Sigmund Freud
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Sigmund Freud

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148 9. Vorlesung

Die Traumzensur

Meine Damen und Herren! Entstehung, Wesen und Funktion des Traumes haben wir aus dem Studium der Kinderträume kennengelernt. Die Träume sind Beseitigungen schlafstörender (psychischer) Reize auf dem Wege der halluzinierten Befriedigung. Von den Träumen der Erwachsenen haben wir allerdings nur eine Gruppe aufklären können, jene, die wir als Träume von infantilem Typus bezeichnet haben. Was es mit den anderen ist, wissen wir noch nicht, aber wir verstehen sie auch nicht. Wir haben vorläufig ein Resultat gewonnen, dessen Bedeutung wir nicht unterschätzen wollen. Jedesmal, wenn uns ein Traum voll verständlich ist, erweist er sich als eine halluzinierte Wunscherfüllung. Dies Zusammentreffen kann nicht zufällig und nicht gleichgültig sein. Von einem Traum anderer Art nehmen wir auf Grund verschiedener Überlegungen und in Analogie zur Auffassung der Fehlleistungen an, daß er ein entstellter Ersatz für einen unbekannten Inhalt ist und erst auf diesen zurückgeführt werden muß. Die Untersuchung, das Verständnis dieser Traumentstellung ist nun unsere nächste Aufgabe.

Die Traumentstellung ist dasjenige, was uns den Traum fremdartig und unverständlich erscheinen läßt. Wir wollen mehrerlei von ihr wissen: erstens, wovon sie herrührt, ihren Dynamismus, zweitens, was sie macht, und endlich, wie sie es macht. Wir können auch sagen, die Traumentstellung ist das Werk der Traumarbeit. Wir wollen die Traumarbeit beschreiben und auf die in ihr wirkenden Kräfte zurückführen. Und nun hören Sie folgenden Traum an. Er ist von einer Dame unseres KreisesFrau Dr. von Hug-Hellmuth verzeichnet worden, stammt nach ihrer Auskunft von einer hochangesehenen, feingebildeten älteren Dame her. Eine Analyse dieses Traumes ist nicht angestellt worden. Unsere Referentin bemerkt, daß es für Psychoanalytiker keiner Deutung bedürfe. Die Träumerin selbst hat ihn auch nicht gedeutet, aber sie hat ihn beurteilt und so verurteilt, als ob sie ihn zu deuten verstünde. Denn sie äußerte über ihn: Und 149 solches abscheuliche, dumme Zeug träumt einer Frau von 50 Jahren, die Tag und Nacht keinen anderen Gedanken hat als die Sorge um ihr Kind!

