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Die nächste Frage wird lauten, ob alle Ichveränderung – in unserem Sinne – während der Abwehrkämpfe der Frühzeit erworben wird. Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Es besteht kein Grund, die Existenz und Bedeutung ursprünglicher, mitgeborener Ichverschiedenheiten zu bestreiten. Schon die eine Tatsache ist entscheidend, daß jede Person ihre Auswahl unter den möglichen Abwehrmechanismen trifft, immer nur einige und dann stets dieselben verwendet. Das deutet darauf hin, daß das einzelne Ich von vornherein mit individuellen Dispositionen und Tendenzen ausgestattet ist, deren Art und Bedingtheit wir nun freilich nicht angeben können. Außerdem wissen wir, daß wir den Unterschied zwischen ererbten und erworbenen Eigenschaften nicht zu einem Gegensatz überspannen dürfen; unter dem Ererbten ist, was die Vorfahren erworben haben, gewiß ein wichtiger Anteil. Wenn wir von »archaischer Erbschaft« sprechen, denken wir gewöhnlich nur an das Es und scheinen anzunehmen, daß ein Ich am Beginn des Eigenlebens noch nicht vorhanden ist. Aber wir wollen nicht übersehen, daß Es und Ich ursprünglich eins sind, und es bedeutet noch keine mystische Überschätzung der Erblichkeit, wenn wir für glaubwürdig halten, daß dem noch nicht existierenden Ich bereits festgelegt ist, welche Entwicklungsrichtungen, Tendenzen und Reaktionen es späterhin zum Vorschein bringen wird. Die psychologischen Besonderheiten von Familien, Rassen und Nationen auch in ihrem Verhalten gegen die Analyse lassen keine andere Erklärung zu. Ja noch mehr, die analytische Erfahrung hat uns die Überzeugung aufgedrängt, daß selbst bestimmte psychische Inhalte wie die Symbolik keine anderen Quellen haben als die erbliche Übertragung, und in verschiedenen völkerpsychologischen Untersuchungen wird uns nahegelegt, noch andere, ebenso spezialisierte Niederschläge frühmenschlicher Entwicklung in der archaischen Erbschaft vorauszusetzen.
Mit der Einsicht, daß die Eigenheiten des Ichs, die wir als Widerstände zu spüren bekommen, ebensowohl hereditär bedingt als in 381 Abwehrkämpfen erworben sein können, hat die topische Unterscheidung, ob Ich, ob Es, viel von ihrem Wert für unsere Untersuchung eingebüßt. Ein weiterer Schritt in unserer analytischen Erfahrung führt uns zu Widerständen anderer Art, die wir nicht mehr lokalisieren können und die von fundamentalen Verhältnissen im seelischen Apparat abzuhängen scheinen. Ich kann nur einige Proben dieser Gattung aufführen, das ganze Gebiet ist noch verwirrend fremd, ungenügend erforscht. Man trifft z. B. auf Personen, denen man eine besondere »Klebrigkeit der Libido« zuschreiben möchte. Die Prozesse, die die Kur bei ihnen einleitet, verlaufen so viel langsamer als bei anderen, weil sie sich, wie es scheint, nicht entschließen können, Libidobesetzungen von einem Objekt abzulösen und auf ein neues zu verschieben, obwohl besondere Gründe für solche Besetzungstreue nicht zu finden sind. Man begegnet auch dem entgegengesetzten Typus, bei dem die Libido besonders leicht beweglich erscheint, rasch auf die von der Analyse vorgeschlagenen Neubesetzungen eingeht und die früheren für sie aufgibt. Es ist ein Unterschied, wie ihn der bildende Künstler verspüren mag, ob er in hartem Stein oder in weichem Ton arbeitet. Leider zeigen sich die analytischen Resultate bei diesem zweiten Typus oft als sehr hinfällig; die neuen Besetzungen werden bald wieder verlassen, man bekommt den Eindruck, als habe man nicht in Ton gearbeitet, sondern in Wasser geschrieben. Die Warnung »Wie gewonnen, so zerronnen« behält hier recht.
