität? Sie werden antworten, der sexuelle Charakter käme eben hinzu, wenn die Genitalien ihre Rolle zu spielen beginnen; sexuell deckt sich mit genital. Sie werden selbst die Einwendung der Perversionen ablehnen, indem Sie mir vorhalten, daß es bei den meisten Perversionen doch auf die Erzielung des genitalen Orgasmus ankomme, wenn auch auf einem anderen Wege als durch die Vereinigung der Genitalien. Sie schaffen sich wirklich eine weit bessere Position, wenn Sie aus der Charakteristik des Sexuellen die infolge der Perversionen unhaltbare Beziehung zur Fortpflanzung streichen und dafür die Genitaltätigkeit voranstellen. Aber dann sind wir nicht mehr weit auseinander; es stehen einfach die Genitalorgane gegen die anderen Organe. Was machen Sie nun aber gegen die vielfachen Erfahrungen, die Ihnen zeigen, daß die Genitalien für die Lustgewinnung durch andere Organe vertreten werden können, wie beim 320 normalen Kuß, wie in den perversen Praktiken der Lebewelt, wie in der Symptomatik der Hysterie? Bei dieser Neurose ist es ganz gewöhnlich, daß Reizerscheinungen, Sensationen und Innervationen, selbst die Vorgänge der Erektion, die an den Genitalien daheim sind, auf andere entfernte Körperregionen verschoben werden (z. B. bei der Verlegung nach oben auf Kopf und Gesicht). In solcher Weise überführt, daß Sie nichts haben, was Sie zur Charakteristik Ihres Sexuellen festhalten können, werden Sie sich wohl entschließen müssen, meinem Beispiel zu folgen und die Bezeichnung »sexuell« auch auf die nach Organlust strebenden Betätigungen der frühen Kindheit auszudehnen.
Und nun wollen Sie zu meiner Rechtfertigung noch zwei weiteren Erwägungen Raum geben. Wie Sie wissen, heißen wir die zweifelhaften und unbestimmbaren Lustbetätigungen der frühesten Kindheit sexuell, weil wir auf dem Wege der Analyse von den Symptomen aus über unbestreitbar sexuelles Material zu ihnen gelangen. Es müßte nicht darum auch selbst sexuell sein, zugestanden. Aber nehmen Sie einen analogen Fall. Stellen Sie sich vor, wir hätten keinen Weg, die Entwicklung zweier dikotyledonen Pflanzen, des Apfelbaumes und der Bohne, aus ihren Samen zu beobachten, aber es sei uns in beiden Fällen möglich, ihre Entwicklung vom voll ausgebildeten pflanzlichen Individuum bis zum ersten Keimling mit zwei Keimblättern rückschreitend zu verfolgen. Die beiden Keimblättchen sehen indifferent aus, sind in beiden Fällen ganz gleichartig. Werde ich darum annehmen, daß sie wirklich gleichartig sind und daß die spezifische Differenz zwischen Apfelbaum und Bohne erst später in die Vegetation eintritt? Oder ist es biologisch korrekter zu glauben, daß diese Differenz schon im Keimling vorhanden ist, obwohl ich den Keimblättern eine Verschiedenheit nicht ansehen kann. Dasselbe tun wir aber, wenn wir die Lust bei Säuglingsbetätigungen eine sexuelle heißen. Ob alle und jede Organlust eine sexuelle genannt werden darf oder ob es neben der sexuellen eine andere gibt, welche diesen Namen nicht verdient, das kann ich hier nicht diskutieren. Ich weiß zu wenig von der Organlust und von ihren Bedingungen und darf mich bei dem rückschreitenden Charakter der Analyse überhaupt nicht verwundern, wenn ich am letzten Ende bei derzeit unbestimmbaren Momenten anlange.
Und noch eins! Sie haben im ganzen für das, was Sie behaupten wollen, für die sexuelle Reinheit des Kindes, sehr wenig gewonnen, auch wenn Sie mich davon überzeugen können, daß die Säuglingsbetätigungen besser als nicht sexuelle eingeschätzt werden sollen. Denn schon vom 321 dritten Lebensjahre an ist das Sexualleben des Kindes all diesen Zweifeln entzogen; um diese Zeit beginnen bereits die Genitalien sich zu regen, es ergibt sich vielleicht regelmäßig eine Periode von infantiler Masturbation, also Genitalbefriedigung. Die seelischen und sozialen Äußerungen des Sexuallebens brauchen nicht mehr vermißt zu werden; Objektwahl, zärtliche Bevorzugung einzelner Personen, ja Entscheidung für eines der beiden Geschlechter, Eifersucht, sind durch unparteiische Beobachtungen unabhängig und vor der Zeit der Psychoanalyse festgestellt worden und können von jedem Beobachter, der es sehen will, bestätigt werden. Sie werden einwenden, an dem frühen Erwachen der Zärtlichkeit haben Sie nicht gezweifelt, nur daran, daß diese Zärtlichkeit den »sexuellen« Charakter trägt. Diesen zu verbergen haben die Kinder allerdings zwischen drei und acht Jahren bereits gelernt, aber wenn Sie aufmerksam sind, können Sie für die »sinnlichen« Absichten dieser Zärtlichkeit immerhin genug Beweise sammeln, und was Ihnen dann noch abgeht, werden die analytischen Ausforschungen mühelos in reichem Maße ergeben. Die Sexualziele dieser Lebenszeit stehen in innigstem Zusammenhang mit der gleichzeitigen Sexualforschung, von der ich Ihnen einige Proben gegeben habe. Der perverse Charakter einiger dieser Ziele hängt natürlich von der konstitutionellen Unreife des Kindes ab, welches das Ziel des Begattungsaktes noch nicht entdeckt hat.