Und nun der Traum von den »Liebesdiensten«. »Sie geht ins Garnisonsspital Nr. 1 und sagt dem Posten beim Tor, sie müsse den Oberarzt ... (sie nennt einen ihr unbekannten Namen) sprechen, da sie im Spitale Dienst tun wolle. Dabei betont sie das Wort ›Dienst‹ so, daß der Unteroffizier sofort merkt, es handle sich um ›Liebes‹dienste. Da sie eine alte Frau ist, läßt er sie nach einigem Zögern passieren. Statt aber zum Oberarzt zu kommen, gelangt sie in ein großes, düsteres Zimmer, in dem viele Offiziere und Militärärzte an einem langen Tisch stehen und sitzen. Sie wendet sich mit ihrem Antrag an einen Stabsarzt, der sie nach wenigen Worten schon versteht. Der Wortlaut ihrer Rede im Traum ist: ›Ich und zahlreiche andere Frauen und junge Mädchen Wiens sind bereit, den Soldaten, Mannschaft und Offiziere ohne Unterschied,...‹ Hier folgt im Traum ein Gemurmel. Daß dasselbe aber von allen Anwesenden richtig verstanden wird, zeigen ihr die teils verlegenen, teils hämischen Mienen der Offiziere. Die Dame fährt fort: ›Ich weiß, daß unser Entschluß befremdend klingt, aber es ist uns bitterernst. Der Soldat im Feld wird auch nicht gefragt, ob er sterben will oder nicht.‹ Ein minutenlanges peinliches Schweigen folgt. Der Stabsarzt legt ihr den Arm um die Mitte und sagt: ›Gnädige Frau, nehmen Sie den Fall, es würde tatsächlich dazu kommen,...‹ (Gemurmel). Sie entzieht sich seinem Arm mit dem Gedanken: Es ist doch einer wie der andere, und erwidert: ›Mein Gott, ich bin eine alte Frau und werde vielleicht gar nicht in die Lage kommen. Übrigens eine Bedingung müßte eingehalten werden: die Berücksichtigung des Alters; daß nicht eine ältere Frau einem ganz jungen Burschen... (Gemurmel); das wäre entsetzliche – Der Stabsarzt: ›Ich verstehe vollkommen.‹ Einige Offiziere, darunter einer, der sich in jungen Jahren um sie beworben hatte, lachen hell auf, und die Dame wünscht zu dem ihr bekannten Oberarzt geführt zu werden, damit alles ins reine gebracht werde. Dabei fällt ihr zur größten Bestürzung ein, daß sie seinen Namen nicht kennt. Der Stabsarzt weist sie trotzdem sehr höflich und respektvoll an, über eine sehr schmale eiserne Wendeltreppe, die direkt von dem Zimmer aus in die oberen Stockwerke führt, in den zweiten Stock zu gehen. Im Hinaufsteigen 150 hört sie einen Offizier sagen: ›Das ist ein kolossaler Entschluß, gleichgültig, ob eine jung oder alt ist; alle Achtung!‹

Mit dem Gefühle, einfach ihre Pflicht zu tun, geht sie eine endlose Treppe hinauf.

Dieser Traum wiederholt sich innerhalb weniger Wochen noch zweimal mit – wie die Dame bemerkt – ganz unbedeutenden und recht sinnlosen Abänderungen.«

 

Der Traum entspricht in seinem Fortlauf einer Tagesphantasie: er hat nur wenige Bruchstellen, und manche Einzelheit in seinem Inhalt hätte durch Erkundigung geklärt werden können, was, wie Sie wissen, unterblieben ist. Das Auffällige und für uns Interessante ist aber, daß der Traum mehrere Lücken zeigt, Lücken, nicht der Erinnerung, sondern des Inhaltes. An drei Stellen ist der Inhalt wie ausgelöscht; die Reden, in denen diese Lücken angebracht sind, werden durch ein Gemurmel unterbrochen. Da wir keine Analyse angestellt haben, steht uns strenge genommen auch kein Recht zu, etwas über den Sinn des Traumes zu äußern. Allein es sind Andeutungen gegeben, aus denen sich etwas folgern läßt, z. B. im Worte »Liebesdienste«, und vor allem nötigen die Stücke der Reden, welche dem Gemurmel unmittelbar vorhergehen, zu Ergänzungen, welche nicht anders als eindeutig ausfallen können. Setzen wir diese ein, so ergibt sich eine Phantasie des Inhalts, daß die Träumerin bereit ist, in Erfüllung einer patriotischen Pflicht, ihre Person zur Befriedigung der Liebesbedürfnisse des Militärs, Offiziere wie Mannschaft, zur Verfügung zu stellen. Das ist gewiß höchst anstößig, ein Muster einer frech libidinösen Phantasie, aber – es kommt im Traume gar nicht vor. Gerade dort, wo der Zusammenhang dieses Bekenntnis fordern würde, findet sich im manifesten Traume ein undeutliches Gemurmel, ist etwas verlorengegangen oder unterdrückt worden.