Bei einer anderen Gruppe von Fällen wird man durch ein Verhalten überrascht, das man nur auf eine Erschöpfung der sonst zu erwartenden Plastizität, der Fähigkeit zur Abänderung und Weiterentwicklung beziehen kann. Auf ein gewisses Maß von psychischer Trägheit sind wir in der Analyse wohl vorbereitet; wenn die analytische Arbeit der Triebregung neue Wege eröffnet hat, so beobachten wir fast regelmäßig, daß sie nicht ohne deutliche Verzögerung begangen werden. Wir haben dies Verhalten, vielleicht nicht ganz richtig, als »Widerstand vom Es« bezeichnet. Aber bei den Fällen, die hier gemeint sind, erweisen sich alle 382 Abläufe, Beziehungen und Kraftverteilungen als unabänderlich, fixiert und erstarrt. Es ist so, wie man es bei sehr alten Leuten findet, durch die sogenannte Macht der Gewohnheit, die Erschöpfung der Aufnahmsfähigkeit, durch eine Art von psychischer Entropie erklärt; aber es handelt sich hier um noch jugendliche Individuen. Unsere theoretische Vorbereitung scheint unzureichend, um die so beschriebenen Typen richtig aufzufassen; es kommen wohl zeitliche Charaktere in Betracht, Abänderungen eines noch nicht gewürdigten Entwicklungsrhythmus im psychischen Leben.
Anders und noch tiefer begründet mögen die Ichverschiedenheiten sein, die in einer weiteren Gruppe von Fällen als Quellen des Widerstands gegen die analytische Kur und als Verhinderungen des therapeutischen Erfolgs zu beschuldigen sind. Hier handelt es sich um das letzte, was die psychologische Erforschung überhaupt zu erkennen vermag, das Verhalten der beiden Urtriebe, deren Verteilung, Vermengung und Entmischung, Dinge, die nicht auf eine einzige Provinz des seelischen Apparates, Es, Ich und Über-Ich, beschränkt vorzustellen sind. Es gibt keinen stärkeren Eindruck von den Widerständen während der analytischen Arbeit als den von einer Kraft, die sich mit allen Mitteln gegen die Genesung wehrt und durchaus an Krankheit und Leiden festhalten will. Einen Anteil dieser Kraft haben wir, sicherlich mit Recht, als Schuldbewußtsein und Strafbedürfnis agnosziert und im Verhältnis des Ichs zum Über-Ich lokalisiert. Aber das ist nur jener Anteil, der vom Über-Ich sozusagen psychisch gebunden ist und in solcher Weise kenntlich wird; andere Beträge derselben Kraft mögen, unbestimmt wo, in gebundener oder freier Form, am Werke sein. Hält man sich das Bild in seiner Gesamtheit vor, zu dem sich die Erscheinungen des immanenten Masochismus so vieler Personen, der negativen therapeutischen Reaktion und des Schuldbewußtseins der Neurotiker zusammensetzen, so wird man nicht mehr dem Glauben anhängen können, daß das seelische Geschehen ausschließlich vom Luststreben beherrscht wird. Diese Phänomene sind unverkennbare Hinweise auf das Vorhandensein einer Macht im Seelenleben, die wir nach ihren Zielen Aggressions- oder Destruktionstrieb heißen und von dem ursprünglichen Todestrieb der belebten Materie ableiten. Ein Gegensatz einer optimistischen zu einer pessimistischen Lebenstheorie kommt nicht in Frage; nur das 383 Zusammen- und Gegeneinanderwirken beider Urtriebe Eros und Todestrieb erklärt die Buntheit der Lebenserscheinungen, niemals einer von ihnen allein.
Wie Anteile der beiden Triebarten zur Durchsetzung der einzelnen Lebensfunktionen miteinander zusammentreten, unter welchen Bedingungen diese Vereinigungen sich lockern oder zerfallen, welche Störungen diesen Veränderungen entsprechen und mit welchen Empfindungen die Wahrnehmungsskala des Lustprinzips auf sie antwortet, das klarzustellen wäre die lohnendste Aufgabe der psychologischen Forschung. Vorläufig beugen wir uns vor der Übermacht der Gewalten, an der wir unsere Bemühungen scheitern sehen. Schon die psychische Beeinflussung des einfachen Masochismus stellt unser Können auf eine harte Probe.