Etwa vom sechsten bis achten Lebensjahr an macht sich ein Stillstand und Rückgang in der Sexualentwicklung bemerkbar, der in den kulturell günstigsten Fällen den Namen einer Latenzzeit verdient. Die Latenzzeit kann auch entfallen, sie braucht keine Unterbrechung der Sexualbetätigung und der Sexualinteressen auf der ganzen Linie mit sich zu bringen. Die meisten Erlebnisse und seelischen Regungen vor dem Eintritt der Latenzzeit verfallen dann der infantilen Amnesie, dem bereits erörterten Vergessen, welches unsere erste Jugend verhüllt und uns ihr entfremdet. In jeder Psychoanalyse stellt sich die Aufgabe her, diese vergessene Lebensperiode in die Erinnerung zurückzuführen; man kann sich der Vermutung nicht erwehren, daß die in ihr enthaltenen Anfänge des Sexuallebens das Motiv zu diesem Vergessen ergeben haben, daß dies Vergessen also ein Erfolg der Verdrängung ist.
Das Sexualleben des Kindes zeigt vom dritten Lebensjahr an viel Übereinstimmung mit dem des Erwachsenen; es unterscheidet sich von dem letzteren, wie wir bereits wissen, durch den Mangel einer festen 322 Organisation unter dem Primat der Genitalien, durch die unvermeidlichen Züge von Perversion und natürlich auch durch weit geringere Intensität der ganzen Strebung. Aber die für die Theorie interessantesten Phasen der Sexual-, oder wie wir sagen wollen, der Libidoentwicklung, liegen hinter diesem Zeitpunkt. Diese Entwicklung wird so rasch durchlaufen, daß es der direkten Beobachtung wahrscheinlich niemals gelungen wäre, ihre flüchtigen Bilder festzuhalten. Erst mit Hilfe der psychoanalytischen Durchforschung der Neurosen ist es möglich geworden, noch weiter zurückliegende Phasen der Libidoentwicklung zu erraten. Es sind dies gewiß nichts anderes als Konstruktionen, aber wenn Sie die Psychoanalyse praktisch betreiben, werden Sie finden, daß es notwendige und nutzbringende Konstruktionen sind. Wie es zugeht, daß die Pathologie uns hier Verhältnisse verraten kann, welche wir am normalen Objekt übersehen müssen, werden Sie bald verstehen.
Wir können also jetzt angeben, wie sich das Sexualleben des Kindes gestaltet, ehe der Primat der Genitalien hergestellt ist, der sich in der ersten infantilen Epoche vor der Latenzzeit vorbereitet und von der Pubertät an dauernd organisiert. Es besteht in dieser Vorzeit eine Art von lockerer Organisation, die wir prägenital nennen wollen. Im Vordergrunde dieser Phase stehen aber nicht die genitalen Partialtriebe, sondern die sadistischen und analen. Der Gegensatz von männlich und weiblich spielt hier noch keine Rolle; seine Stelle nimmt der Gegensatz zwischen aktiv und passiv ein, den man als den Vorläufer der sexuellen Polarität bezeichnen kann, mit welcher er sich auch späterhin verlötet. Was uns an den Betätigungen dieser Phase als männlich erscheint, wenn wir sie von der Genitalphase her betrachten, erweist sich als Ausdruck eines Bemächtigungstriebes, der leicht ins Grausame übergreift. Strebungen mit passivem Ziel knüpfen sich an die um diese Zeit sehr bedeutsame erogene Zone des Darmausganges. Schau- und Wißtrieb regen sich kräftig; das Genitale nimmt am Sexualleben eigentlich nur in seiner Rolle als Exkretionsorgan für den Harn Anteil. Es fehlt den Partialtrieben dieser Phase nicht an Objekten, aber diese Objekte fallen nicht notwendig zu einem Objekt zusammen. Die sadistisch-anale Organisation ist die nächste Vorstufe für die Phase des Genitalprimats. Ein eingehenderes Studium weist nach, wieviel von ihr für die spätere endgültige Gestaltung erhalten bleibt und auf welchen Wegen ihre Partialtriebe zur Einreihung in die neue Genitalorganisation genötigt werden. 323 Hinter der sadistisch-analen Phase der Libidoentwicklung gewinnen wir noch den Ausblick auf eine frühere, noch mehr primitive Organisationsstufe, auf welcher die erogene Mundzone die Hauptrolle spielt. Sie können erraten, daß die Sexualbetätigung des Lutschens ihr angehört, und dürfen das Verständnis der alten Ägypter bewundern, deren Kunst das Kind, auch den göttlichen Horus, durch den Finger im Munde charakterisiert. Abraham hat erst kürzlich Mitteilungen darüber gemacht, welche Spuren diese primitive orale Phase für das Sexualleben späterer Jahre hinterläßt.