Ich hoffe, Sie erkennen es als naheliegend, daß eben die Anstößigkeit dieser Stellen das Motiv zu ihrer Unterdrückung war. Wo finden Sie aber eine Parallele zu diesem Vorkommnis? Sie brauchen in unseren Tagen nicht weit zu suchen. Nehmen Sie irgendeine politische Zeitung zur Hand, Sie werden finden, daß von Stelle zu Stelle der Text weggeblieben ist und an seiner Statt die Weiße des Papiers schimmert. Sie wissen, das ist das Werk der Zeitungszensur. An diesen leer gewordenen Stellen stand etwas, was der hohen Zensurbehörde mißliebig war, und darum wurde es entfernt. Sie meinen, es ist schade darum, es wird wohl das Interessanteste gewesen sein, es war »die beste Stelle«.

151 Andere Male hat die Zensur nicht auf den fertigen Satz gewirkt. Der Autor hat vorhergesehen, welche Stellen die Beanständung durch die Zensur zu erwarten haben, und hat sie darum vorbeugend gemildert, leicht modifiziert oder sich mit Annäherungen und Anspielungen an das, was ihm eigentlich aus der Feder fließen wollte, begnügt. Dann hat auch das Blatt keine leeren Stellen, aber aus gewissen Umschweifen und Dunkelheiten des Ausdrucks werden Sie die im vorhinein geübte Rücksicht auf die Zensur erraten können.

Nun, wir halten diese Parallele fest. Wir sagen, auch die ausgelassenen, durch ein Gemurmel verhüllten Traumreden sind einer Zensur zum Opfer gebracht worden. Wir sprechen direkt von einer Traumzensur, der ein Stück Anteil an der Traumentstellung zuzuschreiben ist. Überall, wo Lücken im manifesten Traum sind, hat die Traumzensur sie verschuldet. Wir sollten auch weitergehen und eine Äußerung der Zensur jedesmal dort erkennen, wo ein Traumelement besonders schwach, unbestimmt und zweifelhaft unter anderen, deutlicher ausgebildeten erinnert wird. Aber nur selten äußert sich diese Zensur so unverhohlen, so naiv, möchte man sagen, wie in dem Beispiel des Traumes von den »Liebesdiensten«. Weit öfter bringt sich die Zensur nach dem zweiten Typus zur Geltung, durch die Produktion von Abschwächungen, Annäherungen, Anspielungen an Stelle des Eigentlichen.

Für eine dritte Wirkungsweise der Traumzensur weiß ich keine Parallele aus dem Walten der Zeitungszensur; ich kann aber gerade diese an dem einzigen bisher analysierten Traumbeispiel demonstrieren. Sie erinnern sich an den Traum von den »drei schlechten Theaterkarten für 1 fl. 50«. In den latenten Gedanken dieses Traumes stand das Element »voreilig, zu früh« im Vordergrunde. Es hieß: Es war ein Unsinn, so früh zu heiraten – es war auch unsinnig, sich so früh Theaterkarten zu besorgen –, es war lächerlich von der Schwägerin, ihr Geld so eilig auszugeben, um sich dafür einen Schmuck zu kaufen. Von diesem zentralen Element der Traumgedanken ist nichts in den manifesten Traum übergegangen; hier ist das Ins-Theater-Gehen und Karten-Bekommen in den Mittelpunkt gerückt. Durch diese Verschiebung des Akzents, diese Umgruppierung der Inhaltselemente, wird der manifeste Traum den latenten Traumgedanken so unähnlich, daß niemand diese letzteren hinter dem ersteren vermuten würde. Diese Akzentverschiebung ist ein Hauptmittel der Traumentstellung und gibt dem Traum jene Fremdartigkeit, deren wegen ihn der Träumer selbst nicht als seine eigene Produktion anerkennen möchte.

152 Auslassung, Modifikation, Umgruppierung des Materials sind also die Wirkungen der Traumzensur und die Mittel der Traumentstellung, Die Traumzensur selbst ist der Urheber oder einer der Urheber der Traumentstellung, deren Untersuchung uns jetzt beschäftigt. Modifikation und Umordnung sind wir auch gewohnt, als »Verschiebung« zusammenzufassen.