Beim Studium der Phänomene, die die Betätigung des Destruktionstriebs erweisen, sind wir nicht auf Beobachtungen an pathologischem Material eingeschränkt. Zahlreiche Tatsachen des normalen Seelenlebens drängen nach einer solchen Erklärung, und je mehr unser Blick sich schärft, desto reichlicher werden sie uns auffallen. Es ist ein Thema, zu neu und zu wichtig, um es in dieser Erörterung wie beiläufig zu behandeln; ich werde mich damit bescheiden, einige wenige Proben herauszuheben. Die folgende als Beispiel:
Es ist bekannt, daß es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat und noch gibt, die Personen des gleichen wie des anderen Geschlechts zu ihren Sexualobjekten nehmen können, ohne daß die eine Richtung die andere beeinträchtigt. Wir heißen diese Leute Bisexuelle, nehmen ihre Existenz hin, ohne uns viel darüber zu verwundern. Wir haben aber gelernt, daß alle Menschen in diesem Sinne bisexuell sind, ihre Libido entweder in manifester oder in latenter Weise auf Objekte beider Geschlechter verteilen. Nur fällt uns folgendes dabei auf. Während im ersten Falle die beiden Richtungen sich ohne Anstoß miteinander vertragen haben, befinden sie sich im anderen und häufigeren Falle im Zustand eines unversöhnlichen Konflikts. Die Heterosexualität eines Mannes duldet keine Homosexualität, und ebenso ist es umgekehrt. Ist die erstere die stärkere, so gelingt es ihr, die letztere latent zu erhalten und von der Realbefriedigung abzudrängen; andererseits gibt es keine 384 größere Gefahr für die heterosexuelle Funktion eines Mannes als die Störung durch die latente Homosexualität. Man könnte die Erklärung versuchen, daß eben nur ein bestimmter Betrag von Libido verfügbar ist, um den die beiden miteinander rivalisierenden Richtungen ringen müssen. Allein man sieht nicht ein, warum die Rivalen nicht regelmäßig den verfügbaren Betrag der Libido je nach ihrer relativen Stärke unter sich aufteilen, wenn sie es doch in manchen Fällen tun können. Man bekommt durchaus den Eindruck, als sei die Neigung zum Konflikt etwas Besonderes, was neu zur Situation hinzukommt, unabhängig von der Quantität der Libido. Eine solche unabhängig auftretende Konfliktneigung wird man kaum auf anderes zurückführen können als auf das Eingreifen eines Stückes von freier Aggression.
Wenn man den hier erörterten Fall als Äußerung des Destruktions- oder Aggressionstriebs anerkennt, so erhebt sich sofort die Frage, ob man nicht dieselbe Auffassung auf andere Beispiele von Konflikt ausdehnen, ja ob man nicht überhaupt all unser Wissen vom psychischen Konflikt unter diesem neuen Gesichtspunkt revidieren soll. Wir nehmen doch an, daß auf dem Weg der Entwicklung vom Primitiven zum Kulturmenschen eine sehr erhebliche Verinnerlichung, Einwärtswendung der Aggression stattfindet, und für die Außenkämpfe, die dann unterbleiben, wären die inneren Konflikte sicherlich das richtige Äquivalent. Es ist mir wohlbekannt, daß die dualistische Theorie, die einen Todes-, Destruktions- oder Aggressionstrieb als gleichberechtigten Partner neben den in der Libido sich kundgebenden Eros hinstellen will, im allgemeinen wenig Anklang gefunden und sich auch unter Psychoanalytikern nicht eigentlich durchgesetzt hat. Um so mehr mußte es mich erfreuen, als ich unlängst unsere Theorie bei einem der großen Denker der griechischen Frühzeit wiederfand. Ich opfere dieser Bestätigung gern das Prestige der Originalität, zumal da ich bei dem Umfang meiner Lektüre in früheren Jahren doch nie sicher werden kann, ob meine angebliche Neuschöpfung nicht eine Leistung der Kryptomnesie war.