Meine Herren! Ich kann ja vermuten, daß die letzten Mitteilungen über die Sexualorganisationen Ihnen mehr Belastung als Belehrung gebracht haben. Vielleicht bin ich auch wieder zu weit in Einzelheiten eingegangen. Aber haben Sie Geduld; was Sie da gehört haben, wird Ihnen durch spätere Verwendung wertvoller werden. Halten Sie für jetzt an dem Eindruck fest, daß das Sexualleben – wie wir sagen: die Libidofunktion – nicht als etwas Fertiges auftritt, auch nicht in seiner eigenen Ähnlichkeit weiterwächst, sondern eine Reihe von aufeinanderfolgenden Phasen durchmacht, die einander nicht gleichsehen, daß es also eine mehrmals wiederholte Entwicklung ist wie von der Raupe zum Schmetterling. Wendepunkt der Entwicklung ist die Unterordnung aller sexuellen Partialtriebe unter den Primat der Genitalien und damit die Unterwerfung der Sexualität unter die Fortpflanzungsfunktion. Vorher ein sozusagen zerfahrenes Sexualleben, selbständige Betätigung der einzelnen nach Organlust strebenden Partialtriebe. Diese Anarchie gemildert durch Ansätze zu »prägenitalen« Organisationen, zunächst die sadistisch-anale Phase, hinter ihr die orale, vielleicht die primitivste. Dazu die verschiedenen, noch ungenau bekannten Prozesse, welche die eine Organisationsstufe in die spätere und nächsthöhere überführen. Welche Bedeutung es für die Einsicht in die Neurosen hat, daß die Libido einen so langen und absatzreichen Entwicklungsweg zurücklegt, werden wir ein nächstes Mal erfahren.
Heute werden wir noch eine andere Seite dieser Entwicklung verfolgen, nämlich die Beziehung der sexuellen Partialtriebe zum Objekt. Vielmehr wir werden einen flüchtigen Überblick über diese Entwicklung nehmen, um bei einem ziemlich späten Ergebnis derselben länger zu verweilen. Also einige der Komponenten des Sexualtriebes haben von vorneherein ein Objekt und halten es fest, so der Bemächtigungstrieb 324 (Sadismus), der Schau- und Wißtrieb. Andere, die deutlicher an bestimmte erogene Körperzonen geknüpft sind, haben es nur im Anfang, solange sie sich noch an die nicht sexuellen Funktionen anlehnen, und geben es auf, wenn sie sich von diesen loslösen. So ist das erste Objekt der oralen Komponente des Sexualtriebes die Mutterbrust, welche das Nahrungsbedürfnis des Säuglings befriedigt. Im Akte des Lutschens macht sich die beim Saugen mitbefriedigte erotische Komponente selbständig, gibt das fremde Objekt auf und ersetzt es durch eine Stelle am eigenen Körper. Der orale Trieb wird autoerotisch, wie es die analen und die anderen erogenen Triebe von vornherein sind. Die weitere Entwicklung hat, um es aufs knappste auszudrücken, zwei Ziele: erstens den Autoerotismus zu verlassen, das Objekt am eigenen Körper wiederum gegen ein fremdes Objekt zu vertauschen, und zweitens: die verschiedenen Objekte der einzelnen Triebe zu unifizieren, durch ein einziges Objekt zu ersetzen. Das kann natürlich nur gelingen, wenn dies eine Objekt wiederum ein ganzer, dem eigenen ähnlicher Körper ist. Es kann sich auch nicht vollziehen, ohne daß eine Anzahl der autoerotischen Triebregungen als unbrauchbar zurückgelassen wird.