 

Nach diesen Bemerkungen über die Wirkungen der Traumzensur wenden wir uns nun ihrem Dynamismus zu. Ich hoffe, Sie nehmen den Ausdruck nicht allzu anthropomorph und stellen sich unter dem Traumzensor nicht ein kleines gestrenges Männlein oder einen Geist vor, der in einem Gehirnkämmerlein wohnt und dort seines Amtes waltet, aber auch nicht allzu lokalisatorisch, so daß Sie an ein »Gehirnzentrum« denken, von dem ein solcher zensurierender Einfluß ausgeht, welcher mit der Beschädigung oder Entfernung dieses Zentrums aufgehoben wäre. Es ist vorläufig nichts weiter als ein gut brauchbarer Terminus für eine dynamische Beziehung. Dieses Wort hindert uns nicht zu fragen, von welchen Tendenzen solcher Einfluß geübt wird und auf welche; wir werden auch nicht überrascht sein zu erfahren, daß wir schon früher einmal auf die Traumzensur gestoßen sind, vielleicht ohne sie zu erkennen.

Das ist nämlich wirklich der Fall gewesen. Erinnern Sie sich, daß wir eine überraschende Erfahrung machten, als wir unsere Technik der freien Assoziation anzuwenden begannen. Wir bekamen da zu spüren, daß sich unseren Bemühungen, vom Traumelement zum unbewußten Element zu gelangen, dessen Ersatz es ist, ein Widerstand entgegenstellte. Dieser Widerstand, sagten wir, kann verschieden groß sein, das eine Mal riesig, das andere Mal recht geringfügig. Im letzteren Falle brauchen wir für unsere Deutungsarbeit nur wenige Zwischenglieder zu passieren; wenn er aber groß ist, dann haben wir lange Assoziationsketten vom Element her zu durchmessen, werden weit von diesem weggeführt und müssen unterwegs alle die Schwierigkeiten überwinden, die sich als kritische Einwendungen gegen den Einfall ausgeben. Was uns bei der Deutungsarbeit als Widerstand entgegentritt, das müssen wir nun als Traumzensur in die Traumarbeit eintragen. Der Deutungswiderstand ist nur die Objektivierung der Traumzensur. Er beweist uns auch, daß die Kraft der Zensur sich nicht damit erschöpft hat, die Traumentstellung herbeizuführen, und seither erloschen ist, sondern daß diese Zensur als dauernde Institution mit der Absicht, die Entstellung 153 aufrechtzuhalten, fortbesteht. Übrigens wie der Widerstand bei der Deutung für jedes Element in seiner Stärke wechselte, so ist auch die durch Zensur herbeigeführte Entstellung in demselben Traume für jedes Element verschieden groß ausgefallen. Vergleicht man manifesten und latenten Traum, so sieht man, einzelne latente Elemente sind völlig eliminiert worden, andere mehr oder weniger modifiziert, und noch andere sind unverändert, ja vielleicht verstärkt in den manifesten Trauminhalt hinübergenommen worden.

 

Wir wollten aber untersuchen, welche Tendenzen die Zensur ausüben und gegen welche. Nun diese für das Verständnis des Traumes, ja vielleicht des Menschenlebens, fundamentale Frage ist, wenn wir die Reihe der zur Deutung gelangten Träume überblicken, leicht zu beantworten. Die Tendenzen, welche die Zensur ausüben, sind solche, welche vom wachen Urteilen des Träumers anerkannt werden, mit denen er sich einig fühlt. Seien Sie versichert, wenn Sie eine korrekt durchgeführte Deutung eines eigenen Traumes ablehnen, so tun Sie es aus denselben Motiven, mit denen die Traumzensur geübt, die Traumentstellung produziert und die Deutung notwendig gemacht wurde. Denken Sie an den Traum unserer 50jährigen Dame. Sie findet ihren Traum, ohne ihn gedeutet zu haben, abscheulich, würde noch entrüsteter gewesen sein, wenn ihr Frau Dr. v. Hug etwas von der unerläßlichen Deutung mitgeteilt hätte, und eben dieser Verurteilung wegen haben sich in ihrem Traum die anstößigsten Stellen durch ein Gemurmel ersetzt.