Empedokles aus Akragas (Girgenti)Das Folgende nach Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker (1935)., etwa 495 a. Chr. geboren, erscheint als eine der großartigsten und merkwürdigsten Gestalten der griechischen Kulturgeschichte. Seine vielseitige Persönlichkeit betätigte 385 sich in den verschiedensten Richtungen; er war Forscher und Denker, Prophet und Magier, Politiker, Menschenfreund und naturkundiger Arzt; er soll die Stadt Selinunt von der Malaria befreit haben, von seinen Zeitgenossen wurde er wie ein Gott verehrt. Sein Geist scheint die schärfsten Gegensätze in sich vereinigt zu haben; exakt und nüchtern in seinen physikalischen und physiologischen Forschungen, scheut er doch vor dunkler Mystik nicht zurück, baut kosmische Spekulation auf von erstaunlich phantastischer Kühnheit. Capelle vergleicht ihn dem Dr. Faust, »dem gar manch Geheimnis wurde kund«. Zu einer Zeit entstanden, da das Reich des Wissens noch nicht in so viele Provinzen zerfiel, müssen manche seiner Lehren uns primitiv anmuten. Er erklärte die Verschiedenheiten der Dinge durch Mischungen der vier Elemente, Erde, Wasser, Feuer und Luft, glaubte an die Allbelebtheit der Natur und an die Seelenwanderung, aber auch so moderne Ideen wie die stufenweise Entwicklung der Lebewesen, das Überbleiben des Tauglichsten und die Anerkennung der Rolle des Zufalls (τύχη) bei dieser Entwicklung gehen in sein Lehrgebäude ein.
Unser Interesse gebührt aber jener Lehre des Empedokles, die der psychoanalytischen Triebtheorie so nahe kommt, daß man versucht wird zu behaupten, die beiden wären identisch, bestünde nicht der Unterschied, daß die des Griechen eine kosmische Phantasie ist, während unsere sich mit dem Anspruch auf biologische Geltung bescheidet. Der Umstand freilich, daß Empedokles dem Weltall dieselbe Beseelung zuspricht wie dem einzelnen Lebewesen, entzieht dieser Differenz ein großes Stück ihrer Bedeutung.
Der Philosoph lehrt also, daß es zwei Prinzipien des Geschehens im weltlichen wie im seelischen Leben gibt, die in ewigem Kampf miteinander liegen. Er nennt sie φιλία – Liebe – und νει̃κος – Streit. Die eine dieser Mächte, die für ihn im Grunde »triebhaft wirkende Naturkräfte, durchaus keine zweckbewußten Intelligenzen«Capelle (1935, 186). sind, strebt darnach, die Ur-Teilchen der vier Elemente zu einer Einheit zusammenzuballen, die andere im Gegenteil will all diese Mischungen rückgängig machen und die Ur-Teilchen der Elemente voneinander sondern. Den Weltprozeß denkt er sich als fortgesetzte, niemals aufhörende Abwechslung von Perioden, in denen die eine oder die andere der beiden Grundkräfte den Sieg davonträgt, so daß einmal die Liebe, das nächste Mal der 386 Streit seine Absicht voll durchsetzt und die Welt beherrscht, worauf der andere, unterlegene Teil einsetzt und nun seinerseits den Partner niederringt.
Die beiden Grundprinzipien des Empedokles – φιλία und νει̃κος – sind dem Namen wie der Funktion nach das gleiche wie unsere beiden Urtriebe Eros und Destruktion, der eine bemüht, das Vorhandene zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, der andere, diese Vereinigungen aufzulösen und die durch sie entstandenen Gebilde zu zerstören. Wir werden uns aber auch nicht verwundern, daß diese Theorie in manchen Zügen verändert ist, wenn sie nach zweiundeinhalb Jahrtausenden wieder auftaucht. Von der Einschränkung auf das Biopsychische abgesehen, die uns auferlegt ist, unsere Grundstoffe sind nicht mehr die vier Elemente des Empedokles, das Leben hat sich für uns scharf vom Unbelebten gesondert, wir denken nicht mehr an Vermengung und Trennung von Stoffteilchen, sondern an Verlötung und Entmischung von Triebkomponenten. Auch haben wir das Prinzip des »Streites« gewissermaßen biologisch unterbaut, indem wir unseren Destruktionstrieb auf den Todestrieb zurückführten, den Drang des Lebenden, zum Leblosen zurückzukehren. Das will nicht in Abrede stellen, daß ein analoger Trieb schon vorher bestanden hat, und natürlich nicht behaupten, daß ein solcher Trieb erst mit dem Erscheinen des Lebens entstanden ist. Und niemand kann vorhersehen, in welcher Einkleidung der Wahrheitskern in der Lehre des Empedokles sich späterer Einsicht zeigen wird.