Die Prozesse der Objektfindung sind ziemlich verwickelt, haben bisher auch noch keine übersichtliche Darstellung gefunden. Heben wir für unsere Absicht hervor, daß, wenn der Prozeß in den Kinderjahren vor der Latenzzeit einen gewissen Abschluß erreicht hat, das gefundene Objekt sich als fast identisch erweist mit dem ersten, durch Anlehnung gewonnenen Objekt des oralen Lusttriebes. Es ist, wenn auch nicht die Mutterbrust, so doch die Mutter. Wir nennen die Mutter das erste Liebesobjekt. Von Liebe sprechen wir nämlich, wenn wir die seelische Seite der Sexualstrebungen in den Vordergrund rücken und die zugrundeliegenden körperlichen oder »sinnlichen« Triebanforderungen zurückdrängen oder für einen Moment vergessen wollen. Um die Zeit, da die Mutter Liebesobjekt wird, hat auch bereits beim Kinde die psychische Arbeit der Verdrängung begonnen, welche seinem Wissen die Kenntnis eines Teiles seiner Sexualziele entzieht. An diese Wahl der Mutter zum Liebesobjekt knüpft nun all das an, was unter dem Namen des »Ödipuskomplexes« in der psychoanalytischen Aufklärung der Neurosen zu so großer Bedeutung gekommen ist und einen vielleicht nicht geringeren Anteil an dem Widerstand gegen die Psychoanalyse gewonnen hat.
Hören Sie eine kleine Begebenheit an, die sich im Laufe dieses Krieges 325 zugetragen hat: Einer der wackeren Jünger der Psychoanalyse befindet sich als Arzt an der deutschen Front irgendwo in Polen und erregt die Aufmerksamkeit der Kollegen dadurch, daß er gelegentlich eine unerwartete Beeinflussung eines Kranken zustande bringt. Auf Befragen bekennt er, daß er mit den Mitteln der Psychoanalyse arbeitet, und muß sich bereit erklären, den Kollegen von seinem Wissen mitzuteilen. Allabendlich versammeln sich nun die Ärzte des Korps, Kollegen und Vorgesetzte, um den Geheimlehren der Analyse zu lauschen. Das geht eine Weile gut, aber nachdem er den Hörern vom Ödipuskomplex gesprochen hat, erhebt sich ein Vorgesetzter und äußert, das glaube er nicht, es sei eine Gemeinheit des Vortragenden, ihnen, braven Männern, die für ihr Vaterland kämpfen, und Familienvätern, solche Dinge zu erzählen, und er verbiete die Fortsetzung der Vorträge. Damit war es zu Ende. Der Analytiker ließ sich an einen anderen Teil der Front versetzen. Ich glaube aber, es steht schlecht, wenn der deutsche Sieg einer solchen »Organisation« der Wissenschaft bedarf, und die deutsche Wissenschaft wird diese Organisation nicht gut vertragen.
Nun werden Sie darauf gespannt sein zu erfahren, was dieser schreckliche Ödipuskomplex enthält. Der Name sagt es Ihnen. Sie kennen alle die griechische Sage vom König Ödipus, der durch das Schicksal dazu bestimmt ist, seinen Vater zu töten und seine Mutter zum Weibe zu nehmen, der alles tut, um dem Orakelspruch zu entgehen, und sich dann durch Blendung bestraft, nachdem er erfahren, daß er diese beiden Verbrechen unwissentlich doch begangen hat. Ich hoffe, viele von Ihnen haben die erschütternde Wirkung der Tragödie, in welcher Sophokles diesen Stoff behandelt, an sich selbst erlebt. Das Werk des attischen Dichters stellt dar, wie die längst vergangene Tat des Ödipus durch eine kunstvoll verzögerte und durch immer neue Anzeichen angefachte Untersuchung allmählich enthüllt wird; es hat insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fortgang einer Psychoanalyse. Im Verlaufe des Dialogs kommt es vor, daß die verblendete Mutter-Gattin Jokaste sich der Fortsetzung der Untersuchung widersetzt. Sie beruft sich darauf, daß vielen Menschen im Traum zuteil geworden, daß sie der Mutter beiwohnen, aber Träume dürfe man gering achten. Wir achten Träume nicht gering, am wenigsten typische Träume, solche, die sich vielen Menschen ereignen, und zweifeln nicht daran, daß der von Jokaste erwähnte Traum innig mit dem befremdenden und erschreckenden Inhalt der Sage zusammenhängt.