Die Tendenzen aber, gegen welche sich die Traumzensur richtet, muß man zunächst vom Standpunkt dieser Instanz selbst beschreiben. Dann kann man nur sagen, sie seien durchaus verwerflicher Natur, anstößig in ethischer, ästhetischer, sozialer Hinsicht, Dinge, an die man gar nicht zu denken wagt oder nur mit Abscheu denkt. Vor allem sind diese zensurierten und im Traum zu einem entstellten Ausdruck gelangten Wünsche Äußerungen eines schranken- und rücksichtslosen Egoismus. Und zwar kommt das eigene Ich in jedem Traum vor und spielt in jedem die Hauptrolle, auch wenn es sich für den manifesten Inhalt gut zu verbergen weiß. Dieser »sacro egoismo« des Traumes ist gewiß nicht außer Zusammenhang mit der Einstellung zum Schlafen, die ja in der Abziehung des Interesses von der ganzen Außenwelt besteht.

154 Das aller ethischen Fesseln entledigte Ich weiß sich auch einig mit allen Ansprüchen des Sexualstrebens, solchen, die längst von unserer ästhetischen Erziehung verurteilt worden sind, und solchen, die allen sittlichen Beschränkungsforderungen widersprechen. Das Lustbestreben – die Libido, wie wir sagen – wählt seine Objekte hemmungslos, und zwar die verbotenen am liebsten. Nicht nur das Weib des anderen, sondern vor allem inzestuöse, durch menschliche Übereinkunft geheiligte Objekte, die Mutter und die Schwester beim Manne, den Vater und den Bruder beim Weibe. (Auch der Traum unserer 50jährigen Dame ist ein inzestuöser, seine Libido unverkennbar auf den Sohn gerichtet.) Gelüste, die wir ferne von der menschlichen Natur glauben, zeigen sich stark genug, Träume zu erregen. Auch der Haß tobt sich schrankenlos aus. Rache- und Todeswünsche gegen die nächststehenden, im Leben geliebtesten Personen, die Eltern, Geschwister, den Ehepartner, die eigenen Kinder sind nichts Ungewöhnliches. Diese zensurierten Wünsche scheinen aus einer wahren Hölle aufzusteigen; keine Zensur scheint uns nach der Deutung im Wachen hart genug gegen sie zu sein.

Machen Sie aber aus diesem bösen Inhalt dem Traum selbst keinen Vorwurf. Sie vergessen doch nicht, daß er die harmlose, ja nützliche Funktion hat, den Schlaf vor Störung zu bewahren. Solche Schlechtigkeit liegt nicht im Wesen des Traumes. Sie wissen ja auch, daß es Träume gibt, die sich als Befriedigung berechtigter Wünsche und dringender körperlicher Bedürfnisse erkennen lassen. Diese haben allerdings keine Traumentstellung; sie brauchen sie aber auch nicht, sie können ihrer Funktion genügen, ohne die ethischen und ästhetischen Tendenzen des Ichs zu beleidigen. Auch halten Sie sich vor, daß die Traumentstellung zwei Faktoren proportional ist. Einerseits wird sie um so größer, je ärger der zu zensurierende Wunsch ist, anderseits aber auch, je strenger derzeit die Anforderungen der Zensur auftreten. Ein junges, strenge erzogenes und sprödes Mädchen wird darum mit unerbittlicher Zensur Traumregungen entstellen, welche wir Ärzte z. B. als gestattete, harmlos libidinöse Wünsche anerkennen müßten und die die Träumerin selbst ein Dezennium später so beurteilen wird.