326 Es ist zu verwundern, daß die Tragödie des Sophokles nicht vielmehr empörte Ablehnung beim Zuhörer hervorruft, eine ähnliche und weit mehr berechtigte Reaktion als die unseres schlichten Militärarztes. Denn sie ist im Grunde ein unmoralisches Stück, sie hebt die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen auf, zeigt göttliche Mächte als die Anordner des Verbrechens und die Ohnmacht der sittlichen Regungen des Menschen, die sich gegen das Verbrechen wehren. Man könnte leicht glauben, daß der Sagenstoff eine Anklage der Götter und des Schicksals beabsichtige, und in den Händen des kritischen, mit den Göttern zerfallenen, Euripides wäre es wahrscheinlich eine solche Anklage geworden. Aber beim gläubigen Sophokles ist von dieser Verwendung keine Rede; eine fromme Spitzfindigkeit, es sei die höchste Sittlichkeit, sich dem Willen der Götter, auch wenn er Verbrecherisches anordne, zu beugen, hilft über die Schwierigkeit hinweg. Ich kann nicht finden, daß diese Moral zu den Stärken des Stückes gehört, aber sie ist für die Wirkung desselben gleichgültig. Der Zuhörer reagiert nicht auf sie, sondern auf den geheimen Sinn und Inhalt der Sage. Er reagiert so, als hätte er durch Selbstanalyse den Ödipuskomplex in sich erkannt und den Götterwillen sowie das Orakel als erhöhende Verkleidungen seines eigenen Unbewußten entlarvt. Als ob er sich der Wünsche, den Vater zu beseitigen und an seiner Statt die Mutter zum Weibe zu nehmen, erinnern und sich über sie entsetzen müßte. Er versteht auch die Stimme des Dichters so, als ob sie ihm sagen wollte: Du sträubst dich vergebens gegen deine Verantwortlichkeit und beteuerst, was du gegen diese verbrecherischen Absichten getan hast. Du bist doch schuldig, denn du hast sie nicht vernichten können; sie bestehen noch unbewußt in dir. Und darin ist psychologische Wahrheit enthalten. Auch wenn der Mensch seine bösen Regungen ins Unbewußte verdrängt hat und sich dann sagen möchte, daß er für sie nicht verantwortlich ist, wird er doch gezwungen, diese Verantwortlichkeit als ein Schuldgefühl von ihm unbekannter Begründung zu verspüren.
Es ist ganz unzweifelhaft, daß man in dem Ödipuskomplex eine der wichtigsten Quellen des Schuldbewußtseins sehen darf, von dem die Neurotiker so oft gepeinigt werden. Aber noch mehr: in einer Studie über die Anfänge der menschlichen Religion und Sittlichkeit, die ich 1913 unter dem Titel Totem und Tabu veröffentlicht habe, ist mir die Vermutung nahe gekommen, daß vielleicht die Menschheit als Ganzes ihr Schuldbewußtsein, die letzte Quelle von 327 Religion und Sittlichkeit, zu Beginn ihrer Geschichte am Ödipuskomplex erworben hat. Ich möchte Ihnen gerne mehr darüber sagen, aber ich unterlasse es besser. Es ist schwer, von diesem Thema abzubrechen, wenn man mit ihm begonnen hat, und wir müssen zur individuellen Psychologie zurückkehren.
Was läßt also die direkte Beobachtung des Kindes zur Zeit der Objektwahl vor der Latenzzeit vom Ödipuskomplex erkennen? Nun, man sieht leicht, daß der kleine Mann die Mutter für sich allein haben will, die Anwesenheit des Vaters als störend empfindet, unwillig wird, wenn dieser sich Zärtlichkeiten gegen die Mutter erlaubt, seine Zufriedenheit äußert, wenn der Vater verreist oder abwesend ist. Häufig gibt er seinen Gefühlen direkten Ausdruck in Worten, verspricht der Mutter, daß er sie heiraten wird. Man wird meinen, das sei wenig im Vergleich zu den Taten des Ödipus, aber es ist tatsächlich genug, es ist im Keime dasselbe. Die Beobachtung wird häufig durch den Umstand verdunkelt, daß dasselbe Kind gleichzeitig bei anderen Gelegenheiten eine große Zärtlichkeit für den Vater kundgibt; allein solche gegensätzliche – oder besser gesagt: ambivalente – Gefühlseinstellungen, die beim Erwachsenen zum Konflikt führen würden, vertragen sich beim Kinde eine lange Zeit ganz gut miteinander, wie sie später im Unbewußten dauernd nebeneinander Platz finden. Man wird auch einwenden wollen, daß das Benehmen des kleinen Knaben egoistischen Motiven entspringt und keine Berechtigung zur Aufstellung eines erotischen Komplexes gibt. Die Mutter sorgt für alle Bedürfnisse des Kindes, und das Kind hat darum ein Interesse daran, daß sie sich um keine andere Person bekümmere. Auch das ist richtig, aber es wird bald klar, daß in dieser wie in ähnlichen Situationen das egoistische Interesse nur die Anlehnung bietet, an welche die erotische Strebung anknüpft. Zeigt der Kleine die unverhüllteste sexuelle Neugierde für seine Mutter, verlangt er, nachts bei ihr zu schlafen, drängt sich zur Anwesenheit bei ihrer Toilette auf oder unternimmt er gar Verführungsversuche, wie es die Mutter so oft feststellen und lachend berichten kann, so ist die erotische Natur der Bindung an die Mutter doch gegen jeden Zweifel gesichert. Man darf auch nicht vergessen, daß die Mutter dieselbe Fürsorge für ihr Töchterchen entfaltet, ohne dieselbe Wirkung zu erzielen, und daß der Vater oft genug mit ihr in der 328 Bemühung um den Knaben wetteifert, ohne daß es ihm gelänge, sich dieselbe Bedeutung wie die Mutter zu erwerben. Kurz, daß das Moment der geschlechtlichen Bevorzugung durch keine Kritik aus der Situation zu eliminieren ist. Vom Standpunkt des egoistischen Interesses wäre es nur unklug von dem kleinen Mann, wenn er nicht lieber zwei Personen in seinen Diensten dulden würde, als nur eine von ihnen.