Im übrigen sind wir noch lange nicht so weit, uns über dies Ergebnis unserer Deutungsarbeit entrüsten zu dürfen. Ich glaube, daß wir es noch nicht recht verstehen; vor allem aber obliegt uns die Aufgabe, es gegen gewisse Anfechtungen sicherzustellen. Es ist gar nicht schwer, einen Haken daran zu finden. Unsere Traumdeutungen sind unter den Voraussetzungen gemacht, die wir vorhin einbekannt haben, 155 daß der Traum überhaupt einen Sinn habe, daß man die Existenz derzeit unbewußter seelischer Vorgänge vom hypnotischen auf den normalen Schlaf übertragen dürfe und daß alle Einfälle determiniert seien. Wären wir auf Grund dieser Voraussetzungen zu plausiblen Resultaten der Traumdeutung gekommen, so hätten wir mit Recht geschlossen, diese Voraussetzungen seien richtig gewesen. Wie aber, wenn diese Ergebnisse so aussehen, wie ich es eben geschildert habe? Dann liegt es doch nahe zu sagen: Es sind unmögliche, unsinnige, zum mindesten sehr unwahrscheinliche Resultate, also war etwas an den Voraussetzungen falsch. Entweder ist der Traum doch kein psychisches Phänomen, oder es gibt nichts Unbewußtes im Normalzustand, oder unsere Technik hat irgendwo ein Leck. Ist das nicht einfacher und befriedigender anzunehmen als alle die Scheußlichkeiten, die wir auf Grund unserer Voraussetzungen angeblich aufgedeckt haben?

Beides! Sowohl einfacher als auch befriedigender, aber darum nicht notwendig richtiger. Lassen wir uns Zeit, die Sache ist noch nicht spruchreif. Vor allem können wir die Kritik gegen unsere Traumdeutungen noch verstärken. Daß die Ergebnisse derselben so unerfreulich und unappetitlich sind, fiele vielleicht nicht so schwer ins Gewicht. Ein stärkeres Argument ist es, daß die Träumer, denen wir aus der Deutung ihrer Träume solche Wunschtendenzen zuschieben, diese aufs nachdrücklichste und mit guten Gründen von sich weisen. Was? sagt der eine, Sie wollen mir aus dem Traume nachweisen, daß es mir leid um die Summen tut, die ich für die Ausstattung meiner Schwester und die Erziehung meines Bruders aufgewendet habe? Aber das kann ja nicht sein; ich arbeite ja nur für meine Geschwister, ich habe kein anderes Interesse im Leben, als meine Pflichten gegen sie zu erfüllen, wie ich es als Ältester unserer seligen Mutter versprochen habe. Oder eine Träumerin sagt: Ich soll meinem Manne den Tod wünschen. Das ist ja ein empörender Unsinn! Nicht nur, daß wir in der glücklichsten Ehe leben – das werden Sie mir wahrscheinlich nicht glauben –, sein Tod würde mich auch um alles bringen, was ich sonst in der Welt besitze. Oder ein anderer wird uns erwidern: Ich soll sinnliche Wünsche auf meine Schwester richten? Das ist lächerlich; ich mache mir gar nichts aus ihr; wir stehen schlecht miteinander und ich habe seit Jahren kein Wort mit ihr gewechselt. Wir würden es vielleicht noch leicht nehmen, wenn diese Träumer die ihnen zugedeuteten Tendenzen nicht bestätigten oder verleugneten; wir könnten sagen, das sind eben Dinge, die sie von sich nicht wissen. Aber daß sie das genaue Gegenteil eines solchen gedeuteten Wunsches in sich verspüren 156 und uns die Vorherrschaft dieses Gegensatzes durch ihre Lebensführung beweisen können, das muß uns doch endlich stutzig machen. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, die ganze Arbeit an der Traumdeutung als etwas, was durch seine Resultate ad absurdum geführt ist, beiseite zuwerfen? Nein, noch immer nicht. Auch dieses stärkere Argument zerbricht, wenn wir es kritisch angreifen. Vorausgesetzt, daß es unbewußte Tendenzen im Seelenleben gibt, so hat es gar keine Beweiskraft, wenn die ihnen entgegengesetzten im bewußten Leben als herrschend nachgewiesen werden. Vielleicht gibt es im Seelenleben auch Raum für gegensätzliche Tendenzen, für Widersprüche, die nebeneinander bestehen; ja möglicherweise ist gerade die Vorherrschaft der einen Regung eine Bedingung für das Unbewußtsein ihres Gegensatzes. Es bleibt also doch bei den zuerst erhobenen Einwendungen, die Resultate der Traumdeutung seien nicht einfach und sehr unerfreulich. Aufs erste ist zu erwidern, daß Sie mit aller Schwärmerei für das Einfache nicht eines der Traumprobleme lösen können; Sie müssen sich da schon zur Annahme komplizierter Verhältnisse bequemen. Und zum zweiten, daß Sie offenbar unrecht daran tun, ein Wohlgefallen oder eine Abstoßung, die Sie verspüren, als Motiv für ein wissenschaftliches Urteil zu verwenden. Was macht es, daß Ihnen die Resultate der Traumdeutung unerfreulich, ja beschämend und widerwärtig erscheinen? Ça n'empêche pas d'exister, habe ich als junger Doktor meinen Meister Charcot in ähnlichem Falle sagen gehört. Es heißt demütig sein, seine Sympathien und Antipathien fein zurückstellen, wenn man erfahren will, was in dieser Welt real ist. Wenn Ihnen ein Physiker beweisen kann, daß das organische Leben dieser Erde binnen kurzer Frist einer völligen Erstarrung weichen muß, getrauen Sie sich auch ihm zu entgegnen: Das kann nicht sein; diese Aussicht ist zu unerfreulich? Ich meine, Sie werden schweigen, bis ein anderer Physiker kommt und dem ersten einen Fehler in seinen Voraussetzungen oder Berechnungen nachweist. Wenn Sie von sich weisen, was Ihnen unangenehm ist, so wiederholen Sie vielmehr den Mechanismus der Traumbildung, anstatt ihn zu verstehen und ihn zu überwinden.

Sie versprechen dann vielleicht, von dem abstoßenden Charakter der zensurierten Traumwünsche abzusehen, und ziehen sich auf das Argument zurück, es sei doch unwahrscheinlich, daß man dem Bösen in der Konstitution des Menschen einen so breiten Raum zugestehen solle. 157 Aber berechtigen Sie Ihre eigenen Erfahrungen dazu, das zu sagen? Ich will nicht davon sprechen, wie Sie sich selbst erscheinen mögen, aber haben Sie so viel Wohlwollen bei Ihren Vorgesetzten und Konkurrenten gefunden, so viel Ritterlichkeit bei Ihren Feinden und so wenig Neid in Ihrer Gesellschaft, daß sie sich verpflichtet fühlen müssen, gegen den Anteil des egoistisch Bösen an der menschlichen Natur aufzutreten? Ist Ihnen nicht bekannt, wie unbeherrscht und unzuverlässig der Durchschnitt der Menschen in allen Angelegenheiten des Sexuallebens ist? Oder wissen Sie nicht, daß alle Übergriffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen, alltäglich von wachen Menschen als Verbrechen wirklich begangen werden? Was tut die Psychoanalyse hier anders als das alte Wort von Plato bestätigen, daß die Guten diejenigen sind, welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die Bösen wirklich tun?

Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf den großen Krieg, der noch immer Europa verheert, denken Sie an das Unmaß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kulturwelt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich, daß es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären? Getrauen Sie sich auch unter diesen Verhältnissen, für den Ausschluß des Bösen aus der seelischen Konstitution des Menschen eine Lanze zu brechen?