Ich habe, wie Sie merken, nur das Verhältnis des Knaben zu Vater und Mutter geschildert. Für das kleine Mädchen gestaltet es sich mit den notwendigen Abänderungen ganz ähnlich. Die zärtliche Anhänglichkeit an den Vater, das Bedürfnis, die Mutter als überflüssig zu beseitigen und ihre Stelle einzunehmen, eine bereits mit den Mitteln der späteren Weiblichkeit arbeitende Koketterie ergeben gerade beim kleinen Mädchen ein reizvolles Bild, welches uns an den Ernst und die möglichen schweren Folgen hinter dieser infantilen Situation vergessen läßt. Versäumen wir nicht hinzuzufügen, daß häufig die Eltern selbst einen entscheidenden Einfluß auf die Erweckung der Ödipuseinstellung des Kindes üben, indem sie selbst der geschlechtlichen Anziehung folgen, und wo mehrere Kinder sind, in der deutlichsten Weise der Vater das Töchterchen und die Mutter den Sohn in ihrer Zärtlichkeit bevorzugen. Aber die spontane Natur des kindlichen Ödipuskomplexes kann nicht einmal durch dieses Moment ernstlich erschüttert werden. Der Ödipuskomplex erweitert sich zum Familienkomplex, wenn andere Kinder dazukommen. Er motiviert nun mit neuerlicher Anlehnung an die egoistische Schädigung, daß diese Geschwister mit Abneigung empfangen und unbedenklich durch den Wunsch beseitigt werden. Diesen Haßempfindungen geben die Kinder sogar in der Regel weit eher wörtlichen Ausdruck als den aus dem Elternkomplex entspringenden. Geht ein solcher Wunsch in Erfüllung und nimmt der Tod den unerwünschten Zuwachs binnen kurzem wieder weg, so kann man aus späterer Analyse erfahren, ein wie wichtiges Erlebnis dieser Todesfall für das Kind gewesen ist, wiewohl er im Gedächtnis desselben nicht gehaftet zu haben braucht. Das durch die Geburt eines Geschwisterchens in die zweite Linie gedrängte, für die erste Zeit von der Mutter fast isolierte Kind vergißt ihr diese Zurückstellung nur schwer; Gefühle, die man beim Erwachsenen als schwere Erbitterung bezeichnen würde, stellen sich bei ihm ein und werden oft zur Grundlage einer dauernden Entfremdung. Daß die Sexualforschung mit 329 all ihren Konsequenzen gewöhnlich an diese Lebenserfahrung des Kindes anknüpft, haben wir schon erwähnt. Mit dem Heranwachsen dieser Geschwister erfährt die Einstellung zu ihnen die bedeutsamsten Wandlungen. Der Knabe kann die Schwester zum Liebesobjekt nehmen als Ersatz für die treulose Mutter; zwischen mehreren Brüdern, die um ein jüngeres Schwesterchen werben, ergeben sich schon in der Kinderstube die für das spätere Leben bedeutsamen Situationen einer feindseligen Rivalität. Ein kleines Mädchen findet im älteren Bruder einen Ersatz für den Vater, der sich nicht mehr wie in den frühesten Jahren zärtlich um sie kümmert, oder sie nimmt eine jüngere Schwester zum Ersatz für das Kind, das sie sich vergeblich vom Vater gewünscht hat.
Solches und sehr viel mehr von ähnlicher Natur zeigt Ihnen die direkte Beobachtung der Kinder und die Würdigung ihrer klar erhaltenen, von der Analyse nicht beeinflußten Erinnerungen aus den Kinderjahren. Sie werden daraus unter anderem den Schluß ziehen, daß die Stellung eines Kindes in der Kinderreihe ein für die Gestaltung seines späteren Lebens überaus wichtiges Moment ist, welches in jeder Lebensbeschreibung Rücksicht finden sollte. Aber, was wichtiger ist, Sie werden sich angesichts dieser mühelos zu gewinnenden Aufklärungen der Äußerungen der Wissenschaft zur Erklärung des Inzestverbotes nicht ohne Lächeln erinnern können. Was ist da nicht alles erfunden worden! Die geschlechtliche Neigung soll durch das Zusammenleben von Kindheit her von den andersgeschlechtlichen Mitgliedern derselben Familie abgelenkt worden sein, oder eine biologische Tendenz zur Vermeidung der Inzucht soll in der angeborenen Inzestscheu ihre psychische Repräsentanz finden! Wobei noch ganz vergessen wird, daß es keines so unerbittlichen Verbotes durch Gesetz und Sitte bedürfte, wenn es irgend verläßliche natürliche Schranken gegen die Inzestversuchung gäbe. Im Gegenteil liegt die Wahrheit. Die erste Objektwahl der Menschen ist regelmäßig eine inzestuöse, beim Manne auf Mutter und Schwester gerichtete, und es bedarf der schärfsten Verbote, um diese fortwirkende infantile Neigung von der Wirklichkeit abzuhalten. Bei den heute noch lebenden Primitiven, den wilden Völkern, sind die Inzestverbote noch viel schärfer als bei uns, und kürzlich hat Th. Reik in einer glänzenden Arbeit gezeigt, daß die Pubertätsriten der Wilden, die eine Wiedergeburt darstellen, den Sinn haben, die inzestuöse Bindung der Knaben an ihre Mutter aufzuheben und ihre Versöhnung mit dem Vater herzustellen.
Die Mythologie belehrt Sie, daß der von den Menschen angeblich so 330 verabscheute Inzest unbedenklich den Göttern zugestanden wird, und aus der alten Geschichte können Sie erfahren, daß die inzestuöse Schwesterehe für die Person des Herrschers geheiligte Vorschrift war (bei den alten Pharaonen, den Inkas von Peru). Es handelt sich also um ein der gemeinen Menge versagtes Vorrecht.
Der Mutterinzest ist das eine Verbrechen des Ödipus, der Vatermord das andere. Nebenbei erwähnt, es sind auch die beiden großen Verbrechen, welche die erste sozial-religiöse Institution der Menschen, der Totemismus, verpönt. Wenden wir uns nun von der direkten Beobachtung des Kindes zur analytischen Erforschung des neurotisch gewordenen Erwachsenen. Was leistet die Analyse zur weiteren Kenntnis des Ödipuskomplexes? Nun, das ist kurz zu sagen. Sie weist ihn so auf, wie ihn die Sage erzählt; sie zeigt, daß jeder dieser Neurotiker selbst ein Ödipus war oder, was auf dasselbe ausgeht, in der Reaktion auf den Komplex ein Hamlet geworden ist. Natürlich ist die analytische Darstellung des Ödipuskomplexes eine Vergrößerung und Vergröberung der infantilen Skizze. Der Haß gegen den Vater, die Todeswünsche gegen ihn, sind nicht mehr schüchtern angedeutet, die Zärtlichkeit für die Mutter bekennt sich zum Ziel, sie als Weib zu besitzen. Dürfen wir diese grellen und extremen Gefühlsregungen wirklich jenen zarten Kinderjahren zutrauen oder täuscht uns die Analyse durch die Einmengung eines neuen Moments? Es ist nicht schwer, ein solches aufzufinden. Jedesmal, wenn ein Mensch über Vergangenes berichtet, und sei er auch ein Geschichtsschreiber, haben wir in Betracht zu ziehen, was er unabsichtlich aus der Gegenwart oder aus dazwischenliegenden Zeiten in die Vergangenheit zurückversetzt, so daß er das Bild derselben fälscht. Im Falle des Neurotikers ist es sogar fraglich, ob diese Rückversetzung eine ganz und gar unabsichtliche ist; wir werden Motive für sie später kennenlernen und der Tatsache des »Rückphantasierens« in frühe Vergangenheit überhaupt gerecht werden müssen. Wir entdecken auch leicht, daß der Haß gegen den Vater durch eine Anzahl von Motiven verstärkt ist, die aus späteren Zeiten und Beziehungen stammen, daß die sexuellen Wünsche auf die Mutter in Formen gegossen sind, die dem Kinde noch fremd sein mußten. Aber es wäre ein vergebliches Bemühen, wenn wir das Ganze des Ödipuskomplexes durch Rückphantasieren erklären und auf 331 spätere Zeiten beziehen wollten. Der infantile Kern und auch mehr oder weniger vom Beiwerk bleibt bestehen, wie ihn die direkte Beobachtung des Kindes bestätigt.