Sie werden mir vorhalten, ich beurteile den Krieg einseitig; er habe auch das Schönste und Edelste der Menschen zum Vorschein gebracht, ihren Heldenmut, ihre Selbstaufopferung, ihr soziales Fühlen. Gewiß, aber machen Sie sich hier nicht mitschuldig an der Ungerechtigkeit, die man so oft an der Psychoanalyse begangen hat, indem man ihr vorgeworfen, das eine zu leugnen, weil sie das andere behauptet. Es ist nicht unsere Absicht, die edlen Strebungen der menschlichen Natur abzuleugnen, noch haben wir je etwas dazu getan, sie in ihrem Wert herabzusetzen. Im Gegenteile; ich zeige Ihnen nicht nur die zensurierten bösen Traumwünsche, sondern auch die Zensur, welche sie unterdrückt und unkenntlich macht. Bei dem Bösen im Menschen verweilen wir nur darum mit stärkerem Nachdruck, weil die anderen es verleugnen, wodurch das menschliche Seelenleben zwar nicht besser, aber unverständlich wird. 158 Wenn wir dann die einseitig ethische Wertung aufgeben, werden wir für das Verhältnis des Bösen zum Guten in der menschlichen Natur gewiß die richtigere Formel finden können.

Es bleibt also dabei. Wir brauchen die Ergebnisse unserer Arbeit an der Traumdeutung nicht aufzugeben, wenn wir sie auch befremdend finden müssen. Vielleicht können wir uns später auf anderem Wege ihrem Verständnis nähern. Vorläufig halten wir fest: Die Traumentstellung ist eine Folge der Zensur, welche von anerkannten Tendenzen des Ichs gegen irgendwie anstößige Wunschregungen ausgeübt wird, die sich nächtlicherweile, während des Schlafes, in uns rühren. Freilich, warum gerade nächtlicherweile und woher diese verwerflichen Wünsche stammen, daran bleibt noch viel zu fragen und zu erforschen.

 

Es wäre aber Unrecht, wenn wir jetzt versäumten, ein anderes Ergebnis dieser Untersuchungen gebührend hervorzuheben. Die Traumwünsche, die uns im Schlafe stören wollen, sind uns unbekannt, wir erfahren von ihnen ja erst durch die Traumdeutung; sie sind also als derzeit unbewußte im besprochenen Sinne zu bezeichnen. Aber wir müssen uns sagen, sie sind auch mehr als derzeit unbewußt. Der Träumer verleugnet sie ja auch, wie wir in so vielen Fällen erfahren haben, nachdem er sie durch die Deutung des Traumes kennengelernt hat. Es wiederholt sich dann der Fall, dem wir zuerst bei der Deutung des Versprechens »Aufstoßen« begegnet sind, als der Toastredner empört versicherte, daß ihm weder damals noch je zuvor eine unehrerbietige Regung gegen seinen Chef bewußt geworden. Wir hatten schon damals an dem Wert einer solchen Versicherung gezweifelt und dieselbe durch die Annahme ersetzt, daß der Redner dauernd nichts von dieser in ihm vorhandenen Regung weiß. Solches wiederholt sich nun bei jeder Deutung eines stark entstellten Traumes und gewinnt somit an Bedeutung für unsere Auffassung. Wir sind nun bereit anzunehmen, daß es im Seelenleben Vorgänge, Tendenzen gibt, von denen man überhaupt nichts weiß, seit langer Zeit nichts weiß, vielleicht sogar niemals etwas gewußt hat. Das Unbewußte erhält damit für uns einen neuen Sinn; das »derzeit« oder »zeitweilig« schwindet aus seinem Wesen, es kann auch dauernd unbewußt bedeuten, nicht bloß »derzeit latent«. Natürlich werden wir auch darüber ein anderes Mal mehr hören müssen.


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