Die klinische Tatsache, die uns hinter der analytisch festgestellten Form des Ödipuskomplexes entgegentritt, ist nun von der höchsten praktischen Bedeutung. Wir erfahren, daß zur Zeit der Pubertät, wenn der Sexualtrieb zuerst in voller Stärke seine Ansprüche erhebt, die alten familiären und inzestuösen Objekte wieder aufgenommen und von neuem libidinös besetzt werden. Die infantile Objektwahl war nur ein schwächliches, aber Richtung gebendes Vorspiel der Objektwahl in der Pubertät. Hier spielen sich nun sehr intensive Gefühlsvorgänge in der Richtung des Ödipuskomplexes oder in der Reaktion auf ihn ab, die aber, weil ihre Voraussetzungen unerträglich geworden sind, zum großen Teil dem Bewußtsein fernebleiben müssen. Von dieser Zeit an muß sich das menschliche Individuum der großen Aufgabe der Ablösung von den Eltern widmen, nach deren Lösung es erst aufhören kann Kind zu sein, um ein Mitglied der sozialen Gemeinschaft zu werden. Die Aufgabe besteht für den Sohn darin, seine libidinösen Wünsche von der Mutter zu lösen, um sie für die Wahl eines realen fremden Liebesobjektes zu verwenden, und sich mit dem Vater zu versöhnen, wenn er in Gegnerschaft zu ihm verblieben ist, oder sich von seinem Druck zu befreien, wenn er in Reaktion auf die infantile Auflehnung in die Unterwürfigkeit gegen ihn geraten ist. Diese Aufgaben ergeben sich für jedermann; es ist beachtenswert, wie selten ihre Erledigung in idealer Weise, d. h. psychologisch wie sozial korrekt, gelingt. Den Neurotikern aber gelingt diese Lösung überhaupt nicht, der Sohn bleibt sein lebelang unter die Autorität des Vaters gebeugt und ist nicht imstande, seine Libido auf ein fremdes Sexualobjekt zu übertragen. Dasselbe kann mit Veränderung der Beziehung das Los der Tochter werden. In diesem Sinne gilt der Ödipuskomplex mit Recht als der Kern der Neurosen.
Sie ahnen, meine Herren, wie flüchtig ich über eine große Anzahl von praktisch wie theoretisch bedeutsamen Verhältnissen, die mit dem Ödipuskomplex zusammenhängen, hinwegsetze. Ich gehe auch auf seine Variationen und seine mögliche Umkehrung nicht ein. Von den 332 entfernteren Beziehungen desselben will ich Ihnen nur noch andeuten, daß er sich als höchst bestimmend für die dichterische Produktion erwiesen hat. Otto Rank hat in einem verdienstvollen Buch gezeigt, daß die Dramatiker aller Zeiten ihre Stoffe hauptsächlich dem Ödipus- und Inzestkomplex, dessen Variationen und Verschleierungen, entnommen haben. Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß die beiden verbrecherischen Wünsche des Ödipuskomplexes längst vor der Zeit der Psychoanalyse als die richtigen Repräsentanten des ungehemmten Trieblebens erkannt worden sind. Unter den Schriften des Enzyklopädisten Diderot finden Sie einen berühmten Dialog Le neveu de Rameau, den kein Geringerer als Goethe deutsch bearbeitet hat. Dort können Sie den merkwürdigen Satz lesen: Si le petit sauvage était abandonné à lui-même, qu'il conservât toute son imbécillité et qu'il réunît au peu de raison de l'enfant au berceau la violence des passions de l'homme de trente ans, il tordrait le col à son père et coucherait avec sa mère.
Aber etwas anderes kann ich nicht übergehen. Die Mutter-Gattin des Ödipus soll uns nicht vergeblich an den Traum gemahnt haben. Erinnern Sie sich noch des Resultates unserer Traumanalysen, daß die traumbildenden Wünsche so häufig perverser, inzestuöser Natur sind oder eine nicht geahnte Feindseligkeit gegen nächste und geliebte Angehörige verraten? Wir haben es damals unaufgeklärt gelassen, woher diese bösen Regungen stammen. Nun können Sie sich's selbst sagen. Es sind frühinfantile, fürs bewußte Leben längst aufgegebene Unterbringungen der Libido und Objektbesetzungen, die sich nächtlicherweile noch als vorhanden und als in gewissem Sinne leistungsfähig erweisen. Da aber alle Menschen solche perverse, inzestuöse und todeswütige Träume haben, nicht bloß die Neurotiker, dürfen wir den Schluß ziehen, daß auch die heute Normalen den Entwicklungsweg über die Perversionen und die Objektbesetzungen des Ödipuskomplexes zurückgelegt haben, daß dieser Weg der der normalen Entwicklung ist, daß die Neurotiker uns nur vergrößert und vergröbert zeigen, was uns die Traumanalyse auch beim Gesunden verrät. Und dies ist eines der Motive, weshalb wir das Studium der Träume dem der neurotischen Symptome vorangeschickt haben.